Es war einmal all das - Anna Liten - E-Book

Es war einmal all das E-Book

Anna Liten

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Beschreibung

Aline flieht aus ihrem Zuhause. Nein, der Überlebenskampf endet nicht hier ... Sie ist nicht frei! Ist das ihr Schicksal? Für immer leiden? Sie will das nicht, es soll aufhören! Sie erträgt dieses Leben in Dunkelheit nicht mehr! Getrieben von ihrer Sehnsucht nach Leben, Liebe und Sicherheit schlägt Aline ungewöhnliche Wege ein. Die Protagonistin nimmt Sie mit an die dunkelsten Orte ihres Lebens. Es sind intime und zerbrechliche Begegnungen mit ihr. Die einzelnen Scherben ihres Lebens setzen sich Szene um Szene langsam zusammen.

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Herzlichen Dank an alle, die an der Mitwirkung und Veröffentlichung dieses Buches beteiligt waren.

Für all die wunderbaren Menschen in meinem Leben und diejenigen, die dieses Buch in ihren Händen halten!

Dieses Buch enthältInhalte, die einige Lesende beunruhigend finden könnten.Folgende Themen werden angesprochen: Essstörung, Gewalt, Selbstverletzung, Trauma, Suizid, sexuelle Gewalt, Kindesmissbrauch, Alkoholabhängigkeit, Tierquälerei.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

LEERE, 2006

KLEBEBAND UND STUHL, 1995

ABSCHIEDSKUSS, 2010

DER BLAUE BRIEF, 2004

NEUN QUADRATMETER GRENZLINIE, 2009

GEFANGENE, 2003

HUNGER 1, 2004

ROSA BLÜTEN 1, 1996

PAPA , 1996

MARTERPFAHL, 2005

NIEMAND, 2005

BLUMEN FÜR KARLA, 2003

EKELBERT 1, 2010

DER INSTABILE ZUSTAND 1, 2022

BERATUNGSSTELLE, 2024

FRAU IM SPIEGEL, 2016

HERR HORVÁTH, 2001

ZWISCHENAUFENTHALT 1, 2009

MAMA, 1991

DER WALD, 2002

DAS KUCHENMESSER, 2005

FRÁULEIN GIULIA, 2008

EKELBERT 2, 2010

DAISY, 2007

NEUJAHR, 2006

WECHSELBALG, 1995

DAS GYMNASIUM, 2002

ENNO, 2008

DÉJÁ-VU, 2002

MAILAND, 2020

IRENE, 2017

BOTSCHAFTEN, 2004

MARIAS STURZ, 1996

HUNGER 2, 2009

DAS CHAOS, 2005

MITTELATERFEST, 2008

DOLORES 1, 2004

FRAU ALBRECHT-DÖRR, 2006

DIE WANDFARBE, 2006

DIE FLUCHT, 2006

OHNE EUCH, 2017

2016 - DIE MODESCHULE

SCHMERZEN, 2021

JAG SIE, 2002

THERAPIE 1, 2010

EKELBERT 3, 2015

DIE ABSOLUTE FREIHEIT, 2011

EIN BRIEF, 2021

ROSA BLÜTEN 2, 2021

DAS FLOTENEXAMEN, 2003

KAPUTT, 2014

DIE SCHMITTCHEN, 2004

VERSTECK, 2004

DIE DOUKU, 2005

LERNANSTALT, 2001

ZWISCHENAUFENTHALT 2, 2009

KARLA 2. 2000

SCHWEISSBÄNDER, 2005

ANFÄLLE, 2016

IZOBELLE JARDIN, 2019

DER INSTABILE ZUSTAND 2, 2023

ABSCHLUSS, 2008

TRUHE, 2003

HENRIETTE, 1997

ZUSTÄNDE, 2011

ZEICHNUNG, 1998

ABBRUCH, 2019

WEGGEWOREEN, 2004

DIEBSTAHL, 2005

JARON, 2014

KINDER-JUGEND-PSYCHIATRIE, 2007

HUNGER 3, 2013

KERZENLICHT, 2003

EIN ANDERES LEBEN, 2006

SVEN, 2016

ISOLATION, 2018

SEHNSUCHT, 2022

KARLA 3, 2003

AUFWACHEN, 2001

SCHNEEBALL, 2003

TÜRLOS, 2004

THERAPIE 2, 2011

DAS BUCH, 2003

NORA, 2011

GEHÄSSIGKEIT, 2002

JASMIN, 2007

DER OFEN, 2002

DOLORES 2, 2006

TRAUMA, 2018

ZERSTÖRT, 2014

ANGEFASST, 1999

DIE WILDE THERESA, 2004

WOHNHEIM, 2012

ARMENAR DE ANFARQO, 2021

EPILOG

PROLOG

Die weißen Vorhänge schweben von der Decke und lassen erahnen, dass das Dunkel fort ist. Vorsichtig zieht Aline sie zur Seite. Dabei erklingt ein Geräusch, als würde man einen Reißverschluss zuziehen. Die „Totenhaltung“. Genauso fühlt sie sich, während sie da liegt, die weiße Decke anstarrt, ihre Arme weit von sich gestreckt, ihr Körper unglaublich schwer und starr, als weigere dieser sich, ebenfalls aufzustehen. „Stell dich nicht so an, Aline!“, sagt sie unmotiviert zu sich selbst.

Mit einem Stöhnen rollt sie sich schließlich aus dem Bett. Es ist beinahe Mittag. Egal. Sie fragt sich, was sie jetzt tun soll. Ihr Leben fühlt sich so sinnlos an wie noch nie zuvor. Dieser Schmerz in ihr, der aufgebrochen ist, zerreißt sie in diesem Moment. Er ist schwer erträglich. Warum sollte sie sich überhaupt noch die Mühe machen, aufzustehen? Wofür? Es war ihr größter Traum, der so greifbar nah von einer Sekunde auf die nächste ohne Vorwarnung platzte. Doch irgendwo in ihr gibt es anscheinend noch einen Teil, der noch nicht ganz aufgegeben hat. Es wird ein Danach geben. Sie weiß nur noch nicht, wie es aussehen kann...

Aline betrachtet ihre Stoffpuppe, die etwas asymmetrisch, ziemlich schmutzig um die Augen ist und viel zu verfilzte Wollhaare trägt. Die Puppe „Benni“ steht für so vieles. Vor allem aber ist sie ihr verletztes kleines Wesen, das sie in sich trägt. Sie hat sie selbst genäht. Schließlich legt sie ihre Puppe behutsam auf ihr Kopfkissen und deckt sie zu. Draußen liegt Schnee. Die drückende Wolkendecke, der Nebel. Grau, wie es so oft in dieser Stadt ist. Ihre Lebendigkeit: Alles, was Aline sich mühsam erbaut hat, ist wie ausgelöscht. Auf ihr liegen Scherben. In den gebrochenen Splittern spiegelt sich ihre Existenz. Sie versucht, diesen Haufen zusammenzuhalten, damit sie wieder aufstehen und weitergehen kann. Darin ist sie eigentlich schon geübt. Alles geht zu Bruch. Immer wieder kann sie die Scherben zusammenfügen. Doch in diesem Moment ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie es schaffen kann. Zu viel ist passiert. Sie hat den Boden verloren, endgültig. Sie steht unter Schock. Wie oft kann ein Mensch wieder und wieder aufstehen?

Alines Existenz ist zerrüttet. Alles, was sie ausmacht, was sie ausdrückt und von sich zeigt, ist „verloren“ gegangen, für sie selbst in diesem Augenblick weder sichtbar noch erreichbar. Dazwischen befindet sich die Ungewissheit, das Warten. Sie fühlt sich einem extremen Druck ausgesetzt und ist nervös. Immer wieder drängen sich die Gedanken auf, dass sie selbst daran schuld sei, dass es so gekommen ist. Sie hat wieder alles falsch gemacht. Sie macht alles nur falsch, macht alles kaputt, wie damals schon.

Da ist sie, diese Ohnmacht.

„Aber Aline, du schaffst das!“

LEERE, 2006

Alles habe er aus dem Fenster geworfen und mit der Axt zerschlagen. „So wütend war er!”, erzählt Maria viele Jahre später.

***

Als sich die Haustür öffnet, schießt Aline direkt nach oben. Ihr Erzieher stellt sich währenddessen bei den Eltern vor. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Eltern wieder gegenübersteht. Die anderen Jugendlichen, die mitfahren mussten, weil sie Ausgangssperre hatten, bleiben genervt im Bus sitzen. Monate wartete sie, bis sie die Erlaubnis vom Jugendamt erhielt, in Begleitung dieses Haus zu betreten. Es gibt einige Sachen, an denen sie sehr hängt, die sie unbedingt abholen will.

Aline greift nach der Türklinke „ihres Zimmers“, hält inne und allmählich wird ihr Griff fester, ihr Blick geht zu Boden. Ein befremdliches Gefühl lässt sie unerwartet erschaudern. Kalt fährt es durch ihren zerbrechlichen Körper hindurch und sie spürt,wie sich ihre Haut mit Gänsehaut überzieht. Seit sie damals mit dem kleinen blauen Rucksack, gefüllt mit den wenigen Dingen, die sie auf die Schnelle in ihn hineingestopft hatte, in das Polizeiauto eingestiegen war, war sie nicht mehr hier gewesen.

Dieses Zimmer ist für sie der furchtbarste Ort. Obwohl es ein Schutzort hätte sein können, fand sie dort nie Rückzug. So viele Tränen, so viel Feindlichkeit. Es war ein Alleinsein ohne Trost, ein Gefängnis. Genau das war dieses Zimmer – die räumliche Gefangenschaft ihres Elends. Hier war sie ihm komplett ausgeliefert gewesen.

Die Jugendliche betrachtet das große Loch auf Höhe des Türgriffs in der Zimmertür. Sie erinnert sich an die Situation, in der es entstand. Das war vor wenigen Jahren, als sie mit ihrer Mutter wieder einmal aneinandergeriet, während diese die riesigen Wäscheberge faltete und sortierte. Die Mutter schmiss Aline wütend ihre frisch gewaschene Kleidung entgegen. Anschließend nahm sie Alines Handy, zielte auf sie und schleuderte es ab. Aline knallte die Tür zu, rechtzeitig, ehe es sie hätte treffen können. Dabei prallte das Telefon so heftig gegen die Tür, dass dieses Loch entstanden war. Zumindest war sie ausnahmsweise nicht alleine daran schuld gewesen, dass etwas beschädigt wurde. Dolores besorgte die Moosgummifiguren, die sie aus einer Kinderserie kannte, und klebte ebendiese über das Loch. Passend für eine Jugendliche, die mittlerweile ausschließlich schwarz trägt… Aline fährt mit ihrer Hand über das Motiv.

Als würde sie untertauchen wollen, holt Aline tief Luft, hält den Atem an und betritt das Zimmer. Die Jalousie ist scheinbar geschlossen, denn es ist dunkel. Allein das Licht, das vom Flur hineinfällt, lässt sie Umrisse erkennen. Es wirkt nicht vertraut. Es ist anders! Ein Gemisch aus Gerüchen von kaltem Zement, frischer Farbe und säuerlichem Leim steigt in Alines Nase, als sie wieder beginnt, zu atmen. Sie ist irritiert, ertastet den Lichtschalter neben der Tür und bemerkt noch etwas Seltsames. Der Lichtschalter scheint keine Abdeckung zu haben. Aline leuchtet mit der Taschenlampe ihres Mobiltelefons in den Raum.

Sie befindet sich inmitten einer Baustelle! Vor ihr liegen Werkzeuge und Behälter, die auf einer großen Fläche Malervlies ausgebreitet sind. Das Fenster ist mit Holz verschlossen.

Es ist leer und kalt. Die Geräusche eines jeden ihrer Schritte hallen nach. Dieses Zimmer hat kein Leben mehr. Die Wände, sogar die Holzdecke, sind mit Gipskarton verkleidet worden. Alles, was an Aline und an ihr Leben dort erinnerte, wurde ausgelöscht. Nichts ist mehr von ihr übrig. In diesem Haus hat das Mädchen keinen Platz mehr. Doch in Wahrheit hatte sie hier noch nie einen gehabt. Es fühlt sich an, als sei ihre Existenz vollständig vernichtet worden.

Sofort stürmt Aline die Treppen hinab, überspringt dabei einige Stufen und stürzt aus dem Haus. Was für ein abscheulicher Ort dieses Haus, diese Familie ist! „Wir wussten nicht, wie wir es dir sagen sollten!”, versucht Dolores, sich herauszureden, als ihre Tochter an ihr vorbeiläuft, ohne sie anzusehen, denn sie kämpft gegen ihre Tränen an. Die Eltern sollen nicht sehen, dass sie schwach ist.

Der Erzieher ist ebenfalls über das leere Zimmer informiert. Für Aline existiert hier nichts mehr. Entsetzt springt sie ins Auto und drängt, dass sie sogleich losfahren müssen. Sie ist fassungslos! Es war ihr Wunsch und Kampf, dem zu entkommen – „das“ wollte sie allerdings nicht! Sie haben sie verstoßen, als Bestrafung dafür, dass sie ihre Eltern beschämt und Lügen über sie verbreitet hat. Es dauert einen Augenblick, für Aline eine Ewigkeit, bis das Haus endlich ihren Betreuer ausspuckt und sich die Haustür hinter ihm schließt. Innerlich versucht sie, abzuschließen, sich von diesem Ort zu verabschieden, denn es wird das letzte Mal gewesen sein, dass sie hier war. Die Betroffenheit der anderen Jugendlichen ist spürbar. Endlich kann Aline weinen und die Tränen fließen unaufhaltsam aus ihr heraus. Sie fühlt sich zerstört und hilflos.

„Es tut mir wirklich von Herzen leid”, hört sie ihren lieben Erzieher sagen. Etwas Trost…

***

Vieles, was der Vater vernichtete. Vieles davon war ersetzbar, doch diese Dinge waren es nicht. Diese, die Aline als einen Teil von sich sah, waren nicht wiederherstellbar. Ihre Zeichnungen, ihre Texte, ihre Gedanken… Es waren Geschenke von bedeutungsvollen Menschen in ihrem Leben. Erinnerungsstücke. Die Fußspuren, die sie in ihrem Leben hinterließ, ihr Dasein, haben sie vertuscht.

An diesen Ort wird sie nie wieder zurückkehren. Wie konnten sie bloß? Wie konnten sie das Leben ihres Kindes, Alines Leben, vollständig aus dem ihren entfernen?

KLEBEBAND UND STUHL, 1995

Aline entdeckt ihre ältere Schwester Maria, die völlig aufgelöst im Flur steht. Sie starrt gebannt und starr in die Küche hinein. Aline vernimmt ebenfalls eine verstörende, nahezu unheimliche Mischung aus Lärm und Gewimmer aus der Küche; eine bizarre Stimmung, die sich als Übelkeit in Alines Magen breitmacht. Geradewegs läuft sie aus dem gemeinsamen Kinderzimmer. „Maria, was passiert hier?“ Die Schwester gibt keine Antwort, wendet ihren Blick nicht ab. Der Vater zieht derweilen einen Holzstuhl vom Esstisch in die Mitte des Raumes. Das Rücken auf dem gekachelten Fliesenboden ist sehr laut. Es quietscht, als der Stuhl schließlich zum Stehen kommt. Die Mutter schluchzt und hebt ihre Hände hoch, als wolle sie sich ergeben. Laut schreiend packt er sie nun und beginnt damit, sie zu beleidigen. Er drückt sie gewaltvoll voller Wut auf den Stuhl und hält sie fest. Aline blickt erschrocken in die zornigen Augen des Vaters, die sie nicht wiedererkennt. Seine dunklen Augen sind pechschwarz! Niemals ist das ihr geliebter Papa!

Er ist eine völlig andere Person.

„Kinder, es ist nichts, geht wieder in euer Zimmer!”, hört sie ihre Mutter in ihrem Kopf sprechen. Dolores sagt aber nichts und nimmt ihre Lage verteidigungsunfähig hin. Der angsterfüllte Gesichtsausdruck der Mutter, Alines Empörung, der Schock lähmen sie. Paralysiert stehen die Schwestern beide im Türrahmen. Dolores wirkt mittlerweile abwesend. Am gesamten Leib zitternd sitzt sie da. Die Geschwister beobachten das nicht zu begreifende Geschehen. Es ist ein schreckliches Schauspiel, das die Eltern aufführen.

Er reißt alle Schubladen auf und durchwühlt sie. Was würde bloß als Nächstes passieren? Der Vater hechelt. Aline nimmt selbst aus einigen Metern Entfernung sein Stöhnen wahr. Aufreißen, Durchsuchen, Klirren, Zuschlagen. Bis er schließlich das braune Klebeband findet. Er biegt Mutters Arme, bringt sie hinter den Stuhl und beginnt damit, das Paketband straff und grob um ihre Hände zu wickeln. Er zerrt an ihr, zieht fest am Band. Aline versteht nicht, was vor sich geht. Wie ihre Schwester, deren Anwesenheit sie nicht mehr wahrnimmt, steht sie da und schaut zu. Als entferne sie sich aus ihrem Körper. Mehr und mehr entsteht ein Tunnel um sie herum, von dem aus sie die Eltern beobachtet. Alles verschwimmt. Sie weiß nicht, was Realität ist und was nicht. „Papa, was tust du?”, denkt sie. „Lass Mama los!”, will sie schreien, doch es gelingt ihr nicht. Ihre Worte verlassen ihren Körper nicht und sie bleibt stumm. Was in Maria vorgeht, weiß sie nicht. Versteht sie, was sich vor ihnen abspielt? Der böse Vater und die gelähmte Mutter ignorieren die Mädchen, als würden sie nicht existieren. Tränen laufen über Dolores‘ Wangen. Ihre einzige Reaktion. Sie findet sich mit ihrer misslichen Lage ab und wehrt sich nicht. Sie sitzt einfach nur da. Als er einen weiteren Klebestreifen mit seinen Zähnen vom Band reißt, drückt er diesen Dolores auf den Mund. Er sabbert dabei. Er droht ihr, beleidigt sie. Er presst sein hasserfülltes Gesicht direkt an das seiner Ehefrau.

Aline ist nicht mehr da. Es ist absolut still. Nichts mehr ist wahrzunehmen. Eine angenehme Wärme breitet sich aus. Die Zeit bleibt stehen, einfach so.

***

Die Großeltern, die im selben Haus leben, sind plötzlich hinter den Kindern in der Wohnung aufgetaucht. Der Großvater stürmt zu seinem Sohn und packt ihn. Er zieht ihn weg von der Frau und redet auf ihn ein, während Großmutter Henriette verzweifelt versucht, mit Worten zu schlichten. Sie nimmt bestürzt ihre Hände vor ihren Mund und faltet sie, als wolle sie beten. Henriette wirkte hilflos. Die Kinder werden ins Kinderzimmer gebracht. Das Letzte, was Aline aus dieser Szene sieht, ist, wie der Mutter das Klebeband vom Mund gerissen wird.

ABSCHIEDSKUSS, 2010

Sofort waren sie miteinander verbunden. Vom ersten Moment an waren Sarah und Aline sich vertraut, als hätten sie sich schon immer gekannt. In den letzten zwei Wochen waren sie beinahe unzertrennlich gewesen. Sie teilen alles miteinander und stützen sich gegenseitig. Aline ist erfüllt von dieser intensiven Begegnung. Nie will sie vergessen, wie ihre Stimme klingt. Wenn Sarah singt, ist alles andere um sie herum egal. In diesem Moment existieren nur noch sie beide. Aline genießt ihre Berührungen, ihre Nähe. So, wie sie es jeden Abend tut, wenn sie zu Bett gehen, umarmt Sarah sie und hält sie lange fest. Aline spürt ihre Wärme, ihre Liebe. Sarah ist glücklich. So unbeschwert hat Aline sie zuvor noch nicht erlebt. Sarah lächelt, schließt ihre Augen und küsst Aline sanft, legt ihre Hand auf ihre Wangen. Es fühlt sich wunderbar und richtig an. Aline ist gerührt. Sarah ist eine besondere Frau. Wunderschön und unglaublich stark!

Aline ist verliebt. Genährt vom liebevollen Kuss denkt sie an Sarah und schläft zufrieden mit einem Lächeln ein. Sie freut sich auf den morgigen Tag!

***

Eine extreme Schwere liegt in der Luft. Aline ahnt die Tragödie, die sich in den Räumen bereits ausgebreitet hat. Sie rennt den um diese Zeit sonst so belebten Flur entlang. Es ist etwas passiert! Es ist etwas Furchtbares geschehen! Ihr Körper saugt ungefiltert den Schmerz der Umgebung auf. Sie spürt es genau, ihre Gedärme verknoten sich und ziehen sich immer fester zusammen. Das kleine Villengebäude der Station 60 ist wie leergefegt. Träumt sie? Hat sie verschlafen? Wie viel Uhr ist es? Niemand ist zu sehen. Die Tür des Gruppentherapieraums steht offen, auch hier ist keiner. Aline läuft weiter zum großen Saal. Sie sieht all diese fremden Menschen. Jemand nimmt ihre Hand und führt sie auf die Veranda. Es ist eine sympathische blonde Krankenschwester. Aline hat sie noch nie zuvor gesehen. Die Pflegerin setzt sie auf die Stufen, die zum Garten hinunterführen, lässt sich neben ihr nieder. Ein Arm legt sich um Alines Schulter, der sie kreisend streichelt. Überall im Garten sind Pfleger, Therapeuten und Ärzte zu sehen. Es ist noch etwas kühl, die Sonne scheint an diesem Morgen. Einige Stimmen vermischen sich. Aline versteht kein Wort von dem, was die blonde Frau neben ihr spricht. Es ist unübersichtlich und gleichzeitig ruhig. Teilnahmslos beobachtet sie entsetzte Gesichter; eine gewisse Verzweiflung, aber auch Wut. Sie schweift ab... und verspürt einen starken Druckschmerz in ihrem Bauch, der sie schlagartig zurück in die Wirklichkeit holt. In der Menschenmenge ist eine Patientin nicht zu sehen.

Niemand brauchte Aline zu erklären, was geschehen ist. Aline will zu ihr! Sie muss wissen, dass es ihr gut geht! Sie bekommt Panik.

***

Es beruhigt Aline, den großen Baum anzusehen und seine starken Wurzeln zu spüren. Er steht dort kraftvoll, voller Frieden. Er markiert das Zentrum des wunderschönen Gartens, der gepflegt und dennoch so unberührt natürlich wirkt. Die Sonne kitzelt ihre Nase. Sie schließt ihre Augen für einen kurzen Augenblick und lauscht den Vögeln. Schließlich wird es langsam still. Als habe Aline die Welt für diesen Moment stummgeschaltet. Es ist Frühling und alles beginnt zu erwachen und aufzublühen. Aline spürt die kühle Brise des Windes auf ihrer nackten Haut und wie sie das Nass in ihrem Gesicht streift, bevor sie zusammenbricht.

Stunden später erreicht sie die Nachricht.

„Sie hat sich erfolgreich suizidiert”, ist alles, was der Therapeut zu sagen hat.

Sarah ist tot…

DER BLAUE BRIEF, 2004

„Hast du den blauen Brief schon bekommen?”, fragt ihre Lehrerin sie in Anwesenheit ihrer Klassenkameraden, als Aline das Klassenzimmer betritt. „Was ist ein blauer Brief?“ Sie errötet, nimmt das Gekicher um sich herum wahr.

***

Seit Monaten fleht sie die Eltern an, sie von dieser Schule zu nehmen. Doch die Eltern gehen darauf nicht ein, lachen darüber. Sie haben kein Ohr für Alines Not. Sie wollen nicht wissen, wie belastend die Situation für sie ist! Der Vater sagt, dass es kein Wunder sei, dass sie von den Klassenkameraden ausgespottet und ausgegrenzt werde, wenn sie sich in der Schule genauso benehme wie zu Hause. Da sie nicht nur von ihren Mitschülern beschämt und schikaniert wird, sondern auch von den meisten Lehrern, lernt sie nicht mehr und provoziert schlechte Noten. Das scheint ihr die einzige Möglichkeit zu sein, diese Schule verlassen zu können.

Die Hausaufgaben schmiert sie jeden Morgen im Bus in die Hefte. Hauptsache, dort steht irgendetwas. Manchmal schreibt sie von einem Klassenkameraden ab. Sie ist desinteressiert und lustlos. Aline erkennt sich selbst nicht. Sie ist das Opfer hier! Egal, wo sie ist. Sie ist selbst schuld daran, dass sie alle hassen. Ihre Eltern müssen eigentlich angenommen haben, dass sie diese Klasse mit ihren schlechten Noten unmöglich schaffen würde, denkt sie. Aber ein Brief, der darauf hinweist, bedeutet Ärger. Schwarz auf weiß.

***

Und es kommt genauso, wie sie es den gesamten Vormittag befürchtet und sich ausgemalt hat. Sie wollte deswegen nicht nach Hause fahren. Wo hätte sie denn hingekonnt? Es gibt keinen Ort, an den sie fliehen hätte können. Etwas später als gewöhnlich kommt sie zu Hause an. Kaum hat Aline die Haustür aufgesperrt, schreit Maria, die gerade aus dem Esszimmer kommt, los: „Sie ist da!” Der Vater stürmt los. Aline spurtet ebenso los, die Treppe hinauf. Sie springt über das mintgrüne Holzgeländer des Laufstalls ihrer jüngsten Schwester Jasmin, der sich im Schlafzimmer der Eltern befindet, und hofft, dass diese nicht darin liegt und schläft. Dies ist zum Glück nicht der Fall. Aline macht sich so klein, wie sie nur kann, um unter der sehr großzügigen, dicken Steppdecke nicht aufzufallen.

Sie hält den Atem an, sie darf keinen Laut von sich geben und sich nicht bewegen. Nach dem Sprint ringt sie umso mehr nach Luft. Das geht jetzt nicht! Sie kontrolliert ihren Körper. Nahezu bewegungslos gelangt etwas Luft in Alines Lunge. Ihr Vater ist sehr ausdauernd. Er sucht auch stundenlang nach ihr, wenn es sein muss.

Sie beginnt, unter der Decke zu schwitzen. Die Luft ist stickig. Deswegen pult Aline eine kleine Öffnung zwischen Matratze und Decke. Es fühlt sich erlösend an, als sie kühle, frische Luft spürt. Ihr Magen beginnt zu knurren. Sie presst ihre Unterarme und Ellenbogen fest gegen ihren Bauch, damit dieser aufhört, unkontrolliert Geräusche von sich zu geben. Das hilft für einen kurzen Moment. Der Vater sucht ihr Zimmer ab und wirft alles aus den Schränken auf den Boden. Aline kennt diese Geräuschkulisse. Er stellt jedes Möbel auf den Kopf. Daraufhin geht Vater in den Keller, da er scheinbar nicht mehr sicher ist, ob sie nach oben floh oder doch nach unten stürmte. Ihr Zimmer ist jetzt erst einmal sicher. Hier hat er bereits alles abgesucht. Aline schleicht vorsichtig und doch zügig dorthin. So, wie sie von Versteck zu Versteck rotiert, so dreht auch ihr Vater seine Runden. Noch ist sie ihm einen Schritt voraus. Sie weiß genau, wo er sich aufhält. Sie achtet auf jedes noch so kleine Geräusch im Haus. Er schimpft und droht. „Wenn ich dich erwische, dann erlebst du was, Freundchen!” Sie kriecht in den Hängeschrank über ihrem Schreibtisch. „Dann bist du tot!“ Sie hofft, dass der Vater an den Orten, wo sie unmöglich hineinpasst, nie suchen wird. Diesen Schrank hat er dennoch bereits ausgeräumt und ihre Dokumente lagen lose und durcheinander auf dem Boden. Ihr Körper beginnt, vom Zusammenfalten zu schmerzen. Sie hat furchtbaren Hunger und ihre Kehle ist unangenehm trocken. Es sind bestimmt ein paar Stunden vergangen, seit sie zu Hause angekommen ist.

Eine unheimliche Ruhe kehrt ein. Aline schleicht sich die Treppe hinunter und unbemerkt in die Küche. Vom Mittagessen war nichts übrig. Nichts steht auf der Anrichte, wie gewöhnlich. Möglicherweise haben sie das Essen vor ihr versteckt – das wäre schließlich nicht das erste Mal. Deswegen sucht sie in der Speisekammer weiter. Nichts.

„Hab ich dich!“, freut sich der Vater und grinst.

Er steht vor ihr. Aline blickt ihn erschrocken an und bemüht sich, ihm noch zu entkommen. Die Speisekammer ist eine Sackgasse. Sie steht inmitten von unzähligen Schüsseln, Boxen, Töpfen und Gläsern, die chaotisch überall gestapelt sind. Beim Versuch, sie zu packen, fällt noch mehr zu Boden. Aline geht in der hintersten Ecke zu Boden und möchte sich schützen.

Er zieht sie an den Ohren hoch. Er hält sie an den Armen fest, die er an ihrem Rücken überkreuzt fixiert hat, und schubst sie vor sich her, während sie zu ihrem Zimmer gehen. Sie spürt seinen warmen, schweren Atem, der nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch riecht, in ihrem Nacken. Es gibt keinen Ausweg mehr und sie nimmt es hin. Er lässt sie unerwartet los und schubst sie wieder. Diesmal fällt sie. Wieder zerrt er sie hoch. Er ohrfeigt Aline und schlägt ihren Körper. Er spuckt ihr ins Gesicht. Ekel kommt in ihr hoch und sie verzieht das Gesicht, als würde sie etwas Bitteres schmecken. Sie wirkt auf eine skurrile Weise ruhig. Am liebsten möchte sie ihm eine reinhauen, ihn treten, so wie er es mit ihr tat, ihm einen schweren Gegenstand überziehen, damit er umfällt. Dann kann sie ihn anspucken! Einmal hatte sie jedoch versucht, sich zu wehren, und es verschlimmerte ihre Lage. Das ist der Grund, aus dem sie es bevorzugt, sich im Augenblick zu beherrschen und ihre Wut zu unterdrücken. Mit ihrem Pulli wischt sie seine Spucke ab, während sie den Blick nicht von dem Vater abwendet. Er soll ihre Abneigung spüren! Hasserfüllt ist sie beinahe stolz darauf, ihm zumindest so zu signalisieren, dass er sie nicht vollkommen brechen kann. „Hör auf, zu grinsen!“, schreit er, während er sie erneut ohrfeigt.

Er lässt von ihr ab und zerrt sie nun am Arm hinüber zu ihrem Bett. Es schmerzt, so sehr drückt er den Unterarm und das Handgelenk zusammen. Er wirft um sich. Alle Poster und Bilder reißt er von der Wand. Aline schaut zu, bewegt sich nicht. Inzwischen ist das Zimmer vollkommen verwüstet…

Dinge gehen kaputt.

Ausgerechnet deckt er durch diese Aktion, alles von den Wänden zu ziehen, auch noch einen überdimensional großen Schriftzug aus Ölfarbe an der Wand auf. „Mama, ich hasse dich!”, steht dort mit zehn Ausrufezeichen. Nur kurz macht es den Anschein, dass ihn diese Worte berühren. Wutentbrannt hatte Aline es vor Monaten mit ihren Händen in Ölfarbe dorthin geschmiert. Es dauerte ewig, bis es damals getrocknet war. Der Vater wird noch wütender und kann sich kaum noch beherrschen. Doch verliert er kein einziges Wort über diesen Schriftzug an der Wand. Er klebt den bereits zerknüllten und eingerissenen Brief, den er eigentlich unterschreiben sollte, über ihr Bett in die Dachschräge, sodass sie den blauen Brief direkt sehen kann, wenn sie einschläft. „Versager.”

Er droht Aline. Sie dürfe den Zettel nicht abnehmen, sonst erlebe sie etwas. Sie solle immer wissen und daran erinnert werden, dass sie eine Versagerin ist, schreit er. Er zieht sie am Ohr hoch und dreht es so lange, bis das Knacken des Knorpels zu hören ist. Alines Ohr glüht. „Hast du das verstanden?” Sie nickte zögerlich. „Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt?“ Mit Mühe bringt Aline ihre Lippen in Bewegung und presst ein kraftloses „Okay“ heraus. Sie steht auf den Zehenspitzen so hoch, wie sie kann, als Versuch, das Gewicht ihres Körpers, welches am Ohr lastet, zu reduzieren. Er sagt, dass er sie immer noch nicht verstanden habe. „Okay”, schreit sie. Er lässt sie los und stößt sie von sich weg. Sie legt ihre Hand auf ihr schmerzendes Ohr und bleibt regungslos stehen.

„Räum das auf, dummes Arschloch!“, sagt er und geht.

***

Täglich fragt die Lehrerin nach dem Dokument. Droht ihr Bestrafung an, wenn sie den Brief nicht unterschrieben in den nächsten Tagen abgibt. Es dauert mindestens noch zwei Wochen, bis sie sich traut, das zerknitterte Papier von ihrer Zimmerdecke abzuhängen. Aline schämt sich dafür, wie der Brief aussieht. Zerknüllt und eingerissen. Sie bügelt das Dokument und flickt mit Klebestreifen die Risse zusammen. Die Spuren der Gewalt bringt sie allerdings nicht aus dem Papier. Die Lehrerin schüttelt abfällig den Kopf, als Aline ihr das Dokument überreicht.

Ihr Vater unterschreibt so etwas nicht, hatte er ihr gegenüber geäußert.

***

„Irgendwann bringe ich ihn um!“, denkt Aline entschlossen.

NEUN QUADRATMETER GRENZLINIE, 2009

Nachdem ihre frischen Schnittwunden von einem Arzt versorgt wurden, bekommt Aline die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ihre erste „offizielle psychiatrische Diagnose“.

Der Arzt, der die Wunden mit Wundstreifen zusammengeflickt hat, teilt ihr freudig mit, dass zufällig ein Psychiater in seiner Praxis sei, da dessen Praxis umgebaut werde. Er schiebt Aline ein Zimmer weiter, als die Behandlung abgeschlossen ist. Der Raum ist dunkel und sehr eng, was Unbehagen bei der jungen Frau auslöst. Die gesamte Praxis des Psychiaters scheint sich in diesen neun Quadratmetern zu befinden, was einem Wunder gleicht und tatsächlich offensichtlich nicht unmöglich ist. Ein ziemlicher Dunst liegt in der Luft. Dem Geruch nach raucht er hier bestimmt. Die Sonne scheint durch das Fenster hinter dem Mann direkt in Alines Gesicht, weshalb sie nur Umrisse von ihm erkennen kann. Ein Arm streckt sich ihr aus dem Nebel aus Rauch und glitzerndem Staub entgegen. Ein viel zu fester Händedruck!

Seine Stimme ist tief und angenehm ruhig. Er stellt Fragen: „Fühlen Sie sich oft leer? Einsam? Gibt es Risikoverhalten, beispielsweise Substanzmissbrauch oder rücksichtsloses Fahren? Haben Sie Suizidgedanken? Erleben Sie intensive Gefühle und starke Anspannungszustände?“ In der Folge springt er auf, geht um den Schreibtisch herum zu Aline, lehnt sich vor ihr am Tisch an und sagt: „Sie haben alle Kriterien erfüllt!” Jetzt erst kann die Frau zum ersten Mal das Gesicht des Arztes richtig sehen. Er ist deutlich älter, als sie ihn zuvor wahrgenommen hatte. Wieder nimmt er ihre Hand und schüttelt sie, als würde er ihr gratulieren wollen. Seine Ironie findet sie mehr als unpassend. „Sie haben Borderline!”, spricht er weiter und schüttelt immer noch ihre Hand.

Irritiert darüber, was Aline mit dieser Information anfangen soll, steht sie verunsichert auf, als der Arzt endlich ihre Hand loslässt. Sie blickt ihn intensiv fragend an und versucht, über ihre bernsteinfarbenen Augen zu signalisieren, dass sie ratlos und überfordert ist.

Es macht den Anschein, dass es funktioniert. Der Psychiater bemerkt Alines Verunsicherung und drückt ihr eine Broschüre in die Hand. „Was Sie über Borderline wissen sollten“, liest sie darauf. Zögernd bleibt sie stehen. Ist jetzt der Zeitpunkt, an dem sie seine „Praxis“ einfach verlassen soll? Er atmet lange und laut aus, reagiert auf die Blicke der Patientin mit einer weiteren Broschüre. „Ihr Weg zur Aufnahme; Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie…“ Er nickt ihr zu. Aline geht zur Tür und dreht sich noch einmal kurz zu dem Psychiater um. „Das wird von alleine besser, wenn Sie älter sind, da werden Sie ruhiger!“, hört sie. Gekränkt beißt sie sich auf ihre trockenen Lippen, bedankt sich anstandshalber und geht.

GEFANGENE, 2003

Aline befindet sich in der Dunkelheit. Dorthin, wo das kleine Licht in den großen Raum hineinfällt, kann sie nicht gehen. Wo sich das kleine Fenster befindet, fürchtet sie sich noch mehr, da es dort sehr unübersichtlich ist. Alles im Blick zu haben, ist wichtig. Am besten ist es, die Wand im Rücken zu haben, von der kommt schließlich keine unerwartete Gefahr. Viel Gerümpel. Die hässliche Kröte, die sie bewegungslos anstarrt, sitzt in der Ecke neben ihr. Vielleicht ist sie sogar tot. Aline ekelt sich und würde sich zu Tode erschrecken, wenn dieser Froschlurch beginnen würde, sich plötzlich doch zu bewegen! Spinnen und Mäuse leben hier ebenfalls. Der Garagenkeller ist ein „Rohbau-Loch“. Kalt, feucht, nackt. Sie traut sich nicht, sich zu setzen – sowieso nicht auf den kalten Betonsockel, geschweige denn auf die losen, kantigen Kieselsteine. Noch nie traute sie sich, zu dem runden Loch im Boden zu gehen.

Es ist nicht abgedeckt, und Aline hat Angst, hineinfallen zu können oder darin etwas zu sehen, was sie nicht sehen möchte. Der modrige Geruch brennt in der Nase. „Das wird er sicher einmal mit mir machen, mich in dem Loch beseitigen!“, stellt sie sich vor. Die Kälte der Luft schmerzt in ihrer Lunge. Sie starrt die Ziegelsteine an. Steht, obwohl sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Alles macht ihr Angst, sie will sich nicht von der Stelle wegbewegen. Sie ist hier gefangen. Oft. Manchmal stundenlang. Trotzdem verliert der Ort seinen schrecklichen Charme nicht. Alles im Radius von einem Meter vor der metallenen, harten Außentür ist für sie okay. Alles, was sich dahinter im Raum befindet und regt, ist nicht okay.

Selbst im Sommer ist es hier eiskalt.

Die Hände brennen. Sie ist erschöpft. „Ich will raus!” Die massive Tür bebt nur leicht bei jedem ihrer Schläge. Aline weiß, dass es sinnlos ist, unnötig Kraft kostet und sie noch die nächsten drei Tage davon Schmerzen haben wird. Aber es gibt ihr das Gefühl, nicht völlig ausgeliefert zu sein. Sie braucht das, sie braucht diesen Schmerz. Sie klammert sich an die geringe Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch befreien kann. Ihre Fäuste geballt, schlägt sie so fest gegen das Metall, wie sie kann. Dann öffnet sie schließlich ihre Hände und schlägt mit den flachen Händen weiter. So lange, bis sie vor Erschöpfung wirklich nicht mehr kann.

Wegen der Schmerzen gibt sie auf. Sie hört auf zu schreien und mit aller Kraft ihre Fäuste gegen diese unbesiegbare Tür zu schlagen.

Besonders abends, wenn kein Licht mehr durch das kleine Fenster in den Raum fällt, verliert sie das Gefühl von Raum und Zeit. Alles verschwimmt in der Dunkelheit und löst sich darin auf. Diese Kälte.

Es treibt ihr bereits Tränen in die Augen. Sie hat Angst, sich in die Hose zu machen, was ihr im Keller einmal passiert ist. Sie konnte das Malheur vertuschen. So möchte sie sich nicht erneut schämen! Außerdem befürchtet sie, dass jemand den Urin riechen könnte und sie noch mehr Ärger bekäme. Also hält sie weiter aus, obwohl sie sich im Kellerloch überall hätte hinsetzen können. Sie traut sich nicht, sich von der Stelle wegzubewegen.

Dann hört sie das erlösende und gleichzeitig demütigende Geräusch. Die Tür wird aufgeschoben. Erst kratzt es auf Beton, dann ein Quietschen. Licht fällt in den Raum. Sie zögert. Wartet. Niemand steht vor der Tür. Sie geht hinaus.

Oft ist es Maria, die sie heimlich rauslässt.

HUNGER 1, 2004

Das Schlimmste sind die Demütigungen am gemeinsamen Esstisch! Aline springt auf und möchte fliehen. Die Blicke und Worte kann sie nicht mehr ertragen. Sie muss am Vater vorbei, wenn sie der unangenehmen Essenssituation entkommen möchte. Sie springt auf, deutet an, in Richtung Tür loszulaufen, um den Vater auf eine falsche Fährte zu locken, und sprintet in die andere Richtung los, erst um den halben Marmortisch herum. Die Schwestern schauen still in ihre Teller, essen weiter, als wäre nichts. Niemand mischt sich ein. Niemand hält sie fest, damit ihr Vater sie packen kann. Früher taten sie das. Es geht sie nichts an. Das ist etwas zwischen Alines Vater und ihr. „Du blödes Arschloch! Warum provozierst du mich ständig?“, brüllt der Vater. „Kann ich nicht einmal in Ruhe essen?“

Aline ist sich keiner Schuld bewusst. Sie hat nichts getan, sie hat sich nur gewehrt. Sie schreit, so laut sie kann: „Das stimmt nicht!“, „Du lügst!“ und „Das war ich nicht!“ Die Antwort des Vaters ist immer die gleiche: „Wer am lautesten schreit, dass er es nicht war, der war es!“

Der Vater versucht, sie zu erwischen. Es gleicht einem Fangenspielen. Sie ist zu langsam, unaufmerksam, er erwischt sie. Er zerrt sie zurück zu ihrem Stuhl. Aline wird festgehalten. Der Vater nimmt den Löffel, macht ihn voll und hält ihn vor Alines Mund. „Mach den Mund auf!“, schreit er. Gleichzeitig zieht er an ihrem braunen Haar, drückt ihren Kopf Richtung Teller, als wolle er sie darin untertauchen. Damit bewirkt er genau das Gegenteil und letztlich hält er ihre Nase zu, irgendwann müsse sie den Mund öffnen, um Luft zu holen. Unter Zwang stopft er Löffel für Löffel in den Mund des Mädchens. Sie spuckt es aus. Er ohrfeigt sie. Er bringt das ausgespuckte Essen wieder auf den Löffel, stopft den Inhalt in ihren Mund, schließt diesen und drückt so fest zu, dass sie ihn nicht mehr öffnen kann. Er wartet, bis er sicher ist, dass sie alles hinuntergeschluckt hat. Das Essen widert sie an. Der Appetit verging ihr längst.

„Hier wird so lange gesessen, bis der Teller leer ist!“