Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen -  - E-Book

Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen E-Book

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Beschreibung

Eating disorders in childhood and adolescence are becoming increasingly important. Anorexia nervosa and bulimia nervosa typically start in childhood and adolescence, and in some areas their prevalence is increasing. Binge-eating disorder, pica and rumination disorder, and disorder with avoidance and/or restriction of food intake have now been included in the ICD-11 and DSM-5 classification systems for the first time. This volume presents major new findings on the aetiology, diagnosis, treatment, and prevention of these conditions in accordance with the evidence-based guidelines in Germany and against the background of the current state of international research. It provides assistance in the treatment of these disorders & which often tend to become chronic & not only for all those working in hospitals and private practice, but also for the patients= parents and guardians. Both of the book=s editors have many years of experience in treating eating disorders and conducting research on them.

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Die Herausgeberinnen

Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen. Langjährige Erfahrung in der Behandlung von kindlichen und jugendlichen Essstörungen und Forschung zu Entstehungsfaktoren der Essstörungen, insbesondere zu neurobiologischen Veränderungen. Durchführung großer klinischer Studien zu neuen Behandlungsoptionen bei der adoleszenten Anorexia Nervosa wie die tagesklinische Behandlung und das Home treatment.

Prof. Dr. rer. nat. Anja Hilbert, Diplom-Psychologin sowie Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin für Verhaltenstherapie. Leiterin der Adipositasambulanzen für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum AdipositasErkrankungen, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Leipzig. Expertise in der Diagnostik und Klassifikation, Entstehung und Aufrechterhaltung sowie der Psychotherapie einschließlich klinischer Studien bei Essstörungen im Kindes- und Jugendalter mit Schwerpunkten auf der Binge-Eating-Störung und der vermeidend-restriktiven Essstörung.

Beate Herpertz-DahlmannAnja Hilbert (Hrsg.)

Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Ein klinisches Handbuch

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039202-1

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039203-8

epub:        ISBN 978-3-17-039204-5

Vorwort

 

 

Essstörungen waren in Deutschland ein bis in jüngster Zeit in Psychiatrie und Psychologie vernachlässigtes Gebiet. So findet sich das Krankheitsbild der Anorexia Nervosa (AN) erst 100 Jahre nach seiner Erstbeschreibung durch Sir William Gull in England und Charles Laségue in Frankreich im Jahr 1974 in einem deutschen Lehrbuch der Psychiatrie (Huber 1974). Auch die Aufnahme der Essstörungen in die aufeinanderfolgenden Auflagen des amerikanischen Klassifikationsschemas gestaltete sich zögerlich. Gerard Russell beschrieb die Symptome der Bulimia Nervosa (BN) bereits im Jahr 1979 (Russell 1979). Die Definitionskriterien dieser Essstörung wurden zum ersten Mal 1980 im DSM-III unter den Störungen des Kindes- und Jugendalters zusammen mit denen der Anorexia Nervosa aufgeführt, wahrscheinlich, weil man ihre Symptome bei Erwachsenen noch nicht identifiziert hatte. Im DSM-IV (1994) wurde die Mehrzahl aller übrigen Essstörungen unter der Restkategorie »nicht-spezifische Essstörungen« gelistet; die Beschreibung der Binge-Eating-Störung (BES) fand sich unter den Forschungskriterien, die weiterer Evaluation bedurften. Erst das jüngste amerikanische Klassifikationsschema DSM-5 (APA 2013) und sein europäisches Pendant ICD-11 (WHO 2022) zeigen die Spannbreite der Essstörungen für alle Altersgruppen auf – dabei wurden die vermeidend-restriktive Essstörung (ARFID, avoidant/restrictive food intake disorder), Pica und die Ruminationsstörung als diagnostische Kategorien neu aufgenommen und der BES als eigener diagnostischer Kategorie ein gleichberechtigter Platz neben den etablierten Essstörungen AN und BN eingeräumt. Trotzdem ist der Stellenwert der Essstörungen unter den psychischen Störungen immer noch gering. Obwohl die Behandlungs- und Folgekosten der Essstörungen für das Gesundheitssystem nicht geringer sind als für Angst- und depressive Störungen, werden international und in Deutschland deutlich weniger Mittel in die Erforschung von Ursachen und Therapiemöglichkeiten dieser Störungsgruppe investiert als bei anderen psychischen Erkrankungen (Schmidt et al. 2016; Kaye and Bulik 2021). In Deutschland kann man das Medizinstudium ohne Basiskenntnisse auf dem Gebiet der Essstörungen erfolgreich abschließen; ähnliches gilt für die Facharztanerkennungen der Kinder- und Jugendmedizin sowie der Psychiatrie und Psychotherapie. Auch im Studium der Psychologie und in der Weiterbildung zum/r psychologischen Psychotherapeut/-in nehmen die Essstörungen zumeist eine Randstellung ein, obwohl die Wahrscheinlichkeit, einem dieser Störungsbilder in der täglichen Praxis zu begegnen, hoch ist. So beträgt die Punktprävalenz eines breiter definierten Essstörungsspektrums ca. 20 % in der weiblichen Bevölkerung und 14 % in der männlichen; bezogen auf genau definierte Essstörungsdiagnosen liegt die Prävalenz für Frauen bei 8,4 % und 2,2 % für Männer (Galmiche et al. 2019).

Die Belastung des Einzelnen und der Gesellschaft durch diese Störungsgruppe ist hoch. Viele der Betroffenen erkranken in einem Alter zwischen 13 und 25 Jahren an AN, BN oder BES, noch früher an ARFID, der Ruminationsstörung und Pica. Hinzu kommt, dass die Betroffenen jünger werden und immer mehr Kinder unter Essstörungen leiden (s.  Kap. 1 zur Anorexia Nervosa). Die Störung trifft demnach Individuen in einem entwicklungssensitiven Alter mit möglichen schwerwiegenden körperlichen und psychischen Konsequenzen für das ganze weitere Leben.

Hinzu kommt die Stigmatisierung dieser Störungen, die sowohl die Betroffenen selbst als auch ihre Bezugspersonen trifft. Über lange Zeit wurde – auch vor dem Hintergrund bestimmter psychotherapeutischer Ideologien – vertreten, dass die Eltern und das familiäre System Mitverursacher der Erkrankungen, insbesondere von AN und BN, sind. Eine solche Stigmatisierung verzögert die Inanspruchnahme einer notwendigen therapeutischen Maßnahme (Brelet et al. 2021), und das schuldhafte Erleben der Bezugspersonen erschwert die Compliance mit der Behandlung.

Durch zahlreiche neue Erkenntnisse, die genetischen und weiteren biologischen Ursachen eine größere Bedeutung zumessen, sowie mehr praxisorientierte psychotherapeutische Strategien scheinen die öffentliche Stigmatisierung und die Selbststigmatisierung zurückzugehen. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass sich fast alle Eltern, die unsere Psychoedukationsgruppe für AN besuchen, schuldig an der Erkrankung ihres Kindes fühlen. Jedoch nicht nur die Erziehungspersonen fühlen sich schuldig, sondern auch Kinder und Jugendliche mit Essstörungen wie der BES schreiben sich selbst die Schuld für ihre Essstörungssymptome zu. Vor dem Hintergrund einer pervasiven gesellschaftliche Abwertung eines übermäßigen Nahrungskonsums sowie von Übergewicht und Adipositas wird psychotherapeutische Hilfe zumeist nicht aufgesucht (Forrest et al. 2017).

Ein weiteres Problem ist die unzureichende Anwendung von evidenzbasierten und leitliniengerechten Therapiestandards. Im Gegensatz zu vielen somatischen Behandlungen beruhen leider immer noch viel zu viele therapeutische Maßnahmen bei den Essstörungen – ungeachtet einer nachgewiesenen Wirksamkeit – auf einem veralteten Wissensstand und tradierten Vorstellungen. Hinzu kommt, dass viele Essstörungen immer noch zu spät erkannt werden und sich viele Therapeut/-innen die Behandlung, insbesondere die der Anorexia Nervosa, nicht zutrauen. Dabei wissen wir, dass die Zeitdauer der unbehandelten Essstörung einen negativen Einfluss auf die Prognose hat (Austin et al. 2021).

Alle oben aufgeführten Gründe und Argumente haben uns dazu veranlasst, ein Buch herauszugeben, das speziell für die Erkennung und Behandlung der Essstörungen von Kindern und Jugendlichen konzipiert wurde. Soweit wir wissen, bezieht es erstmalig im deutschen Sprachraum die neu klassifizierten Essstörungen ARFID, Pica und Ruminationsstörung ein und vermittelt darüber hinaus neu gewonnene Einsichten in die Ätiologie und Therapie der bereits länger etablierten Störungen AN, BN und BES. Dabei ist besonders die neue Perspektive auf die Anorexia Nervosa als »metabolisch-psychische Erkrankung« (Bulik et al. 2021) hervorzuheben.

Wir haben uns bemüht, sowohl Ergebnisse der Grundlagenforschung als auch zahlreiche Erfahrungen und etablierte Strategien aus der klinischen Praxis an unsere Leser weiterzugeben. Klinisch und therapeutisch Tätige, insbesondere aus dem Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädiatrie, Psychosomatik, Psychologie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie Lehrkräfte usw., erhalten einen profunden Einblick in somatische und psychologische Diagnostikverfahren. Hinzu kommen neuartige, auf der Basis der digitalen Medien entwickelte Methoden zur Prävention und Behandlung. Aufgrund der deutlichen Zunahme der Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen (van Eeden et al. 2021) wird auch der schulbasierten Prävention ein Kapitel gewidmet, genauso wie der häufigen Komorbidität von Essstörungen und Diabetes mellitus, dessen Prävalenz im Kindes- und Jugendalter ansteigt.

Nicht zuletzt haben wir versucht, auch den Aussagen unserer Patient/-innen Raum zu geben, um ihre Probleme und die von ihnen erlebten Schwierigkeiten in der Therapie besser zu verstehen. Wir haben mit vielen von ihnen gesprochen und ihre Sichtweise erfragt. Ihr Dissens oder Konsens mit unseren Maßnahmen stellt eine wichtige Hilfe für die Entwicklung neuer Therapieverfahren dar. An dieser Stelle möchten wir uns sehr für ihre Offenheit bedanken.

Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zur Linderung der »crisis of care« (»Behandlungskrise«) (Kaye and Bulik 2021; Giel et al. 2021), wie sie im Moment von vielen Therapeut/-innen und Forscher/-innen in Deutschland und international für die Essstörungen postuliert wird, zu leisten. Dies soll insbesondere den betroffenen Kindern und Jugendlichen zugutekommen.

Aachen und Leipzig, im Frühjahr 2022

Beate Herpertz-Dahlmann und Anja Hilbert

Literatur

Austin A, Flynn M, Richards K et al. (2021) Duration of untreated eating disorder and relationship to outcomes: A systematic review of the literature. Eur Eat Disord Rev 29: 329–345.

Brelet L, Flaudias, V, Désert M et al. (2021) Stigmatization toward people with Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa, and Binge Eating Disorder: A Scoping Review. Nutrients 13: 2834.

Bulik CM, Carroll IM, Mehler P (2021) Reframing anorexia nervosa as a metabo-psychiatric disorder. Trends Endocrinol Metab 32: 752–761.

Forrest LN, Smith AR, Swanson SA (2017) Characteristics of seeking treatment among U.S. adolescents with eating disorders. Int J Eat Disord 50: 826–833.

Galmiche M, Déchelotte P, Lambert G et al. (2019) Prevalence of eating disorders over the 2000–2018 period: a systematic literature review. Am J Clin Nutr 109: 1402–1413.

Giel K (2021) A European view on the crisis of care for anorexia nervosa (Commentary). JAMA Psychiatry (Published online March 16, 2021), https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2020.4796

Kaye WH, Bulik CM (2021) Treatment of patients with anorexia nervosa in the US – a crisis in care. JAMA Psychiatry 78: 591–592.

Russell G (1979) Bulimia nervosa: an ominous variant of anorexia nervosa. Psychol Med 9: 429–448.

Schmidt U, Adan R, Böhm I et al. (2016) Eating disorders: the big issue. Lancet Psychiatry 3: 313–315.

van Eeden AE, van Hoeken D, Hoek HW (2021) Incidence, prevalence and mortality of anorexia nervosa and bulimia nervosa. Curr Opin Psychiatry 34: 515–524.

Inhalt

 

 

Vorwort

I   Krankheitsbilder

1   Anorexia Nervosa

Beate Herpertz-Dahlmann

2   Bulimia Nervosa

Tanja Legenbauer, Katharina Bühren und Hanna Preuss-van Viersen

3   Binge-Eating-Störung

Anja Hilbert

4   Störung mit Vermeidung und/oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme.

Ricarda Schmidt und Anja Hilbert

5   Ruminationsstörung und Pica

Andrea S. Hartmann und Alexandra Bruns

II  Übergreifende Kapitel

6   Essstörungen bei Diabetes mellitus

Christina-Maria Geisbüsch

7   Psychologische Testverfahren.

Adrian Meule und Anja Hilbert

8   Körperbildstörung

Mona M. Voges, Tanja Legenbauer und Silja Vocks

9   Internetbasierte Prävention und Behandlung

Stephanie Bauer, Johanna Stadler und Markus Mössner

10 Schulbasierte Prävention

Uwe Berger

III Verzeichnisse

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sachwortregister

I           Krankheitsbilder

1          Anorexia Nervosa

Beate Herpertz-Dahlmann

Fallbeschreibung

Die 14-jährige Mara war schon immer pflichtbewusst und darauf bedacht, alles möglichst gut und zur Zufriedenheit ihrer Eltern und Lehrer zu erledigen. Sie berichtete, dass sie vor ca. einem halben Jahr begonnen habe, ihr Essverhalten zu verändern und Kalorien zu zählen. Schon vorher sei sie unzufrieden mit ihrem Aussehen gewesen, habe sich dick und unförmig gefühlt und sich häufig mit Gleichaltrigen verglichen. Mit Beginn der Veränderung des Essverhaltens habe sie sich täglich gewogen und intensiv Sport getrieben. So sei sie jeden Tag mindestens 5 km gejoggt, habe mit dem Stepper trainiert und zusätzlich Workouts durchgeführt. Vor ca. 2 Monaten habe sie völlig die Kontrolle über ihr Gewicht und ihr Essverhalten verloren. Ihr sei klar gewesen, dass ihr Gewicht zu niedrig sei, aber eine »innere Stimme« habe sie immer wieder darin bestärkt, abzunehmen. Jede geringste Gewichtszunahme habe sie völlig verzweifeln lassen. Schließlich sei auch ihre Stimmung immer trauriger geworden, und sie habe an nichts Anderes mehr gedacht als an Essen und ihr Gewicht. Vor ca. 3 Monaten habe die Menstruation ausgesetzt.

Die Mutter unserer Patientin habe bis zu ihrem 30. Lebensjahr an einer Magersucht (Anorexia Nervosa, AN) gelitten. Sie berichtete, sich jede Woche zu wiegen und sehr auf »gesunde« Nahrungsmittel zu achten. Der Vater gab an, sehr ordentlich zu sein und auch kleinste Ungenauigkeiten nicht tolerieren zu können.

1.1       Geschichte

Die Erstbeschreibung des Krankheitsbildes der Anorexia Nervosa erfolgte fast gleichzeitig durch die beiden Ärzte Sir William Gull in England und Ernest-Charles Laségue in Frankreich im Jahr 1873.

Im Jahr 1888 publizierte Sir William Gull im »The Lancet«, einer schon damals sehr bekannten medizinischen Zeitschrift, eine weitere Fallgeschichte über ein 14-jähriges Mädchen: Miss K.R. ( Abb. 1.1) war das dritte von 6 Kindern, wovon eines bereits die Säuglingszeit nicht überlebte. Der Vater starb im Alter von 68 Jahren an Lungentuberkulose, die Mutter war bei guter Gesundheit. Die Schwester litt an unterschiedlichen »nervösen Symptomen«, die übrigen Geschwister waren nach Gulls Meinung gesund. Das betroffene Mädchen war bis zum Alter von 13 Jahren ein »rundliches, gesundes Mädchen«, welches ohne ersichtlichen Grund eine Abneigung gegenüber dem Essen entwickelte und kurze Zeit später die Nahrung bis auf eine halbe Tasse Kaffee oder Tee am Tag komplett verweigerte. Um Sir William Gull aufzusuchen, musste sie aus Nordengland anreisen und bestand darauf, vom Bahnhof zum Arzt zu Fuß zu gehen, obwohl sie aufgrund ihrer Auszehrung zahlreiche Kommentare von den anderen Fußgängern über sich ergehen lassen musste. Ihre Extremitäten waren blau verfärbt und kalt, eine organische Ursache fand sich bei einer Herzfrequenz von 46 pro Minute und einer Körpertemperatur von 36 Grad Celsius nicht. Die Patientin war der Meinung, dass es ihr gut ginge. Sir William Gull verordnete ihr alle paar Stunden die Einnahme leichter Kost. Nach 6 Wochen berichtete der Hausarzt, dass es ihr besser ginge; zweieinhalb Monate nach der Vorstellung bei Sir William Gull schrieb die Mutter, dass sie sich keine Sorgen mehr wegen K. mache. Der Autor führte die Ursache des Problems auf eine »Entartung des Ego« zurück; am meisten verwunderte ihn der anhaltende Bewegungsdrang, obwohl die Abmagerung seiner Patientin so ausgeprägt war.

Heute entnehmen wir der Medizinhistorie, dass es die AN mit hoher Wahrscheinlichkeit schon Jahrhunderte früher gab. Ein weiteres berühmtes Beispiel für diese Störung ist Katharina von Siena, deren Lebensgeschichte (1347–1380) im Mittelalter ebenfalls eine AN vermuten lässt.

Abb. 1.1: Photographie der abgemagerten Patientin am 21.4. 1887 (Gull 1988, S. 516)

1.2       Definition und Klassifikation

Die AN ist gekennzeichnet durch einen ausgeprägten Gewichtsverlust, eine tiefgreifende Angst vor einer Gewichtszunahme (Gewichtsphobie), eine überwertige Idee bezüglich Figur und Gewicht (»Ich bin nichts, wenn ich nicht dünn bin«), durch Maßnahmen, um diesen Gewichtsverlust zu erreichen (z. B. Fasten, Sport), und eine Körperbildstörung.

Die Kriterien für das Vollbild der AN nach DSM-5 und ICD-11 gehen aus  Tab. 1.1 hervor.

Es gibt keine nachvollziehbare Begründung, warum laut Kriterien der ICD-11 im Erwachsenenalter die 10. Body-Mass-Index (BMI)-Perzentile (18,5 kg/m2), im Kindes- und Jugendalter aber die 5. BMI-Perzentile als Gewichtsschwellenwert herangezogen wird. Vielmehr ist anzunehmen, dass die physischen und psychischen Konsequenzen des Hungerns (Starvation) für einen sich entwickelnden Organismus gravierender sind als für Erwachsene. Aus diesem Grund wurde in den deutschen S3-Leitlinien die 10. BMI-Perzentile als Gewichtsschwellenkriterium beibehalten (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [AWMF] 2020).

Beide Klassifikationssysteme unterscheiden einen restriktiven (Gewichtsabnahme durch Fasten oder extensiven Sport) und einen Binge-/Purge- Typ (Auftreten von Heißhungerattacken/ Erbrechen, Abführmittelmissbrauch),

Tab. 1.1: Diagnostische Kriterien der Anorexia Nervosa (abgekürzt)

DSM-5 (307.1)ICD-11 (6B80)

wobei dem Binge-/Purge-Typ in vielen Studien eine schlechtere Prognose zugeschrieben wird (Fichter et al. 2017). Die beiden Formen der AN weisen eine unterschiedliche somatische und psychische Komorbidität auf ( Kap. 1.2.2 und  Kap. 1.4).

Eine bedeutsame Veränderung gegenüber DSM-IV und ICD-10 ist der Wegfall des Amenorrhoe-Kriteriums, da dieses auf Jungen, prämenarchale Mädchen und Frauen, die Kontrazeptiva einnehmen, nicht angewendet werden kann.

Beide Systeme unterscheiden unterschiedliche Schweregrade in Abhängigkeit vom Gewicht (»AN mit signifikant niedrigem Körpergewicht [≤  5. Perzentile]« und »AN mit gefährlich niedrigem Körpergewicht [≤  0,3. Perzentile]«); allerdings zeigen diverse Metaanalysen und Studien auf, dass die Gewichtsspezifizierung wenig zu einer klinischen Validierung beiträgt (z. B. Engelhardt et al. 2021).

Zudem wird in der ICD-11 vorgeschlagen, das numerische Gewichtskriterium einem Gewichtsverlust von mehr als 20 % des ursprünglichen Gewichtes innerhalb von 6 Monaten als diagnostisches Kriterium gleichzusetzen. Dies entspricht dem klinischen Eindruck, nach dem Patientinnen1 mit einem entsprechend hohen Gewichtsverlust eine ähnlich schwerwiegende Krankheitssymptomatik aufweisen wie Patientinnen mit sog. typischer AN und niedrigem Körpergewicht.

Im Vergleich zu DSM-IV und ICD-10 ist nach DSM-5 die Feststellung einer Voll- (keine Kriterien mehr erfüllt) oder Teilremission (Gewichtskriterium nicht mehr erfüllt) möglich, nach ICD-11 nur die einer Vollremission. Die Einführung eines Remissionskriteriums ist auch aus klinischer Sicht sinnvoll, da es die hohe Rückfallgefahr bei der AN verdeutlicht. Möglicherweise erleichtert eine solche Klassifikation auch die Finanzierung einer längeren therapeutischen Betreuung nach Gewichtsnormalisierung durch die gesetzliche Krankenversicherung.

Die sog. atypischeAN wird immer häufiger diagnostiziert; im US-amerikanischen Sprachraum machen Patientinnen mit atypischer AN ca. ein Drittel der stationären Klientel aus (für eine Übersicht s. Garber et al. 2019). Im DSM-5 fällt die atypische AN unter die »anderen näher bezeichneten Fütter- und Essstörungen«. Bis auf das Gewichtskriterium sind in dieser Definition alle Kriterien für die AN erfüllt. In der ICD-11 taucht der Begriff »atypische AN« nicht mehr auf. Als Klassifikationsmöglichkeit für eine Krankheitsform, die nicht mehr alle Kriterien für die AN erfüllt, wird »andere spezifische AN« oder »sonstige AN« angeboten (s. auch Übersicht bei Gradl-Dietsch et al. 2020). Der klinische Schweregrad der atypischen AN ist oft nicht geringer als der der typischen AN (s. auch  Kap. 1.3).

1.3       Symptomatik

1.3.1     Psychische Veränderungen

Viele junge Patientinnen berichten, dass die Essstörung mit dem Wunsch begann, sich gesünder zu ernähren. Die Mädchen (oder selten Jungen) stellen ihre Kost auf vegetarische oder manchmal vegane Nahrungsmittel um. In einer rezenten Erhebung bei Erwachsenen zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen vegetarischer/veganer Ernährung und erhöhten Scores in einem Essstörungsinventar (Paslakis et al. 2020). In einem zweiten Schritt verzichten die jugendlichen Patientinnen auf Süßigkeiten und Kuchen und lassen schließlich ganze Mahlzeiten weg, meist die, die nicht der Kontrolle der Eltern obliegen. Ein Teil der Patientinnen zelebriert seine Mahlzeiten, arrangiert das Essen auf dem Teller in einer bestimmten Ordnung und braucht lange Zeiträume für wenige Bissen, die im Verlauf immer kleiner werden. Viele entwickeln ein großes Interesse für Kochrezepte und Kochen und bereiten gern Mahlzeiten für andere zu, ohne mitzuessen.

»Das Essen konnte ich durch die Magersucht nicht mehr genießen, eher wurde ich durch Schuldgefühle nach den Mahlzeiten geplagt. Wenn ich mit Freunden nach der Schule ins Shopping-Center gegangen bin, war ich die, die den anderen beim Essen zugesehen hat und häufig noch im Kopf berechnet hat, wie viele Kalorien die anderen aufnehmen. Dasselbe habe ich, wenn ich gegessen habe, auch gemacht – Kalorien gezählt. Meine müden Gedanken kreisten ums Essen, Tag ein-, Tag aus. Ich zog mich zurück, um bloß nicht mit Freunden Essen gehen zu müssen, und wenn es so weit kam, lernte ich vorher die Speisekarte auswendig.«

Bericht einer 15-jährigen Patientin

Vor allem jüngere Patientinnen fürchten sich sogar vor dem Trinken von Wasser, weil sie annehmen, dass der »Bauch« davon dicker würde. Unzureichende Trinkmengen können eine Exsikkose und damit eine lebensgefährliche Situation zur Folge haben.

Die Patientinnen wiegen sich oft mehrfach am Tag, betrachten sich immer wieder im Spiegel, vergleichen sich mit den Fotos anderer Mädchen im Internet und finden sich zu dick. Oft nimmt paradoxerweise das Gefühl, zu dick zu sein, mit dem Gewichtsverlust zu. Wenn die Waage morgens einen erneuten Gewichtsverlust anzeigt, ist es für die Patientinnen ein guter Tag, ansonsten sind sie oft völlig verzweifelt. Manche Patientinnen können sehr genau berichten, ab welchem Gewicht sie die Kontrolle über die Gewichtsabnahme verloren hatten.

»Du, Magersucht, lässt mich nie vergessen, wie fett und eklig ich bin. Dass ich etwas ändern will, ändern muss. Du lässt mich den Hunger vergessen, die Erschöpfung, die Schwäche. Du lehrst mich das Motto »Wer schön sein will, muss leiden« zu leben. Ich leide, und wie! Aber das ist okay, ich leide gern. Um perfekt zu werden.«

Brief einer 15-jährigen Patientin »An die Magersucht«

Neben dem Fasten treiben viele exzessiven Sport, nutzen jede Gelegenheit zur Bewegung, machen ihre Schulaufgaben im Stehen und besuchen täglich ein Fitnessstudio. Oft wird der Sport als Zwang erlebt, und die Patientinnen müssen trotz größter Erschöpfung ihre festgelegten Kilometer laufen. Im Verlauf der Erkrankung ziehen sie sich immer mehr von ihren Freundinnen und Freunden zurück, werden depressiv, ängstlich und zwanghaft und entwickeln eine altersuntypisch enge Beziehung zu ihrer Familie. In vielen Fällen stagniert die psychosexuelle Entwicklung. Viele der Verhaltensweisen sind starvationsbedingt, wie es Keys et al. (1950) in dem berühmt-berüchtigten Minnesota-Experiment in den 1940iger Jahren in den USA zeigen konnten. In diesem Experiment an jungen Kriegsdienstverweigern wurde beobachtet, dass Hungern erhebliche psychische Veränderungen wie Depressionen, Sistieren der Libido und Zwanghaftigkeit bewirkt und komplexe kognitive Leistungen erheblich erschwert.

»After you've not had food for a while your state of being is just numb. I didn't have any pain. I was just very weak. One's sexual desires disappeared.«

(Major Sutton, Teilnehmer des Minnesota-Experimentes, BBC 2014)

Ähnliche Veränderungen finden sich auch bei der sog. atypischen AN, auch wenn das absolute Gewicht nicht bedrohlich aussieht. Ein großer Teil dieser Patientinnen weist ein prämorbides Übergewicht auf; dementsprechend ist der Gewichtsverlust oft höher und die Krankheitsdauer länger als bei der typischen AN (Sawyer et al. 2016). Die psychische Komorbidität bei beiden Subtypen unterscheidet sich nicht ( Kap. 1.4).

1.3.2     Somatische Veränderungen

Die somatischen Veränderungen sind meist umso gravierender, je ausgeprägter und je schneller der Gewichtsverlust erfolgte und je jünger die Patientin ist. Dabei spielt die Höhe des Aufnahmegewichts insbesondere bei der atypischen AN eine weniger bedeutsame Rolle (Garber et al. 2019). Elektrolytveränderungen und Dehydratation sind besonders schwerwiegende Folgen beim Binge-/Purge-Typ der AN. Die wesentlichen somatischen Veränderungen gehen aus dem Textkasten hervor. Da endokrinologische Veränderungen für das Kindes- und Jugendalter aufgrund des Reifungsprozesses besonders gravierend sind, werden sie im folgenden Abschnitt »Endokrinologische Veränderungen und Osteoporose« gesondert dargestellt.

Somatische Veränderungen bei kindlicher und adoleszenter Anorexia Nervosa (nach Herpertz-Dahlmann 2021)

Inspektion

•  trockene, schuppige Haut

•  marmorierte Haut, Blauverfärbung der Finger- und Zehenendglieder (Akrozyanose)

•  Speicheldrüsenschwellung (vor allem bei Erbrechen)

•  Lanugobehaarung bei Kachexie

•  Haarausfall

•  retardierte Pubertätsentwicklung und Kleinwuchs

Labor

•  Blutbildveränderungen (Verminderung der weißen und roten Blutkörperchen und der Blutplättchen)

•  Elektrolytstörungen (z. B. zu niedrige Kaliumwerte) bei Erbrechen und Abführmittelmissbrauch mit der möglichen Folge von Herzrhythmusstörungen und Dehydratation (»Austrocknung«)

•  Hypoglykämie (zu niedriger Blutzucker)

•  Erhöhung der »Leber-« und »Bauchspeicheldrüsenwerte« (Transaminasen, Amylase) und der harnpflichtigen Substanzen

•  Vitamin-D- und Zinkmangel

•  Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin

•  Abklärung Zöliakie: Erhöhung von Transglutaminase-AK-IgA bei normalem Ges.-IgA

•  Abklärung M. Crohn: Bestimmung von Calprotectin im Stuhl

•  Erhöhung des Wachstumshormons

•  Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen

–  Schilddrüsen-Achse

–  Nebennierenrinden-Achse

–  Gonaden-Achse

•  Erniedrigung von Leptin und von IGF-1

•  MRT-Veränderungen (Pseudoatrophia cerebri)

•  Entzündung der Speiseröhre (Ösophagitis) und der Speicheldrüsen (Parotitis) bei Erbrechen, Gastroparese

•  EKG-Veränderungen, z. B. zu niedrige Herzfrequenz (Bradykardie), Herzbeutelerguss (häufig, aber meist ohne hämodynamische Konsequenz)

•  Hypothermie, niedriger Blutdruck

•  durch Abführmittelmissbrauch induzierte Komplikationen (z. B. Demineralisierung des Knochens, Malabsorptions-Syndrome, Obstipation (Letztere tritt bei AN auch ohne Abführmittelmissbrauch auf.)

•  Osteopenie, Osteoporose

Endokrinologische Veränderungen und Osteoporose

30 % der Patient/-innen mit AN beschreiben in ihrer Anamnese eine Fraktur; nicht selten handelt es sich dabei um Ermüdungsfrakturen, die auch mit dem exzessiven Sporttreiben zusammenhängen. 50 % der Betroffenen weisen eine Knochendichte auf, die mehr als eine Standardabweichung unter der mittleren altersentsprechenden Knochendichte in definierten Skelettbereichen liegt. Eine verminderte Knochendichte wird noch Jahrzehnte nach der Remission beobachtet. Entsprechend bleibt das erhöhte Frakturrisiko möglicherweise lebenslang – wahrscheinlich in Abhängigkeit von Krankheitsdauer und -schwere – bestehen (für eine Übersicht s. Robinson et al. 2017).

Die Gründe für Osteopenie und Osteoporose sind vielfältig und hängen mit den starvationsbedingten endokrinologischen Veränderungen zusammen, die essenziell für das Wachstum und die Strukturbildung des jugendlichen Knochens sind ( Tab. 1.2):

1.  Die Sekretion von Wachstumshormon (growth hormone, GH) ist erhöht, die Sekretion von IGF-1 in der Leber, welches die Wirkung von GH am Knochen vermittelt, vermindert (Wachstumshormonresistenz). Neben den Auswirkungen auf den Knochen ist auch der Minderwuchs die Konsequenz der niedrigen IGF-1-Produktion, die sich vor allem bei der kindlichen AN findet ( Kap. 1.3.2). Die erhöhte Konzentration von GH dient der Prävention von Hypoglykämien.

2.  Patientinnen mit AN weisen eine Hochregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse auf, die eine erhöhte Kortisolproduktion und verminderte Supprimierbarkeit dieser Achse zur Folge hat.

3.  Unter den appetitregulierenden Hormonen spielen Adiponektin, Leptin, Ghrelin und PYY eine wichtige Rolle. Eine ausreichende Konzentration von Leptin ist für die Stimulation der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse notwendig.

4.  Die Starvation führt zu einer Suppression der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, was sich u. a. darin zeigt, dass die LH-Pulsatilität in ein präpubertäres Muster zurückfällt. Dementsprechend ist die Östrogen- bzw. bei Jungen die Testosteronproduktion vermindert. Dies hat neben den Auswirkungen auf den Knochen ein vermindertes sexuelles Interesse zur Folge (s. o.).

5.  Eine ernährungsbedingte zu niedrige Calcium-Zufuhr sowie ein Vitamin-D-Mangel, der häufig bei Adoleszenten mit AN beobachtet wird, kann die Osteopenie/Osteoporose verschärfen (zur Therapie  Kap. 1.9.3) (für eine Übersicht s. Misra and Klibanski 2016)

Veränderungen der Gehirnstruktur

Eine besonders gravierende Folge der Starvation ist die sog. »Pseudoatrophia cerebri«, Veränderungen des Gehirns mit einer Vergrößerung der äußeren und inneren Liquorräume ( Abb. 1.2). Ursache dafür ist eine Reduktion der grauen und weißen Substanz.

Tab. 1.2: Endokrinologische Veränderungen bei Anorexia Nervosa (nach Herpertz-Dahlmann 2015)

Die Reduktion der grauen Substanz ist stärker ausgeprägt als die der weißen und bei Adoleszenten gravierender als bei Erwachsenen. Die Ausprägung der Reduktion zeigt einen Zusammenhang mit dem niedrigsten BMI im Krankheitsverlauf und der Dauer der Erkrankung. Beide Parameter machen deutlich, dass eine ausgeprägte Gewichtsabnahme sowie lange Krankheitszeiten mit niedrigem Gewicht unbedingt vermieden werden sollten.

Langzeitbeobachtungen weisen darauf hin, dass die Substanzreduktion des Gehirns bei Erwachsenen nach Gewichtsnormalisierung reversibel ist. Bei Adoleszenten ist eine Normalisierung weniger eindeutig, da Langzeitstudien fehlen. Es bleibt aber zu befürchten, dass die starvationsbedingten neuronalen Veränderungen in der Adoleszenz gravierender sind.

Hormonelle Einflüsse wie die des Östrogens sind wesentlich für die pubertätsbedingten Veränderungen des Gehirns. Die Folgen eines durch die AN bedingten passageren oder persistierenden Östrogenmangels sind nicht ganz klar. Es ist aber davon auszugehen, dass dieser Auswirkungen auf die weibliche Hirnentwicklung hat (für eine Übersicht s. auch Seitz et al. 2018).

Die Reduktion der Hirnsubstanz kann auch mit funktionellen Veränderungen einhergehen, d. h. milden neuropsychologischen Einschränkungen wie die der visuell-räumlichen Fähigkeiten, des Gedächtnisses und der Konzentration. Bei jungen Frauen mit persistierender Amenorrhoe sind diese ausgeprägter als bei Frauen, bei denen die Menstruation wieder eingetreten ist (Chui et al. 2008).

Abb. 1.2: Veränderung des Gehirns (Erweiterung der inneren und äußeren Liquorräume) einer Patientin mit persistierender AN zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr

1.3.3     Besondere Formen

Kindliche Anorexia Nervosa

Unter »Kind« wird die Altersgruppe der unter 14-Jährigen verstanden. Im Vergleich zu den jugendlichen Patientinnen können viele Kinder keine Gründe für den Beginn ihres gestörten Essverhaltens nennen, stehen dem oft selbst ratlos gegenüber und haben wenig Strategien und Einsicht, wie sie aus der Erkrankung herausfinden können. Körperbildstörungen sind im Kindesalter seltener als im Jugendalter (Pinhas et al. 2011). In einer größeren Studie bei 12-jährigen Mädchen gaben 30 % der Befragten an, ihr Aussehen häufig mit dem von Gleichaltrigen zu vergleichen (Weitkamp et al. 2010). Viele der als schon als Kind Erkrankten kommen aus dem Leistungssport (Turnen, Schwimmen, Leichtathletik). Interessanterweise haben auch Kinder schon ein klares Konzept, was Diäthalten bedeutet (entweder Austausch ihrer Ernährung gegen »gesunde Nahrungsmittel« oder Einschränkung der Nahrungsmenge (Schur et al. 2000). Im Vergleich zu Adoleszenten wird bei Kindern häufig ein größerer Gewichtsverlust in kürzerer Zeit beobachtet (Walker et al. 2014); allerdings ist die BMI-Perzentile bei Aufnahme häufig höher als bei den Jugendlichen (Jaite et al. 2019), da die Kinder intensiver durch ihre Eltern beaufsichtigt werden können. Aufgrund des geringeren Körperfetts sind Kinder durch die somatischen Folgen der Starvation mehr bedroht als Jugendliche oder Erwachsene.

Prämenarchale Kinder weisen eine größere Wachstumsretardierung auf als ältere Patientinnen; die Ursache liegt wahrscheinlich darin, dass der präpubertäre Wachstumsschub durch die Starvation beeinträchtigt wird (Pinhas et al. 2011). Oft braucht es Jahre, bis die Wachstumsretardierung aufgeholt wird, wobei das Zeitfenster begrenzt ist (Swenne 2005). In unserer eigenen Katamnesestudie bei kindlichen Patientinnen waren die Betroffenen bei Aufnahme und bei einem 5 bis 10 Jahre späteren Nachbeobachtungstermin durchschnittlich 2 cm kleiner als die gleichaltrige Normalpopulation.

Des Weiteren konnten wir beobachten, dass bei Patientinnen mit prämenarchaler AN die Menstruation zu einem späteren Zeitpunkt wieder eintrat als bei postmenarchalen Patientinnen (Herpertz-Dahlmann und Dahmen 2019a).

Aussagen zur Epidemiologie, Behandlung und Prognose der kindlichen AN finden sich in den entsprechenden Unterkapiteln.

Anorexia Nervosa beim männlichen Geschlecht

Im Gegensatz zu dem oft fast wahnhaft anmutenden Schlankheitswunsch bei den Mädchen ist das Körperbild bei den betroffenen Jungen deutlich mehr auf Muskulosität ausgerichtet (Nagata et al. 2020). Es geht daher auch nicht so sehr um Gewichtsverlust, sondern um ein von Muskulatur geprägtes Körperbild. Insofern wird die Ernährung weniger von Fasten als vielmehr durch das Essen von sog. gesunden, meist proteinreichen Nahrungsmitteln bestimmt, sodass der Übergang zu einer Orthorexie (übertriebene Konzentration auf gesunde Lebensmittel) fließend ist. Männliche Adoleszente mit AN streben eher eine »Six-pack«-Muskulatur als einen flachen Bauch an (Darcy et al. 2012). Exzessiver Bewegungsdrang wird von Jungen ähnlich häufig berichtet wie von Mädchen. Nicht wenige der männlichen Betroffenen sind Leistungssportler. Verlaufsstudien zeigen, dass Jungen und Männer ähnliche Remissionsraten erzielen wie Mädchen und Frauen. Allerdings wird eine höhere Mortalitätsrate berichtet (Strobel et al. 2019; Quadflieg et al. 2019).

Anorexia Nervosa bei sexuell diverser Identität

Essstörungen sowie eine hohe Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper finden sich häufig bei sexuell diversen Minoritäten. Homosexuelle männliche Jugendliche fasten deutlich häufiger als heterosexuelle Jungen, nehmen häufiger Diätpillen, zeigen mehr Purging-Verhalten und nehmen mehr Anabolika/Androgene zu sich. Ähnliche Beobachtungen werden auch bei lesbischen Adoleszenten gemacht (Calzo et al. 2019).

Bei erwachsenen Transmännern und Transfrauen beträgt die Häufigkeit der AN ca. 4 % (Nagata et al. 2020).

Leider gibt es noch so gut wie keine Studie zu speziellen therapeutischen Angeboten für diese Gruppen.

1.4       Komorbidität

Mehr als die Hälfte aller Patientinnen mit AN weist eine komorbide psychische Störung auf (Swanson et al. 2011) ( Tab. 1.3). Die häufigsten sind Angst- und depressive Störungen sowie Zwangserkrankungen. Zusätzlich werden Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten beobachtet.

Tab. 1.3: Komorbidität bei adoleszenter AN

Ko-DiagnosePrävalenz

1.4.1     Angsterkrankungen

Die häufigsten Angsterkrankungen bei der AN sind generalisierte Angststörungen (Prävalenz über 40 %, Godart et al. 2006) und die soziale Phobie. Letztere verstärkt häufig die Rückzugstendenz und Isolation der jugendlichen essgestörten Patientinnen und muss in der Therapie unbedingt beachtet werden. In Settings, die mehr Außenkontakte erlauben (ambulant, tagesklinisch, Home treatment) kann die soziale Phobie besser fokussiert werden, z. B. durch Exposition im Rahmen einer Verhaltenstherapie. Mit der Gewichtszunahme bessert sich auch oft die Angstsymptomatik.

1.4.2     Depression

Depressive Symptome können bereits vor (und auch nach einer akuten AN) bestehen und sind ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung (Jacobi et al. 2011).

Typische Symptome einer Depression bei AN sind eine niedergedrückte Stimmung, niedriges Selbstwertgefühl, Antriebs- und Lustlosigkeit, Leeregefühl und sozialer Rückzug. Patientinnen mit ausgeprägter Kachexie klagen meist über mehr depressive Symptome als Betroffene mit geringerem Gewichtsverlust (Mattar et al. 2012).

»Wegen Dir (Magersucht) habe ich meine Freunde verloren, fühle mich leer und traurig, habe mich komplett zurückgezogen und alle meine Hobbies aufgegeben«

17-jährige Patientin in ihrem Brief an die Magersucht

Die Starvation trägt durch Veränderungen der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin sowie von Leptin und anderen Hormonen zu der depressiven Verstimmung bei. Deshalb empfiehlt es sich, mit der Gabe eines Antidepressivums zu warten, bis ein ausreichendes Gewicht (ca. 10. BMI-Perzentile nach eigener Erfahrung) erreicht ist. Sollte sich die Depression jedoch trotz ausreichender Gewichtszunahme nicht bessern, kann eine Therapie mit einem Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer angezeigt sein, vor allem dann, wenn eine Depression bereits vor der Essstörung bestand.

1.4.3     Zwangserkrankung

Die häufigsten Zwangssymptome bei AN sind Wasch-, Ordnungs- oder Kontrollrituale. Bei der Visite kann man oft nach Größe und Symmetrie aufgestellte Kosmetikfläschchen oder Bücher beobachten, das Bettzeug ist exakt angeordnet. Diese »echten« Zwänge sind von Zwangssymptomen zu unterscheiden, die sich nur auf die Essstörung beziehen, z. B. einen Bissen 16-mal zu kauen, das Gemüse immer zuerst zu essen oder grundsätzlich zwei Glas Wasser beim Essen zu trinken. Schwierig ist die Unterscheidung bei Zwängen, die Bewegung oder sportliche Übungen beinhalten. Die Patientinnen können oft nicht – trotz Erschöpfung – aufhören, eine bestimmte Kilometer-Zahl zu joggen, eine definierte Zahl von Kniebeugen oder Sit-ups zu absolvieren etc. Da den Patientinnen das »Zwanghafte« ihres Verhaltens häufig nicht klar ist, sollten sie ausdrücklich danach befragt bzw. beobachtet werden.

»Ich kann nicht anders, als den Bissen 38-mal zu kauen, weil ich sonst das Gefühl habe, das Essen hinunterzuschlingen, und das will ich auf keinen Fall.«

14-jährige Patientin mit Magersucht über ihr langes Kauen

AN und Zwangserkrankungen weisen eine hohe genetische Korrelation auf (Watson et al. 2019). Die Lebenszeitprävalenz für Anorexia Nervosa ist bei bestehender Zwangserkrankung deutlich erhöht, beim männlichen Geschlecht mehr als bei Frauen. Vice versa ist das Risiko, an einer Zwangserkrankung bei vorbestehender AN zu erkranken, ebenfalls hoch und auch hier bei Männern höher als bei Frauen (Cederlöf et al. 2015). Jüngere Studien gehen davon aus, dass das Risiko beim Binge-/Purge-Typ höher als beim restriktiven Typus ist (Drakes et al. 2021), ebenso bei ausgeprägter Kachexie. Zwanghafte Persönlichkeitszüge wie Rigidität, Perfektionismus und Genauigkeit/Gewissenhaftigkeit sind ebenfalls häufig bei Patientinnen mit AN zu finden.

1.4.4     Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Es ist fraglich, ob die Prävalenz von ADHS bei restriktiver AN gegenüber der Normalpopulation erhöht ist. Eine große Studie fand hierfür keine Hinweise (Ziobrowski et al. 2018). Ein erhöhtes Risiko scheint nur für Essstörungen mit bulimischer Symptomatik vorzuliegen. In jedem Fall ist aber eine Therapie mit Psychostimulanzien gründlich abzuwägen, da diese Medikamentengruppe Appetitlosigkeit bewirken kann und damit die Nahrungskarenz erleichtert (s. auch Herpertz-Dahlmann 2019b).

1.4.5     Substanz-/ Drogenmissbrauch

Im Gegensatz zur BN ist das Risiko für Substanzmissbrauch bei der adoleszenten restriktiven AN relativ gering, bei der Binge-/Purge-Störung höher (insgesamt beträgt die odds ratio jedoch nur 1,3) (Swanson et al. 2011). In einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS) zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und AN sowie zwischen AN und Cannabismissbrauch. Allerdings war der Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und AN nach statistischer Kontrolle für eine Depression nicht mehr signifikant (Munn-Chernoff et al. 2021). Alkoholmissbrauch scheint das Mortalitätsrisiko bei AN zu erhöhen, vor allem bei männlichen Patienten (Kask et al. 2017).

1.4.6     Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität

Selbstverletzendes Verhalten

Vereinzeltes selbstverletzendes Verhalten wird häufiger bei Patientinnen mit AN beobachtet, vor allem, wenn die Verzweiflung durch die Gewichtszunahme zunimmt. Ca. 30 bis 40 % weisen eher habitualisiertes selbstverletzendes Verhalten auf, das mit der Länge der Behandlungsdauer korreliert. Der Binge-/Purge-Typus und komorbide psychiatrische Diagnosen sind bei Patientinnen mit Selbstverletzungserfahrung höher als bei denjenigen ohne Selbstverletzung (Smithuis et al. 2018). Eine Intervention nach den Prinzipien der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) ist empfehlenswert. Nach unserer eigenen klinischen Erfahrung bessert sich das Selbstverletzungsverhalten oft parallel zur Essstörung, wenn die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper abnimmt.

Suizidalität

Bei erwachsenen Patientinnen mit AN ist der Suizid eine der häufigsten Todesursachen. Auf der Basis einer größeren Metaanalyse liegt die Prävalenz von Suizidversuchen beim restriktiven Typus der adulten und adoleszenten AN bei ca. 10 %, während die Prävalenz beim Binge-/-Purge-Typus mit ca. 25 % deutlich höher und etwa ähnlich der der BN ist (Mandelli et al. 2019). Dies beruht auf der ausgeprägteren Impulsivität dieser Patientinnengruppe. Die Gefahr für einen Suizidversuch ist besonders groß, wenn zusätzlich eine Depression vorliegt (Smith et al. 2017).

In unserer eigenen (ANDI-)-Studie berichteten 10 % der adoleszenten Patientinnen, dass sie schon einmal Suizidideen gehabt hätten (Bühren et al. 2014).

1.4.7     Autistische Spektrumstörung (ASD)

Während der letzten Jahre wurde ein Zusammenhang zwischen autistischen Spektrumstörungen und AN vermutet, der sich eher bei Erwachsenen als bei Jugendlichen nachweisen ließ. Patientinnen mit AN werden häufig als rigide, zwanghaft, mit sich ständig wiederholenden Gedanken und sozial zurückgezogen charakterisiert. Dies sind u. a. Gründe dafür, dass Patientinnen mit AN von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pflegedienstes und ihren Therapeut/-innen als »schwierig und unzugänglich« angesehen werden, und manche Team-Mitglieder keinen Zugang zu ihnen finden. Ähnliche Verhaltensweisen lassen sich bei Patientinnen und Patienten mit ASD nachweisen. Allerdings konnte bisher nicht geklärt werden, ob die sog. autistischen Züge bereits prämorbid oder erst im Laufe/als Folge der Erkrankung beobachtet wurden. Immerhin fanden Tchanturia und Kollegen deutlich mehr autistische Symptomatik bei Patientinnen mit ausgeprägterer AN-Symptomatik im Vergleich zu weniger schwer Erkrankten (Tchanturia et al. 2019). In einer Metaanalyse auf der Basis von 53 Studien ließ sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Dauer der Essstörung und Defiziten in zentraler Kohärenz, kognitiver Flexibilität und Emotionserkennung eruieren (Saure et al. 2020). Ein weiterer wichtiger Hinweis ist eine Zwillingsstudie aus Schweden. In einer epidemiologischen Untersuchung an fast 6000 Patientinnen und Patienten wurden beide Diagnosen AN und ASD vor dem Alter von 9 Jahren (d. h. vor dem Ersterkrankungsalter an AN) und kurz vor dem 19. Geburtstag (d. h. üblicherweise nach der Diagnose einer AN) erhoben und typische Verhaltensweisen der ASD erfragt. Interessanterweise wiesen die später an AN erkrankten Personen im Kindesalter keine autistischen Verhaltensweisen auf, wohl aber im jungen Erwachsenenalter, wenn sie akut krank waren. Insbesondere die repetitiven/rigiden Verhaltensweisen und Interessen ließen sich signifikant häufiger bei Patientinnen mit akuter AN beobachten, gleichfalls Probleme in der sozialen Kommunikation. Beide Studien sprechen eher dafür, dass die »autistischen« Merkmale eine Folge der Erkrankung an AN sind, möglicherweise eine Konsequenz der Neuroprogression bei ausgeprägter Starvation (Dinkler et al. 2021) (weitere Ausführungen s.  Kap. 1.6).

1.5       Epidemiologie

Untersuchungen zur Prävalenz der adoleszenten AN gehen von Raten zwischen 0,3 und 2,5 % aus, d. h., dass bis zu jedes 50. Mädchen betroffen sein kann (Keski-Rahkonen and Silén 2019). Einige Studien weisen darauf hin, dass die Prävalenz der kindlichen Form gestiegen ist (Reas and Rø 2018). In einer britischen Studie lag die Inzidenz bei den 12- bis 13-Jährigen bei 9,51/100.000 gleichen Alters (Nicholls et al. 2011), in einer kanadischen Studie fanden sich ähnliche Daten (9,4/100.000) (Pinhas et al. 2011). Hingegen ist umstritten, ob die Inzidenz der jugendlichen Magersucht zugenommen hat (Herpertz-Dahlmann et al. 2021c). Offensichtlich ist aber eine deutliche Zunahme der stationären Behandlungen im Kindes- und Jugendalter in vielen europäischen Ländern (siehe auch  Abb. 1.3), wobei unklar bleibt, ob die Erkrankung häufiger auftritt oder nur häufiger diagnostiziert wird (Holland et al. 2016; Statistisches Bundesamt Deutschland 2021).

Es ist umstritten, ob die Prävalenz der AN bei männlichenPatienten angestiegen ist. Bei Kindern scheint das Geschlechtsverhältnis weniger mädchenwendig zu sein als im Jugendalter; so wird in diversen Studien ein Jungen-Mädchen-Verhältnis von 1:6 bis 1:9 berichtet im Vergleich zu 1:10 bis 1:20 bei Adoleszenten (Nicholls et al. 2011).

Inzidenz und Prävalenz der AN sind vom jeweiligen Kulturkreis abhängig. So finden sich in den europäischen Ländern, den USA, Japan und zunehmend auch in China deutlich höhere Prävalenzen als in Afrika oder Südamerika, während die Prävalenz der Binge-Eating-Störung in den letztgenannten Kontinenten höher ist (Erskine et al. 2016).

Abb. 1.3: Stationäre Aufnahmeraten bei Anorexia Nervosa in Deutschland

1.6       Entstehung und Aufrechterhaltung

1.6.1     Entstehung

In den letzten Jahren haben die Erkenntnisse zur Ätiologie und Aufrechterhaltung der AN große Fortschritte gemacht. Insbesondere wurde das »psychosomatische Familienmodell« zugunsten eines multifaktoriellen Modells mit einer bedeutsamen biologischen Komponente aufgegeben. Im Jahr 2009 proklamierte dementsprechend die internationale Akademie für Essstörungen, dass keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hindeuten, dass die Familie als alleinige oder primäre Ursache der Essstörung anzusehen sei (Le Grange et al. 2010). Allerdings wird es wohl leider noch längere Zeit brauchen, bis das Wissen um das neue Krankheitskonzept alle Ärzt/-innen und Therapeut/-innen und die Medien erreicht hat.

Unter den biologischen Ursachen der AN werden genetische, immunologische und mikrobielle Komponenten subsumiert. Die Folgen der Starvation haben zusätzlich bedeutsame biologische und soziale Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf. Soziokulturelle und familiäre Ursachen tragen ihrerseits zur Genese, häufig als auslösende Faktoren, und zur Persistenz der Erkrankung bei.

Genetische Faktoren

Zwillingsuntersuchungen verweisen auf Heritabilitätsschätzungen zwischen 0,28 und 0,74. Auch Familienstudien machen das hohe genetische Risiko für AN deutlich: Weibliche Verwandte ersten Grades von Patientinnen mit AN haben ein elfmal höheres Risiko, an einer Essstörung zu erkranken. Dabei bezieht sich das Erblichkeitsrisiko nicht auf die spezifische Essstörung des Betroffenen, sondern umfasst das gesamte Spektrum einschl. BN und unspezifischen Essstörungen (für eine Übersicht s. Bulik et al. 2019; Hirtz et al. 2021).

Neue genetische Untersuchungen basieren auf genomweitenAssoziationsstudien(GWAS), die hoher Probandenzahlen bedürfen. Die Jüngste beruht auf knapp 17.000 Fällen mit AN und 55.000 gesunden Kontrollen aus 15 Ländern. Dabei konnten genomweit 8 signifikante chromosomale Regionen für AN gefunden werden, die zusammen 121 vor allem im Gehirn exprimierte Gene umfassen (Watson et al. 2019; Hirtz et al. 2021). Wahrscheinlich werden in naher Zukunft mit zunehmendem Stichprobenumfang weitere chromosomale Loci und Gene identifiziert werden können. Neben den chromosomalen Loci wurden in der o. g. Studie »geteilte« genetische Mechanismen identifiziert, die z. T. in weiteren Untersuchungen bestätigt wurden. Die genetischen Korrelationen bezogen sich – übereinstimmend mit den Beobachtungen in der Klinik – auf weitere psychische Störungen mit hoher Komorbidität zur AN, z. B. Zwangserkrankungen, Depression und Schizophrenie (in absteigender Größenordnung) sowie auf den Persönlichkeitsfaktor »Neurotizismus«. Der genetische Zusammenhang zur Schizophrenie legt den interessanten Gedanken nahe, dass die oft wahnhaft anmutenden »fixen Ideen« zum Körperbild (Patientin erlebt sich bei ausgeprägtem Untergewicht als »fett«) auf diese Assoziation zurückgeführt werden könnten (Hirtz et al. 2021). Dagegen spricht allerdings, dass sich diese manchmal in extremem Ausmaß vorhandenen Überzeugungen in vielen Fällen mit zunehmendem Gewicht bessern.

Mindestens ebenso interessant sind Zusammenhänge zwischen metabolischenVeränderungen und AN: So fanden sich negative genetische Korrelationen zu Nüchtern-Insulin, Insulin-Resistenz, Leptin und Diabetes mellitus Typ 2 sowie Fettmasse und BMI. Weiterhin fanden sich positive genetische Zusammenhänge zu erhöhter körperlicher Aktivität, hohem Bildungsniveau sowie der Häufigkeit eines akademischen Abschlusses (Watson et al. 2019; Hirtz et al. 2021).

Diese Befunde waren ein Meilenstein in der Erforschung der AN und führten zu der Hypothese, die AN zukünftig nicht mehr ausschließlich als psychische, sondern ebenso als metabolische Erkrankung zu definieren (metabo-psychiatrische Störung). Dieser Gedanke wird in der Forschung weiterverfolgt, und es stellt sich die Frage, ob die AN das metabolische Spiegelbild der Adipositas ist (s. auch Bulik et al. 2019). Vieles spricht dafür, dass die Patientinnen eine Stoffwechselkonstellation haben, die einer Gewichtszunahme entgegenwirkt. Je höher die Disposition für AN, desto niedriger die Insulinresistenz, d. h. umso empfindlicher reagieren die Patientinnen auf Insulin. Bei adipösen Individuen finden wir vielfach das Gegenteil: Sie zeigen eine hohe Insulinresistenz und damit geringere Empfindlichkeit.

Adipöse Menschen wissen, wie schwierig es ist, das Körpergewicht nach einer Fastenkur im niedrigen Bereich zu halten. Ähnlich geht es magersüchtigen Patientinnen, die das während eines stationären Aufenthaltes erreichte Gewicht auf einem höheren Niveau stabilisieren sollen – die Gefahr einer erneuten Gewichtsabnahme bleibt zumindest im Jugend- und jungen Erwachsenenalter hoch. Es genügt oft ein geringfügiger Anlass wie eine Halsentzündung, eine Zahnextraktion oder eine Magendarmerkrankung, die zu Appetit- oder Gewichtsverlust führen und damit erneut den »circulus vitiosus« der AN auslösen können. Damit würde nicht nur die Adipositas, sondern auch die AN der Set-Point-Theorie entsprechen, nach der der Organismus über ein »inneres Regelsystem« verfügt, um einen Zustand der »Homöostase« aufrecht- und sein individuelles Gewicht zu erhalten.

Für einen niedrigen »Set-Point« bei Frauen mit AN sprechen auch Gewichtsmessungen im frühen Kindesalter: in der Avon Longitudinalstudie wurde bei ca. 1.500 Probanden das Körpergewicht über den Entwicklungsverlauf bestimmt. Dabei zeigte sich, dass spätere Patientinnen und Patienten mit AN schon frühzeitig eine Abweichung vom normalen Körpergewicht aufwiesen: Jungen mit späterer AN hatten bereits im Alter von 2 Jahren ein niedrigeres Körpergewicht, Mädchen im Alter von 4 Jahren (Yilmaz et al. 2019).

Die hier beschriebenen Erkenntnisse haben nicht nur eine wissenschaftliche Bedeutung, sondern machen deutlich, wie gefährdet die Patientinnen auch durch eine geringgradige Gewichtsabnahme sein können.

Patientinnen mit AN sollten informiert und angehalten werden, dass ein Rückfall in die Störung bereits durch geringe Gewichtsabnahmen induziert werden kann und daher eine schnelle kompensatorische Gewichtszunahme erfolgen muss!

Nicht-genetische prä- und perinatale Faktoren

Wie auch bei vielen anderen psychischen Erkrankungen ist die Anzahl der Geburtskomplikationen bei späteren Patientinnen mit AN erhöht, insbesondere die Frühgeburtlichkeit. Des Weiteren nimmt die Anzahl der von AN betroffenen Kinder mit zunehmendem Alter der Eltern zu (Larsen et al. 2021).

Einfluss des Mikrobioms und entzündliche Veränderungen

Neben der Genetik spielt möglicherweise auch das Darmmikrobiom (alle Mikroorganismen einschl. Bakterien und Pilzen) eine Rolle für die Pathophysiologie der Essstörungen ( Abb. 1.4). Dabei ist nicht klar, ob das Mikrobiom vorwiegend eine Bedeutung für die Aufrechterhaltung der AN oder auch für deren Entstehung hat. Im menschlichen Darmtrakt und Mundraum finden sich bis zu 100 Milliarden Mikroben, verteilt auf 300 bis 500 Bakterienarten (Clavel et al. 2017). Die Zusammensetzung des Mikrobioms unterscheidet sich von Individuum zu Individuum. Sie wird durch die individuelle Ernährung (z. B. fleischhaltige Kost im Vergleich zu vegetarischer Kost), Bewegung, Hormonstatus und ggf. Medikamente, vor allem Antibiotika (aber nicht nur) bestimmt. Es ist leicht vorstellbar, dass die Nahrungsrestriktion und Beschränkung auf wenige kohlenhydrat- und fettarme Nahrungsmittel bei Patientinnen zur Entwicklung eines dysfunktionalen Mikrobioms beitragen.

Seit Anfang dieses Jahrtausends wissen wir, dass sich das Darmmikrobiom von adipösen Menschen von dem normalgewichtiger und untergewichtiger Personen unterscheidet. Die bei Adipösen nachgewiesenen Spezies können die Nahrung im Darm effektiver aufschließen und im Vergleich zu Normalgewichtigen mehr Kalorien extrahieren (Ley et al. 2005). Tierversuche zeigten auf, dass Stuhlextrakte von übergewichtigen Mäusen und Menschen, die normalgewichtigen, keimfrei aufgewachsenen Mäusen verabreicht wurden, bei diesen ebenfalls zu Übergewicht führen (Turnbaugh et al. 2006; Ridaura et al. 2013).

Umgekehrt führte die Transplantation von Stuhlextrakt untergewichtiger Kinder mit Kwashiorkor, einer Mangelerkrankung in armen Ländern, bei normalgewichtigen, keimfrei aufgewachsenen Mäusen zu einer Gewichtsabnahme (Smith et al. 2013). Dabei scheinen zwei Bakterienstämmen eine wesentliche Funktion für das Körpergewicht zuzukommen: Bacteriodetes und Firmicutes (Million et al. 2013; Mack et al. 2016). In einer japanischen Untersuchung konnte keimfrei aufgewachsenen Mäusen der Stuhlextrakt von Patientinnen mit AN und der von gesunden jungen Frauen übertragen werden. Im Vergleich der beiden Gruppen zeigte der Nachwuchs der Tiere, die mit dem Stuhl von magersüchtigen Patientinnen transplantiert worden waren, eine geringere Gewichtszunahme, wertete die Nahrung schlechter aus und hatte einen geringeren Appetit (Hata et al. 2019)

Abb. 1.4: Das Mikrobiom interagiert mit dem Gehirn: die »Darm-Gehirn-Achse« (nach Seitz et al. 2019; Herpertz-Dahlmann und Seitz 2019)

Neben der Bedeutung für das Gewicht scheint dem Mikrobiom auch eine Rolle für zerebrale Funktionen wie Kognition und Affekt zuzukommen (Möhle et al. 2016). So zeigen keimfrei aufgewachsene Mäuse weniger Angstsymptome oder depressionsähnliche Zustände (Luo et al. 2018) im Vergleich zu ihren unter normalen Bedingungen aufgewachsenen Artgenossen. Dementsprechend weisen einige Studien darauf hin, dass das Mikrobiom Einfluss auf serotonerge Funktionen nimmt (Ridaura and Belkaid 2015).

Leider sind die Befunde zum Mikrobiom bei der AN noch sehr heterogen. Während einige Autoren eine verminderte Bakterienvielfalt im Zustand der Gewichtsabnahme bei AN finden, beobachteten wir bei adoleszenten Patientinnen eine erhöhte Vielfalt (Schulz et al. 2021). Übereinstimmend zeigt sich aber, dass sich das Mikrobiom bei Patientinnen mit AN trotz Gewichtszunahme nicht normalisiert. Darüber hinaus finden sich bei AN vermehrt Bakterienstämme, z. B. Firmicutes (s. o.), die die Schleimschicht auf der Darmwand abbauen und damit möglicherweise eine Penetranz von pathogenen Substanzen durch die Darmwand erleichtern (sog. »leaky gut«). Über die Lymphknoten wäre auf diese Weise eine Passage in die Blutbahn und damit über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn möglich.

Ein solcher Befund würde ebenfalls den Anstieg von Entzündungsparametern bei der AN erklären. Verschiedene Untersuchungen weisen auf eine Erhöhung von Zytokinen (Proteine, die das Wachstum und die Differenzierung von Zellen fördern und an Entzündungsprozessen beteiligt sind) hin, die für das Vorliegen einer niedriggradigen Entzündung (»low grade inflammation«) sprechen (Dalton et al. 2020).

Bestimmte bakterielle Antigene können darüber hinaus wahrscheinlich die Produktion von Autoantikörpern gegen Appetit- und stressassoziierte Hormone (α-MSH) induzieren, was erklären würde, warum Patientinnen mit AN trotz hoher Ghrelinspiegel keinen erhöhten Appetit aufweisen (Fetissov and Hökfelt 2019).

Weitere Ergebnisse sprechen für Autoimmun- und Entzündungsprozesse bei der AN: So zeigte eine populationsbasierte schwedische Studie, dass überzufällig viele Patientinnen mit AN vor, während oder nach der Essstörung an Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) oder M.Crohn (chronische Darmerkrankung) leiden. Betroffene mit diesen beiden Darmerkrankungen haben auch ein erhöhtes Risiko, an AN zu erkranken (Hedman et al. 2019). Dem hat man mittlerweile in der Routinediagnostik der AN Rechnung getragen (AWMF 2020). Umgekehrt sollten Essstörungssymptome bei Auftreten von Gewichtsverlust bei Zöliakie oder M. Crohn erfragt werden.

Die Befunde zum Mikrobiom bei AN haben auch Auswirkungen auf die Therapie: So werden derzeit Studien durchgeführt, um den Einfluss von Nahrungssupplementen (z. B. Omega-3-Fettsäuren) und Psychobiotika (z. B. Gabe von handelsüblichen Gemischen von Lactobacillus/Bifidobakterium) auf den Gewichtsverlauf zu untersuchen. Für die Zukunft besteht die Hoffnung, im Rahmen der Behandlung der AN bei Vorliegen eines dysfunktionalen oder defizitären Mikrobioms einen individuellen »Cocktail« von Bakterienstämmen zusammenstellen, der zur Regeneration der Darmflora beitragen könnte.

Hormonelle Faktoren