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Neue und effiziente Therapiemöglichkeiten bei Lernproblemen, Aufmerksamkeitsstörungen, Hausaufgabenchaos und Co. - Neuer Therapieansatz für die häufigsten Probleme bei Kindern: Wahrnehmungsstörungen, Lernprobleme, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen - In Fallbeispielen berichten Kinder und Eltern über ihre Erfahrungen Hyperaktivität, Lese- und Rechtschreibprobleme, Rechen- und Aufmerksamkeitsstörungen in der Schule, Machtkämpfe um Hausaufgaben und das Abtauchen in die mediale Welt des I-Pads und Co. bestimmen den Alltag vieler Familien. Dass diesen Störungsbildern häufig Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörungen zugrunde liegen, zeigen Erkenntnisse aus der modernen Hirnforschung. Sie bilden den Ausgangspunkt für neue, daraus abgeleitete Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Die Autoren erläutern diese Zusammenhänge und stellen Lösungsansätze für eine zielgerichtete Unterstützung betroffener Kinder in Familie, KiTa und Schule vor. Spezielle Trainings zur Stärkung des Lernverhaltens, aber auch des Sozial- und Kommunikationsverhaltens werden vorgestellt und ihre Wirksamkeit anhand von Fallbeispielen belegt. Dieses Buch richtet sich an: - Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen - LerntherapeutInnen, LogopädInnen, ErgotherapeutInnen - Eltern, LehrerInnen, PädagogInnen
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Seitenzahl: 450
Petra Friederichs, Edgar Friederichs
Es muss nicht immer ADHS sein
Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen erkennen und erfolgreich behandeln
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Weiß Freiburg
unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock/ImageFlow, © adobe stock/mikemols
Abbildung 1 und 16: Christine Lackner, Ittlingen
Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98230-5
E-Book: ISBN 978-3-608-12117-9
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20489-6
Danksagung
Vorbemerkungen
Kapitel 1
Informationsverarbeitung im Gehirn
1.1 Das Gehirn sieht, hört und fühlt
Informationsverarbeitung und Wahrnehmung
1.2 Die frühe Entwicklung der Informationsverarbeitung
Die Gehirnentwicklung
In der Schwangerschaft
Eine zu frühe Geburt
Nach der Geburt
Tom entwickelt außergewöhnliche Fähigkeiten
1.3 Exkurs: Der Gehirnaufbau
1.4 Zusammenfassung: Wie das Sehen und das Hören funktionieren
Kapitel 2
Störungen der Aufmerksamkeit
2.1 Störungen in der Informationsverarbeitung im Gehirn
Die Sehverarbeitungsstörung
Sehverarbeitung ist die Grundlage zahlreicher Fertigkeiten
Diagnosestellung
Die Hörverarbeitungsstörung
Hörverarbeitung ist die Grundlage zahlreicher Fertigkeiten
Diagnosestellung
2.2 Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts‑Störung (ADHS)
Häufige Merkmale einer ADHS
Kleiner Exkurs ADHS
Unterscheidung zwischen ADHS und anderen Störungsbildern mit einer beeinträchtigten Aufmerksamkeit
Kapitel 3
Kinder mit einer Seh- oder Hörverarbeitungsstörung
3.1 Beispiele aus der Praxis: Sehverarbeitungsstörungen
Paul will immer der Boss sein
Was läuft in Pauls Gehirn ab?
Was passiert bei Paul sozial?
Jule hat keine Lust auf Hausaufgaben
Das Elterngespräch mit der Lehrerin
Was läuft in Jules Gehirn ab?
Jonas war immer gut in der Schule
Was läuft in Jonas Gehirn ab?
3.2 Beispiele aus der Praxis: Hörverarbeitungsstörungen
Philipp hat keine Lernerfolge
Was war bei Philipp zu berücksichtigen?
Was läuft in Philipps Gehirn ab?
3.3 Beispiele aus der Praxis: Ein bunter Mix an Auffälligkeiten
Emil kam zu früh auf die Welt
Was läuft in Emils Gehirn ab?
Minderbegabung und Verarbeitungsstörungen
Jasmin möchte rechnen lernen
Glaubenssätze überwinden
3.4 Besondere Herausforderungen im Alltag
Motivationsprobleme: Und immer ist der Akku leer
Rechtschreibung mit Hindernissen
Schau doch hin und lies vor, was dort steht
Rechenprobleme
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme
Verhaltensauffälligkeiten
Wenn der Stress zu hoch wird
Die gesamte Familie ist betroffen
Alleinerziehende Eltern
Kapitel 4
Diagnostik
4.1 Informationen zum Entwicklungsverlauf: Die Anamnese
4.2 Diagnostik einer ADHS
4.3 Diagnostik der Seh- und Hörverarbeitung
Metapher zur Notwendigkeit einer differenzierten Diagnostik
Messungen und Darstellungen der Sehverarbeitung
Gehirnpotentialmessung für die Sehverarbeitung
Unterschiedliche Verarbeitungsabläufe hinter dem rechten und dem linken Auge
Stress in der Sehverarbeitung kann zur Einäugigkeit führen
Messungen und Darstellungen der Hörverarbeitung
Gehirnpotentialmessung für die Hörverarbeitung
Unterschiedliche Verarbeitungsabläufe hinter dem rechten und dem linken Ohr
Kleiner Exkurs für den fachlich interessierten Leser
Darstellungsmöglichkeiten der Verarbeitungsprozesse
Die Blicksteuerung
Simultane versus sequenzielle Seh-Erfassung
Crowding
Die Binokulare Fusionsstörung
Sprachfreie Hörtestungen
4.4 Stressdiagnostik – Messung der Herzratenvariabilität (HRV)
Durchführung der HRV Messung
Kleiner Exkurs
Der Sympathikus
Der Parasympathikus
Sympathikus und Parasympathikus in der Balance
4.5 Psychologische und pädagogische Testungen
Testungen der Lese- und Rechtschreibkompetenzen
Testung des Leseverständnisses
Testung der Rechenkompetenz
Intelligenztestungen
Verhaltensdiagnostik
Ein großes Interesse an Computer- und Videospielen
4.6 Stoffwechsel- und Laboruntersuchungen
Botenstoffe und Stresshormone
Glukosestoffwechsel
Vitamine, Mineralstoffe, ungesättigte Fettsäuren
Nahrungsmittelergänzung
Weitere Laboruntersuchungen
Kapitel 5
Therapien
5.1 Therapien bei Verarbeitungsstörungen
Der Einstieg in die Therapie
Neurophysiologische Therapien
Wahrnehmungstherapien
Was Wahrnehmungstherapien erfolgreich macht
Die Innere Visualisierung
Neurofeedbacktherapie
Lasertherapie
Blicksteuerungstraining
Ergotherapie
Logopädie
Messung des Therapieerfolges
Psychotherapie
Systemische Familientherapie
Michael reagiert auf den Stress der Eltern
Einzeltherapie
Ernährung und Nahrungsmittelergänzungen
Weitere therapeutische Möglichkeiten
Osteopathie
Feldenkrais
Tiergestützte Therapien
5.2 Therapien bei ADHS
Medikamentöse Therapie
Multimodale Therapie
Kapitel 6
Fördermöglichkeiten für betroffene Kinder
6.1 Fördermöglichkeiten in der Familie
Die Perspektive des Kindes einnehmen
Die Bedeutung einer resilienten Entwicklung
Wichtige Resilienzfaktoren
Prioritäten im Familienalltag setzen
Verhaltensstrategien für Eltern
Wie können solche Ansätze für ein Kind mit einer Verarbeitungsstörung konkret umgesetzt werden?
Merkmale einer Überforderung
Lernen am Modell
12 Hinweise für Eltern
Lernstrategien für zu Hause
Strategien, die Erleichterung beim Lernen verschaffen
Allgemeine Fördermöglichkeiten bei einer visuellen Verarbeitungsstörung
Vergrößerungen
Lernen von Lernwörtern im Rahmen der Rechtschreibung
6.2 Fördermöglichkeiten in der Kita
Beobachtungskriterien
Kommunikation
Die Macht der positiven Sprache
Gefühle wahrnehmen und ausdrücken
Wertschätzung und Anerkennung statt Komplimente
Elterngespräche
Resilienzförderung in der Kita
6.3 Fördermöglichkeiten in der Schule
Schulreife
Auswahl des Schultyps
Die Regelschule
Montessori- und Waldorf-Pädagogik
Förderschulen
Den Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigen
Der Zusammenhang zwischen Lernen und Emotionen
Konkrete Unterstützung durch Lehrkräfte im Unterricht
Lernmaterialien sollten angepasst werden
Kapitel 7
Betroffene Mütter und eine junge Frau berichten über ihre Erfahrungen
7.1 Bericht von Marie und ihrer Mutter
7.2 Bericht von Hannas Mutter
7.3 Bericht von Annas Mutter
Kapitel 8
Ausblick
Literaturverzeichnis
Glossar
Für unsere wunderbaren Töchter
Lara, Katja, Leah,
durch die wir viel lernen durften.
Wir danken den zahlreichen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern, die wir in den vergangenen 25 Jahren in ihrer Entwicklung ein Stück begleiten durften. Die spannenden Aufgaben, die sie uns stellten, der wertschätzende Austausch und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglichten es uns weitere Behandlungskonzepte zu entwickeln und zu präzisieren. Hieraus ziehen wir bis heute unsere Motivation nicht stehen zu bleiben, sondern uns ebenso, wie unsere Patientinnen und Patienten, stets weiterzuentwickeln.
Ein besonderer Dank gilt den Eltern, Kindern und Jugendlichen die uns erlaubten ihre Entwicklungsverläufe in diesem Buch darzustellen und die teilweise auch ihre persönlichen Erfahrungen, Sichtweisen und Gefühle mit den Lesern teilen.
Ein ganz herzlicher Dank geht an Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen Jahren unsere fachliche Entwicklung mit begleiteten und die sich die Zeit nahmen dieses Buch in Form von zahlreichen Diskussionen und guten Anregungen zu unterstützen.
Diese Welt braucht mehr Erwachsene, die die Entwicklung von Kindern verstehen. Damit ist nicht nur gemeint, wann Kinder sprechen und laufen lernen und sie ihr Zimmer allein aufräumen müssten. Wann sie sich angepasst verhalten und soziale Beziehungen aufbauen können und wann es mit dem Schreiben, Lesen und Rechnen sicher funktionieren sollte. Es ist vor allem damit gemeint, welche Voraussetzungen für jedes Kind gleichermaßen notwendig sind und welche Entwicklungsschritte es durchlaufen muss, um schließlich diese und andere Fertigkeiten zu beherrschen. Bei all diesen Entwicklungsschritten geht es um Vernetzungsprozesse im Gehirn, die bei dem einen Kind schneller, bei dem anderen langsamer und beim dritten Kind nicht ohne gezielte therapeutische Unterstützung stattfinden. In diesem Buch geht es um die Bedeutung dieser Vernetzungsschritte im Gehirn für eine umfassende Entwicklung des Kindes und was es für ein Kind und seine Eltern bedeutet, wenn all dies, oder auch nur einzelne Bereiche davon, nicht so funktionieren, wie sie eigentlich sollten. Es gibt im Weiteren ausführliche Informationen zu diagnostischen Möglichkeiten sowie therapeutischen Maßnahmen, die nicht auf ADHS ausgerichtet sind. Und es geht um Fördermöglichkeiten in der Familie, der Kita und der Schule.
War es früher mehr ein Abhaken von verzögerten Entwicklungsschritten, die zwar auffielen, aber man sich als Eltern beruhigte oder auch beruhigt wurde mit: »Warten Sie mal ab, das verwächst sich schon noch«, so wissen wir heute aus der modernen Gehirnforschung, dass sich Vieles nicht einfach »verwächst«. Die Symptome verändern sich, aber die Probleme bleiben. Einzelne Entwicklungsschritte bauen aufeinander auf und eine Lücke oder Schwäche im Aufbau beeinflusst häufig die hiermit verbundenen nächsten Entwicklungsschritte, eben mehr oder weniger. Und von so manchen wichtigen Verbindungen während der Reifung des kindlichen Gehirns, die es durch Erfahrung und Erziehung zu festigen gilt, war bis vor einigen Jahren noch gar nichts Genaues bekannt. Und somit kannten wir auch manche Abhängigkeiten bestimmter Entwicklungsschritte untereinander nicht. Nicht etwa, dass man vor 30 Jahren gar nichts wusste, aber man wusste nur wenig Genaues und vor allem nicht, wie man hierauf konkret reagieren konnte. Heute wissen wir auch noch nicht alles, aber doch schon sehr viel mehr. So kann ein aktuelles Störungsbild bei einem Kind, z. B. bei schulischen Lernprozessen und Verhaltensauffälligkeiten seinen Ursprung in fehlgelaufenen Entwicklungsschritten im Gehirn haben, die bereits Jahre zurückliegen. Und häufig ist es wichtig, genau diese, vielleicht bereits vor Jahren fehlgelaufenen Entwicklungsschritte zu erkennen, um Eltern gezielt zu beraten oder eine wirksame therapeutische Unterstützung anbieten zu können.
In den vergangen drei Jahrzehnten hat die Gehirnforschung enorm viele Erkenntnisse und damit neues Wissen hervorgebracht. Hinzu kommen riesige Fortschritte in der Medizintechnik, die Einblicke ins Gehirn und spezifische Messungen erlauben und damit viele Zusammenhänge aufdecken, die lange unbekannt waren. Leider kommt dieses Wissen nur sehr langsam dort an, wo mit Kindern im Alltag gearbeitet wird, wie in den Kindertagesstätten, Schulen und Horten, den Erziehungs- und Familienberatungsstellen, sowie der Entwicklungs- und Gesundheitsvorsorge und der medizinischen und psychologischen Grundversorgung.
Mit unserem Buch möchten wir dazu beitragen, dass genau dieses Wissen aus dem wissenschaftlichen Bereich mehr Eingang in die Bereiche der praktischen Arbeit mit Kindern und Eltern erhält. Die Arbeitsweise des Gehirns ist faszinierend und geradezu genial, aber auch entsprechend kompliziert, da seine Funktionen enorm komplex sind. Oft sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt und entsprechend veröffentlicht, aber wenig allgemein zugänglich bzw. allgemein verständlich. Und es fehlt an Pionieren, die wiederum Methoden entwickeln, um wissenschaftliche Erkenntnisse in der praktischen Arbeit besser nutzen zu können. Das ist nicht immer ganz einfach und bislang auch nicht in allen Bereichen möglich, aber eben doch bereits in einigen.
In diesem Buch werden wir uns auf Teilbereiche der kindlichen Gehirnentwicklung beschränken, nämlich auf die Entwicklung der Informationsverarbeitungsprozesse des Sehens und Hörens – und zwar von Anfang an. Wir meinen hier nicht die Teilfunktionen des Sehens und Hörens, die über die Augen und Ohren ablaufen. Es geht in erster Linie um die Funktionen des Sehens und des Hörens, die im Gehirn stattfinden. Denn diese Prozesse sind grundlegend wichtig für den Aufbau des Sozialverhaltens, sowie weiterer kognitiver Lernprozesse des Menschen, wie z. B. Lesen, Schreiben, Rechnen zu lernen, im Gedächtnis zu speichern und bei Bedarf abrufen zu können. Mögliche Auswirkungen von Fehlentwicklungen auf andere wichtige Bereiche, wie der Motivation oder der Beeinflussung von Emotionen werden wir bis ins Erwachsenenalter hinein beschreiben.
Und was hat das nun alles mit ADHS zu tun, werden Sie sich vielleicht jetzt fragen. Eigentlich gar nichts und doch sehr viel.
ADHS ist die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, die es mit und ohne den Anteil der Hyperaktivität (also der körperlichen Unruhe) gibt. Häufige Symptome einer ADHS sind Unaufmerksamkeit und Konzentrationsstörungen, Impulsivität, körperliche Unruhe, aber auch Lern- und Leistungsprobleme, emotionale Regulationsprobleme, Vermeidung kognitiver Anforderungen, Strukturierungsprobleme bei der Umsetzung von Anforderungen, Schwierigkeit beim Zuhören, erhöhte Vergesslichkeit, Unfähigkeit Aufgaben abzuschließen, Verlieren von Gegenständen, mangelnde Gefahreneinschätzung, motorische Ungeschicklichkeit und anderes mehr. Aber genau diese gleichen Symptome können auch bei einer Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung im Gehirn beobachtet werden. In der Praxis hat sich deutlich gezeigt, dass allein auf der Grundlage der Beobachtung des Kindes und des Ausfüllens eines entsprechenden Fragebogens und eines Intelligenztests hier nicht zuverlässig unterschieden werden kann, ob ein Kind, das diese Symptome zeigt, eine ADHS oder eine Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung im Gehirn hat.
Der Unterschied ist: Bei einer ADHS ist die Aufrechtrechterhaltung einer zielgerichteten Aufmerksamkeit gestört. Dieses Störungsbild wird derzeit wissenschaftlich als eine Folge gestörter »Exekutiver Funktionen« im Frontalhirn (im präfrontalen Kortex) gesehen. Hieraus ergeben sich zahlreiche weitere Probleme, wie auch eine gestörte Konzentrationsfähigkeit, eine hohe Ablenkungsbereitschaft und anderes mehr. Bei Informationsverarbeitungsstörungen, wie einer Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung kommt es in anderen Bereichen des Gehirns zu funktionellen Einschränkungen. In der Folge sind die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt und es besteht eine hohe Ablenkungsbereitschaft, die aber jeweils Kontext-abhängig ist. Die Beeinträchtigung tritt immer dann auf, wenn der entsprechend gestörte Informationsverarbeitungsbereich für z. B. eine Handlungsausführung zum Tragen kommt. Zum Beispiel fallen das Lesen oder die Rechtschreibung schwer oder werden vom Kind verweigert, wenn eine Sehverarbeitungsstörung vorliegt. Wir beschreiben unter anderem in diesem Buch welche weiteren Unterscheidungsmöglichkeiten es in einer differenzierten Diagnostik gibt. Eine gute Differenzierung ist nach unserer Erfahrung notwendig, um anhaltend erfolgreich in der Therapie zu sein. Denn eine ADHS wird nach anderen Kriterien behandelt als eine Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung. Und vor allem laufen die Lernaufbauprozesse beim Lesen, Schreiben und Rechnen anders ab. Und somit sollten diese entsprechend begleitet werden, damit sich ein betroffenes Kind gut entwickeln kann. Denn für Seh- oder Hörverarbeitungsstörungen gilt, wie auch bei der ADHS, dass diese keinen Einfluss auf die Intelligenz eines Kindes nehmen. Aber betroffene Kinder können ihre Potenziale, bedingt durch eine dieser Störungen, häufig nicht umsetzen. Hierzu bedarf es gezielter Therapien, auf die ebenfalls in diesem Buch eingegangen wird.
Die Entwicklung des kindlichen Gehirns in Bezug auf den Aufbau und die Funktionsweise der Seh- und Hörverarbeitung und möglicher Störungen in diesen Bereichen, beschreiben wir ebenfalls in diesem Buch. Dabei gehen wir besonders auch auf die Bedeutung dieser Störungen im Alltag von betroffenen Kindern und Jugendlichen ein. Es werden die Folgen für die soziale und emotionale Entwicklung und die Lernentwicklung vom Kleinkindalter an, über das Kindergarten- und Schulalter bis hin ins junge Erwachsenenalter dargestellt. Und welche Herausforderungen hiermit auch innerhalb der Familie verbunden sind. Es handelt sich hierbei um sehr umfangreiche und komplexe Zusammenhänge und voneinander abhängige Abläufe. Diese Komplexität so herunterzubrechen und zu beschreiben, dass sie für jede Leserin und jeden Leser, auch ohne ein Grundwissen hierfür mitzubringen, verständlich ist, ist eine Herausforderung. Deshalb stellen wir in diesem Buch viele Patientenbeispiele aus unserer Praxis dar, um einzelne Verhaltensmuster, Zusammenhänge oder auch Alltagssituationen betroffener Kinder und ihrer Familien zu veranschaulichen. Wem beim Lesen die beschreibenden Zusammenhänge zu theoretisch oder vielleicht auch nicht gleich verständlich erscheinen, kann sich mehr den praktischen Beispielen aus der Praxis zuwenden. Wir bedanken uns ausdrücklich noch einmal an dieser Stelle, für die zahlreiche, engagierte Unterstützung vieler ehemaliger und aktueller Patientenkinder und ihrer Eltern, die uns ihre Anamnesen und Erfahrungen für dieses Buch zur Verfügung stellten, indem sie uns erlauben diese jeweils unter veränderten Vornamen hier öffentlich darstellen zu dürfen. Die große Motivation der Eltern ist dabei vor allem, anderen Eltern und Kindern mit gleichen oder ähnlichen Problemen Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten weiterzugeben. Und die Zahl der Kinder mit einer Seh- und oder Hörverarbeitungsstörung ist groß, was sich sicherlich noch deutlicher in den kommenden Jahren zeigen wird, wenn sich das Wissen hierüber weiter verbreitet und es mehr Anlaufstellen gibt, die eine differenzierte Diagnostik durchführen. Unsere Erfahrungen und Darstellungen, die wir hier weitergeben, sind das Ergebnis einer 25-jährigen Tätigkeit in diesem spezialisierten Bereich. Hierzu gehören entsprechende Weiterbildungen, internationale Fachliteratur, der Austausch mit Fachkollegen, vor allem auch im internationalen Bereich. Denn in einigen Ländern ist die praktische Umsetzung schon stärker verbreitet als in Deutschland. Das Wichtigste und Wertvollste war für uns jedoch die direkte Zusammenarbeit in diesem Bereich mit mittlerweile weit über zweitausend Patientenkindern und ihren Familien.
Die Zusammenhänge, die wir in diesem Buch aufzeigen sind zum größten Teil wissenschaftlich belegt und publiziert. Das zeigen die jeweiligen Literaturhinweise im Text und unser Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Es gibt aber hin und wieder Verbindungen von Auffälligkeiten, die wir schon sehr lange bei einer hohen Zahl an Patientenkindern beobachten, ohne dass es genau hierzu bereits eine wissenschaftliche Studie gibt. Wir haben beschlossen, unseren Lesern trotzdem langjährige Beobachtungen und die hieraus folgenden Schlüsse aus unserer Praxisarbeit mitzuteilen. Denn diese können wichtige Hinweise, besonders auf die Arbeit im Alltag mit betroffenen Kindern, geben. Um für unsere Leserinnen und Leser den Unterschied zwischen der Wiedergabe wissenschaftlich belegter Inhalte und eigener Erfahrungen, die wir in unserer Praxisarbeit über zwei Jahrzehnte hindurch beobachten haben, deutlich erkennbar zu machen, verwenden wir für die eigenen Erfahrungen dann die Formulierungen, wie: »Aus der Erfahrung mit zahlreichen Patienten heraus …«, oder: »In unserer Praxisarbeit haben wir vielfach beobachtet, oder festgestellt, dass …«.
Petra und Edgar Friederichs
Bamberg, im Januar 2021
Kapitel 1
Vielleicht kann sich die eine oder der andere noch an seinen Biologieunterricht in der Schule erinnern, in dem die meisten bereits lernten, dass für das Sehen und Hören neben den Augen bzw. Ohren das Gehirn zuständig ist. Oder anders ausgedrückt, ohne die Leistungen des Gehirns kann der Mensch weder sehen noch hören. Grundlegend ist festzuhalten, dass die Augen nicht sehen, also keine Bilder aufbauen. Ebenso wenig hören die Ohren und identifizieren Geräusche oder verstehen Satzaussagen. Äußere Sinnesorgane, wie Augen und Ohren sind lediglich zur Aufnahme von Informationen aus der Umwelt da. Das Gehirn baut die Sehbilder, die Hörklänge und das Wortverständnis auf. Für alle anderen Sinnesbereiche gilt dies entsprechend. Im Gehirn entstehen der Geschmacks- und Geruchseindruck und Temperaturempfindungen. Somit ist nicht automatisch davon auszugehen, dass ein Mensch mit völlig gesunden Augen keine Sehprobleme haben kann oder mit völlig gesunden Ohren keine Hörprobleme. Leider wird das in der praktischen Medizin (in Deutschland) besonders bei Kindern und Jugendlichen bislang kaum berücksichtigt. Ein Augenarzt schaut sich die Leistung der Augen an, nicht aber ob es Probleme der visuellen Informationsverarbeitung im Gehirn gibt. Denn das gehört in der Regel nicht zu seinem Fachgebiet. Es gibt jedoch viele Möglichkeiten in der Informationsverarbeitung im Gehirn, die zu einem eingeschränkten Sehen oder Hören, schlimmstenfalls sogar bis zur Blindheit oder Taubheit führen können, ohne dass die Augen oder Ohren Beeinträchtigungen aufweisen. Wir sehen in unserer Praxis immer wieder Kinder, die teilweise über eine extrem reduzierte Seh- und Hörfähigkeit im Rahmen von nur noch 20–30 Prozent verfügen. Diese Kinder sind aber sowohl in den augenärztlichen Untersuchungen, als auch beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) völlig unauffällig gewesen. Werden also nur die Augen oder die Ohren untersucht, so wurde diesen Kindern für die Organe Auge und Ohr eine vollständige Seh- bzw. Hörfähigkeit attestiert.
Zunächst sind die Augen und die Ohren wichtige Organe, die Informationen aus der Umwelt aufnehmen und über die hierfür vorgesehenen Nervenverbindungen ins Gehirn weiterleiten. Dort werden diese Informationen vom Gehirn ausgewertet und miteinander verbunden. Der Ablauf dieser Vorgänge geschieht 1. von der Aufnahme von Informationen aus der Umwelt durch die äußeren Sinnesorgane (z. B. Augen und Ohren) über 2. die Weiterleitung dieser Informationen an unterschiedliche Stellen im Gehirn, um dort 3. eine Auswertung, Verarbeitung und Speicherung dieser Informationen vorzunehmen, durch die 4. ein bewusster oder unbewusster Sinneseindruck (Wahrnehmung) entsteht. (Friederichs in Materialsammlung Kindernetzwerk; Lurija & Métraux 2001). Dieser Ablauf stellt die Grundlage aller Sinneswahrnehmungen des Menschen dar. Der fehlerfreie Ablauf dieser Vorgänge ist wiederum die Grundlage für einen guten Aufbau und eine gute Abspeicherung aller Lern- und Erfahrungsprozesse eines Menschen. Dabei ist es egal, ob es sich um soziale Erfahrungen handelt, Lernen in der Schule, Erfahrungen in der Familie oder im Sportverein, Erlernen des Fahrradfahrens oder einer neuen Sprache. Alle Lern- und Erfahrungsprozesse laufen nach demselben Schema ab. Neben der genetischen Veranlagung spielen auch das Autonome Nervensystem (ANS), das neben zahlreichen anderen Dingen für die Stressregulation im Körper zuständig ist, und das limbische System (emotionales Zentrum) eine wichtige Rolle in der »Beeinflussung« der Informationsverarbeitung. Wesentliche Grundsteine für ein gutes Gelingen all dieser Prozesse werden bereits während der Schwangerschaft und den ersten drei Lebensjahren eines Menschen gelegt. Aber auch in den weiteren Entwicklungsjahren finden wichtige Gehirnreifungsprozesse statt, die einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen (Strüber & Roth 2016, Strüber 2019). Dabei geht es auch um die Festigung der Emotionalität und Kognition des Kindes, die unter Umständen den Rest seines Lebens beeinflussen werden. Um diese sehr komplexen Zusammenhänge zu verstehen und hierbei besonders die Funktion der Seh- und Hörverarbeitung für viele Entwicklungsprozesse eines Kindes erfassen zu können, geben wir zunächst eine kurze Übersicht, wie Informationsverarbeitung und Wahrnehmung im Gehirn funktionieren. Wen diese eher theoretischen Zusammenhänge nicht interessieren, dem empfehlen wir bei der Zusammenfassung dieser Informationen weiterzulesen.
Informationsverarbeitung und Wahrnehmung sind die Grundlage aller komplexen menschlichen Fertigkeiten. Dazu gehört, zu sprechen, sich zu konzentrieren, schreiben, lesen und rechnen zu lernen und anhaltend zu beherrschen, fein- und grobmotorische Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, Gefühle zu spüren, Verhaltensweisen aufzubauen und zu zeigen und vieles mehr. Es geht also dabei auch um hochentwickelte, sogenannte kognitive Fähigkeiten des Menschen. Die menschlichen Sinnessysteme sind hierbei von elementarer Bedeutung. Da gibt es zum einen unsere äußeren, peripheren Sinnesorgane, wie Augen, Ohren, Nase, Zunge, Gaumen, Haut. Diese äußeren Sinnesorgane nehmen Informationen aus der Umwelt auf und leiten sie über entsprechende Nervenbahnen an das Gehirn weiter. So leiten die Augen Lichtwellen, die Ohren Schallwellen, die Haut unter anderem Temperatursignale, Berührungssignale und anderes mehr an das Gehirn (Gassen 2010, Madeja 2011).
Aussagen wie: »Die Augen sind völlig in Ordnung, das Kind hat eine hundertprozentige Sehleistung und sieht damit wie ein Adler« oder »die Ohren sind in Ordnung und das Kind hört deshalb wie ein Luchs«, sind demzufolge kühne Behauptungen. Denn zusätzlich müsste nun noch überprüft werden, wie die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn abläuft, um letztendlich beurteilen zu können, ob das Kind wirklich richtig sieht oder hört oder es mit Einschränkungen in diesen Bereichen zu kämpfen hat (Lurija & Métraux 2001, Gassen 2010, Bellis 2003).
Die durch die äußeren Sinnesorgane aufgenommenen Reize gelangen als Informationen über jeweilige Nervenbahnen gezielt in entsprechende Regionen des Gehirns, wo sie weiterverarbeitet werden. Dabei werden diese Informationen der unterschiedlichen Sinnesbereiche sowohl in eigenen Kanälen weitergeleitet als auch mit Nervenzellen aus anderen Sinnesbereichen verbunden. Es bilden sich sogenannte Nervenzellnetzwerke, die auch neuronale Netzwerke genannt werden. Die entsprechenden Nervenzellen, sogenannte Neuronen, liegen auf der Gehirnoberfläche, dem äußeren Kortex. Dieser besteht aus etwa 100 Milliarden Neuronen, die zwar einzeln identifizierbar sind, sich aber zu Netzwerken verschalten und als solche permanent miteinander kommunizieren. Im äußeren Kortex gibt es bestimmte Netzwerke, die für die Verarbeitung von Sehinformationen zuständig sind, andere sind für die Verarbeitung der Hörinformationen zuständig, wieder andere sind für die Motorik oder das Fühlen über die Haut zuständig. Die Kombinationen von möglichen Verbindungen unterschiedlicher Netzwerke von Sinnes- oder motorischen Bereichen sind unerschöpflich. Das Gehirn funktioniert somit als eine große Schaltzentrale, die, im gesunden Zustand eines Menschen, meist strukturiert und geordnet arbeitet. Hier werden Informationen durch die neuronalen Netzwerke entweder hintereinander oder gleichzeitig verarbeitet. Es kommt zu ausgeprägten Wechselwirkungen verschiedener Informationen, die zu einer Gesamtinformation zusammenfließen können, welche dem Menschen dann bewusst werden oder aber im Unterbewusstsein bleiben. All diese Prozesse funktionieren über elektrische Entladungen einzelner Zellen bzw. Zellnetzwerke (Bear et al. 2009; Thompson 2010, Lurija & Métraux 2001).
Das menschliche Gehirn wird ununterbrochen mit Informationen aus der Umwelt über die äußeren Sinnesorgane versorgt, selbst im Schlaf, und das in einer irrsinnigen Geschwindigkeit. Kein Computer dieser Welt in der Größe eines Gehirns ist bislang in der Lage diese Leistungen des menschlichen Gehirns auch nur annähernd zu erreichen. So speichert allein das Unterbewusstsein etwa vier Milliarden Daten aus allen Sinnesbereichen pro Sekunde. Nur ein Bruchteil dieser Daten, die unser Gehirn als Informationen permanent erreichen, nehmen wir allerdings bewusst wahr. Der wesentliche Teil bleibt unbewusst, aber gespeichert.
Drei wesentliche Gestaltungsprinzipien bestimmen die Unverwechselbarkeit eines Gehirns gegenüber einem Computer (Lurija & Métraux 2001, Bear et al 2009, Madeja 2011, Strüber 2019, Macedonia & Höhl 2013, Macedonia et al. 2014).
Neuronale Plastizität: Das Gehirn kann neue Schaltkreise ausbilden, sowohl über die Verknüpfung älterer Bestandteile, als auch durch »Recyceln« vorhandener Nervenzellen und den Ausbau neuer Netzwerke durch Hinzufügung neuer Verästelungen. Es kann aber genauso zum Abbau nicht mehr benutzter Netzwerke kommen. Alle diese Netzwerke können grundsätzlich von umweltbedingten Schlüsselfunktionen beeinflusst werden. Die Neuronale Plastizität ermöglicht, dass der Mensch lebenslang in der Lage ist, neue Dinge zu erlernen und neue Fähigkeiten zu erwerben.
Nervenzellen verbinden sich zu Nervenzellnetzwerken: Nervenzellen können sich zu spezialisierten Netzwerken zusammenschließen. Innerhalb eines Netzwerkes arbeiten alle Zellen synchron miteinander. Es gibt dann nicht mehr elektrische Entladungen einzelner Zellen, sondern eine synchrone Entladung des gesamten Zellnetzwerkes. Dieses wird auch als ein gemeinsames »Feuern« der Zellen bezeichnet (»what wires together, fires together« (Hebb’sche Lernregel)).
Nervenzellnetzwerke verbinden sich zu Kommunikationssystemen: Spezialisierte Nervenzellnetzwerke können Verknüpfungen zu anderen spezialisierten Nervenzellnetzwerken herstellen. Z. B. kann ein visuelles Netzwerk sich mit einem auditiven Netzwerk verbinden. Dies erfolgt mit höchster Präzision, in tausendstel Bruchteilen einer Sekunde, quer durch das gesamte Gehirn. Diese Verbindungen geschehen unbewusst für den Menschen. Ein Beispiel: Hört ein Mensch das Knistern eines Kaminfeuers, kann sich hier bei ihm aus einer vergangenen Erfahrung eine Verbindung mit dem Sehen unbewusst verknüpfen. Wenn diese Person z. B. als Kind häufig vor dem Kamin seiner Eltern saß und beim Beobachten des Feuers im Kamin dem Knistern der Flammen lauschte. Durch die unbewusste Verbindung zwischen einem Hör- und einem Sehnetzwerk kann über die Hörinformation gleichzeitig ein Bild in dem Sehnetzwerk entstehen, z. B. aus einer Gedächtnisabspeicherung, ohne dass diese Sehinformation aus der Umwelt aktuell aufgenommen wird.
Im Wesentlichen bildet die Kombination dieser drei Prinzipien die Grundlage der Informationsverarbeitung im Gehirn. Durch sie werden sowohl unbewusste als auch bewusste Wahrnehmungserfahrungen ermöglicht. Als ein »bewusster« Eindruck entsteht z. B. ein Bild in der Sehverarbeitung, ein Wortverständnis oder ein Musikeindruck in der Hörverarbeitung oder ein Kälte-/Wärmegefühl in der Hautverarbeitung und vieles andere mehr. Alle diese Verarbeitungs- und Wahrnehmungsprozesse laufen gleichzeitig im menschlichen Gehirn ab. Wobei die eingehenden Informationen zunächst verarbeitet werden, um sie dann bewusst wahrzunehmen oder unbewusst abzuspeichern. Wenn wir es auch nicht direkt erfassen, so haben doch unbewusste Wahrnehmungen einen wesentlichen Einfluss auf unsere bewusste Wahrnehmung und somit auf unser Verhalten und unsere Gefühle.
Wir beschrieben bereits, dass sich die eingehenden Signale zu neuronalen Netzwerken im Gehirn zusammenschließen, kleinen, mittleren und großen Netzwerken. Und diese Netzwerke koppeln sich auch miteinander zu mehr oder weniger stabilen noch größeren Netzwerken. So gibt es Netzwerke, die sich nur auf einen bestimmten Sinnesbereich beziehen und es gibt Netzwerke, die mehrere Sinnesbereiche miteinander verknüpfen. Zum Beispiel gibt es Gehirnbereiche wo die Seh- und Hörverarbeitung Informationen austauschen. So wird es möglich, aus der gehörten oder gelesenen Information, die in unser Bewusstsein vorgedrungen ist, ein Bild im Sinne einer visuellen Vorstellung aufzubauen. Sehen und Hören werden hier also gekoppelt und zu einem neuen neuronalen Netzwerk verbunden. Wenn ein Kind seinen Eltern beispielsweise beschreibt, was es im Garten mit seinem Freund gespielt hat, so bauen die Eltern auch eine bildliche Vorstellung davon auf, ohne das Spiel beobachtet zu haben, denn sie waren selbst gar nicht dabei. Durch die Erzählung des Kindes findet bei den Eltern eine Vernetzung zwischen Hör- und Sehnetzwerken zu einem größeren Netzwerk statt. Aus der gehörten Information entsteht somit eine bildliche Vorstellung.
Wahrnehmen, wie auch Denken, Lernen und emotionales Fühlen sind das Produkt der Zusammenarbeit aus zahlreichen unterschiedlichen Nervenzell-Netzwerken. Eingehende Informationen werden zunächst verarbeitet, damit eine bewusste Wahrnehmung oder auch eine unbewusste Wahrnehmung entsteht und abgespeichert wird. Im Folgenden unterscheiden wir nicht mehr die einzelnen Prozesse zwischen Informationsverarbeitung und bewusster und unbewusster Wahrnehmung, sondern bezeichnen dies einheitlich als »Informationsverarbeitung«.
Damit das Gehirn seine Funktionen ausüben kann, muss es sich während der Schwangerschaft und auch danach »fehlerfrei« entwickeln. Dieser Prozess wird als »Hirnreifung« beschrieben. Wichtige Entwicklungen im Rahmen dieser Hirnreifung während der Schwangerschaft, in Bezug auf die Hör- und Sehverarbeitung eines Menschen beschreiben wir im Folgenden:
Es gibt grundsätzlich zwei unterschiedliche Wege der Sehverarbeitung, die sich im Sinne einer Reifung während der Schwangerschaft aufbauen.
Der erste Weg beginnt seine Bahnung bereits in der 4. Schwangerschaftswoche. Die hieran beteiligten Nervenzellen sind bei ihrem Wachstum genetisch programmiert. Ihr Weg läuft über das Stammhirn. Die Schaltkreise sind dort bis zur 32. Schwangerschaftswoche fertig ausgebildet. Mit Hilfe dieser Nervenzellnetzwerke kann der Fötus im Prinzip schon vor der Geburt fixieren, einfache Augenbewegungen durchführen, blinzeln, die Pupillen für das »in die Ferne sehen« erweitern und er kann grob bewegte Objekte verfolgen. Mit diesen visuellen »Reptilienfähigkeiten« kommt das Neugeborene auf die Welt. Dieser Stammhirnanteil des Sehwegs ist dann noch bis etwa zwei Monate nach der Geburt für das Sehen verantwortlich (Eliot & Schaden 2003).
Der zweite Weg des Sehens ist in seinem Aufbau deutlich komplexer. Er besteht aus zwei Phasen:
Die erste Phase ist ebenfalls ein genetisch programmierter Aufbau, der früh auf der Netzhaut beginnt. Der weitergehende Aufbau erfolgt Schritt für Schritt, entsprechend der Gehirnentwicklung, bis die entsprechenden Nervenzellen zum Schluss der Schwangerschaft die Bereiche der Sehrinde im äußeren Kortex erreicht haben. Die Nervenzellen erreichen die primäre Sehrinde durch Wanderung bis zur 28. Schwangerschaftswoche. Bis zur 36. Schwangerschaftswoche wandern die Nervenzellen weiter, in die für die Sehverarbeitung entsprechenden Areale des Kortex. Zum Ende der Schwangerschaft ist ein grobes Verschaltungsdiagramm erstellt. Dieser wichtige Aufbau im Kortex, der die Grundlage für die Entwicklung differenzierter Verarbeitungsprozesse ab dem Säuglingsalter bietet, passiert also erst in den letzten beiden Schwangerschaftsmonaten (Eliot & Schaden 2003).
Stellen Sie sich vor, in einer Großstadt wird ein neues U-Bahnsystem gebaut. In diesem Beispiel würde die erste Phase dem Bau der Tunnel und der Verlegung der wichtigsten Gleise entsprechen. In dieser Phase wachsen große Gruppen von Nervenzellen immer weiter voran, in Richtung ihrer vorgesehenen Zielorte, zum Beispiel in Richtung der primären und sekundären Sehrinden. Die Gleisstrecken werden in Richtung ihrer Ziele kontinuierlich weiter gebaut, aber auf den Gleisen läuft noch kein strukturierter U-Bahnverkehr ab. Es gibt noch keinen Fahrplan, der den U-Bahnen ihre Gleise zuordnet und die U-Bahnen untereinander koordinieren würde. Sind die Nervenzellen (in unserem Beispiel die U-Bahngleise) an den Orten, an denen sie genetisch vorgesehen sind, angekommen, so haben die Gene ihre Aufgabe erfüllt. Jetzt muss der Weg für die Informationsweitergabe zu diesen Zellen genutzt werden, um die Zellen zu Netzwerken zu verbinden. Das passiert in der zweiten Phase. In unserem Beispiel würde dies bedeuten, dass nun alle Tunnel gebaut und alle U-Bahngleise verlegt sind und damit ein koordinierter U-Bahnverkehr startet.
Die zweite Phase ist die Erfahrungsphase, die durch die Wahrnehmung der Umwelt gesteuert wird. Diese Phase beginnt für das visuelle System erst nach der Geburt. Dabei geht es jetzt um die Ausbildung von Nervenzellnetzwerken. Je nach individueller Erfahrung des Säuglings werden nun die gut frequentierten Nervenzellen zu stabilen Netzwerken ausgebildet und verschaltet, nicht genutzte werden wieder abgebaut.
Etwa 80 Prozent der Netzwerkverschaltungen des visuellen Systems im Kortex erfolgen erst nach der Geburt durch Erfahrungen. Diese Prozesse laufen nicht nach einem genetisch programmierten Muster ab, sie werden vielmehr durch die Umwelt gestaltet. Verglichen mit unserem U-Bahn-Beispiel bedeutet das: Der aktive U-Bahnverkehr, die Häufigkeit, wann welche Bahn fährt und die Gestaltung der Fahrpläne, dass die U-Bahnen sich ergänzen und nicht gegenseitig blockieren, erfolgt relativ spät.
Bei normaler Hirnreifung verfügt der Säugling während der ersten zwei Monate nach seiner Geburt über das Reptiliensehen aus dem Stammhirn. Erst dann fängt der äußere Kortex an mit Hilfe der speziell für diese Eigenschaften zuständigen Netzwerke Bilder zusammenzusetzen. Ab diesem Zeitpunkt nimmt der Säugling über die Verarbeitungsprozesse des Gehirns seine Umwelt mehr und mehr visuell differenzierter wahr. Ebenfalls startet ab diesem Zeitpunkt die weitere Ummantelung der Nervenzellen im Kortex mit Hilfe der wichtigen Gliazellen. Es bildet sich ein sogenannter Myelinmantel um die Nervenzellen. Die Aktivität in diesen Regionen des Kortex steigt nun in einem rasanten Tempo an. Der Säugling nimmt entsprechend zunehmend seine Umwelt über den Kortex wahr und lernt Dinge zu fixieren.
Im Gegensatz zum Sehen ist die Hörentwicklung schon bis zur 24. Schwangerschaftswoche weitgehend abgeschlossen und das Kind kann selbst durch die dämpfende Gebärmutter schon Informationen aufnehmen, die es nach der Geburt schnell zuordnen kann. So erkennt das Neugeborene zum Beispiel die Stimme seiner Mutter. Die Entwicklung der bewussten Hörwahrnehmung setzt sich dann nach der Schwangerschaft im äußeren Kortex fort, wodurch das Kind weitere Fähigkeiten auch in der Differenzierung seiner Hörverarbeitung entwickelt. Auch hier spielt die Umwelt eine wichtige Rolle.
Die hier beschriebenen Reifungsprozesse, die bereits in der Gebärmutter ablaufen, bilden auch die Grundlage für den Aufbau der auditiven und visuellen Informationsverarbeitung nach der Geburt. Die Gebärmutter bietet den genetisch programmierten Wachstumsprozessen die notwendige geschützte Umgebung, in relativer Reizarmut. In ihr ist es warm, dunkel, gedämpft und eng. Für die Entwicklung des reifenden Gehirns sind diese Umgebungsbedingungen wichtig. Für einen zu früh geborenen Säugling sind, je nach Zeitpunkt seiner Geburt und seiner eigenen Reife, bestimmte Gehirnareale noch unterentwickelt. Somit fehlt unter Umständen noch die notwendige Grundlage, und Vernetzungen im äußeren Kortex können deshalb nach der Geburt nicht entsprechend aufgebaut werden.
Verliert ein zu früh geborener Fötus seinen Schutz durch die Gebärmutter, muss dieser den Herausforderungen der Atmung, der veränderten Nahrungsaufnahme oder der Infektionsabwehr begegnen können. Hierfür benötigen manche Frühgeborene schon sehr viel Unterstützung durch die Intensivmedizin. Zusätzlich sind die Frühgeborenen massiven äußeren Reizeindrücken wie hellem Licht, lauten Geräuschen, großen Brutkästen und den Techniken der Frühgeborenen-Intensivmedizin ausgesetzt. Die erfreuliche Tatsache, dass mehr als 80 Prozent der unter eintausend Gramm geborenen Frühgeboren mittlerweile überleben, verdanken sie neben der modernen Intensivmedizin auch der Tatsache, dass die Organe bis zur 24. Schwangerschaftswoche voll ausgebildet sind. Nur das Gehirn bildet hier eine Ausnahme: Die sich bis zum Zeitpunkt der zu frühen Geburt entwickelten Gehirnstrukturen sind oft mit den Anforderungen der neuen Umwelt außerhalb der Gebärmutter überfordert. Diese unreifen Gehirnstrukturen müssen nun Dinge leisten, für die noch keine ausreichenden Kapazitäten zur Verfügung stehen. Das Gehirn braucht einen viel längeren und offensichtlich geschützteren Zeitraum für die Ausbildung seiner Basisfähigkeiten. Es besteht dadurch ein hohes Risiko auch für die Entwicklung einer Seh- bzw. Hörverarbeitungsstörung, aber auch anderer neurologischer oder motorischer Defizite bei Frühgeborenen.
Eine gezielte Langzeitverfolgung dieser Kinder ist aus diesem Grund sehr wichtig, da sich die Einschränkungen zum Teil erst ab dem Kindergartenalter oder noch später ab dem Schulalter bemerkbar machen können. Das wird leider bislang kaum in den gängigen Vorsorgeuntersuchungen geprüft. Die zeitgerechte Ausbildung bestimmter Nervenzellnetzwerke ist aber für den weiteren Ausbau höherer Fertigkeiten unabdingbar. In unserer Beschreibung der Entwicklung von Emil (s. Kap. 3.1.5) werden einige der typischen Probleme eines zu frühgeborenen Kindes mit einem unreifen Gehirn deutlich, die sich erst im Laufe der weiteren Entwicklung in der Kita und der Schule zeigen.
Es gibt auch reif geborene Säuglinge, deren Gehirn aufgrund anderer Probleme während der Schwangerschaft die Unreife eines Frühgeborenen haben kann. Zum Zeitpunkt der Geburt fällt das meist nicht auf. Denn darauf gibt es zunächst keine Hinweise. Die weitere Gehirnentwicklung kann vergleichbar verzögert dem eines Frühgeborenen ablaufen. Das heißt auch in diesen Fällen kann sich eine Seh- oder Hörverarbeitungsstörung ausbilden. Was diese Kinder für unterschiedliche Schwierigkeiten zeigen können, ist in unseren Beispielen aus der Praxis nachzulesen.
Nach der Geburt sind einzelne Nervenzellen im Gehirn des Neugeborenen zunächst noch wenig miteinander verknüpft, es gibt leichte Verdichtungen von Nervenzellen, komplexe Netzwerke sind jedoch noch nicht vorhanden. Diese Grundstruktur ist im Wesentlichen durch die genetische Veranlagung des jeweiligen Kindes bestimmt. Lern- und Erfahrungsprozesse des Säuglings und Kleinkindes bestimmen nun darüber, welche der schon vorhandenen Nervenzellverknüpfungen beibehalten, weiter stabilisiert und zu Netzwerken ausgebaut oder gar wieder abgebaut werden. Alle diese Verbindungen im Gehirn werden bis etwa zum Ende des dritten Lebensjahres somit auf ihre »Notwendigkeit« überprüft, in dem Sinne, ob sie individuell für das jeweilige Kind wichtig sind, weil sie benutzt werden oder unwichtig sind, da sie nicht genutzt wurden. Verbindungen, die nicht genutzt wurden, stehen dann dem Kind nicht mehr zur Verfügung. Neuronale Netzwerke, die Informationen verarbeiten und damit eine Analyse z. B. von Sprache und Bildern ermöglichen, müssen sich also im frühen Kindesalter aufbauen, bereits vorhandene müssen stabilisiert werden, damit sie sich in den folgenden Entwicklungsjahren immer dichter vernetzen und austauschen können. Dies erfolgt schrittweise, indem ein Schritt auf den nächsten aufbaut. So funktionieren manche Prozesse in der Informationsverarbeitung der bewussten Wahrnehmung erst ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kindes. Wichtig hierfür ist, dass seine individuellen Entwicklungsschritte im Aufbau und der Vernetzung bestimmter Nervenzellen gut und störungsfrei verlaufen sind, als Grundlage weiterer Entwicklungsstufen. Welche Inhalte das Kind während seiner einzelnen Entwicklungsstufen aufnimmt, verarbeitet und abspeichert ist vor allem abhängig von der Umwelt, in der das Kind aufwächst (Strüber & Roth 2016; Stahl 2017, Eliot & Schaden 2003). Zur Verdeutlichung hierzu ein Beispiel aus der Praxis:
Tom verbrachte seine frühe Lebenszeit in einer für Säuglinge und Kleinkinder ungewöhnlichen Umgebung. Angepasst an seine direkte Umwelt entwickelte er außergewöhnliche Fähigkeiten. Er war gerade zwei Jahre alt, als er zu uns in die Praxis gebracht wurde. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer emotionalen, körperlichen und sozialen Vernachlässigung vom Jugendamt aus seinem Familiensystem herausgenommen worden. Tom sollte bei uns umfassend auf seinen aktuellen Entwicklungsstand hin untersucht werden. Vom äußeren Erscheinungsbild her, wie der Größe und dem Muskeltonus, wirkte Tom deutlich jünger. Der Junge konnte noch nicht laufen, dieser Teil der Grobmotorik war also noch nicht entsprechend im Gehirn verknüpft worden. Tom krabbelte jedoch gut und schnell und er konnte klettern. Der Junge sprach kein einziges Wort. Er beherrschte jedoch viele unterschiedliche Laute und Töne, diese klangen wie das Bellen eines Hundes, Miauen von Katzen und Laute eines Affen. Tom hatte allein mit seiner Mutter und über 20 Tieren in einem Haus gelebt. Seine Mutter hatte ihn aufgrund eigener psychischer Probleme extrem vernachlässigt: Gleich nach seiner Geburt ließ sie ihn in einem Raum mit vielen unterschiedlichen Tieren, wie Hunde, Katzen, Affen und anderen, aufwachsen. Tom war wohl nur sehr unregelmäßig mit Nahrung und frischer Kleidung versorgt worden, es gab offensichtlich wenig Interaktion mit der Mutter, diese hatte nur selten mit ihrem Kind gesprochen. Dem Jungen fehlten auch Kontakte zu anderen Menschen. Er hatte deshalb kaum einen Lernprozess zur Entwicklung von Sprache aufgebaut. Sein Kontakt zu den Tieren und die Interaktionen mit ihnen waren umso größer. So hatte er die »Sprache« der Tiere und ihre Bewegungsmuster gelernt. Denn diese bestimmten seine direkte Umwelt. Bis zu dem Zeitpunkt, als er zu uns in die Praxis gebracht wurde, hatte er wenige »typische« Verhaltensweisen eines Kindes in seinem Alter gelernt. Es ist davon auszugehen, dass sich in seinem Gehirn andere Netzwerke als bei gleichaltrigen Kindern aufgebaut und verschaltet hatten. Natürlich konnte Tom auch noch laufen und sprechen lernen, aber entsprechend zeitlich verzögert. Die hierfür notwendigen Netzwerke in seinem Gehirn waren offensichtlich bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr schwach und lückenhaft aufgebaut und mussten nun erst noch weiter stabilisiert werden, während Netzwerke der »Tiersprachen« und Tierbewegungsmuster bereits gut vernetzt waren. Es ist davon auszugehen, dass Tom eine außergewöhnlich gute Beziehungsfähigkeit zu den ihm bekannten Tierarten für sein weiteres Leben behalten wird.
Toms Entwicklung in seinen ersten zwei Lebensjahren ist sicherlich sehr außergewöhnlich und ein extremes Beispiel. Es zeigt jedoch deutlich, wie eng die Gehirnentwicklung eines Kindes im Zusammenspiel mit seiner unmittelbaren Umgebung abläuft. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass jedes Kind, das mit zwei Jahren noch nicht spricht, in einer nicht adäquaten Umgebung aufwächst. Es gibt über Toms Beispiel hinaus zahlreiche andere Gründe, weshalb Kinder nicht altersgerecht sprechen, laufen, malen oder andere Fähigkeiten erlernen. Informationsverarbeitungsstörungen im Gehirn können hierfür unter anderem Gründe sein, worauf wir später ausführlich eingehen werden (siehe Kapitel 3).
Leser, die an weiteren Informationen zum Gehirnaufbau und den entsprechenden Funktionsweisen interessiert sind, sollten den folgenden Abschnitt »Exkurs: Der Gehirnaufbau« lesen. Leser, die hieran kein Interesse haben, empfehlen wir bei der Zusammenfassung dieses ersten Kapitels weiterzulesen.
Im Zusammenhang mit der Informationsverarbeitung des Sehens und Hörens ist auch der Aufbau des gesamten Gehirns wichtig. Dieser besteht aus vier wesentlichen Bereichen: Stammhirn, Zwischenhirn, Kleinhirn und dem Großhirn.
Abb. 1: Aufbau des Gehirns
Für ein besseres Verständnis soll das dargestellte Schema über den wesentlichen Aufbau des Gehirns dienen (Abb. 1):
Aus dem Rückenmark (1) entwickelte sich in der Evolution des Menschen das Stammhirn (2) und das Zwischenhirn (3). Im weiteren Verlauf der menschlichen Entwicklung legte sich das Großhirn (4) hierüber. Der äußere Mantel des Großhirns wird auch als Kortex (5) bezeichnet.
Die Aufgabe des Stammhirns (2) ist es, Basisfunktionen wie Atmung, Blutkreislauf und Temperatur, Schlaf-Wachrhythmus, Stressregulation und die Nahrungsaufnahme zu steuern, es koordiniert einfache unbewusste Kopf- und Augenbewegungen und ist nach der Geburt dafür verantwortlich, dass der Säugling saugt und schluckt. Das Mittelhirn (7) ist der oberste Teil des Stammhirns und leitet über die Colliculi superiores bzw. inferiores visuelle bzw. auditive Informationen von den Augen und Ohren an Teile des Kortex. Der Weg über die im Mittelhirn angesiedelten Colliculi superiores ist die schon beschriebene erste (unbewusste) Sehbahn, welche unabhängig von der zweiten (bewussten) zentralen Sehbahn funktioniert. Diese Bahn kann auch dann intakt sein, wenn Teile der zweiten Sehbahn eingeschränkt sein sollten. Diese erste Sehbahn ist etwa bis zwei Monate nach der Geburt für das Sehen des Säuglings verantwortlich.
Die Colliculi inferiores sind hauptsächlich für das Hören zuständig.
Unser wichtiges Stressregulationssystem, das sogenannte Autonome Nervensystem (ANS) ist auch im Stammhirn angesiedelt. Diese Ebene bildet die Basis des menschlichen Lebens. Die Entwicklung dieser Hirnebene beginnt bereits früh in der Schwangerschaft und ist zum Zeitpunkt der Geburt weitgehend abgeschlossen. Die im Stammhirn stattfindenden Prozesse sind größtenteils durch genetische Konstellationen, vorgeburtliche Erfahrungen, aber auch noch durch den Geburtsverlauf beeinflusst. Spätere Erfahrungen eines Menschen, durch Erziehung und andere Lernprozesse sind für diesen Teil des Gehirns nicht wichtig (Strüber & Roth 2016; Strüber 2019).
Im Zwischenhirn (3) befinden sich der Thalamus, Hypothalamus, Hypophyse und Epithalamus. Der Thalamus filtert und bahnt aus den eintreffenden Informationen der unterschiedlichen Sinnesbereiche diejenigen heraus, die im weiteren Verlauf bewusst wahrgenommen werden bzw. welche unbewusst bleiben. Die visuellen Informationen werden im Zwischenhirn über den seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale) an die Sehrinde weitergeleitet, während das mediale Corpus geniculatum die auditiven Informationen filtert.In der Literatur wird der Thalamus deswegen auch als »Tor zum Bewusstsein« bezeichnet. Hier werden Informationen also grob sortiert und es werden die Weichen gestellt, welche Informationen wohin weiterlaufen.Hypothalamus und Hypophyse sind entscheidend an hormonellen Steuerungsabläufen des Körpers beteiligt. Der Epithalamus spielt eine Rolle bei der Steuerung des Tag-Nacht Rhythmus.
Der Kortex (5) ist für die Inhalte dieses Buches der wichtigste Teil des Gehirns, denn hier finden die bewusst beeinflussbaren Prozesse des Menschen statt. Das sind die Prozesse, die der Mensch nach der Geburt über Erfahrungen und Lernen im Austausch mit seiner Umwelt erwirbt und abspeichert. Die Gehirnwissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten herausfinden können, dass der Kortex so strukturiert ist, dass jedem einzelnen Sinnesbereich spezifische Felder mit spezialisierten Netzwerken zugeordnet sind. So gibt es Felder in denen jeweils nur spezifische Sehinformationen verarbeitet werden, wie z. B. die Formen eines Gegenstandes, in einem anderen Feld werden die Farben des Gegenstandes verarbeitet, in wieder einem anderen seine Bewegungen und so weiter. Für jeden einzelnen Sinnesbereich und die Motorik gibt es diese entsprechenden Verarbeitungsfelder in denen die spezifischen Informationen entschlüsselt und verarbeitet werden. Dafür, dass die jeweiligen Informationen in die richtigen Felder gelangen, ist unter anderem die vorherige Weichenstellung im Thalamus im Zwischenhirn zuständig. Die Ergebnisse aus den einzelnen Feldern werden über Verbindungen untereinander schließlich zu einem bewussten Seh- oder Höreindruck zusammengesetzt. Diese Zusammensetzung findet in neuronalen Netzwerken statt. Und all diese Prozesse finden teils nacheinander, teils parallel, permanent in Bruchteilen einer Sekunde im Gehirn statt (Lurija & Métraux 2001, Bear et al. 2009, Thompson 2010, Roth 1996).
Das Kleinhirn (6) besteht wie das Großhirn aus zwei Hälften. Es ist u. a. auch für die Feinmotorik, Bewegungskoordination und das Gleichgewicht zuständig. Darüber hinaus zeigen neuere Forschungsergebnisse, dass das Kleinhirn auch einen Anteil an höheren Denkfunktionen hat. Hier besteht jedoch noch weiterer Forschungsbedarf, um die Prozessabläufe im Kleinhirn genauer beschreiben zu können.
Das Großhirn (4) besteht aus zwei Hälften, sogenannten Hemisphären. Diese sind durch den Balken (8), dem sogenannten Corpus Callosum, miteinander verbunden. Die Oberfläche des Großhirns, der Gehirnmantel, wird als Kortex (5) bezeichnet. Dieser besteht aus Milliarden von Nervenzellen, den Neuronen.
Die in der Großhirnrinde stattfindenden Informationsverarbeitungsprozesse sind, wie bereits oben beschrieben, nicht von Geburt an vorhanden und sie reifen auch nicht selbständig. Vielmehr bilden sie sich erst nach der Geburt, im Prozess der Kommunikation und der Interaktion mit dem Kind und seiner Umwelt, so wie das auch bei dem Jungen Tom in unserem Praxisbeispiel der Fall war. Diese komplexen und vielschichtigen umweltgesteuerten Lernprozesse laufen also z. B. beim Spielen, Kuscheln, motorischen Bewegungen, Sprechen, Singen, Streiten und vielem anderen mehr ab. Es geht dabei auch um den Erwerb einer sinnhaften, strukturierten Sprache, der Motorik, aber auch um kognitive Lernprozesse, wie Rechnen, Schreiben, Lesen, Auswendiglernen, Fein- und Grobmotorik, dem Erwerb von Sozialverhalten und vielem mehr.
Wächst ein Kind in einer anregenden Umgebung auf, in der es viele Dinge selbst entdecken darf und in der eine rege persönliche Kommunikation und positive Interaktion mit ihm stattfindet, so hinterlassen diese Erfahrungen und Anregungen entsprechende Spuren im Kortex in Form von neuronalen Netzwerken. Die Art und Intensität dieser Erfahrungen und den hieraus folgenden Lernprozessen entscheiden wesentlich, in welchen Verdichtungen und Intensitäten sich neuronale Netzwerke aufbauen und untereinander austauschen. Somit baut sich der Kortex eines Kindes bereits während der Schwangerschaft und dann auch nach der Geburt jeweils individuell unterschiedlich auf und ist wahrscheinlich bei jedem Menschen so einzigartig wie sein Fingerabdruck.
Hierdurch sind auch Unterschiede im Verhalten und mögliche unterschiedliche Fertigkeiten bei Geschwisterkindern zu erklären, neben genetischen Konstellationen.
Nun gibt es aber nicht nur einen Informationsaustausch auf jeder einzelnen Gehirnebene, sondern auch zwischen dem Stammhirn, dem Zwischen- und Kleinhirn und dem Kortex. Diese einzelnen Hirnebenen sind ebenfalls miteinander vernetzt. Sie werden auch als Funktionsniveaus bezeichnet (Lurija & Métraux 2001). So können ein inadäquates Stressregulationssystem im Stammhirn oder eine traumatische Gewalterfahrung im limbischen System, insbesondere in der Amygdala, einen signifikanten Einfluss auf die kognitiven Lernprozesse im Kortex haben.
Eine in diesem Zusammenhang wichtige Struktur im limbischen System ist die sogenannte Amygdala. Diese bewertet permanent alle Erfahrungen eines Menschen in Hinsicht auf negative emotionale Ereignisse. Das Ziel dabei ist es, Situationen oder Handlungsweisen, die schon einmal ein negatives Gefühlserleben hervorbrachten, in der Zukunft zu verhindern. Fasst das Kind also einmal auf die heiße Herdplatte und verbrennt sich dabei die Finger, so ist das in der Amygdala gespeichert. Das Kind wird in Zukunft den Anblick einer Herdplatte mit dem »Gefühl der Vorsicht vor einer möglichen Gefahr« begegnen. Hier besteht also eine Verbindung zwischen der Sehwahrnehmung »Herdplatte« und dem negativen Gefühl »Vorsicht, gefährlich«. Dieses Gefühl entsteht blitzschnell. Bevor sich das Kind bewusst daran erinnert, dass es sich die Finger auf der Herdplatte verbrannt hat und dann aus seinem Wissen heraus handelt, hat die Amygdala bereits dem Kind ein negatives Gefühl vermittelt, wodurch es spontan vorsichtig reagiert. Es werden in der Amygdala auch die Begleitumstände eines negativen Erlebnisses abgespeichert. Kam es z. B. zu einer frühkindlichen Traumatisierung durch Gewalterfahrung, die unter Alkoholeinfluss des Täters erfolgte, so kann das zu einer lebenslang anhaltenden Abscheu und einem Ekel gegen Alkoholgeruch und -konsum beim Opfer führen. Das Opfer kann sich unter Umständen gar nicht mehr bewusst an den traumatisierenden Vorfall erinnern, da dieser »verdrängt« wurde. Eine Verknüpfung des Netzwerkes in der Amygdala mit dem Gefühl des Ekels und Abscheus vor Alkohol und dem Alkoholgeruch bleibt jedoch auch dann verknüpft, wenn die betroffene Person hierfür gar keine bewusste Erklärung hat.
Das Konzept der »Funktionsniveaus« beinhaltet, dass höhere Gehirnniveaus im Kortex ohne entsprechende intakte niedrigere Funktionen im Stammhirn, Zwischen- und Kleinhirn nicht optimal arbeiten. Die höheren Hirnniveaus sind in ihren Funktionsweisen auf die Funktionen niedriger Niveaus angewiesen. Sie tauschen sich untereinander aus. Das bedeutet, es gibt nicht nur neuronale Vernetzungen auf einer Gehirnebene, sondern auch zwischen den einzelnen Ebenen findet ein permanenter, sich gegenseitig beeinflussender Austausch statt (Damasio & Kober 2001, Lurija & Métraux 2001).
Betrachten wir zum Beispiel die Augen, so wissen wir nun, dass im Auge keine Bilder entstehen. Augen können weder Buchstaben, noch Wörter, noch Bilder als solche in ihrer jeweiligen Bedeutung erkennen. Die Augen sind die äußere Aufnahmestelle von unterschiedlichen Lichtreizen, die als Lichtwellen auf das Auge treffen. Auf der Netzhaut, die den hinteren Teil des Augapfels umspannt, werden diese Lichtwellen in elektromagnetische Impulse umgewandelt, die dann über den Sehnerv in die Sehbahn weitergeleitet werden. Auf den ausgebauten Schnellspuren der Sehbahn werden diese Reize in die hierfür vorgesehenen Hirnregionen gebracht, in denen spezialisierte Netzwerke für die weitere Verarbeitung zuständig sind. Dabei sind einzelne Netzwerke auf bestimmte detaillierte Verarbeitungsprozesse spezialisiert (Brodmann 1909, Hubel & Wiesel 2005). Durch die Verbindung sowohl dieser (Detail-)Netzwerke untereinander, als auch mit Netzwerken aus anderen Sinnesbereichen und Netzwerken anderer Gehirnregionen entstehen in Millisekunden sowohl bewusste als auch unbewusste Bilder (Lurija & Métraux 2001, Hubel & Wiesel 2005; Roman-Lantzy 2010; Hall-Lueck & Dutton 2015).
Auch die Ohren hören nicht, indem sie einen Wortinhalt auswerten und verstehen könnten oder eine bekannte Melodie erkennen würden. Über die Ohren werden Schallwellen aufgenommen, die über den Hörnerv und die Hörbahn in die für die Hörverarbeitung vorgesehenen Hirnregionen geleitet werden. Wie bei der Sehverarbeitung, gibt es auch für die Hörverarbeitung spezialisierte Felder im Gehirn, in der die aufgenommene Hörinformation weiter entschlüsselt und gespeichert wird. Wie auch bei allen anderen Sinnessystemen werden in Bruchteilen einer Sekunde Informationen mit zahlreichen anderen Netzwerken aus anderen Sinnesbereichen verknüpft, was schließlich einen bewussten Höreindruck (z. B. Klang, Wortverständnis) hervorruft (Baer et al. 2009, Macedonia et al. 2014, Macedonia & Höhl 2013, Bellis 2003).
Das Gehirn ist das einzige Organ des Menschen, das nach der Geburt nicht nur wachsen, sondern auch noch seine Funktionen weiter aufbauen und entwickeln muss. Eine entsprechende Gehirnentwicklung (Reifung) während der Schwangerschaft hat eine grundlegende Bedeutung für weitere Reifungsprozesse des Gehirns nach der Geburt. Dabei geht es vor allem darum, die funktionellen Aufgaben des Gehirns zu stabilisieren und zu verfeinern. Findet dies nicht entsprechend statt, kann es u .a. auch zu funktionellen Störungsbildern wie z. B. einer Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung kommen.
Kapitel 2
Wenn Sie sich nun den Aufbau, die Abläufe und die Vernetzungen von Prozessen im Gehirn vorstellen, so wird schnell klar, dass diese sehr vielfältig und extrem komplex sind. Entsprechend vielfältig und komplex können die Störungsmöglichkeiten in der Informationsverarbeitung sein. Wir möchten, dass unsere Leserinnen und Leser trotz dieser Komplexität ein grundlegendes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Informationsverarbeitungsstörungen und einigen Entwicklungs- und Lernverzögerungen, sowie Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern erhalten. Zahlreiche Patientenbeispiele aus der Praxis helfen, theoretische sowie klinische und therapeutische Zusammenhänge in Bezug auf den Alltag betroffener Kinder allgemeinverständlich darzustellen. Deshalb sind die folgenden Darstellungen teilweise sehr vereinfacht und grob dargestellt. Wer sich für die weiteren Details und komplexeren Darstellungen interessiert oder die entsprechende wissenschaftliche Literatur dazu lesen möchte, der achte bitte auf die Literaturverweise zu den einzelnen Themen und Darstellungen.
Wenn wir im Folgenden Störungsmöglichkeiten der Informationsverarbeitung beschreiben, so beschäftigen wir uns in erster Linie mit der Gehirnebene des äußeren Kortex, der auch Gehirnmantel genannt wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es nicht nur eine allumfassende Informationsverarbeitungsstörung gibt, als eine immer gleiche Ursache für die beschriebenen Probleme. Es gibt nicht die eine Informationsverarbeitungsstörung als eine große Schublade, in die alle Lern- und Verhaltensprobleme einzuordnen wären. Vielmehr gibt es individuell sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten, die es genauer zu analysieren gilt. Auch die jeweiligen Ausprägungen dieser Störungsbilder können sehr unterschiedlich sein. Daher haben wir es bei den jeweiligen Auffälligkeiten auch mit einer dimensionalen Betrachtung zu tun. Wir sehen uns also an, wie groß die Dimension der Beeinträchtigung ist. Informationsverarbeitungsstörungen können mehr oder weniger ausgeprägt sein, von kaum spürbaren oder sehr geringen Beeinträchtigungen, bis hin zu großen, lebensprägenden Konsequenzen.
Die Sehverarbeitungsstörung wird in der englischen Sprache Cerebral Visual Impairment genannt und deshalb in der internationalen Fachsprache mit der Abkürzung CVI bezeichnet (Hall-Lueck & Dutton 2015, Roman-Lantzy 2010, Zihl & Dutton 2015), diese Bezeichnungen sind also gleichbedeutend. Im ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases, 10. Auflage) wird die Sehverarbeitungsstörung als »Affektion der Sehbahn, Störung der Sehbahn« bezeichnet. Der Einfachheit halber behalten wir in unseren folgenden Beschreibungen den Begriff Sehverarbeitungsstörung bei. Dieser Begriff ist als Überbegriff zu verstehen. Hierunter fallen zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten einer Störung in der Sehverarbeitung (Hall-Lueck & Dutton 2015; Roman-Lantzy 2010, Zihl & Dutton 2015).
Die Ursache einer Sehverarbeitungsstörung ist ein funktionelles Gehirnproblem, kein Augenproblem. Es gibt bisher nur ungefähre Angaben zur Häufigkeit des Auftretens. In der Literatur wird teilweise vermutet, dass die eigentliche Ursache für Sehbeeinträchtigungen im Kindesalter bei über 25 Prozent auf eine Sehverarbeitungsstörung zurückzuführen ist (Bals 2009). Erfahrungen im Alltag lassen auf eine viel höhere Anzahl von Kindern mit einer Sehverarbeitungsstörung schließen. Das Problem hierbei ist, dass die meisten dieser Störungen bei Kindern und Jugendlichen kaum diagnostiziert werden. Sie können jedoch einen großen Einfluss auf ihre Entwicklung nehmen.
Zum größten Teil handelt es sich bei einer Sehverarbeitungsstörung um funktionelle Einschränkungen in der Kommunikation spezifischer neuronaler Netzwerke im Gehirn, die mit der Sehverarbeitung beschäftigt sind. Die Ursachen hierfür können sehr unterschiedlich sein: Empirisch zählen hierzu Probleme während der Schwangerschaft, eine Frühgeburt oder Sauerstoffmangel unter der Geburt über frühkindliches Schielen bis hin zu einer genetischen Vererbung und anderes mehr. Aus eigener klinischer Erfahrung heraus gehen wir davon aus, dass eine weitere Ursache hierfür ein traumatisches Ereignis während der Schwangerschaft oder der Geburt, oder auch in der weiteren Entwicklung des Kindes sein könnte. Eine extrem lange und schwierige Geburt, wenn zum Beispiel die Nabelschnur um den Hals des Fötus bei der Geburt gewickelt war, kann eine Ursache darstellen. Statistisch stellt sich auch dar, dass bei vielen betroffenen Kindern die Geburt medikamentös eingeleitet oder Wehen hemmende Mittel während der Schwangerschaft eingenommen wurden. Das sind unsere eigenen aber sehr auffälligen statistischen Werte, aus über 25 Jahren klinischer Arbeit. Eine wissenschaftlich veröffentlichte Studie hierzu gibt es bislang unseres Wissens nach nicht. Kinder mit Sehverarbeitungsstörungen sind klinisch eine große Gruppe mit unterschiedlichen Symptomen und unterschiedlichen Ausprägungsgraden, die teilweise schwerwiegende Sehverarbeitungseinschränkungen zeigen. Hinzu kommen meist motorische und kognitive Beeinträchtigungen, jedoch keine ursächliche Intelligenzminderung.
Störungen der Sehverarbeitung können sich unter anderem in einem nicht konstanten (variablen) Visus, einem eingeschränkten Gesichtsfeld, einem eingeschränkten Farb- und Kontrastsehen oder einer eingeschränkten Blicksteuerung zeigen. Sie können damit auch Einschränkungen des Organs »Auge« ähneln. Diese Probleme sind jedoch nicht über das Auge und auch nicht über die Möglichkeiten der Augenheilkunde zu therapieren. Zusätzlich kann es auch Auswirkungen auf den grob- und feinmotorischen Bereich bei Hand- und Fingerbewegungen geben, z. B. beim Zeichnen und Schreiben. Die Symptome ähneln dann eher motorischen Defiziten, ohne dass die Ursache hierfür tatsächlich in der Motorik liegt. Somit ist es auch nicht mit den Möglichkeiten der Ergotherapie primär zu behandeln. Es bedarf hier weitergehender therapeutischer Behandlungen. Sicherlich wäre es sinnvoll, einen Teil dieser weitergehenden Behandlungen in ergotherapeutische Weiterbildungen aufzunehmen.