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Ein umfassender und systematischer Überblick zum Thema „Ethik“. Eine ideale Arbeitsgrundlage für Praktiker, Studierende und Lehrende. Eine unverzichtbare Lektüre für verantwortungsbewusste Pflegepraktiker. Konflikte nehmen im Pflegealltag immer mehr Raum ein. Wie sollen Pflegende in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine gute Arbeit leisten? Was ist gute Pflege? Welche Qualität von Pflege ist unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen noch zu verantworten? Wo werden Grenzen verletzt? Diese und viele andere spannende Fragen beantwortet das komplett überarbeitete und aktualisierte Standardwerk. Pressestimmen zur 1. Auflage: „Es ist das große Verdienst des Autors, dass er die Ethik in der Pflege gleich von allen vier relevanten Seiten angeht. Und so umfassend und systematisch deutlich macht, dass moralische Fragen in allen Bereichen eine zentrale Rolle spielen – in der Pflegepraxis wie der Pflegewissenschaft, im Pflegemanagement wie in der Pflegepädagogik. Das Buch wird hoffentlich Arbeitsgrundlage für all diejenigen sein, die Akteure in einem dieser Felder sind und dies mit erhobenem Kopf und klaren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Leben bleiben wollen.“ Altenpflege „Das Buch ist sehr zu empfehlen und eine fundierte Grundlage, ein wichtiges Lehrbuch für den Ethikunterricht in der Aus-, Fort- und Weiterbildung.“ PsychPflege
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Seitenzahl: 986
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Reinhard Lay ist Gesundheits- und Krankenpfleger, staatlich geprüfter Fachwirt für Organisation und Führung, Kinästhetik-Tutor und Dipl. Pflegepädagoge (FH).
Der Leiter der Berufsfachschule für Pflege im Landkreis Emmendingen (www.Pflegeschule-EM.de) studierte außerdem Management von Gesundheitsund Sozialeinrichtungen (M.A.) sowie Schulmanagement (M.A.) und ist Mitglied im Ethikkomitee des Zentrums für Psychiatrie Emmendingen (ZfP). Nebenberuflich ist Reinhard Lay als Fachbuchautor, Lehrbeauftragter und Fortbildungsdozent tätig (www.Fortbildung-Pflege.com).
»Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.«
KURT LEWIN1
________________
1 Dieser Ausspruch wird sinngemäß verschiedenen berühmten Persönlichkeiten zugeschrieben, u. a. Immanuel Kant (Philosoph, 1724–1804), Henri Poincaré (Mathematiker, 1854–1912), Kurt Lewin (Sozialpsychologe, 1890–1947) und Albert Einstein (Physiker, 1879–1955).
pflegebrief
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8426-0838-2 (Print)ISBN 978-3-8426-9065-3 (PDF)ISBN 978-3-8426-9066-0 (EPUB)
3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
© 2022 Schlütersche Fachmedien GmbH, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannoverwww.schluetersche.de
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.
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Lektorat: Claudia Flöer, Text & Konzept Flöer
Covermotiv (s. a. S. 473): respiro888 – stock.adobe.com
Covergestaltung und Reihenlayout: Lichten, Hamburg
Vorwort zur 3., vollständig überarbeiteten und erweiterten Auflage
Vorwort zur 2., aktualisierten Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1Zum Start
2Allgemeine Ethik
2.1Begriffsklärungen
2.1.1Was ist Moral?
2.1.2Die wichtigste Orientierung
2.1.3Was ist moralische Kompetenz?
2.1.4Was wertvoll ist, gut oder schlecht
2.1.5Wie alles zusammenhängt
2.1.6Moralische Konflikte und Dilemmata
2.1.7Was ist Ethik?
2.2Aufgaben der Ethik
2.2.1Aufklären, Transparenz herstellen
2.2.2Moral überprüfen und legitimieren
2.2.3Prinzipien und Normen zur Verfügung stellen
2.2.4Menschliches Handeln überprüfen
2.2.5Korrektiv für die Praxis sein
2.2.6Zur moralischen Kompetenz anleiten
2.3Deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik
2.4Ethische Theorien und Positionen
3Bereichsethiken
3.1Kann man Ethik »anwenden«?
3.2Besonderheiten von Bereichsethiken
3.3Bereichsethiken etablieren sich
3.4Bereichsethiken verändern sich
3.5Ringen um Zuständigkeit
3.6Abgrenzung zu Berufsethiken
3.6.1Einteilung der Berufsethik
3.6.2Regelwerke: Berufskodizes
3.6.3Kritik an Berufskodizes
3.6.4Unterschied zwischen Berufsethik und Bereichsethik
4Ethik in der Pflege
4.1Struktur der Disziplin Pflege
4.2Struktur der Ethik in der Pflege
4.2.1Ethik in der Pflegewissenschaft
4.2.2Ethik im Pflegemanagement
4.2.3Ethik in der Pflegepraxis (Pflegeethik)
4.2.4Pflegerische Berufsethik
4.2.5Fazit
4.3Pflegeethik
4.3.1Geschichtliche Entwicklung der Pflegeethik
4.3.2Notwendigkeit ethischer Reflexion in der Pflege
4.3.3Notwendigkeit einer eigenen Bereichsethik
4.3.4Nicht frei zu moralischem Handeln?
4.3.5Geltungsbereich der Pflegeethik
4.3.6Maßstäbe der Pflegeethik
4.4Zusammenfassung zur Ethik in der Pflege
4.5Ethik in der Pflege und ihre Nachbarethiken der Medizin und der Sozialen Arbeit
4.5.1Ethik in der Medizin
4.5.2Ethik in der Sozialen Arbeit
4.5.3Vergleich der Ethik in der Pflege mit den Bereichsethiken von Medizin und Sozialer Arbeit
4.5.4Verhältnis der Medizinethik zur Ethik in der Pflege
5Pflegequalität ohne Ethik?
5.1Geschichte der Vorstellungen über gute Pflege
5.2Konzeptionelle Ansätze zur Pflegequalität
5.3Definitionen von Pflegequalität
5.4Qualität gefordert – Ethik nicht erforderlich?
5.4.1Unterschiedliche Pflegeverständnisse
5.4.2Qualität ohne Ethik?
5.4.3Ökonomisch verstandene Qualität
5.4.4Qualität ist nicht wertneutral
5.4.5Ist das ein moralisches Problem oder »nur ein normales«?
5.4.6Qualität erfordert Ethik
5.5Die Pflegebeziehung – menschlicher Beistand oder kühles Vertragsverhältnis?
5.6Gute Pflege ist passende Fürsorge
6Ethik im Zentrum der Pflegequalität
6.1Modell der Gesundheitspflege
6.1.1Selbstständigkeit und Wohlbefinden als Zieldimensionen
6.1.2Eine pflegerische Definition von Gesundheit
6.1.3Der Ausdruck »zufriedenstellendes Niveau«
6.1.4Der Begriff der Alltagsaktivitäten (Aktivitäten des Lebens)
6.1.5Definition des Pflegens
6.2Integration von Pflegeethik und Pflegequalität
6.2.1Wirksamkeit
6.2.2Sicherheit
6.2.3Wirtschaftlichkeit
6.2.4Interaktion
6.3Standard Pflegequalität
6.4Neue Definitionen von Pflegequalität
6.5Zusammenfassung
7Ethische Entscheidungsfindung in der Pflege
7.1Grundsätzliche Überlegungen zur ethischen Entscheidungsfindung
7.1.1Begriffliche Überlegungen
7.1.2Psychologische Überlegungen
7.2Empfehlungen zur ethischen Entscheidungsfindung
7.2.1Moralische Fragen gemeinsam beraten
7.2.2Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
7.3Modell der multiperspektivischen ethischen Entscheidungsfindung
7.3.1Fallbeispiel: Zum Sterben in ein anderes Zimmer?
7.3.2Schilderung des Falls
7.3.3Einstieg in die Reflexion
7.3.4Handlungsalternativen im Fallbeispiel
7.3.5Ethische Beurteilung
7.3.6Beschlussfassung – ein Votum
7.4Individualethik oder Organisationsethik? Anmerkungen zur persönlichen Verantwortung
7.5Grenzen von Verfahren zur ethischen Entscheidungsfindung
7.6Zusammenfassung
8Ethik in der Pflegepädagogik
8.1Pädagogische Ethik
8.1.1Einführung in die Pädagogische Ethik
8.1.2Problemstellungen der Pädagogischen Ethik
8.1.3Beispiel: Konstruktivistisch-systemtheoretische Didaktik
8.1.4Kritik der konstruktivistisch-systemtheoretischen Didaktik
8.1.5Alternativvorschlag: Handlungsorientierte Didaktik
8.2Ethik lehren in der Pflege
8.2.1Notwendigkeit ethischer Bildung in der Pflege
8.2.2Ein Schattendasein?
8.2.3Vorurteile von Pflegekräften über Ethik
8.2.4Moralische Entwicklung von Menschen
8.2.5Ziele ethischer Bildung in der Pflege
8.2.6Inhalte ethischer Bildung in der Pflege
8.2.7Methoden ethischer Bildung in der Pflege
8.2.8Qualifikation der Ethik Lehrenden in der Pflegebildung
8.2.9Konsequenzen ethischer Bildung in der Pflege
8.3Zusammenfassung
9Schlussfolgerungen und Ausblick
Nachwort
Verzeichnis der Definitionen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Literatur
Register
Was ist das Wichtigste in der Pflege? Welches ist das oberste moralische Prinzip? Wo zeigt sich im Pflegealltag moralisches, wo unmoralisches Handeln? Wann lohnt sich der Aufwand für umfassende und systematische Reflexionen moralischen Handelns und damit intensiveres ethisches Denken?
Dies sind nur einige der in diesem Buch bearbeiteten übergreifenden Fragestellungen. In der aktualisierten und vollständig überarbeiteten dritten Auflage vertieft der Autor die bisherigen Inhalte und ergänzt sie um neuartige Diskussionsansätze wie die Auseinandersetzung um robotische Assistenzsysteme in der Pflege, pro und contra im Hinblick auf das Konzept »Fürsorge« sowie die Reflexion der Beziehung zwischen Pflegekraft und Patientin/Patient als Bündnisbeziehung oder Vertragsverhältnis.
Das etablierte und vielzitierte Lehrbuch veranschaulicht zunächst zentrale Grundbegriffe, Konzepte und grundlegende ethische Theorien, bevor im Anschluss die »Ethik in der Pflege« als eigene Bereichsethik zwischen der Ethik der Medizin und der Ethik der Sozialen Arbeit verortet und systematisch begründet wird. Kritisch weist Herr Lay darauf hin, dass die Ethik in der Sozialen Arbeit sowohl von Seiten der Ethik in der Medizin als auch von Seiten der Ethik in der Pflege in Diskussionen kaum zur Kenntnis genommen wird. Dabei könne gerade die Ethik in der Pflege von dem überzeugenden Selbstverständnis, sich auch auf politischer Ebene für die Interessen der ihr anvertrauten Menschen einzusetzen, sehr viel lernen.
In der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zum Thema Pflegequalität werden zunächst Aspekte der Qualitätsentwicklung in Deutschland aufgezeigt. Deutlich wird, dass Diskussionen um ethische Aspekte in diesem Zusammenhang bisher vernachlässigt zu werden scheinen. Die interessante Auseinandersetzung zur Gestaltung der Beziehung zwischen Pflegeperson und zu-pflegender Person, aber auch die Frage, inwieweit wirtschaftliches Denken im Kontext ethischer Fragestellungen überhaupt angebracht ist, ergänzen bisherige Diskussionen in diesem Bereich und weiten den Blick auf neue Fragestellungen. Im folgenden Kapitel wird Ethik als das Zentrum von Pflegequalität verstanden. Reinhard Lay betont, dass sich zentrale Konzepte in Pflegemodellen und Pflegetheorien ethisch begründen können lassen müssen. Er führt als neues Modell das Modell der Gesundheitspflege (Lay 1998) an. Dieses setzt sich aus den Komponenten 1) bewährte pflegefachliche Anliegen, 2) Elemente aus der Qualitätsdiskussion sowie 3) der Forderung nach ethischer Fundierung der Pflege zusammen. Als Ziele der Pflege werden Selbstständigkeit und Wohlbefinden definiert, die anhand theoretischer Auseinandersetzungen und zahlreicher praktischer Beispiele aus dem Pflegealltag veranschaulicht und kritisch reflektiert werden.
Die anschließenden Ausführungen zum Thema ethische Entscheidungsfindung in der Pflege greifen sowohl theoretische Hintergründe als auch unterschiedliche Modelle auf, die der Autor zu einem eigenen Modell der ethischen Entscheidungsfindung weiterentwickelt. Dieses wird Schritt für Schritt anhand eines Fallbeispiels erläutert. Das Kapitel bietet eine gelungene Überleitung zur Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen in der Pflegebildung. Der Autor bearbeitet die Frage der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen und zeigt vielfältige Möglichkeiten auf, moralisch vertretbares Handeln und ethische Reflexion zu lehren und zu lernen. Im abschließenden Kapitel werden in Form von 10 Thesen noch einmal die zentralen Themenbereiche des Buches zusammengefasst, auch werden Handlungsempfehlungen für zukünftige Auseinandersetzungen mit ethischen Fragestellungen in pflegerischen Kontexten abgeleitet.
Strukturiert und anschaulich führt Herr Lay die Leserinnen und Leser durch die aktuellen Entwicklungen der vielen Themengebiete zur Ethik in der Pflege. Besonders hervorzuheben ist die Verknüpfung von schlüssig durchdachter theoretischer Auseinandersetzung und hilfreichen praktischen Anwendungsbeispielen aus nahezu allen pflegerischen Handlungsbereichen.
Mittlerweile ein Standardwerk, stellt das umfangreiche Buch für Pflegende aller Bereiche eine Bereicherung dar:
• Für in der Pflegepraxis Tätige können gerade die Fallbeispiele dazu beitragen, theoretische Konzepte in die Praxis zu implementieren;
• Pflegemanagern und Pflegemanagerinnen können u. a. Auseinandersetzungen mit der Beziehungsgestaltung zwischen Pflegenden und Zu-Pflegenden sowie mit ethischen Aspekten im Zusammenhang mit Qualitätsmanagementsystemen und Wirtschaftlichkeit systematische Argumentationshilfen geben;
• für pädagogisch in der Pflege Tätige, aber auch für Lernende und Studierende bietet das Buch anschauliche Möglichkeiten, um sich auf Basis des alltäglichen Pflegehandelns moralischer Aspekte bewusst zu werden und zu lernen, diese systematisch ethisch zu reflektieren;
• Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden schließlich durch die Lektüre angeregt, Pflegetheorien und Modelle unter ethischen Aspekten zu reflektieren und (weiter) zu entwickeln, sowie ethische Reflexionen verstärkt in die Gestaltung von Forschung zu integrieren.
Dies sind nur einige ausgewählte Ansatzpunkte. Die Lektüre bietet zahlreiche weitere Anregungen zur Sensibilisierung für ethische Fragestellungen sowie zur systematischen Reflexion pflegerischen Handelns in den vielfältigen Arbeitsbereichen der Pflege.
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich interessante Entdeckungen. Ich denke, dass sie in dem umfangreichen Buch wie in einer Schatzkiste viele schöne Stücke für sich finden werden – bekannte und neue, bereichernde und überraschende.
Prof. Dr. Katja Makowsky
Fachhochschule Bielefeld
Professorin für Pflege- und Gesundheitswissenschaften
Mitglied der Leitlinienkommission und stellvertretende Vorsitzende der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft
Parallel zur zunehmenden Ökonomisierung der Pflege war in den vergangenen Jahren ein Boom an Fachliteratur zu ethischen Fragen in der Pflege zu beobachten. Zahlreiche Bücher und Beiträge in Fachzeitschriften bearbeiteten pflegeethische Themen und viele nahmen dabei auch Gedanken aus der vorigen Auflage dieses Lehrbuchs auf.
Da die erste Auflage innerhalb weniger Jahre vergriffen war, begann schon bald die Arbeit an der Präzisierung und Aktualisierung des Textes. Die Neuauflage gibt einen Überblick zur Diskussion über ethische Themen in der Pflege und bietet Orientierungs- und Argumentationshilfen für ethische Auseinandersetzungen an. Praktische Beispiele aus dem Pflegealltag, vertiefende Erläuterungen und weiterführende Hinweise sollen es den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich selbst eine fundierte Meinung bilden und ihr Handeln sicher begründen zu können.
An ethischen Fragen zu arbeiten, ist immer wieder eine neue Herausforderung. Das Thema »Ethik in der Pflege« ist komplex und unerschöpflich. Kritische Menschen kann es Tag und Nacht beschäftigen und sie im steten Prozess des Nachfragens und Zweifelns allerdings auch persönlich wachsen lassen.
Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich interessante Entdeckungen und viele Anregungen zur eigenen kritischen Reflexion. Über Rückmeldungen freue ich mich und hoffe auf wertvolle Hinweise zur Optimierung des Lehrbuchs.
Teningen bei Freiburg, im September 2012
Reinhard Lay
Welche Pflege können wir verantworten? Darf man beispielsweise einen sterbenden Menschen in ein anderes Zimmer verlegen, weil für einen Privatpatienten ein Einzelzimmer benötigt wird? Wie sollen sich Pflegende gegenüber ärztlichen Anordnungen verhalten, die aus ihrer Sicht fragwürdig sind?
Dies sind nur einige Fragen und Problemstellungen, mit denen sich die Ethik in der Pflege beschäftigt. Ihr Anliegen ist nicht die Propagierung einer neuen Moral, sondern die kritische Reflexion dessen, was in der Pflege geschieht. Eine Ethik in der Pflege schreibt nicht vor, wie man sich in schwierigen Situationen verhalten soll, aber sie gibt Orientierungen, mit deren Hilfe das eigene Handeln überprüft und ggf. geändert werden kann.
Mit dem Buch von Herrn Lay liegt zum ersten Mal ein deutschsprachiges Werk vor, welches grundlegend und umfassend in ethische Fragen in der Pflege einführt. Dabei werden alle vier Handlungsfelder der Disziplin Pflege angesprochen: Pflegepraxis, Pflegepädagogik, Pflegemanagement und Pflegewissenschaft.
Zwar liegen für die Pflegepraxis bereits diverse Einführungen vor; die Darstellungen sind jedoch häufig ausschließlich auf den Krankenhausbereich begrenzt und bieten keine Übersicht zum aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland. Für die verantwortliche Arbeit im Pflegealltag gibt das vorliegende Buch wertvolle Hilfestellungen. Pflegemanagern hilft es ebenfalls weiter – berücksichtigt die Qualitätssicherungsund Qualitätsmanagementdiskussion in Deutschland ethische Problemstellungen bisher doch nur am Rande. Auch für Lehrende in der pflegerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung ist das Buch eine Fundgrube, denn Ausführungen zur pädagogischen Ethik, zur Vermittlung ethischer Kompetenz und zur Kritik gängiger Didaktiken aus ethischer Perspektive fehlen in der bisherigen Diskussion nahezu vollständig. Nicht zuletzt die Pflegewissenschaft kann einen Gewinn aus der vorliegenden Arbeit ziehen, denn Forschung ist immer auch mit ethischen Herausforderungen konfrontiert. Interessant sind auch Herrn Lays Begründungen, warum es denn eigentlich eine »Ethik in der Pflege« als Bereichsethik geben muss und die allgemeine Ethik nicht ausreicht. Aber es soll noch nicht zu viel verraten werden.
Wie ist das Buch aufgebaut? Herr Lay gibt zu Beginn einen Einblick in relevante Begriffe und Kategorien der »Allgemeinen Ethik« (Moral, Moralität, moralische Kompetenz, Werte und Güter, moralische Konflikte, Ethik) und verhandelt danach unter dem Titel »Bereichsethiken« Aspekte der Ethik in Medizin und Sozialer Arbeit. Diese beiden Kapitel bilden eine Grundlage für die fundierte Begründung einer eigenen Bereichsethik in der Pflege. Die folgenden Kapitel stellen die Verbindung von Pflegequalität und Ethik ins Zentrum und enden mit einem Modell der Integration beider sowie mit zwei neuen Definitionen von Pflegequalität.
Hervorzuheben ist ein darauf folgendes ausführliches Fallbeispiel, welches den Prozess der ethischen Entscheidungsfindung in der Pflege anschaulich illustriert. Die transparente Argumentationsführung schließt mit einer Positionierung des Autors und macht sich damit der Kritik zugänglich. Das letzte große Kapitel setzt sich grundlegend mit der »Ethik in der Pflegepädagogik« auseinander, kritisiert den konstruktivistisch-systemtheoretischen Ansatz und beschreibt verschiedene Formen des Lehrens einer Ethik in der Pflege. Die Arbeit schließt mit einer thesenartigen Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen und einem Ausblick auf den zukünftigen Forschungsbedarf.
Die von Herrn Lay vorgelegte Arbeit wurde zunächst als Diplomarbeit am Fachbereich Pflege der Katholischen Fachhochschule Freiburg eingereicht. Nicht nur durch ihren Umfang, sondern vor allem auf Grund ihrer umfassenden Bearbeitung der Literatur sowie der hohen Qualität der Argumentation ist die Arbeit außergewöhnlich. Mit der Integration von Pflegeethik und Pflegequalität betritt der Autor Neuland und es werden fruchtbare Anstöße für die Qualitätsdiskussion geliefert. Die argumentative Abwägung von Handlungsalternativen im Fallbeispiel: »Zum Sterben in ein anderes Zimmer!?« ist exemplarisch und unmittelbar für die Alltagsrealität der Pflege relevant. Mustergültig wird hier eine ethische Argumentation – und eben kein moralisierendes Raunen – vorgestellt und abschließend die eigene Position offen gelegt.
Die Anmerkungen zur in Mode gekommenen konstruktivistisch-systemtheoretischen Didaktik in der Pflege sind ebenfalls hervorragend. Es ist wirklich erstaunlich, welche Konjunktur dieser Ansatz auch in der Pflegepädagogik erfahren hat. Obwohl die Pflege sonst naturwissenschaftlichen Ansätzen und Paradigmen kritisch gegenübersteht, werden sie in der Pflegepädagogik fast gläubig übernommen und das ethische Defizit dieser Ansätze völlig ignoriert. Der Autor weist auf diese Problematik explizit hin und leistet damit auch einen kritischen Beitrag zum aktuellen pflegepädagogischen Diskurs.
Ich wünsche dem Buch eine breite Aufnahme – nicht nur in der Fachöffentlichkeit. Jedem, der sich mit Pflege beschäftigt und kritischen Fragen in den Handlungsfeldern nicht ausweichen möchte, sei die Lektüre des Buches empfohlen.
Prof. Dr. Hermann Brandenburg
Prodekan und Inhaber des Lehrstuhls für Gerontologische Pflege an der pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar
Pflege ist eine lebenswichtige menschliche Hilfe – und ein wunderbarer Beruf. Als jemand, der in der Pflege 11 Jahre »am Bett« gearbeitet hat, bin ich davon überzeugt.
Menschen zu pflegen, bietet zahlreiche Möglichkeiten, in positiver Weise Einfluss zu nehmen. Obwohl die beruflichen Rahmenbedingungen dringend reformbedürftig sind, können Pflegende im Leben ihrer Mitmenschen viel Gutes bewirken: Pflegekräfte arbeiten in einem unverzichtbaren Gesundheitsberuf.
Außerdem ist Pflege ein ungewöhnlich lehrreicher Beruf. In welchem anderen Beruf ist es möglich, so viele wertvolle Erfahrungen für das eigene Leben zu sammeln?
Über Pflege nachzudenken und zu sprechen, ist eine sehr persönliche Angelegenheit, gerade wenn es um die Frage geht, welche Überzeugungen und Werte in der Pflege besonders wichtig sind. Ethik in der Pflege erfordert vernünftiges Denken und sachliche Begründungen. Gleichzeitig geht es um Offenheit für Gefühle und um die Fähigkeit, sich einfühlsam in die Lebenssituation anderer Menschen versetzen zu können.
Persönliche Ansichten beeinflussen ethische Auseinandersetzungen. Ethische Reflexion geschieht nicht in steriler Objektivität. Die Leserinnen und Leser2 bitte ich deshalb um Verständnis für die ungewöhnliche Verwendung der Ich-Perspektive. Für dieses Lehrbuch fände ich es unpassend, Ausdrücke wie »Der Verfasser hält folgende Argumente für stichhaltig …« zu verwenden. Derlei Distanzierungskonventionen machen einen wissenschaftlichen Text nicht objektiver als die einfache Formulierung »Ich bin der Überzeugung, dass …, und zwar aus folgenden Gründen: …«.
Lassen Sie mich deshalb in der persönlichen Form fortfahren. Sie werden feststellen, dass mein berufliches Herz leidenschaftlich für Pflege schlägt und dass ich auf diesem Erfahrungshintergrund schreibe. In meinem beruflichen Werdegang übernahm ich in der Pflege unterschiedliche Rollen, die meine Wahrnehmung und damit auch den Inhalt dieses Buches prägten: Praktikant, Pflegehelfer, Pflegeauszubildender, Krankenpfleger, Praxisanleiter, Stationsleiter, Student, Autor, Lehrbeauftragter, Lehrer und schließlich Schulleiter.
Viele Gedanken entstanden in meiner Rolle als Dozent und Berater. Fortbildungen und Projekte in mehr als 100 Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten ermöglichten es mir, unterschiedliche Kulturen innerhalb der Pflege kennenzulernen. Was ich dabei erlebte, machte deutlich: Überall in der Pflege denken Menschen ernsthaft darüber nach, wie sie ihre Arbeit mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Sie diskutieren miteinander, was ihnen wichtig ist und tauschen sich darüber aus, wo für sie persönlich Grenzen überschritten werden.
Pflege scheint durch und durch mit ethischen Überlegungen verwoben zu sein – ist das nicht eine faszinierende Erfahrung? Bei Ethik in der Pflege geht es vorwiegend um die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen in der praktischen Pflege von Menschen. Außerdem stellen sich moralische Fragen im Pflegemanagement, in der Pflegepädagogik und in der Pflegewissenschaft.
Ethik in der Pflege ist ein unerschöpfliches Thema, weil es alle Situationen in Pflegepraxis, Pflegepädagogik, Pflegemanagement und Pflegewissenschaft betreffen kann. Außerdem haben wir es mit einem konfliktreichen Gebiet zu tun, weil Ethik unser Handeln in Frage stellt. Statt sicher geglaubte Erkenntnisse und Gewohnheiten zu bestätigen, ruft Ethik mitunter Verunsicherung hervor.
Viele Pflegende empfinden es in ihrer täglichen Arbeit als große Herausforderung, in schwierigen Situationen verantwortbare Entscheidungen zu treffen. Das vorliegende Buch soll in den vielfältigen Fragen um Ethik in der Pflege Klarheit schaffen und praktische Orientierungshilfen bieten.
Ethik in der Pflege wird von vielen Seiten kontrovers bearbeitet – Pflegewissenschaftler, Pflegefachkräfte, Philosophen, Theologen, Psychologen und Ärzte beschäftigen sich mit ethischen Problemstellungen in der Pflege. Je nach Erfahrungshorizont der Autoren finden sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen zu moralischen und ethischen Fragen in der Pflege.
Dieses Buch wendet sich an kritische und suchende Menschen aus der Pflege, ob sie nun als Pflegende sehr an praktischen Fragen interessiert sind oder sich in Aus-, Fort- und Weiterbildung, in einem Studium oder in Lehre bzw. Unterricht engagieren. Es eignet sich für Pflegemanager und Pflegewissenschaftler, um ihre ethischen Kenntnisse zu vertiefen und sie in die kontroversen Diskussionen um Ethik in der Pflege einbringen zu können. Auch Angehörige benachbarter Disziplinen wie etwa Soziale Arbeit, Medizin, Psychologie, Soziologie, Gerontologie, Ökonomie und Philosophie können in dieser Arbeit wertvolle Anregungen finden und – so hoffe ich – einen vertieften Einblick in das Wesen von Pflege gewinnen.
Wie ist das Buch aufgebaut? Grundsätzlich empfehle ich, den Gang der Argumentationen in der vorgegebenen Reihenfolge mitzuverfolgen. Auf diese Weise lässt sich ein fundierter Überblick zum aktuellen Stand der Fachdiskussionen um Ethik in der Pflege gewinnen.
Selbstverständlich ist das Lehrbuch auch als Nachschlagewerk verwendbar. Wer sich ausschließlich für spezielle Fragen interessiert, kann das Inhaltsverzeichnis, das umfangreiche Stichwortverzeichnis oder das Verzeichnis der Definitionen nutzen und gezielt einzelne Themen auswählen.
Mir ist es wichtig, dass die Leser wichtige Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehen können. Zu diesem Zweck arbeite ich mit zahlreichen Originalzitaten. Zugegebenermaßen erschweren die wörtlichen Zitate die Lektüre zunächst etwas; sie ermöglichen es jedoch, die Kontroversen um Ethik in der Pflege besonders nah und authentisch mitzuerleben.
Die vorliegende Einleitung bildet Kapitel 1. In einem zweiten Teil (Kapitel 2: Allgemeine Ethik) werden Grundlagen einer allgemeinen Ethik erläutert. So sollen zunächst Begriffe wie Moral, Moralität, moralische Kompetenz, Werte, Güter und Übel geklärt werden, um danach ihre Zusammenhänge herauszuarbeiten. Erläuterungen zu den Aufgaben und Funktionen der Ethik schließen diesen allgemeinen Teil mit einem ersten Blick auf grundlegende ethische Theorien ab.
Der dritte Teil (Kapitel 3: Bereichsethiken) widmet sich der angewandten Ethik und unterscheidet zwischen Bereichsethiken und Berufsethiken. Ethik in der Pflege wird als eine Bereichsethik herausgearbeitet, die unter dem Dach einer Ethik im Gesundheits- und Sozialwesen zwischen der Ethik in der Medizin und der Ethik im Sozialwesen zu verorten ist.
Kapitel 4 fokussiert die besondere Lage der Ethik in der Pflege als einer neuen Bereichsethik im Gesundheits- und Sozialwesen. Zunächst wird die Struktur der Disziplin Pflege beschrieben. Daraus leitet sich die Struktur der Ethik in der Pflege ab. Ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung dieser Ethik stelle ich die Frage nach der Notwendigkeit ethischer Reflexion in der Pflege und ihrer Konstituierung als eigene Bereichsethik. Wir denken über die These nach, Ethik sei mangels beruflicher Autonomie nicht frei zu moralischem Handeln und konkretisieren anschließend die Maßstäbe und Geltungsbereiche der Pflegeethik. Am Schluss des Kapitels wird die Ethik in der Pflege mit der Ethik in der Medizin und der Ethik in der Sozialen Arbeit verglichen.
Pflegequalität ohne Ethik? Dieser Frage gehe ich in Kapitel 5 nach. Zunächst soll die Geschichte der Vorstellungen von Qualität in der Pflege betrachtet werden, um dann einzelne Modelle und Definitionen zu vergleichen. Handelt es sich bei Pflege um ein zwischenmenschliches Bündnis oder um ein vertragliches Dienstleistungsverhältnis? Wie gelingt Fürsorge ohne Bevormundung oder Selbstaufgabe? Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird die Einsicht formuliert, dass Vorgaben zur Pflegequalität unbedingt eine ethische Fundierung brauchen.
Kapitel 6 stellt eine Verknüpfung von Qualität und Ethik in der Pflege vor: Pflegeethik als zentrale Komponente von Pflegequalität. Die Zusammenhänge zwischen Qualitätsvorstellungen und moralischen Forderungen an eine »gute« Pflege sollen anhand eines neuen Pflegemodells praxisnah beleuchtet werden. Aus einer integrativen Perspektive entwickeln sich zwei neue Definitionen von Pflegequalität.
Nachdem die wesentlichen Aspekte einer Ethik in der Pflege aufgewiesen sind, werde ich in dem sich anschließenden Kapitel 7 (Ethische Entscheidungsfindung in der Pflege) praktische Überlegungen zur ethischen Urteilsfindung anstellen und anhand eines Fallbeispiels den möglichen Gang einer systematischen Entscheidungsfindung in der Pflege detailliert erläutern.
In Kapitel 8 (Ethik in der Pflegepädagogik) gehe ich auf die pädagogischen Aspekte einer Ethik in der Pflege ein und stelle eine Verbindung zur Pädagogischen Ethik als einer wichtigen Bezugsethik der Pflegepädagogik her. Praktische Erfahrungen und methodische Vorschläge, wie Ethik verantwortungsbewusst gelehrt werden kann, runden das Kapitel ab.
Zusammenfassung und Ausblick schließen die Arbeit in Kapitel 9. Im Anhang finden sich umfangreiche Verzeichnisse der verwendeten Definitionen, Abkürzungen, Tabellen, Abbildungen, Quellen sowie häufiger Stichworte.
Nun wünsche ich Ihnen schöne Erlebnisse beim angeregten Stöbern, kreativen Durchdenken, kritischen Hinterfragen, erstaunten Entdecken und lebhaften Diskutieren.
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2 Lediglich aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich im weiteren Verlauf des Buches vorwiegend die männliche Form. Nichtsdestoweniger beziehen sich Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Menschen, die sich keinem oder keinem einzelnen Geschlecht zugehörig fühlen.
Einige Leser, die in erster Linie an praktischen Fragen der Ethik interessiert sind, mögen das Grundlagenkapitel zur Allgemeinen Ethik, vielleicht auch die Kapitel 3 (Bereichsethiken) und 4 (Ethik in der Pflege) »theoretisch« oder »trocken« finden. Ihnen empfehle ich, zunächst mit den praktischen Kapiteln 5 (Pflegequalität ohne Ethik?) (Kap. 5) oder 6 (Ethik im Zentrum der Pflegequalität) (Kap. 6) fortzufahren. Wer sich allerdings für die Hintergründe der praktischen Arbeit in der Pflege interessiert, wird gebeten, einfach weiterzulesen.
Philosophische Ethik gliedert sich in allgemeine Ethik und angewandte Ethik. Zu Beginn werde ich grundlegende Begriffe der allgemeinen Ethik erläutern. Anschließend führe ich in die Ziele, Aufgaben und Funktionen der Ethik ein (Kap. 2.2) und gebe eine kurze Übersicht zu verschiedenen ethischen Theorien und Positionen (Kap. 2.3). Damit der Bezug zum pflegerischen Alltag deutlich wird, veranschauliche ich die theoretischen Themen mit praktischen Beispielen aus dem Pflegealltag.
In schwierigen Situationen suchen Menschen nach Eindeutigkeit. In der Ethik finden sich aber keine einheitlichen Definitionen – ethische Begriffe werden in unterschiedlichen Bedeutungsvarianten verwendet. In diesem Kapitel sollen deshalb Gemeinsamkeiten wichtiger Begriffsdefinitionen herausgeschält und in prägnanter Form dargestellt werden. Wir beginnen mit dem Hauptbegriff der Ethik: Moral.
Moral3 ist ein Regelwerk aus geschriebenen und ungeschriebenen Üblichkeiten. Mit dem etwas altertümlichen Begriff Moral sind Wertvorstellungen und Verhaltensregeln gemeint, die von Menschen als gültig erachtet werden oder zumindest Geltung beanspruchen. Moral umfasst einerseits
• die vorgegebenen Werte (z. B. Patientensicherheit) und Normen4 (Vorgaben zur Verwirklichung von Werten, z. B. die Hygienestandards eines Pflegeheims) und andererseits
• die im Alltag tatsächlich etablierten Gewohnheiten (z. B. das übliche Vorgehen beim schnellen Verbandwechsel unter großem Zeitdruck).
Bestimmte Moralen kennzeichnen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen (z. B. Berufe) und Kulturen (z. B. Rehabilitationsmedizin oder Palliativpflege). »Eine Moral ist der Inbegriff jener Normen und Werte, die durch gemeinsame Anerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von
• Geboten (Du sollst …; es ist deine Pflicht, …) oder
• Verboten (Du sollst nicht …)
an die Gemeinschaft der Handelnden appellieren« (Pieper 2000:32).
Gruppen und Organisationen haben unterschiedliche Moralen. Eine Pflegekraft, die den Arbeitgeber oder das Arbeitsgebiet wechselt, wird an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht dieselben Regeln und Gewohnheiten vorfinden. Sie muss sich erst einmal orientieren, »… wie das hier so läuft«. Jede Moral ist »… immer eine Gruppenmoral, deren Geltung nicht ohne weiteres über die Mitglieder der Gruppe hinaus ausgedehnt werden kann« (Pieper ebd.).
Moral zeigt sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen (vgl. Arn 2009:129): als persönliche Moral (meine eigenen Überzeugungen), auf der Ebene von Organisationen bzw. Institutionen (z. B. Vorschriften in einer Einrichtung für behinderte Menschen), in mehr oder weniger abgeschlossenen Teilen der Gesellschaft (Subkulturen, z. B. Vorstellungen politischer Parteien zur angemessenen Ausbildung und Bezahlung von Pflegepersonal) sowie auf der Ebene der Gesamtgesellschaft (z. B. Stellenwert von Gesundheit und Wirtschaft in Pandemiezeiten). Kemetmüller fasst zusammen: »Moral kann als die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Werte und Normen einer Gesellschaft, Kultur, Gruppe oder einer Einzelperson definiert werden.« (Kemetmüller 2013:33)
Überall Moral?
Kann man ohne Moral miteinander leben oder zusammenarbeiten? »Weil moralische Überzeugungen in der Erziehung und in der Sozialisation erworben werden, ist es nicht möglich, keine Moral zu besitzen. Im Gegenteil: Jeder Mensch besitzt moralische Einstellungen.« (Lay 2015:66) Entsprechend gibt es keine Gruppen ohne Moral, auch nicht in der Pflege. »In jeder Lebenspraxis besteht ein Moralsystem. So kann z. B. auf einer Station das Zu-spät-zum-Dienst-kommen grundsätzlich toleriert oder aber missbilligt werden, wenngleich es konkret situativ und personbezogen differenziert wird.« (Heffels 2008:20)
Wozu brauchen wir Moral?
Wenn es keine Pflege ohne moralische Vorstellungen geben kann, könnte man fragen: Welchen Nutzen haben Menschen von Moral? Profitieren beispielsweise Bewohner davon, dass in ihrem Pflegeheim eine bestimmte Moral vorherrscht?
Wozu dient Moral? Sie ist eine notwendige Einrichtung der Gesellschaft, um …
• … für das übliche, häufig unreflektierte Alltagshandeln Orientierung zu haben (Hofmann 1995b:36),
• … ein gelingendes Zusammenleben zu gewährleisten,
• … das Verhältnis und den Umgang untereinander zu ordnen (Hofmann 1995a:445),
• … eine gerechte Verteilung von Gütern und Lebenschancen zu fördern,
• … Konflikten vorzubeugen oder sie zu regeln,
• … Lebensqualität zu sichern (Lay 2001:7; 2015:67; vgl. Eid 1994b:157),
• … kulturell oder religiös bewährte Werthaltungen weiterzugeben,
• … das oberste Moralprinzip zu verwirklichen (wichtigste moralische Orientierung; Kap. 2.1.2).
Moralen konkurrieren miteinander
Wo Menschen miteinander zu tun haben, treffen unterschiedliche moralische Vorstellungen aufeinander. Im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen (z. B. Pluralismus, Globalisierung, Migration, Digitalisierung) stehen ältere und neuere Wertvorstellungen zunehmend im Wettbewerb um Akzeptanz und Zustimmung. Auch innerhalb scheinbar homogener Gruppen sind Konflikte um moralische Auffassungen an der Tagesordnung, ja sogar Individuen erleben überraschende Konflikte mit sich selbst, wenn sie in verschiedenen Rollen unterschiedlichen Interessen gerecht werden wollen. »Genau betrachtet, verfügen Menschen als Mitglieder unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gleichzeitig über mehrere Moralvorstellungen.« (Lay 2015:66)
Unmoralische Alltagsroutinen
Je stärker alltägliche Abläufe verinnerlicht sind, desto wichtiger wird es, sie kritisch zu hinterfragen. Die Krankenschwester und Philosophin Irmgard Hofmann empfiehlt: »Verantwortliches Handeln im Sinne ethisch begründeten Handelns bedeutet daher, daß Pflegende immer wieder einmal einzelne Routineabläufe in Frage stellen und darüber nachdenken sollten, ob das praktizierte Handeln und/oder Unterlassen den betroffenen Menschen eigentlich noch gerecht wird.« (Hofmann 1995a:445) Müssen im Pflegeheim beispielsweise die Betten aller Bewohner gemacht sein, bis der Essenswagen mit dem Frühstück aus der Küche kommt? Müssen alle Patienten im Krankenhaus »… vor acht Uhr gewaschen sein, weil dann ja schon wieder die Röntgenabteilung einzelne Patienten anfordert« (Rux-Haase 1999:694)? Müssen Patienten routinemäßig ein (hinten offenes) Klinikhemd statt des eigenen Schlafanzugs tragen, obwohl sich viele dadurch in ihrer Bewegungsfreiheit im Bett wie außerhalb des Bettes eingeschränkt fühlen (Bobbert 2003:82)?
Die Pflegeprofessorin Astrid Elsbernd fordert zur kritischen Reflexion von Routinen auf: »In der Organisation Krankenhaus findet man eine Vielzahl von Regeln, die oft nur mit einer unzureichenden Begründung angeordnet werden, deren Befolgung aber in der Regel selten in Frage gestellt wird. So richtet sich der Pflegedienst nach zum Teil unsinnigen Essenszeiten der Patienten oder auch Visitenzeiten der Ärzte und versucht, seine Tätigkeit in einen Zeitplan einzuordnen, der für die pflegerische Handlung oft nur wenig Sinn macht.« (Elsbernd 1994:113)
Ludger Risse berichtet von einem Erlebnis im Krankenhaus: »Auf meine Frage, warum täglich zwischen 9 und 11 Uhr bei allen Patienten auf der Station Fieber und Pulsfrequenz gemessen, dafür aber Lagerungswechsel, Zwischenmahlzeiten und atemfördernde Maßnahmen regelmäßig vergessen würden, bekam ich von der Stationsleitung folgende Antwort: ›Dies machen wir, weil unser Chef (Chefarzt) möchte, daß zur Visite die aktuellen Werte eingetragen sind‹.« (Risse 1997:20)
Derartige Routineabläufe in Pflege und Behandlung sind nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen fragwürdig, sondern auch aus ethischen Überlegungen kritisch zu überprüfen. »Das ›normale‹ Verhalten im pflegerischen und medizinischen Alltag – wie etwa auch der ›normale‹ Umgang mit Sterbenden und Verstorbenen im Krankenhaus – kann unter Umständen höchst fragwürdig sein. (…) Das Normale ist eben nicht immer auch das Richtige. Viele Praktiken und Maximen der Alltagspraxis mögen faktisch ziemlich unstrittig sein und können sich bei näherer kritischer Betrachtung doch als ziemlich kritikbedürftig erweisen.« (Rehbock 2005a:215f)
Moral verändert sich
»[Moralen] sind nicht nur kulturell verschieden, sondern Individuen ändern im Laufe des Lebens ihre Moral.« (Lay 2015:66) Wenn etwa eine Fachpflegekraft einer chirurgischen Intensivstation nach jahrzehntelanger Erfahrung in der kurativen Hightech-Medizin und -Pflege beschließt, in einem Hospiz zu arbeiten, kann das daran liegen, dass ihre im Laufe der Zeit veränderte Einstellung nicht mehr zum bisherigen Arbeitsgebiet passt.
Pflegekräfte kennen das Phänomen, dass Stationen oder Wohnbereiche im Laufe der Zeit ihre Kultur verändern. Je nachdem, welche Menschen dort arbeiten und/oder gepflegt werden und wie etwa die Vorgesetzten denken, ändern sich das Arbeitsklima, die Gewohnheiten, die Regeln für die Arbeitsabläufe, die Wertvorstellungen – kurz: die Moral wechselt. Insbesondere nach einem Trägerwechsel sind Veränderungen zu beobachten.
»Sittliche Gewohnheiten und Werthaltungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einem Individuum oder in einer Gruppe/Organisation üblich sind, unterliegen gesellschaftlichen Veränderungen. So wie Werte und Normen kultur- und erziehungsabhängig sind, sich zwischen Menschen unterscheiden und in der Lebensspanne variieren, so verändern sich moralische Vorstellungen im Laufe sozialer und beruflicher Entwicklungen auch im Gesundheitswesen.« (Lay & Needham 2022) Beispielsweise können Vorstellungen von menschenwürdiger Betreuung im Laufe der Geschichte wechseln. »Noch vor einigen Jahrzehnten galten hier zu Lande Mehrbettzimmer für vier bis zehn Pflegeheimbewohner als angemessen – heute wird dem Einzelnen bei uns weitaus mehr Privatsphäre zugebilligt, wohingegen in anderen Kulturkreisen und in wirtschaftlich schwächeren Ländern Einzelzimmer noch immer als Luxus gelten.« (Lay 2015:66)
Definition Moral
Moral ist die Summe der Werte und Normen, die zu einer bestimmten Zeit für Individuen oder in sozialen Gebilden (z. B. Partnerschaft, Gruppe oder Gesellschaft) gelten (vgl. Lay 2015:66; 2021:61).
Berufe sind Spiegelbilder gesellschaftlicher Wertvorstellungen – gleichzeitig haben sie selbst Anteil an der Bestätigung oder Veränderung von Moral. Die von ihnen vertretenen Berufsmoralen (Kap. 3.1) bestehen aus offiziellen Schriftstücken (Berufskodex) und impliziten, informellen Regeln (Berufsethos).
Sind Moral und Ethik dasselbe?
Wie hängen Moral und Ethik zusammen? Schreiner (1991:4) stellt klar: »Ethik und Moral sind nicht identisch.« Auch Bobbert (2002:49) differenziert die beiden Begriffe: »Ethik als Reflexionstheorie ist zu unterscheiden von Moral als dem Gegenstand ihrer Analyse und Reflexion.« In der praktischen Philosophie wird der Begriff der Moral üblicherweise als Oberbegriff für die Gesamtheit von moralischen Regeln und Normen verwendet, während Ethik die Moral reflektiert (Lanius 2010:98).
Definition Ethik
Ethik ist die Reflexion von Moral. Gegenstand der Ethik ist die Moral. »Wer kritisch über moralische Überzeugungen nachdenkt, betreibt damit Ethik, ob er das nun allein in einem Studierzimmer oder mit Kollegen am Übergabetisch einer psychiatrischen Station tut.« (Lay & Needham 2022)
Einige Autoren übernehmen diese Unterscheidung nicht, sondern verwenden die Begriffe Moral und Ethik synonym (z. B. Hamann et al. 1990; Loewy 1995:20; van der Arend 1998:2; Kesselring 2000:20; van Schayck 2000:16; Hastedt 2002:19; Barmeyer 2003:15; Lanius 2010:31,98; Maio 2017:2). Vordergründig lassen sich zwei Gründe gegen die etablierte Unterscheidung von »moralisch (sittlich)« und »ethisch« vorbringen:
Die Etymologie legt es nahe, die beiden Begriffe gleichbedeutend zu verwenden: So stammt der Begriff Ethik vom griechischen Wort »ethos« ab. »Ethos« ist der griechische Begriff für »Sittlichkeit«. An dieser Stelle reicht zunächst eine vereinfachte Darstellung aus. Die Philosophin Annemarie Pieper differenziert zwei grundlegende Bedeutungen von ethos:
1. Gewohnheit, Sitte, Brauch
2. Charakter, Tugend.
Nach der ersten Wortbedeutung handelt derjenige dem Ethos entsprechend, dessen durch Erziehung erworbene Gewohnheit es ist, die Normen des allgemein anerkannten Moralkodex zu befolgen. In der zweiten Wortbedeutung steckt ein anderer Gedanke: Jener handelt dem Ethos entsprechend, der den tradierten Normen und Wertmaßstäben nicht fraglos folgt, sondern aus eigener Einsicht und eigenen Überlegungen das jeweils Erforderliche Gute tut (Pieper 2000:25f).
Ein zweiter Grund für eine synonyme Verwendung von Sitte/Moral und Ethik ist die Beobachtung, dass der Begriff »Moral« umgangssprachlich stark mit Sexualnormen und religiösem Dogmatismus assoziiert ist und seinen neutralen Charakter lediglich im wissenschaftlich-philosophischen Sprachgebrauch beibehalten hat (vgl. Tschudin 1988:33; Thompson et al. 1994:4; Lenk 1997:6). In der Alltagssprache klingen die Ausdrücke »Moral« und »moralisch« nach Begrenzung oder Bevormundung (Arn 2009:128); sie haben einen religiös oder sexuell angehauchten Beigeschmack (Loewy 1995:20) bzw. eine lustfeindliche Nebenbedeutung (Ferber 1999:183) erlangt. Höffe (1997:270) stellt jedoch klar, der Begriff der Sittlichkeit sei nicht auf bestimmte Bereiche und Aspekte des Lebens beschränkt, weder auf Sexualität noch auf außergewöhnliche Grenzsituationen. Sittlich sein heiße, sein Leben in allen Bereichen verantwortlich zu führen.
Der Theologieprofessor Ulrich Körtner (2017a:14) hält fest: »Gegenüber Moral bestehen in der modernen und pluralistischen Gesellschaft einige Vorbehalte. Wir kennen die Moralapostel, die alles und jeden kritisieren, die Wasser predigen und selbst Wein trinken. Moralpredigten und moralingesäuertes Gutmenschentum lösen verständliche Aversionen aus. Bei Moral denken manche vielleicht auch einseitig an kirchliche oder sonstige religiöse Moral, sodass der Irrtum entstehen kann, Religion und Moral seien identisch (…) Doch die Grundfrage, wie ich leben will und soll, besteht auch dann fort, wenn ich mich nicht als religiösen Menschen verstehe.«
WichtigKeine Moralapostel
Nach Steinkamp und Gordijn (2005:21) besitzen die Begriffe »Moral« und »moralisch« im Deutschen einen »stärker wertenden und vorschreibenden Unterton«. Wallner beobachtet (2004:23): »Ethik ist ›in‹. Moral haftet der Makel des erhobenen Zeigefingers‹ an; sie ist weniger ›in‹.« Gegen den Begriff »Moral« werde heute eher eine reservierte bis ablehnende Haltung eingenommen. Moral solle jedoch, so seine Forderung, nicht mit »Moralisieren« gleichgesetzt werden (S. 27).
Moralisieren ist ein unangenehm belehrendes, vorwurfsvoll-empörtes Pochen auf die strikte Einhaltung bestimmter »guter« sittlicher Normen. Wer moralisiert, weist Mitmenschen, die eine Norm nicht einhalten, in übertriebener Weise Schuld zu, etikettiert sie als »böse« und versucht sie zu beschämen.
Jox (2021:329) zeigt sich in der Coronapandemie irritiert vom verletzenden Umgangston und der Vehemenz moralischer Verurteilungen mit ihren mitunter »handgreiflichen«, existenziellen Konsequenzen. »Das Unmenschliche am Moralismus liegt darin begründet, dass im Kern nicht mehr gegen Meinungen, sondern gegen Personen vorgegangen wird. Wer vorgibt, das moralisch Gute zu betreiben, in seinem eigenen kommunikativen Vollzug aber das moralisch Gute ignoriert und diskursethische Prinzipien verletzt, der begeht einen performativen Selbstwiderspruch.« (S. 331)
Möglicherweise lösen die Ausdrücke »sittlich«, »moralisch« und »Moral« bei Pflegekräften mehr Widerwillen aus als die Begriffe »Ethik« und »ethisch«. In der Pflegepraxis mag es daher manchmal hilfreich scheinen, statt von »Moral« und »moralisch« von »Ethik« und »ethisch« zu sprechen, um Anschluss zu finden und unnötige Widerstände zu vermeiden. Arn (2009:128) meint, es sei meist besser, im Kontext der Ethik im Gesundheitswesen das Wort Moral gar nicht zu verwenden – Missverständnisse seien sonst vorprogrammiert. Man könne stattdessen beispielsweise von der »Gesamtheit der persönlichen Werte und Normen« sprechen, von »Werten und Normen« oder einfach von »Werten«.
Allerdings haben Pflegepraktiker häufig ebenfalls Vorurteile in Bezug auf die Begriffe »Ethik« und »ethisch«, wie an späterer Stelle aufgezeigt wird (Kap. 8.2.3).
Will Pflege auf wissenschaftlichem Niveau agieren, dann sollte sie die Nomenklatur der Nachbardisziplinen berücksichtigen, d. h. in diesem Fall die Konvention in der Philosophie, nach der die Begriffe »Ethik« und »ethisch« für die Reflexion sittlichen bzw. moralischen Handelns reserviert werden (vgl. Höffe 1997:67).
Wie bereits erwähnt, differieren Moralen nicht nur in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Gruppe zu Gruppe, von Land zu Land, von Volk zu Volk etc., sondern machen auch selbst im Verlauf kultureller, sozioökonomischer, politischer, wissenschaftlicher und anderer Entwicklungen einen Wandel durch (Pieper 2000:43). Steinert (2001:32) führt ein Beispiel an: »Bezogen auf die Psychiatrie ist in unserer Gesellschaft z. B. feststellbar, dass die absolute Suizidverhütung vor einigen Jahrzehnten ein Wert war, für den man selbstverständlich auch länger dauernde und (aus heutiger Sicht) entwürdigende Behandlungs- und Unterbringungsformen von Patienten in Kauf nahm. Heute werden die Rechte auf Selbstbestimmung und Intimsphäre höher geschätzt. Suizide in psychiatrischen Krankenhäusern sind häufiger geworden.«
Die Veränderbarkeit von Moral wirft Fragen auf: Wenn Moralen keine überzeitlichen Gesetze sind, wonach soll dann eine Gruppe oder Gesellschaft entscheiden, welche Werte5 und Normen beizubehalten und welche bereits überholt und zu ersetzen sind? Nach welchem Maßstab sollen solche individuellen und kollektiven Entwicklungen, falls möglich, beeinflusst werden? Urteile über Moralen brauchen eine Bezugsgröße. Jede Moral braucht ein Prinzip6, von dem sie sich ableiten kann. Dieses oberste und letztgültige Prinzip eines Moralsystems, das selbst nicht auf ein höheres Prinzip zurückgeführt werden kann (also un-bedingt ist), nennt die Ethik »Moralität« oder Moralprinzip.7
Moralität als oberste Richtschnur – welches ist diese absolute Größe, der nichts anderes mehr als Bedingung zugrunde liegt, die allein um ihrer selbst willen anzustreben ist? »Als ›absolute Norm‹ lässt sich nur ein Moralprinzip wie die Freiheit oder die Ehrfurcht vor dem Leben behaupten«, nimmt Schreiner (2001a:21) Stellung. Aus christlicher Perspektive hingegen ist Gott der letzte Urheber, die letzte Bezugsgröße, auf die alle moralischen Systeme zurückgeführt und an dem alle Normen überprüft werden. Im Gegensatz zur philosophischen Ethik ist für die theologische Ethik8 der Begriff Moralität mit der Gottesvorstellung gefüllt; als höchstes Moralprinzip gilt die Aufforderung, Gott zu lieben und die Mitmenschen (so)wie sich selbst. Eng verwandt mit der christlichen Vorstellung von Moralität ist Albert Schweitzers oberstes Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben (vgl. Schweitzer 1976).
Hauptsache Freiheit?
Im Rückgriff auf die Werte der Aufklärung bestimmt die philosophische Ethik das Streben nach Verwirklichung von Freiheit als oberstes Prinzip. Freiheit ist aus dieser Sicht der un-bedingte, d. h. nicht von anderen Prinzipien ableitbare, letzte Grund und Maßstab für die Legitimation von Moralen (Letztbegründung). Die Philosophin Annemarie Pieper (2000:44) schreibt: »Im Begriff der Moralität wird Freiheit als das Unbedingte gedacht, als der unbedingte Anspruch, Freiheit um der Freiheit willen als das höchste menschliche Gut zu realisieren.« (S. 44)
Grundlage aller moralischen Normen ist nach Auffassung der westlichen philosophischen Ethik der vernünftige Wille des Menschen, der sich in autonomer Selbstbestimmung im Verbund mit anderen Menschen frei dazu bestimmt, er selbst zu sein (Pieper 2000:130). Freiheit ist nicht ohne Selbstbestimmung denkbar. »Selbstbestimmung gehört zur Freiheit des Menschen. Daß9 ihm nur das angerechnet werden kann, was er in Freiheit, also mit vollem Wissen und ohne Zwang tut, war für philosophische und theologische Ethik immer selbstverständlich. Gerade die Aufklärungsphilosophie hat dem noch einen wesentlichen Punkt hinzugefügt. Wenn der Mensch wirklich frei handeln soll, darf er nicht unter dem Gesetz einer fremden Macht, die nicht er selbst ist, stehen. Fremde Mächte können Gott, Natur, Staat, Gewohnheit, Affekte usw. sein. Der Mensch ist nur frei, wenn er sich selber Gesetzgeber ist.« (Illhardt 1985:10) Das klinge, fährt Illhardt als Theologe und Medizinethiker fort, für den religiös denkenden Menschen zu Unrecht wie der Versuch einer Entmachtung Gottes. Gerade die Paulusbriefe im Neuen Testament betonten die Übereinstimmung des göttlichen Gesetzes und einer im Glauben fundierten Selbstständigkeit des Handelns (ebd.). Körtner (2004:15) bekräftigt, zwischen Selbstbestimmung und religiöser Bindung müsse kein Gegensatz bestehen.10
Menschen sind demzufolge sowohl aus theologischer als auch aus philosophischer Sicht zur Freiheit bestimmt. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, was unter dem Begriff Freiheit zu verstehen ist. Wer sollte die Bedeutung von Freiheit festlegen? Die Lösung dieser Frage liegt nicht zwangsläufig im erneuten Versuch, Freiheit auf ein höheres Prinzip (z. B. Ehrfurcht vor Gott) zurückzuführen, sondern im Eingeständnis, dass sowohl das Letztprinzip Freiheitsstreben wie auch die unmittelbar daraus abgeleiteten Basisnormen oder moralischen Grundprinzipien soziokulturell und geschichtlich variabel sind und unterschiedlich ausgedeutet werden können.
Die Argumente der geschichtlichen Variabilität, der Interpretierbarkeit von Freiheit und der Gefahr des Missbrauchs treffen auf alle möglichen Letztprinzipien zu: Ehrfurcht vor bzw. Liebe zu Gott, Ehrfurcht bzw. Achtung vor dem Leben, Menschenwürde, höchstes Glück. Die philosophische Überzeugung von der überragenden Stellung menschlicher Freiheit – wie übrigens auch der Vernunft – geht mir allerdings zu weit. Als Christ habe ich Bedenken gegenüber einer ausschließlich auf Vernunft und Freiheit gründenden Ethik: Beide Werte sind einseitig und brauchen zur Verhinderung ihres möglichen Missbrauchs Gegenpole. Freiheit scheint mir nur im Rahmen von Mitverantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität, Aufrichtigkeit und Bindungsfähigkeit konstruktiv zu sein; auch Vernunft benötigt die Ergänzung durch andere Werte (wie etwa Glaube, Hoffnung, Liebe, Fürsorge u. a.).
Im Alltag konkurrieren widersprüchliche Wertvorstellungen miteinander (Wertekonkurrenz, vgl. Riedel & Lehmeyer 2013:246). Pluralistische Positionen gehen davon aus, dass es mehrere, nicht aufeinander reduzierbare moralische Prinzipien gibt, die gegeneinander abzuwägen sind (Keller 2016:28) und einander ergänzen können. Sollte dennoch der Versuch unternommen werden, anstelle eines Werte-Ensembles einen einzelnen obersten Wert zu finden, scheint mir Liebe am ehesten geeignet.
Streben nach Liebe als oberstes Prinzip
Der christliche Glaube an einen liebenden Gott, der die Menschen sowohl mit Freiheit begabt als auch mit einer verantwortungsbewussten Lebens- und Weltgestaltung beauftragt, sieht Liebe als oberstes Ziel.
WichtigLiebe ist …
Liebe zeigt sich in Wohl-Wollen und Wohl-Tun.
Unter der Voraussetzung einer wohlwollenden Haltung und eines wohltuenden Handelns wirkt sich Freiheit konstruktiv und heilsam aus. Der Kirchenvater Augustinus empfahl (zit. n. Fischer 2010:6): »Liebe, und tue (dann), was du willst!« (dilige, etquod vis fac). Freiheit bedeutet in diesem Sinne, frei zu handeln unter der Voraussetzung der Liebe. »Wir sind von Gott in die Freiheit hineingestellt, unser Leben zu gestalten. Diese Freiheit ist vor allem im Umgang miteinander zu respektieren. Eben auch im pflegerischen Umgang miteinander.« (Arndt 2008:13)
Bischof Huber hebt die Freiheit und Verantwortungsfähigkeit pflegebedürftiger Menschen hervor. »Wir versuchen deshalb, ihnen den Freiheitsspielraum zu lassen und den Verantwortungsbereich einzuräumen, der ihnen in ihrer Lage möglich ist. Darin zeigt sich eine praktische Folge des christlichen Menschenbilds für den Bereich der Pflege. Denn der christliche Glaube begründet die Verantwortungsfähigkeit und Moralfähigkeit des Menschen in seinem Angesprochensein durch Gott und damit im Antwortcharakter menschlichen Lebens. Der Mensch ist das von Gott angesprochene und zur Antwort aufgeforderte Wesen. Das ist gemeint, wenn man vom Menschen als Gottes Ebenbild spricht; denn damit wird er als das Gott entsprechende, von ihm ansprechbare und zur Antwort befähigte Wesen charakterisiert. In dieser Anrede durch Gott liegt der Grund menschlicher Freiheit. In der dem Menschen zugetrauten Antwortfähigkeit liegt die Wurzel menschlicher Verantwortung. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass im Wort ›Verantwortung‹ das Wort ›Antwort‹ enthalten ist.« (Huber 2008:25)
Liebe strebt danach, dass sich Menschen – unmittelbar oder auf längere Sicht – möglichst frei entfalten können, sowohl zu ihrem eigenen Wohl als auch zum Wohl Anderer. Sich selbst und anderen Menschen Gutes zu wünschen (wohl zu wollen) und entsprechend zu handeln (wohl zu tun), ist Ausdruck von Liebe. Handeln aus Liebe erfordert nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl – es ist möglich, auch unsympathischen Mitmenschen in der Grundhaltung des Wohl-Wollens zu begegnen (Kap. »Wenn Sympathie fehlt …«).
WichtigExkurs: Nächstenliebe – aus der Zeit gefallen?
Zur Nächstenliebe gehört die liebevolle Selbstpflege. Nächstenliebe ist wohltuend und nachhaltig wirksam, wenn sie mit einer gesunden Liebe zu sich selbst gepaart ist – so heißt es in der Bibel an zahlreichen Stellen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3. Mose 19,18; Matth. 19,19; 22,39; Mark. 12,31; Luk. 10,27; Röm. 13,9; Gal. 5,14; Jak. 2,8).
Christlich motivierte und reflektiert tätige Nächstenliebe in der Pflege bedeutet nicht, sich selbstlos für andere Menschen zu verausgaben und seine eigene Gesundheit zu gefährden. Selbstzerstörung ist kein Merkmal christlich motivierter Pflege. Bannert und Fink empfehlen die Rückbesinnung auf den biblischen Gehalt des Nächstenliebe-Gebots. Das könne helfen, das Bild der Pflege von selbstausbeutenden Tendenzen zu befreien und lasse Berührbarkeit und Empathiefähigkeit als zentrale Fähigkeiten einer Pflege im christlichen Sinne hervortreten (Bannert & Fink 2012:23).
Helfen ist meistens nicht ohne Nutzen für die Helfer, und daran ist nichts Schlechtes. Der Theologe Ulrich Körtner (2015:3) meint, jede Ethik unterstelle, dass der Mensch Eigeninteressen verfolge. Dennoch seien Menschen in der Lage, die Interessen anderer zu erkennen, sich in sie hineinzuversetzen und auf diese Rücksicht zu nehmen. Körtner (2017a:76) vermutet, die Aufforderung, den Nächsten zu lieben wie uns selbst, lasse durchschimmern, dass wir mit der Zuwendung zum anderen immer auch uns selbst meinen. Er spitzt seine These zu: »Im Helfen melden sich zwei Grundbedürfnisse des Helfenden: sein Bedürfnis nach Liebe bzw. nach Anerkennung und sein Bedürfnis nach Macht.« (ebd.) Körtner möchte damit nicht alles helfende Handeln denunzieren; vielmehr macht er auf die Gefahren aufmerksam, die von der Situation des Helfens ausgehen. Die von Helfenden über Hilfsbedürftige ausgeübte Macht verweise letztlich auf die eigene Abhängigkeit der Helfenden von ihren unreflektierten Macht- und Liebesbedürfnissen (S. 77).
Körtner rät: »Die Aufgabe einer Ethik helfender Berufe ist es unter anderem, die Ambivalenz jeglicher Moral zu Bewusstsein zu bringen und, recht verstanden, vor zu viel Moral zu warnen.
Eine Ethik des Helfens darf nicht einseitig zum Helfen motivieren, sondern muss auch dazu anleiten, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren, d. h. aber auch mit gutem oder zumindest mit einem getrösteten Gewissen die Grenzen der eigenen Möglichkeiten der Hilfeleistung zu sehen, die Grenzen der eigenen physischen und psychischen Kräfte anzuerkennen und auch zu lernen, im rechten Moment Nein sagen zu können.« (S. 80)
Helmut Kaiser weist auf die problematische Rolle (einer selbstvergessenden Form; R. L.) der Nächstenliebe als Leitidee der Pflege hin: »Die Grundhaltung der Nächstenliebe kann … Probleme verstärken, wenn sie nämlich den Gedanken des Erfolgs als unwichtig betrachtet und somit verhindert, daß über ›Erfolgserlebnisse‹ in der Pflege offen gesprochen wird.« (Kaiser 1998:155)
Nächstenliebe sollte sich m. E. gerade darin auswirken, anderen Menschen wohlzutun und ihnen Erfolge zu ermöglichen – in der Pflege etwa durch effektive Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Steigerung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden. Wenn sich auch Nächstenliebe nicht messen lässt, kann doch die Wirksamkeit der Pflege sehr wohl untersucht werden.
Das Heil, von dem das Neue Testament spricht, ist Körtner (2015:11) zufolge wesenhaft Liebesfähigkeit. Sie bestehe nicht nur in der Fähigkeit zu lieben, sondern auch sich lieben zu lassen. Aus christlicher Sicht ist Gott die Urquelle der Liebe: »Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« (1. Joh. 4,8.16; Lutherbibel 2017). Für Christen sind Selbst- und Nächstenliebe daher eng mit der Antwort auf Gottes Liebe verbunden: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.« (Luk. 10,27; Lutherbibel 2017)
Aus christlicher Sicht ist liebevolle Lebensführung eine Antwort auf die liebende Akzeptanz, die Menschen von Gottes Seite erfahren können.
Werte verwirklichen
Moralen sind gleichsam »Hände und Füße« der Moralität; ihre Aufgabe ist es, dem obersten Moralprinzip (Streben nach Verwirklichung von Freiheit und/oder Liebe) zum lebenspraktischen Ausdruck zu verhelfen. Ich sprach mich für Liebe als höchsten Wert aus. Liebe zeigt sich in einer Haltung des Wohlwollens und drückt sich in wohltuendem Handeln aus. Aufgabe jeder Moral wäre es in diesem Sinne, Wohlwollen und Wohltun zu fördern. In der Pflege könnte das bedeuten, sich selbst und seinen Mitmenschen in einer wohlwollenden Haltung zu begegnen und ganz praktisch die Lebensqualität zu stärken (Selbstständigkeit und Wohlbefinden zu fördern, (Abb. 12). Mit Mitmenschen sind nicht nur die pflegebedürftigen Menschen gemeint, sondern auch Kollegen und Führungskräfte aus der Pflege und Mitarbeiter aus anderen Arbeitsbereichen.
Jede Moral muss sich an der Moralität als ihrer Richtschnur messen lassen. »Eine geltende Moral bzw. eine moralische Regel kann aus Moralität in Frage gestellt oder negiert werden.« (Pieper 2000:39) Oberstes Kriterium für die Beurteilung einer Moral ist, ob sie das oberste Moralprinzip stärkt. Beispielsweise sollten Vorgaben zur Dienstplangestaltung nicht allein rechtlichen Ansprüchen genügen; vielmehr sollten sie eine wohlwollende Einstellung fördern, die für die Betroffenen so viel Freiheit wie möglich schafft (Patienten, Mitarbeiter, Angehörige). Abzulehnen sind Regeln (Moral), die diesem Ziel entgegenstehen.
Mag die Funktion der Moral aus soziologischer Sicht in Aspekten von Machterhalt, Stabilität und Zusammenhalt liegen, so dienen moralische Normen aus ethischer Sicht einem anderen Zweck.
Wozu dienen moralische Normen?
Moralität ist immer auf Moral angewiesen. Ohne Moral bleibt Moralität unwirksam. Wird Freiheit als höchster Wert bestimmt, dann sind moralische Normen praktische Regeln der Selbstbeschränkung von Freiheit um der Freiheit aller willen (Pieper 2000:182). Ist Liebe der höchste Wert, dann sind moralische Normen praktische Regeln zur Unterstützung liebevollen Zusammenlebens.
Regeln sind kein Selbstzweck. Aus christlicher Sicht dienen sie der Verwirklichung von Liebe – Liebe schafft Vertrauen und Freiheit. Aus philosophischer Perspektive ordnen Regeln etwas Ungeregeltes »… nicht um der Ordnung oder Regelung willen, sondern um der Freiheit willen. Die Regeln sollen die Freiheit nicht aufheben (›reglementieren‹ oder ›verregeln‹), sondern garantieren.« (Pieper 2000:300) In diesem Sinne sollten etwa Pflegestandards als Regelwerke dazu dienen, die freie Entfaltung von Menschen zu unterstützen und den Handlungsspielraum aller Betroffenen zu optimieren. Eine Voraussetzung dazu ist, dass Pflegestandards nicht als strikte Dienstanweisungen gelten, sondern als Handlungsempfehlungen für Pflegefachkräfte dienen, von denen situationsentsprechend mit guten Gründen abgewichen werden kann.11
Wann handeln Menschen moralisch kompetent? Zunächst ist der Begriff Kompetenz zu klären (vgl. Lay 2001c:197). Wissenschaftliche Disziplinen, die mit dem Kompetenzbegriff arbeiten, verwenden ihn in unterschiedlicher Bedeutung. Wie die Zuschreibung von Kompetenz ein soziales Geschehen ist, so sind auch Definitionen von Kompetenz Mittel und Produkte sozialer Aushandlungsprozesse. Ohne den Anspruch, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben, soll eine neue Definition eingeführt werden, die wesentliche Aspekte aufgreift und integriert:
Definition Kompetenz
Kompetenz lässt sich grundsätzlich verstehen als die Disposition, die Fähigkeit und die Bereitschaft, den wechselnden Anforderungen der Umwelt gezielt und selbstbestimmt zu begegnen (vgl. Lay 2001c:197).
Moralische Kompetenz ist ein Hauptanliegen der Ethik. »Unter ›moralischer Kompetenz‹ verstehe ich die Bewusstheit über die eigenen moralischen Vorstellungen sowie die Fähigkeit, sie zu formulieren und zu begründen; weiter die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in der eigenen Praxis, die Diskursfähigkeit, eine respektvolle und menschenfreundliche Grundhaltung und schließlich Wachheit und Mut, auch tatsächlich moralisch gut zu handeln«, fasst Rabe (2002:51) ihre Einschätzung zusammen. Moralische Kompetenz wird demnach nicht allein im Nachdenken, sondern in der konkreten moralischen Handlung sichtbar: »Ihr Ziel erreicht die Ethik aber erst dann, wenn Reflektieren und Handeln eine Einheit bilden und sich Moralität im praktischen Vollzug bewährt. Erst diese Einheit selbstverantwortlichen Verhaltens weist moralische Kompetenz … aus« (Schwerdt 1998c:254).
Pieper kennzeichnet moralische Kompetenz als Einsicht und Besonnenheit im Bereich des Praktischen sowie als Entschlusskraft und Verantwortungsbewusstsein (Pieper 2000:45). Ein blindes Befolgen moralischer Regeln macht nach diesem Verständnis keine moralische Kompetenz aus. Pieper argumentiert aus philosophischer Perspektive mit Autonomie als Ausdruck des Freiheitsbegriffs: »Moralische Kompetenz im eigentlichen Sinn besitzt somit nicht derjenige, der den geltenden Moralkodex und das gängige Wertesystem fraglos internalisiert hat …, moralische Kompetenz besitzt vielmehr ausschließlich derjenige, der sich Moralität zum Prinzip seiner Willensbildung und Praxis gemacht hat. (…) Wer aus moralischer Kompetenz moralisch handelt, vermag Rechenschaft abzulegen über die Gründe seines Tuns, wobei der letzte Grund aller Gründe eben das Prinzip der Moralität qua Freiheitsprinzip im Sinne von Autonomie ist: Freiheit, die sich um der Freiheit aller willen an Normen und Werte bindet, durch die der größtmögliche Freiheitsspielraum ermöglicht wird. Moralisch kompetent ist der mündige Mensch, der seine Entscheidungen nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber seinen Mitmenschen zu verantworten vermag. Moralische Kompetenz und Verantwortung gehören untrennbar zusammen …« (Pieper 2000:46)
Definition Autonomie
Das Wort Autonomie stammt von griech. autós (selbst) sowie nómos (Gesetz) und bedeutet etymologisch Selbstgesetzgebung. Ursprünglich bezog sich der Begriff Autonomie auf die Politik und meinte die Fähigkeit eines Staates zur eigenen Gesetzgebung – erst der Philosoph Immanuel Kant übertrug den Begriff schließlich auf das Individuum (Sauter 2011a:653). Kant fragte: »[Was] kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?« (Kant 1987b:200) Er fügte hinzu: »… Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe …« (S.?204).
Der holländische Pflegeethiker Arie van der Arend (1998:13) definiert Autonomie als die Möglichkeit und die Fähigkeit zu wählen, d. h. selbst zu bestimmen, wie man leben möchte. Körtner (2017a:171) indes hebt einen gewichtigen Unterschied zur Selbstbestimmung hervor: »Autonomie ist in der Tradition von I. Kant ein gehaltvolles anthropologisches Konzept, wonach der Mensch kraft seiner Vernunft sich Maximen für sein eigenes Handeln gibt, die Ausdruck von universalisierbaren moralischen Gesetzen sind. Selbstbestimmung ist demgegenüber ein weitaus schwächeres Konzept. Es bedeutet, dass Menschen aktuell oder auch vorausverfügend ihren Willen und ihre Wünsche äußern und über ihre Lebensführung bestimmen können, unabhängig davon, ob ihre Wünsche und Vorstellungen von einem guten Leben allgemeinen moralischen Kriterien genügen oder nicht.«
Moralisch kompetentes Handeln gründet nicht auf situativen »Glanzleistungen«, sondern auf einer grundlegenden Haltung, die jedes Individuum selbst erwerben muss. »Wer sich in kritisch-praktische Urteilskraft einübt, erwirbt im Verlauf seines Lern- und Lebensprozesses eine mehr und mehr sich festigende Grundhaltung, die als moralische Kompetenz bezeichnet werden kann. Moralische Kompetenz dokumentiert sich in der Fähigkeit, in allen Situationen, die ein Handeln erforderlich machen, im Hinblick auf das Prinzip der Freiheit verbindlich, d. h. mit guten Gründen zu entscheiden, was zu tun ist. Moralische Kompetenz – sozusagen als der moderne Begriff von Tugend – impliziert soziale Verantwortung, insofern die jedem abverlangte Fähigkeit, moralisch zu handeln und zu urteilen, die Bereitschaft einschließt, in jedem menschlichen Gegenüber die Freiheit zu achten und vor dieser Freiheit jederzeit Rechenschaft über das eigene Handeln abzulegen.« (Pieper 2000:180)
Pieper stellt m. E. zu hohe Anforderungen an die Zuerkennung des Prädikats »moralisch kompetent«. Die wenigsten Menschen argumentieren in der Praxis mit Rückbezug auf einen höchsten Wert wie Freiheit oder Liebe. Eine schlüssige Berufung auf ethische Prinzipien mittlerer Abstraktionsebene (z. B. Sicherheit, Wohlbefinden, Nachhaltigkeit) reicht nach meiner Auffassung bereits aus, um moralische Kompetenz zuzuerkennen. Aus diesem Grund schlage ich eine neue Definition von moralischer Kompetenz vor:
Definition Moralische Kompetenz
Moralisch kompetent ist, wer fähig und bereit ist, sein selbstbestimmtes Handeln als an moralischen Prinzipien oder ethischen Theorien ausgerichtet zu verantworten (vgl. Lay 2004:21). Das Prinzip kann ein oberstes Moralprinzip (Streben nach Verwirklichung von Liebe bzw. Freiheit) oder ein Prinzip mittlerer Ebene sein (z. B. Wahrhaftigkeit, Toleranz, Solidarität).
Beispielsweise erlebt eine christlich orientierte Altenpflegerin wiederholt, dass eine junge muslimische Praktikantin wegen ihres Kopftuchs von Kollegen gehänselt wird. Sie überlegt, dass sich dieses Verhalten nicht mit ihren christlichen (Liebe, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft) und humanistischen (Toleranz) Werten vereinbaren lässt und beschließt, sich schützend mit der jungen Frau zu solidarisieren. Als sie die Spötter konfrontiert und das Thema in die nächste Teambesprechung trägt, enden die Sticheleien. Die Altenpflegerin handelt moralisch kompetent – sie ist sich ihrer persönlichen (Mit-)Verantwortung bewusst, kennt die Prinzipien, denen sie sich verpflichtet hat, und handelt entsprechend.
Moralische Regeln liegen auf einer niedrigeren Abstraktionsebene als ethische Prinzipien; sie sind als Normen unterster Abstraktionsebene konkret und »greifbar« formuliert. Eine bekannte moralische (und rechtliche) Regel im Gesundheitswesen ist die Schweigepflicht (vgl. Osterhus & Dondalski 1999:187).
Wer sich nicht auf ethische Prinzipien, sondern lediglich auf Regeln berufen kann, ist nach meiner Definition nicht moralisch kompetent. Dieser Person fehlt die Einsicht in übergeordnete Werte und Prinzipien, so dass sie zum Beispiel nicht situationsentsprechend aus guten Gründen von Regeln abweichen kann. Ein Altenpfleger, der sich lediglich aus Furcht vor negativen Sanktionen streng an vorgegebene Hygienevorschriften (Regeln) hält, wäre in diesem Sinne nicht moralisch kompetent. Seine Kollegin jedoch, welche dieselben Vorschriften in dem Bewusstsein umsetzt, dass sie dadurch die ihr anvertrauten Pflegeheimbewohner eher vor Infektionen schützen (Sicherheit) und damit sowohl die aktuelle Lebensqualität sichern (Liebe) als auch zukünftige Lebenschancen (Freiheit) erhöhen kann, handelt moralisch kompetent.12
Kompetenz ist nicht direkt wahrnehmbar. Wenn sie jedoch sichtbar und erlebbar wird, wenn sie gleichsam »zur Aufführung gelangt«, dann erleben wir Performanz (vgl. Lay 2001c:197). »Kompetenzen wie moralische Sensibilität, Urteils- und Kommunikationsfähigkeit wären wirkungslos, wenn sie auf das Fühlen, Denken oder Sprechen über Moral beschränkt blieben. Umfassende moralische Kompetenz beweist sich erst im Handeln, in ihrer Performanz.«13 (Reiter-Theil 1995:14) Performanz ist sichtbar gewordene Kompetenz.
Moralische Kompetenz unterliegt ebenso dynamischen Entwicklungen wie persönliche Wertehierarchien. Was einem Menschen wert und teuer ist, ändert sich in verschiedenen Lebensphasen. »Im Laufe unseres Lebens verändern sich unsere Erfahrungen und Vorstellungen und damit auch unser Wert- und Normsystem sowie unsere Einschätzung der Wirklichkeit. Eigenständiges, ethisch verantwortliches Handeln ist aus diesem Grunde, wie auch die Persönlichkeits- oder Glaubensentwicklung, ein prozeßhaftes Geschehen, das immer wieder der Reflexion bedarf.« (Lindner 1999:56)
Schreiner (2001a:18) hebt hervor: »Die Ethik als Wissenschaft beschäftigt sich mit den wertmäßigen Grundlagen von Handeln, der Frage also, welche Werte und Normen für ein Handeln leitend sind. Das Ziel der ethischen Reflexion ist es, die in konkreten Sachentscheidungen enthaltenen Wertaspekte transparent zu machen; es geht darum, Handeln hinsichtlich der Wertaspekte zu begründen. Dies kann …
• … im Vorfeld des Handelns geschehen, indem in Hinblick auf eine Entscheidungsfindung die zu beachtenden Werte herausgearbeitet werden, oder
• … im Nachhinein, indem das Handeln hinsichtlich seiner wertmäßigen Anteile analysiert wird.« In jedem Fall gehe es darum, die in konkreten Sachentscheidungen enthaltenen Wertentscheidungen transparent zu machen (ders. 2000:211).
Bei der Frage nach den Werten, die menschlichem Handeln zu Grunde liegen (deskriptiver Zugang) bzw. zu Grunde liegen sollten (normativer Zugang), lassen sich verschiedene Einteilungen vornehmen. Dabei soll auf den traditionellen philosophischen und theologischen Begriff der »Güter« zurückgegriffen werden, der bis weit in das 19. Jahrhundert im Vordergrund stand, bevor er zunehmend durch den aus der Nationalökonomie stammenden Begriff »Werte« ersetzt wurde (vgl. Wils 2009:21,25).
Zunächst können wir zwischen »Gütern« und »Übeln« unterscheiden. Güter sind positiv eingeschätzte Sachverhalte, Zustände und Gegenstände; als »Übel« werden negativ eingeschätzte Sachverhalte, Zustände bzw. Gegenstände bezeichnet.
Subjektivität in der Bezeichnung von Gütern und Übeln
»Die ›Besonderheit‹ der Ethik liegt darin, dass sie sich systematisch und methodisch mit dem moralisch richtigen, an den Kategorien ›gut‹ und ›böse‹ orientierten Handeln des Menschen auseinandersetzt.« (Lauber 2001:252) Wie die Differenzierung in »gut« und »böse«, so verlangt auch die Unterscheidung zwischen Gütern und Übeln nach Begründungen.
In der Benennung eines Elementes (Gegenstandes, Sachverhaltes) als »Gut« oder »Übel« liegt bereits eine subjektive Bewertung (vgl. Gillen 1999:21). Ist beispielsweise die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient, der sich seit zehn Jahren im Wachkoma befindet, innerhalb der nächsten Jahre an einer Lungenentzündung sterben wird, ein Gut oder ein Übel? Ist Sterben positiv oder negativ besetzt?14 In welchen Fällen ändern wir unsere Einschätzung?
Die Kennzeichnung als Gut oder Übel ist bereits Ergebnis eines Deutungs- und Entscheidungsprozesses, der auf Grundlage unseres jeweiligen Welt- und Menschenbildes, unseres psychosozialen »Strickmusters«, unserer kognitiven Fähigkeiten und anderer Einflussfaktoren geschieht. Oberste Richtschnur bei der Beurteilung, ob etwas eher als Gut oder als Übel kategorisiert werden soll, ist die Moralität, das Letztprinzip. Je nach ethischer Position wird Moralität inhaltlich unterschiedlich besetzt. Wie bereits dargestellt, bestimmt die philosophische Ethik üblicherweise in Anlehnung an Immanuel Kant (1724–1804) Freiheit als höchstes Gut. Alles, wodurch Freiheit hervorgebracht wird, ist nach dieser Überzeugung ein Gut. Utilitaristen dagegen würden etwas als erstrebenswert bezeichnen, wenn es das Glück, die Lust oder den Nutzen der größtmöglichen Zahl von Menschen maximiert (Ferber 1999:185). Aus einer christlichen Sicht ist ein Gut etwas, das Liebe ausdrückt oder hervorbringt.