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Wie empfinden und denken »die Ägypter«? Worüber wundern sie sich, wenn sie nach Deutschland kommen und »die Deutschen« erleben? Warum gibt es deutsche Schulen in Ägypten? Und wie fühlen sich binationale Kinder, die »beides« sind und die sich beständig fragen: Wer bin ich eigentlich? Der Autor, der als Lehrer viele Jahre in Ägypten unterrichtet hat, beantwortet diese Fragen. Darüber hinaus enthält das Buch eine scharfe Analyse der ägyptischen Gesellschaft und liefert einen Schlüssel zum Verständnis der Mentalität und Kultur des Nahen Ostens. Der Autor beleuchtet auch die Revolution 2011, also die politischen, sozialen und religiösen Hintergründe des »Arabischen Frühlings«, wodurch auch die gegenwärtige Entwicklung Ägyptens verständlicher wird.
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Seitenzahl: 300
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Martin Schnackenberg
ES IST EIN SPLITTERIN DER WELT
Meine Jahre in Kairo
Engelsdorfer VerlagLeipzig2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Prolog
Im Anflug
Körpersprache
Es ist ein Splitter in der Welt
Kairo im September
Die Nackten und die Bleichen
Vom Pizzabestellen
In der U-Bahn in Kairo
Von den Ketten und Lessing
Schulen in Ägypten
Nikolaus oder die Frage: Was ist Wahrheit?
Kopftücher oder: „Kleidung ist immer mehr als reiner Fellersatz!“
Kairo am Morgen
Wir und Die
Essen
Von der arabischen Misere
Die Luft riecht schon nach Staub
Sein schwerster Fehler oder: Fluchtort Internet
Wer eine Ziege hat, der soll sie anbinden
Ikea
Zwei Pässe und binationales Innenleben
Tätowierte Kreuze – Kopten in Ägypten
Frohes Fest
Hocharabisch
Anschlag zum Zweiten
Molochäer
Ramadan
Jom Asal, Jom Bassal
Gefühle und Eskalation
Theatersonne oder: Winter in Ägypten
Von der Schuld
Reflexe
Sisyphos
Who we are
Regen in Kairo
Inschaallah oder: Daraus wird wohl nichts
Betongesichter – Frauen auf Kairos Straßen
Ferien
Polizistenrücken
Ampeln oder: Wer bei grün über die Straße geht, ist schneller tot
Kairo am Freitag
Vom Misstrauen
Zeitreise
Kairo im Sommer
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Fußball oder: Unsere Liebe zur Kritik
Politische Lage
Politik zum Zweiten
Zitadelle
Von der Wärme
Ein Fazit oder: Von den Menschen
Wieder zurück – oder: Pawlow hatte recht!
Zu meiner Person
Danksagung
Endnoten
Ich hatte einen Freund. Er war Französisch-Lehrer und – so wie ich – im Auslandsdienst tätig. Oft saßen wir auf seiner Terrasse und diskutierten, was in uns vorging und wie wir dieses Leben in einem so ganz anderen Land empfinden. Um uns herum der Grund, aus dem sich viele Deutsche nach Kairo oder Ägypten wünschen. Angenehme Wärme auch in der Nacht, ein paar Insekten, ein lauer Wüstenwind und niemals frieren. Eine solche Nacht gibt es in manchen norddeutschen Sommern nie, eine Nacht ohne Jacke und die Angst, dass „es zu kalt“ wird: „Lass uns reingehen!“ Um uns herum also die Geräusche der Nacht, der Nacht in Kairo. Erst gegen zwei Uhr wird das aufhören, das Hupen der Autos, das Bellen der wilden Hunde, das Geknatter eines Mopeds, das zu einem der zahllosen Lieferdienste gehört, das ferne Brüllen eines LKWs. Und irgendwann sagte mein Freund zu mir, nachdenklich geworden, nun und hier verstünde er „Der Fremde“ von Camus auf einmal ganz anders. Ich wusste sofort, was er meint. Denn so geht es mir auch, nachdem ich viele Jahre „in der Fremde“ gelebt und gearbeitet habe: Ich empfinde mich selbst anders, ich sehe mich selbst und die Welt anders, ich habe Dinge entdeckt, von denen ich gerne berichten möchte, denn ich glaube, dass sie auch von allgemeinem Interesse sind.
Ich hatte viele Klassen, hatte Mädchen und Jungen vor mir sitzen, die der Kairener Mittel- und Oberschicht entstammen.1 Ihre Eltern glaubten an den Wert der deutschen Erziehung, hatten ausreichend Geld für eine deutsche Privatschule und hofften darauf, ihren Kindern durch das Abitur den Weg in eine erfolgreiche Karriere zu sichern. Durch meine Schüler lernte ich Ägypten kennen – mehr als durch jede Reise und jedes Buch. Durch sie lernte ich ein anderes Denken kennen. Ich veränderte sie bisweilen in ihrem Denken und Handeln, und sie veränderten mich. Denn Unterricht ist ein Geben und ein Nehmen – und keine Seite bleibt ganz die alte, wenn man sich wirklich aufeinander einlässt und sich offen auseinandersetzt mit dem Anderen.
Ich hatte einen ägyptischen Freund, einen sehr liebenswürdigen und extrem hilfsbereiten Menschen. Aber bei manchen Themen wurden wir uns so fremd, dass es schmerzte. Dann kamen wir an Punkte, an denen ich mich fragte: Wie kann er nur so denken, sieht er denn nicht die Wahrheit, begreift er wirklich nicht, dass Adam und Eva nur eine Metapher sind, dass Homosexualität eine Anlage und eine patriotische Lüge im Unterricht schlicht falsch und für die Kinder fatal ist? Und er dachte wohl: Er ist doch eigentlich so nett, so sympathisch, ich mag ihn. Warum nur sieht er nicht die Wahrheit des Propheten in all ihrem Strahlen? Warum versteht er nicht, dass wir recht haben? Warum erkennt er nicht, dass gerade für kleine Kinder der Patriotismus erste Pflicht ist?
Und nach und nach geriet ich ins Zweifeln an mir selbst und an der Gültigkeit von Wahrheit und Weltbild und war zugleich fasziniert davon, was einem Menschen der Austausch mit anderen an Weltkenntnis und auch an Selbsterkenntnis bringen kann.
Deshalb möchte ich nun im Folgenden versuchen, Kairo und Ägypten zu beschreiben, so wie ich es in den insgesamt zwölf Jahren meines Lebens dort erfahren habe. Ich erhebe dabei keinen Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit (die es ohnehin nicht geben kann), sondern es geht um meine persönliche Wahrheit, meine individuelle Perspektive, Erfahrung, Wahrnehmung. Ich will aber auf jeden Fall so ehrlich und deutlich wie möglich sein. Ich will auch Kritik wagen und die Dinge beim Wort nennen. Dabei bleibe ich vielleicht nicht immer politisch korrekt, aber ich möchte die Beobachtungen nicht aussparen, über die zu berichten zum Beispiel den ägyptischen Lesern weh tun könnte. Aber um etwas zu erkennen und dann vielleicht auch etwas zu verändern, ist es mir wichtig, so ehrlich wie möglich zu sein, darf man nicht ständig dem inneren Zensor gestatten, alles wegzustreichen, was nicht sein darf. Ich will versuchen, von Vorurteilen (positiven wie negativen) belastete Bilder zu hinterfragen, und dabei wird es sicher bisweilen auch schmerzhaft sein, wenn ich beschreibe, wie es aus meiner Perspektive „wirklich“ ist. Ich will also so ehrlich und tabulos wie möglich sein, ich will analysieren. Ich will von Ägypten erzählen, will seine Tiefen und Höhen, seine Schönheit und seinen Dreck beschreiben; ich will aber auch mich analysieren und mein Deutschsein unter die Lupe nehmen, denn dieses Buch ist auch ein Buch über Deutschland: Wenn man in der Fremde lebt, leben darf, leben muss – dann sieht man sehr viel klarer, wer man eigentlich ist, was einen ausmacht, woran man leidet, was man vermisst, was man ist und was man nicht ist. Sehr viel klarer spüre ich nun, in der Fremde, was deutsch ist, wie deutsch ich bin, wie wenig ich deutsch sein möchte oder wie sehr ich mein Deutschsein schätze. Ich weiß nun auch, wie es sich anfühlt, ein Fremder zu sein, eine Randfigur, ein Außenseiter, einer, der nichts versteht. Ich weiß, welche Probleme es mit sich bringt, in einer fremden Kultur, einer fremden Sprache und einer ganz und gar fremden Umgebung zu leben.
Ich kenne diese Probleme – und ich sehe die Chancen für mich. Auch davon möchte ich berichten. Und dann will ich mich schließlich äußern zu den Tendenzen der Spaltung, zu dem fatalen Weg, auf dem unsere Welten, die westliche und die nahöstliche, sich befinden, zur Entfremdung zwischen Europa und den arabischen Ländern, zum vermeintlichen Kampf der Kulturen und seinen Hintergründen.
Ich werde im Folgenden oft von „den Ägyptern“ oder „den Deutschen“ reden, obwohl mir bewusst ist, dass es nicht „den Ägypter“ gibt – und „den Deutschen“ gibt es natürlich auch nicht. Die ägyptische Gesellschaft ist genauso komplex wie die deutsche, man findet darin alles, vom Kommunisten über den Atheisten bis hin zum islamischen Extremisten – und dazwischen gibt es viele Zwischentöne. Soll ich also auf eine Beschreibung verzichten, weil ich mich der Gefahr aussetzen könnte, unzulässig zu verallgemeinern? Nein. Denn es gibt Grundlinien des Denkens und des Verhaltens. Wenn man wie ich lange in einem Land lebt, dann weiß man irgendwann, wie dessen Bewohner „ticken“ und wie sie auf gewisse Ereignisse reagieren. Man weiß, welche Reaktionen man zu erwarten hat, was man besser nicht sagt, wo die Tabus liegen und worüber nicht gelacht oder besonders schallend gelacht wird. Ebenso ergeht es einem Ausländer in Deutschland, auch er muss über Jahre herausfinden, wie „die Deutschen“ funktionieren, wenn er nicht anecken will.
So wie die ältere Chinesin, die ich einmal in einem Transferbus zum Berliner Flughafen beobachtete. Ihre völlig überladenen Taschen waren umgekippt, hatten eine weitere Tasche umgeschmissen und beinahe andere Fahrgäste umgeworfen. Böse Blicke waren die Folge: Wusste sie denn nicht, wie und wo man richtig und den Regeln folgend das Gepäck abstellt?! Dachte sie denn gar nicht an andere, warum verhielt sie sich so unverantwortlich? Sie hingegen, offenbar schon lange in Deutschland lebend, kannte die erste Grundregel in Deutschland: Regeln und Gesetze müssen eingehalten werden! Sie entschuldigte sich mehrfach in den schweigenden Bus hinein und bekundete mit ihrem ganzen Körper: „Es tut mir leid, ich wollte keine Regel verletzen, es wird nicht wieder vorkommen!“ Ein gerade eingereister Ägypter hätte sich wohl anders verhalten, er hätte vielleicht allenfalls Malesh2 gesagt, aber ansonsten gar nicht verstanden, warum die anderen böse schauen. So etwas passiert eben, warum also sich lange aufregen, ist doch außerdem nochmal gut gegangen, würde er denken. Sie aber, die Chinesin, wusste gut, wie die Deutschen um sie herum „ticken“, wie sie „funktionieren“, welchen Regelverstoß man ihr wortlos vorwarf – und sie verhielt sich entsprechend.
In Ägypten wiederum ist es beispielsweise ganz ungewöhnlich und grob unhöflich, wenn ein Mann einfach die Wohnung einer Frau betritt, wenn diese allein ist. Aus Höflichkeit würde sie wohl nichts sagen, sich aber in der Situation sehr unwohl fühlen. Denn „das macht man nicht“, weil es Anlass zu ungehörigen Spekulationen gibt. Und wahrscheinlich wird die große Mehrheit der Ägypter das ebenso sehen, weil „die Ägypter“ eben so denken, so „ticken“. Und genau dieses „Ticken“, diese Grundlinien des Denkens, Fühlens und Handelns, in Ägypten und in Deutschland, die möchte ich skizzieren.
Folgen Sie mir nach Kairo, ins Zentrum der arabischen Welt. Ahlan wa sahlan!3
Es ist besser, Kairo in der Nacht zu erreichen, denn nachts ist Kairo schön – schöner als am Tag. Die Nacht ist kühl und gnädig, sie schluckt, was wir nicht sehen wollen, und zeigt uns, wenn wir aus dem Flugzeugfenster schauen, ein gewaltiges Lichtermeer.
Doch es ist besser, schon vorher aus dem Fenster zu sehen, und zwar dann, wenn der Flugkapitän den Sinkflug einleitet. Sehr gut ist dann die Linie zwischen Mittelmeer und Land zu erkennen, denn die totale Dunkelheit des Meeres wird ersetzt durch Lichter, durch die Lichtnester, die man nun sieht und die bis Kairo nicht mehr enden werden. Da liegen die Dörfer und Städte des Nildeltas, das wie ein gewaltiges V auf Kairo zugeschnitten scheint. Diese Aneinanderreihung von Lichtnestern, diese Spuren dichter Besiedlung nehmen kein Ende; es gibt keine dunklen Flecken, keine Aussparung. Überall, wo es Wasser gibt, leben Menschen. Und so bekommt man schon aus der Luft einen Eindruck davon, wie dicht der bewohnbare Teil Ägyptens besiedelt ist. Hier leben circa 95 Millionen Menschen auf einer Fläche, die etwa dem Bundesland Hessen entspricht. In Kairo sieht man dann, was das praktisch bedeutet: Häuser, Häuser, Häuser. Und: Autos, Autos, Autos. Und: Menschen, Menschen, Menschen. Auch deswegen ist es gut, nachts anzukommen, denn in der Nacht ist der Verkehr nicht so voll und brutal wie am Tage, man hat Zeit, langsam anzukommen in dieser ungeheuren Stadt, in der wohl 25 Millionen Menschen leben, arbeiten, beten, Auto fahren und kämpfen. In der alle unter dem Stau leiden, manche sich ihres Reichtums erfreuen und viele sich irgendwie durchschlagen müssen. In den anderen Landesteilen Ägyptens leben zwar ebenfalls viele Menschen, aber Kairo ist das absolute Zentrum dieses zentralistischen Staates und nicht umsonst setzen die Ägypter auch sprachlich Kairo mit Ägypten gleich.
Und dieses Kairo wächst, es wuchert in das Land hinein, in die Wüste, in das Fruchtland; es wuchert um die Pyramiden und die Zitadelle herum, es wächst und wächst. Dieses Wachstum ist zum Teil ein wildes, zum Teil ein geplantes Wachsen.
Wenn wir noch einmal in die Vogelperspektive zurückkehren, dann sehen wir, dass eine ganze Reihe von Satellitenstädten - wie etwa die 6.-Oktober-Stadt - um die Kernstadt selbst herum angelegt worden sind; in die Wüste hineingebaut. In einigen dieser Vorstädte haben sich die Wohlhabenden Oasen geschaffen. Sie sind aus der Stadt geflohen, da es hier, 20 Kilometer außerhalb, noch gibt, was eben Menschen eigentlich lieben und brauchen: frische Luft, Platz, Ruhe. Die Vorstädte der Armen wachsen einfach (und ohne Baugenehmigung) in das Delta hinein, man erkennt diese Bauten daran, dass sie mit weniger Beton gebaut sind, die roten Ziegel überwiegen. Außerdem stehen hier die Häuser enger, so eng oft, dass die Menschen sich beinahe aus den Fenstern und über die Gasse hinweg die Hand reichen können. Manchmal geht der ägyptische Staat gegen solche illegalen Siedlungen vor, manchmal wird auch ein Haus gesprengt und der Schutthaufen liegt dann noch lange Zeit als Mahnung für die anderen, das Gesetz zu achten. Meistens aber muss sich der Staat beugen: den Menschen, den Zuständen, dem ungeheuren Bevölkerungswachstum. Das alles kann man sehen, wenn man über Ägypten fliegt, bevor man dann den Fuß auf ägyptischen Boden setzt, bevor sich die Flugzeugtüren öffnen und man den typischen Geruch von Kairo in die Nase bekommt. Es riecht nach Wärme, staubig und nach abgestandener Hitze auf der Gangway, nach Fahrzeugen und insgesamt doch deutlich süßer als in Europa.
Es duftet anders als jenes kühle Europa, das man aber eigentlich schon viel früher verlassen hat, meistens schon beim Einchecken, spätestens aber beim Einsteigen in das Flugzeug. Es hängt von der Fluggesellschaft ab, wie viel Ägypten man schon im Flugzeug erlebt (am meisten wohl bei Egypt-Air, denn dort sind zwei Gepäckstücke zu je 23 Kilogramm Gewicht erlaubt – das wichtigste Argument für alle ägyptischen Pendler). Aber bemerken wird man es wohl immer: Man sieht die ersten Kopftücher, das eine oder andere Handy wird trotz Aufforderung nicht ausgeschaltet, der Sitzplatz wird gerne und frühzeitig verlassen, wogegen das Bordpersonal immer freundlich anzugehen versucht. Der Ton der Stewards oder Stewardessen ist dabei immer höflich und nie so strikt und scharf, wie man es oft bei anderen, nicht-ägyptischen Airlines erlebt. Dort heißt es zwischen den Zeilen meistens leicht genervt: „Nun setzen Sie sich bitte sofort wieder hin, gefährden Sie bitte nicht sich und andere, halten Sie sich doch endlich an Regeln – ist das denn zu viel verlangt!“ Hier hingegen heißt es: „Setzen Sie sich bitte hin, meine Herrschaften, diese Vorschriften gibt es nun einmal, daran können wir leider nichts ändern. Ich weiß, Sie sind ungeduldig, ich weiß, Sie freuen sich auf Ägypten, aber auch wir müssen uns an das halten, was international nun einmal üblich ist.“ Manche setzen sich daraufhin wieder auf ihren Sitz, andere ignorieren einfach die Ansage, wieder andere schauen aus dem Fenster. Dort sieht man die für Kairo typischen gelben Lampen, sieht Fahrzeuge, die ohne Beleuchtung unterwegs sind, sieht die vergleichsweise spärlich beleuchteten Landebahnen im Wüstenstaub, den man schon zu riechen meint. Insgesamt herrscht jetzt eine lockere, ungezwungene Stimmung, alle Handys sind aufgeklappt, die wartenden Verwandten werden informiert, alle sind voller Freude – in Erwartung des Heimatlandes, der Mutter der Welt, denn: Masr4 Um el Dunja – Ägypten ist die Mutter der Welt!
Auch Autos haben eine Körpersprache. In Kairo ganz besonders. Das ist wichtig, das muss man wissen, wenn man hier Auto fahren möchte. Der Kairener Verkehr ist nicht so locker, ungeregelt, cool und witzig, wie einige Reiseführer in ihrem saloppen Stil vermelden. Der Kairener Verkehr ist vor allem eines: extrem gefährlich. Ich habe in zwölf Jahren Ägypten so viele extreme Unfälle gesehen, habe brutalste Schlägereien erlebt, sah Tote auf den Straßen liegen (meist schnell notdürftig mit Zeitungen bedeckt), habe die Nachrichten gelesen, in denen ständig von schweren Unfällen die Rede ist, und bin selbst in Unfälle verwickelt gewesen, sodass ich hier wahrlich von Fakten spreche: Der Verkehr in Ägypten gleicht russischem Roulette und ist im wahrsten Sinne mörderisch, selbst die bekannten Zahlen sind extrem5 und man kann nur froh sein, wenn man diesen Verkehr überlebt hat. Verkehr bedeutet hier vor allem Autoverkehr: Radfahrer, Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kinderwagen oder Hunden an der Leine sieht man selten, allerdings gibt es sehr viele Fußgänger, die sich irgendwie durch die Straßen schlängeln.
Um als Autofahrer zu überleben, muss man ein paar Punkte beachten. Man muss erstens so Auto fahren, als führe man in Europa Motorrad (was ich viele Jahre getan habe). Das bedeutet erstens: Gehe immer vom verrücktesten und schlimmsten Fall aus, erwarte von den anderen, die um dich herum sind, jedes nur denkbare Verhalten, und sei es noch so unlogisch, bleib wachsam, bleib aufmerksam, halte den Finger an der Hupe und den Fuß an der Bremse! Zweitens: Minibusfahrer sind in der Regel übermüdete Verrückte, die zu allem in der Lage sind. Lege dich nicht mit ihnen an, sie sind oft bewaffnet, stehen zum Teil unter Drogen, handeln wider jede Vernunft und bremsen nicht für dich. Ein Gutes haben Minibusse allerdings doch, man kann sie als Schutzschild benutzen. Wenn ich abbiegen will, sehe ich zu, möglichst einen anderen Wagen und am besten einen Minibus neben mir zu haben, und zwar auf der Außenbahn neben mir. Denn der blockt die Straße und wenn er gerammt wird, dann jedenfalls nicht ich. Wie es dabei dem anderen geht, das bedenkt man im Kairener Verkehr schon lange nicht mehr. Vor allem das eigene Überleben zählt.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, die Minibusse im Blick zu behalten: Die Fahrer sind immer auf den gleichen Strecken unterwegs und kennen die entsprechende „Ideallinie“ sehr gut. Kairos Straßen haben zum Teil gefährliche Löcher und tiefe Rillen, letztere besonders auf den gigantischen Hochstraßen. Zudem gibt es sogenannte „Speed Bumps“ von ganz erheblicher Höhe und Anzahl (das sind Wellen im Asphalt), sie sollen die Autofahrer dazu zwingen, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Dazu kommen die Gullys, die entweder einen halben Meter aus dem Asphalt herausragen oder einen halben Meter in diesem versenkt sind. Fährt man mit hoher Geschwindigkeit auf diese Gullys, in diese Löcher oder Rillen oder auf diese „Speed Bumps“, dann zerreißt es das Fahrzeug und/oder man knallt mit dem Kopf an die Decke des eigenen Wagens. Verkehrserprobte Fahrer, und das sind die Minibuslenker nun einmal, umkurven die gefährlichen Stellen, sie scheren sich zwar nicht um Fußgänger oder andere Verkehrsteilnehmer, aber ihr Auto, das ihren Lebensunterhalt sichert, das ist ihnen nicht komplett egal. Daher fahren sie die besagte Ideallinie um alle Hindernisse herum und schonen Stoßdämpfer und Bus. Und darum kann es sich durchaus lohnen, ihnen zu folgen, wenn der Verkehr höhere Geschwindigkeiten zulässt.
Drittens: Taxifahrer sind nur wenig besser als die besagten Minibusfahrer, obwohl sie auf diese beständig schimpfen und mit ihnen gerne streiten. Auch sie sind Tag für Tag in diesem Verkehr unterwegs, den du kaum zwei Stunden am Tag ertragen kannst. Die entsprechenden nervlichen Probleme sind also zu erwarten. Viertens: LKWs sind ebenfalls extrem gefährlich, auch wenn die frommen Sprüche, die oft an die Ladeflächen geklebt sind, etwas Anderes, Menschenfreundlicheres suggerieren. Glaube diesen frommen Sprüchen auf keinen Fall! Gehe davon aus, dass die LKWs nicht gut gewartet und die Fahrer übermüdet sind, dass vor allem die Ladung überhaupt nicht gesichert ist, die Reifen abgefahren und die Bremsen kaputt sind – halte also Abstand. Besonders gefährlich sind Laster, die Steine oder Schutt transportieren. Diese sind ebenfalls völlig überladen und verlieren ständig und bei jeder Unebenheit kleine (oder auch mal größere) Steine, die dann fremde Windschutzscheiben zerschmettern oder ähnlich Unangenehmes anrichten.
Fünftens: Achte, und hier kehre ich zu meiner Einleitung zurück, auf die Körpersprache der anderen Autos. Denn in Kairo haben Autos Körpersprache und Stimme. Bei höheren Geschwindigkeiten oder unübersichtlicher Lage kannst du, was ideal wäre, den anderen Autofahrer nicht sehen. Du siehst aber sein Fahrzeug und dessen Körpersprache. Und an der musst du im Sekundentakt erkennen, was der Fahrer vorhat. Fährt er aggressiv, wird er seine Linie halten, wird er bremsen oder Gas geben, will er abbiegen, stoppen oder umdrehen? Was hat er vor? Da es im Grunde keine verlässliche Vorfahrtsregel gibt, da Lichter und Blinker oft kaputt und ohnehin selten in Benutzungen sind, muss ich über die Körpersprache der anderen antizipieren, was sie vermutlich tun werden, um dann entsprechend zu reagieren. Und du siehst, wenn du darauf achtest, genau, wann jemand mit dem Gedanken spielt, auszuscheren, um sich Wartezeit zu ersparen und dir den Weg zu versperren. Aber noch spielt er eben nur mit dem Gedanken und fixiert dich, fragt sich, wie entschlossen du bist, liest deine Körpersprache. Dann musst du hupen und Gas geben oder bremsen und nachgeben, was wiederum davon abhängt, wie schnell oder groß du bist, ob du einen Jeep fährst oder nur einen Kleinwagen. Du musst wissen, wie entschlossen der andere wirkt, erahnen, was er zu tun gedenkt. Und das Ganze muss in Sekundenschnelle ablaufen, genau das macht Autofahren in Kairo auch so anstrengend: Du musst sehr aufmerksam sein, immer wieder in kürzester Zeit Entscheidungen treffen und kannst es nie nur „laufen lassen“; du kannst es dir auch nicht erlauben, einfach mal abzuschalten. Um es positiv zu formulieren: Was man hier macht, ist ganz sicher eine Art von Gehirnjogging, eine Aufmerksamkeitsübung, eine ständige Schulung der Reflexe.
Außerdem gehört auch das Hupen zur Körpersprache, und hupen ist nicht gleich hupen. Es gibt das normale Hochzeitshupen oder das „Wirhaben-den-Afrika-Cup-gewonnen-Hupen“, enervierend, laut, aber auch fröhlich und lebensvoll. Dann gibt es aber auch das wütende Hupen, das bedeutet: Du verdammter Hund, du Mistkerl, du hast mich geschnitten, ich hole dich gleich aus dem Auto! Dann gibt es das ganz leichte Hupen, das heißt: Ich bin da, ziehe nicht rüber, achte auf mich. Dann gibt es das Hupen als Zeichen der Stärke (besonders LKWs haben sehr laute Hupen, die einen aus dem Sitz hauen) oder das Begrüßungshupen. Schließlich gibt es das genervte, sehr lang anhaltende Dauerhupen, das anzeigt: Komm endlich aus dem Haus oder beeile dich beim Aussteigen, du hast nun die Nerven aller anderen ausreichend in Anspruch genommen. Dann gibt es noch das verzweifelte Hupen vieler Autos gleichzeitig, zum Beispiel dann, wenn sich der Verkehr vollständig festgefressen hat, wenn es minutenlang gar nicht mehr weitergeht. Das heißt dann: Wir ertragen es nicht mehr, einigt euch endlich, wir drehen gleich alle durch! Es heißt auch, in Richtung Verkehrspolizist: Nun sind wir dran, gib unsere Fahrbahn frei, gib endlich das Zeichen, stoppe die anderen und lass uns fahren. Das ist dann das die Staatsmacht ermahnende Hupen. Und schließlich ist da noch das krankhafte Hupen mancher Minibus- und Taxifahrer. Es ist wie ein nervöses Zucken, alle paar Sekunden hupen sie, ohne erkennbaren Grund, einfach so, immer wieder, regelmäßig und enervierend: Ich hupe, also bin ich. Dass sie damit den Rest der Stadt in den Wahnsinn treiben, scheint ihnen ganz egal zu sein.
Nun mag das alles reichlich witzig klingen, tatsächlich ist es bitterer Ernst. Denn wenn man die Zeichen nicht beachtet, dann wird es wirklich gefährlich in Kairo, wo für Fußgänger eben nicht gebremst wird, wo man als Fahrradfahrer schon fast lebensmüde sein muss, wo das Recht des Stärkeren gilt. Das trifft es vielleicht am besten: Der ägyptische Verkehr ist sozialdarwinistisch geprägt, es gilt das Recht des Stärkeren, des Größeren, des Schnelleren. Es herrscht das Gesetz des Wilden Westens. Ich habe regelrechte Racheakte erlebt. Der eine fährt dem anderen den Spiegel ab, fährt aber weiter (gezahlt wird ja ohnehin nie). Der andere nimmt die Verfolgung auf, versucht den Spiegelabfahrer zu stellen (indem er sich zum Beispiel quer stellt) oder, wenn das nicht gelingt, sinnt auf Rache, indem er nun seinerseits das Auto des anderen beschädigt; dass dabei nicht immer verhältnismäßig gehandelt wird, versteht sich von selbst. Alle wissen: Niemand wird hier für seine Fehler geradestehen, der Staat ist schwach, die Strafverfolgung funktioniert nicht oder ist so langsam, dass von einer Strafe nicht mehr die Rede sein kann. Daher sichern sich alle selbst ihr Recht – und wenn es bedeutet, dem anderen wenigstens einmal die Faust ins Gesicht zu rammen.
Und während es in Kairo aufgrund der Staulage noch meistens mit Blechschäden abgeht, sind die Landstraßen, die Autobahnen und Stadtautobahnen wirklich extrem gefährlich, dort fordert der Straßenverkehr die meisten Opfer. Insbesondere in der Nacht würde ich daher von Überlandfahrten absehen, und wenn ich einen Bus (und schlimmer noch: Minibus) nutze, dann brauche ich einigen Fatalismus, ohne den man allerdings in diesem Land ohnehin nicht gut leben kann. Wenn man deutsche Sicherheitsstandards ansetzt (die natürlich auch mitunter total überreguliert sind), dann kann man in Ägypten nur ganz bedingt am Straßenverkehr teilnehmen.
Aber eine gute Meldung gibt es selbst in diesem Kapitel: Man erlebt, bei allem Kampf, trotz aller Härte, auch Menschlichkeit im Verkehr. Und davon dann vielleicht wieder mehr als in Deutschland. Ein Beispiel: Der Blinker, diese elektronische Hand, wird oft ignoriert. Wenn ich abbiegen will, strecke ich die Hand aus dem Fenster, statt das kalte elektronische Signal zu nutzen. Nehme ich sogar Blickkontakt auf, dann werde ich in aller Regel in die Autoschlange hineingelassen. Ein Lächeln wirkt zudem Wunder, die Menschen regen sich sofort ab, wenn man freundlich ist und lächelt. Einer Bitte wird entsprochen, ein Fehler wird verziehen, eine noch so dämliche Frage wird beantwortet, wenn man freundlich und höflich handelt. Dann ist das Gesetz auch nicht mehr so wichtig, dann ist der Ärger schnell vergessen, dann begegnet man einander wieder als Menschen. Dann gilt das Gegenüber wieder höher als Regeln und Technik, dann greift der Reflex, der da heißt: „Du musst ein guter Mensch sein!“ Und wenn ich dann während der Ferien in Deutschland, in unserer Kleinstadt, auf die deutschen Hilfssheriffs treffe, für die niemals eine Sieben gerade sein kann, die immer alles besser wissen und die einen noch fünf Kreuzungen später hassen, sollte man einen Fahrfehler begangen haben – dann sind mir die Ägypter doch mitunter lieber, weil sie schneller verzeihen, weniger verbissen und nicht so besserwisserisch sein können.
Am 9.11.2001 war ich in Kairo. Ich kann mich sehr gut an diesen Tag erinnern, wie wohl jeder, der damals bereits in einem gewissen Alter war. Wie gebannt saß ich über Stunden mit einem befreundeten Kollegen vor dem Fernseher und sah die Bilder, die wir alle kennen. Irgendwann sagte er: „Du wirst sehen. Das wird die Welt verändern.“ Er sollte recht behalten. Die Reaktionen damals in Kairo waren für mich und uns zum Teil erschreckend, es war kein Hass, kein Extremismus, und doch hörte ich Bemerkungen wie: „Endlich haben die Amerikaner auch mal was abgekriegt.“ Oder: „So geht es den Palästinensern jeden Tag, jetzt sehen die Amerikaner mal, wie das ist.“ Die Schüler murrten gegen die befohlene Schweigeminute – schließlich hätten wir, also die deutschen Lehrer und die deutsche Schulleitung, für palästinensische Opfer noch nie eine Schweigeminute eingelegt und beklagten immer nur westliche Opfer, die seien wohl mehr wert als nahöstliche Opfer, hieß es hinter vorgehaltener Hand. In einem Café bekam Bin Laden Beifall. Alle schauten auf die Fernseher, die in ägyptischen Restaurants in der Regel an den Wänden hängen. Ich wunderte mich, weil ich Frauen klatschen sah, obwohl er Frauen ganz sicher nicht erlauben würde, eine Schischa in einem Café zu rauchen. Darum ging es aber nicht. Er hatte sehr geschickt gesprochen, er kannte seine Zuhörer und deren Denken, er spielte die Palästinenser-Karte so gekonnt, wie Hitler die Versailles-Karte einst spielte. So wie in Weimar wenigstens die Empörung über Versailles ganz allgemein war und über alle politischen Lager hinweg ähnliche Emotionen schürte, so ist Palästina der schmerzende Stachel für die Menschen in den arabischen Ländern – auch über alle politischen und religiösen Lager hinweg. Wenn es um den Versailler Vertrag ging, dann waren sich die Deutschen einig – der galt als eine Revancheakt der Franzosen. Und ebenso ist es für die meisten Menschen in den arabischen Ländern: Man ist sich einig, dass Israel im Unrecht ist, von den USA geschützt wird – und dass gleichzeitig den Palästinensern großes Unrecht widerfahren ist und immer noch widerfährt. Bin Laden wusste das, er wusste genau: In diesem Punkt stimmen sie mir alle zu, hier jubeln die arabischen Massen, wenn ich zum Kampf für Palästina aufrufe.
Heute, 18 Jahre später, würde auch in Kairo niemand mehr Bin Laden zujubeln und ihm zustimmen, heute würde der Extremismus bei der breiten Mehrheit keinerlei Zustimmung mehr finden, heute scheint, angesichts des Terrors in der Welt und des Kriegs in Syrien, auch Palästina nur noch ein Randthema zu sein. Nach meiner Einschätzung ist der extreme politische Islamismus tot. Er findet keine Mehrheit mehr, die El Islam howa el Hal (der Islam ist die Lösung) schreit, die meisten Moslems sind wütend darüber, wie die Islamisten den Ruf ihrer Religion ruiniert haben und weiter ruinieren, der einfache Moslem will mit dem IS und Bin Laden nichts zu tun haben. Aber der Splitter, der Stachel: Der ist hineingetrieben und macht uns krank. Die Wunde eitert und heilt nicht, und der ganze Körper scheint infiziert. Bin Laden und seine Nachfolger (z.B. auch der IS) hatten Erfolg: Der Graben zwischen Moslems und dem Rest der Welt wird immer tiefer, die Stimmen, die zur Vernunft aufrufen, werden immer lauter übertönt von denen, die ganz einfach urteilen, die schwarz und weiß denken und so auch reden, und die die Welt in einem Kampf der Kulturen sehen. Ich glaube nicht an den Kampf der Kulturen. Huntington konstruiert Gegensätze (zwischen „unserer“ westlichen Welt und der „moslemischen Welt“), die es in der Realität nicht gibt; er suggeriert eine Geschlossenheit in den arabischen Ländern, die eine Illusion ist, er schreibt den Menschen ein Denken zu, das ich in keinem Gespräch entdeckt habe.
Fragte man die Leute auf den Straßen Kairos, sie würden erstaunt schauen, sie kennen Huntingtons6 Thesen nicht und könnten mit dem Begriff „Kampf der Kulturen“ nichts anfangen. Sie wollen leben, beten, essen und arbeiten – aber sie wollen nicht in irgendeinen Heiligen Krieg ziehen, sie wollen nicht siegen und beherrschen, die Mehrzahl macht sich noch nicht einmal ein Bild davon, was die Welt mittlerweile mit einem Moslem verbindet. Der einfache Ägypter weiß nicht, was sich verändert hat.
In der Nähe unserer Wohnung gibt es zum Beispiel einen dieser rund um die Uhr geöffneten Kioske, die in Kairo an jeder Ecke stehen. Dort arbeitet eine sehr nette, einfache und mit Sicherheit völlig unpolitische Frau mit Nikab7, die uns immer wieder sagt, wie gerne sie einmal mit uns nach Deutschland käme. Wir bleiben dann freundlich und unverbindlich, ich aber denke: Die Ahnungslose! Wenn sie wüsste, was ihr Aussehen für die meisten Menschen in Europa bedeutet, wenn sie wüsste, was sie in ihrem Aufzug dort buchstäblich verkörpert! Sie ahnt es nicht, denn sie hat Kairo noch nie verlassen, vielleicht sogar ihren eigenen Stadtteil nicht, sie weiß nicht: Der Splitter ist in der Welt, und mit jedem Anschlag, mit jeder Gewalttat sucht er weiter seinen zerstörerischen Weg in den Körper hinein.
Ich kann mich gut an die Anfänge erinnern. 2001: Wir hatten auf einmal das Gefühl, dass irgendwas in der Schule nicht mehr stimmte. Es gab eine große Konferenz: Wir, die arabischen und die deutschen Kollegen, wollten klären, was zwischen uns ist, wir spürten die Entfremdung. Ich kann mich an ratlose Gesichter erinnern, an viel guten Willen und doch wenig Fortschritt. Aber einen Satz habe ich nie vergessen, nur habe ich ihn damals, meine ich, nicht richtig verstanden. Eine junge Kollegin aus der modernen Fraktion der arabischen Kollegen (ohne Kopftuch, immer sehr leger gekleidet) sagte etwas, von dem ich heute glaube, dass es zutrifft. Es habe, sagte sie, doch immer ganz gut geklappt mit dem Grundsatz: agree to disagree. Man hätte irgendwie gewusst, dass man in manchen Fragen nicht einer Meinung sei, aber das sei nicht schlimm gewesen, man hätte den anderen gelassen, jeder hätte seine Wahrheit gehabt und damit gelebt. Agree to disagree. Wir müssten einander in unserem jeweils eigenen Denken hinnehmen, akzeptieren, tolerieren. Das ist, denke ich, der richtige Ansatz: respektvolle Toleranz im gegenseitigen Umgang.
Und genau dies ist seit 2011 nicht mehr möglich. Es läuft seitdem immer häufiger auf ein: „Entscheidet euch!“ hinaus. Und nichts ist besser geworden. Jeder weitere Terroranschlag hat den Graben vertieft, und die diejenigen, die sagen: „Seid vorsichtig, macht nicht alle Moslems verantwortlich, die Täter sind nur eine Minderheit, sind nur Extremisten, man muss differenzieren, sonst haben die Terroristen erreicht, was sie wollten“ – diese Gruppe wurde und wird immer kleiner. Und vielleicht stimmt auch das: Die Moslems und der Islam müssen sich ihren eigenen gewalttätigen Tendenzen stellen, müssen erkennen, dass der Anspruch, die einzige Wahrheit zu besitzen, ein totalitärer Anspruch ist. Und totalitäre Ansprüche entladen sich oft in Gewalt.
Wir, also der Westen, „unser“ Lebensmodell und unsere Vorstellung von der richtigen Staatsform, können aber nicht die ganze Welt erziehen. Es gibt keine Alternative zum Gespräch, zum Dialog und zur gegenseitigen Toleranz. Oder wollen wir die anderen mit Krieg überziehen, bis sie endlich sagen, dass ihre Religion rückständig, frauenfeindlich und ohnehin obsolet ist, bis sie endlich auch (so wie wir) ihre Religion historisch-kritisch untersuchen und ihren Wortglauben aufgeben?8 Wir alle sollten lernen, auch das Andere auszuhalten, wenn es einfach nur anders sein will. Das scheint aber nicht mehr zu funktionieren, die Terroranschläge haben zu viel zerstört. Und es stimmt, was Karl Kraus gesagt hat: „Völker werden durch Schaden dumm.“ Vielleicht müsste man den Satz ändern: Völker verlieren durch Schaden die Lust auf Differenzierung, die Geduld und die Zurückhaltung. Stattdessen vereinfachen sie, bekriegen einander, wollen einander „mit Stumpf und Stiel ausradieren“, grenzen sich selbst aus, beantworten Intoleranz mit Intoleranz, hassen, schreien und stürzen sich in wütendes Erziehen. Das wird keine Lösung sein. „Agree to disagree.“ Dieser Satz beinhaltet eine einfache Wahrheit. Die Wahrheit, dass manchmal andere Ansichten, auch grundsätzlich andere Weltsichten hingenommen werden müssen, dass nicht immer ein wirklicher Dialog (mit dem Ziel, ein „echtes“ Ergebnis zu erreichen) möglich ist, dass man eben manchmal auch vermeintliche „Unvernunft“, politische Dummheit oder voraufgeklärtes Denken ertragen muss. Eine Kultur, die keine Aufklärung erlebt hat, die zum Beispiel (noch) kein kritisches Verhältnis zur Religion u.a. vorgeblichen „natürlichen“ Autoritäten entwickelt hat, die kann nicht in wenigen Jahren diesen Prozess durchlaufen, für den wir Jahrhunderte brauchten. Ebenso naiv ist es, davon auszugehen, dass alle Länder, ganz unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, jetzt und heute die Demokratie nach westlichem Vorbild einführen können.
Wir haben Ende September, seit gestern auch die Erlösung vom Albtraum der Sommerhitze, endlich etwas Abkühlung in der Nacht. Die Septemberhitze ist oft wesentlich unangenehmer (weil feuchter) als die Mai- oder Junihitze. Was es aber erträglicher macht: Während die Hitze im Mai und Juni Tag für Tag schlimmer wird, weiß man im September, dass es nur besser werden kann. Alles läuft Richtung Winter – und der ist herrlich in Ägypten. Aber niemand weiß eben genau, wann der Umschwung kommt. Nun ist er da. Gleichzeitig beginnt allerdings der andere Albtraum: Seit gestern sind die ägyptischen Schulen wieder geöffnet. Das heißt: Gut acht Millionen Schüler und Studenten wollen zu ihren Schulen und Universitäten, hin und zurück. Die Veränderung ist schon morgens um halb sieben zu bemerken, viele Privatschulen holen bereits um diese Zeit mit Sammelbussen die Schüler ab. Insgesamt ist es schier unfassbar, wie sehr sich das Straßenbild von einem Tag auf den anderen verändert. Schon um acht Uhr ist das Verkehrsaufkommen so stark, dass Ankunftszeiten kaum sicher zu berechnen sind (das geht nur bis etwa halb acht). Wenn ich dann von der Schule zurückfahre, zwischen 14 und 15 Uhr, dann geht oft gar nichts mehr: der totale Verkehrsinfarkt. Eltern, Eltern, Eltern. Kinder, Kinder, Kinder. Die ägyptische Gesellschaft ist sehr kinderreich, die deutsche dagegen alt und vergleichsweise arm an Kindern. Niemals wird der Kontrast zu Deutschland so sichtbar wie jetzt. In Ägypten sieht man vorwiegend junge Menschen in der Öffentlichkeit, die Gesellschaft ist extrem jung, sehr alte Leute beobachtet man fast gar nicht auf den Straßen. Viele Ägypter sterben zum einen früher (die durchschnittliche Lebenserwartung ist deutlich geringer als in Europa9), zum anderen bleiben die ganz alten Menschen fast durchgängig in den Wohnungen, sie werden in der Regel von den Familien oder deren Angestellten betreut. Wenn man hier „alte“ Menschen in der Öffentlichkeit sieht, handelt es sich meist um etwa Sechzigjährige.