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Im Zentrum des Buchs steht der alternde Mensch mit seinen Angehörigen. Seine Interaktion mit dem Gesundheits- und Pflegesystem, den Ärzten und Pflegekräften verändert sich über den Prozess des Alterns hinweg. Zugleich ändern sich derzeit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend. Dadurch entstehen immer wieder neue ethische Herausforderungen für die Patienten selbst, ihre Angehörigen, die Gesundheitsprofessionellen, die Institutionen und die Gesellschaft insgesamt. Das Buch beleuchtet die verschiedenen Sichtweisen eingehender und zeigt anhand von vielen Praxisbeispielen nicht nur die ethischen Dilemmata, sondern bietet auch etliche Lösungsmöglichkeiten an.
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Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar
Abteilungsvorstand der Abteilung für Anästhesiologie, allgemeine Intensivmedizin, Notfallmedizin, interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum in Klagenfurt am Wörthersee.
FH-Prof.in Mag.a Dr.in Olivia Kada
Lectur/Senior Researcher im Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement an der Fachhochschule Kärnten.
Dr. Georg Pinter
Abteilungsvorstand Zentrum für Altersmedizin am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee (Akutgeriatrie/Remobilisation mit geriatrischer Tagesklinik, Abteilung für chronisch Kranke).
Univ.-Prof. Dr. Herbert Janig
Klinischer und Gesundheitspsychologe.
Priv.-Doz. Dr. Walter Schippinger
Ärztlicher Leiter der Albert Schweitzer Klinik, Leitung der Abteilung für Innere Medizin, Geriatrische Gesundheitszentren der Stadt Graz.
Mag. Dr. Karl Cernic
Geschäftsführer Kärntner Gesundheitsfonds in Klagenfurt am Wörthersee.
Prof. Dr. Cornel C. Sieber
Chefarzt Innere Medizin, Geriatrie, Gastroenterologie, Lehrstuhl für Innere Medizin – Geriatrie an der FAU Erlangen-Nürnberg, Krankenhaus Barmherzige Brüder Regensburg.
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034226-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-034227-9
epub: ISBN 978-3-17-034228-6
mobi: ISBN 978-3-17-034229-3
Vorwort
Teil I – Fallbezogener Einstieg
1 Fallvignette
Georg Pinter und Rudolf Likar
1.1 Notaufnahme
1.2 Akutgeriatrie
1.3 Diagnosen
1.4 Verlauf
1.5 Interviewleitfaden aus Sicht der Herausgeber
2 Hat sich die Medizin verselbstständigt und vom alten kranken Menschen entfernt?
Dieter Hubmann
2.1 Wer soll entscheiden: Die kaufmännisch Verantwortlichen? Die Ärzte? Die Politik?
2.2 Immer nur die Ärzte?
2.3 Ethische Entscheidungen als Belastung?
2.4 Werden solche Fälle je zur Routine?
2.5 Ab wann ist das System überfordert?
2.6 Wie weit können Sie sich als Seelsorger in die Rolle des Arztes versetzen?
2.7 Wie gehen Ärzte mit diesen vielen Herausforderungen heute um?
Teil II – Allgemeiner Teil
3 Rechtliche und ethische Betrachtungen zur palliativmedizinischen Betreuung in der Sterbephase
Gerhard Aigner
3.1 Einleitung
3.2 Die Relativität des Altersbegriffes
3.3 (Verfassungs-)rechtliche Eckpunkte
3.4 Strafrecht versus ärztliches Berufsrecht
3.5 Resümee – gesetzlicher Handlungsbedarf?
4 Zentrale theoretische Grundlagen von Ethik und Patientenwohl in der Medizin bezogen auf die Lebensphase Alter
Manfred Kanatschnig
4.1 Einleitung
4.2 Zum Begriff der Ethik
4.3 Zum Begriff einer »Geronto-Ethik«
4.4 Geriatrische Medizin und Ethik
4.5 Organisation und Ethik am Beispiel des Ethikboards Klagenfurt
4.6 Schlussbetrachtung
Literatur
5 Ethik in der Altenpflege – zentrale Grundlagen aus pflegerischer Sicht
Monique Weissenberger-Leduc und Michaela Zmaritz-Kukla
5.1 Einleitung
5.2 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz GuKG
5.3 North American Nursing Diagnosis Association International (NANDA-I)
5.4 Persönliche Definition
5.5 Allgemeine Ethik – Angewandte Ethik
5.6 Medizin- und Pflegeethik
5.7 Braucht die Pflege eine eigene Ethik?
5.8 Prinzipienorientierte Ethik von Beauchamp und Childress
5.9 Zusammenfassung
Literatur
6 Ethik und Alter(n) aus gesundheitspolitischer Perspektive
Andreas Klein
6.1 Einleitung
6.2 Verschobene Selbstverständnisse
6.3 Adhärenz und Eigenverantwortung
6.4 Neue Technologien in der Gesundheitsversorgung
Literatur
7 Grundlagen der Ethik am Lebensende
Ulrich H.J. Körtner
7.1 Einleitung
7.2 Die Debatte über ein gutes und menschenwürdiges Sterben
7.3 Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit von Leiden
7.4 Tun und Unterlassen
7.5 Würde und Autonomie am Lebensende
7.6 Zusammenfassung
Literatur
8 Der Patient und seine Vertretung in medizinischen Angelegenheiten: Rechtsethische Grundlagen
Jürgen Wallner
8.1 Einleitung
8.2 Zentrale Begriffe
8.3 Rechtsethische Rahmenbedingungen
8.4 Fallvignetten
8.5 Zusammenfassung
Literatur
9 Ethische Vereinbarkeit von Ökonomie und Medizin insbesondere für ältere Patienten
Karl Cernic
9.1 Ökonomie und Medizin
9.2 Versorgungsforschung und Rationierung
9.3 Ethik und Evidenz
9.4 Schlussfolgerung
Literatur
10 Die andere Seite: Entwicklungspotentiale Gesundheitskompetenz und Gerotranszendenz
Herbert Janig
10.1 Einleitung
10.2 Arzt-Patient-Beziehung
10.3 Chancen des Älterwerdens
10.4 Gesundheitskompetenz
10.5 Gerotranszendenz
10.6 Resümee
Literatur
11 Die Frage nach dem »guten Sterben« in Österreich
Klaus Wegleitner, Katharina Heimerl, Patrick Schuchter und Alexander Lang
11.1 Einleitung
11.2 Sterben als sozialer Prozess – die soziale Organisation des Sterbens
11.3 Sterben in Österreich
11.4 Bedürfnisse der Betroffenen
11.5 Sorgenetze am Lebensende
11.6 Ausblickende Zusammenfassung
Literatur
12 Endlichkeit und Vulnerabilität in der psychologischen Alternsberatung
Frieder R. Lang und Roland Rupprecht
12.1 Einleitung
12.2 Abgrenzung von Altern und Krankheit
12.3 Die Morbiditätskompression ist eine gesellschaftliche Aufgabe
12.4 Die Medikalisierung des Alters fördert die Altersdiskriminierung
12.5 Die Kompensationsthese gesunden Alterns verweist auf mögliche Lösungen
12.6 Der Lebenswille und Wunsch nach einem langen Leben
12.7 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
13 Institutionelles Wissensmanagement in der Versorgung am Lebensende: Potentiale aus Sicht der Experten
Kristin Attems und Willibald J. Stronegger
13.1 Einleitung
13.2 Definitionen zentraler Begriffe
13.3 Darstellung wesentlicher Theoriebezüge: Institutionen und Lebensende
13.4 Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse: Österreichische Expertenbefragung
13.5 Methode
13.6 Ergebnisse und Analyse
13.7 Diskussion
13.8 Zusammenfassung
Literatur
14 Sterbehilfe – Situation in Österreich
Herbert Watzke
14.1 Einleitung
14.2 Gesetzliche Regelungen der Sterbehilfe in Österreich
14.3 Wahrung der Patientenautonomie
14.4 Sterben zulassen
14.5 Fallbezug
14.6 Zusammenfassung
Literatur
15 Kulturgerontologie, medizinische Geisteswissenschaften und Ethik
Desmond O’Neill
15.1 Einleitung
15.2 Ethik und ältere Menschen
15.3 Die Entstehung der Kulturgerontologie
15.4 Kulturgerontologie und Personalität bei Demenz
15.5 Forschung und Wissenschaft
Literatur
16 Gedanken und Erlebnisse eines Krankenseelsorgers
P. Anton Wanner
16.1 Das Leid des Menschen – ein Mysterium
16.2 Aus der Sicht der Philosophen und Literaten
16.3 Aus christlicher Sicht
16.4 Denkwege aus Religion und Kultur
16.5 Gott im Dialog mit dem Menschen
16.6 Der Mensch von Gott veranlagt
16.7 Lebenskrisen im Wandel der Lebensphasen
16.8 Im Leid gereifte Geschenke
16.9 Noch ein Erleben
16.10 Sehnsucht nach Befreiung
16.11 In Würde getragen
16.12 Ein Gesprächserlebnis
16.13 Abschlussgedanken
Literatur
17 Einfluss kultureller und religiöser Zugänge auf das Altern und Sterben
Michael Peintinger
17.1 Einleitung
17.2 Alter
17.3 Gesundheit und Krankheit im Alter
17.4 Schmerzbekämpfung
17.5 Sterben
17.6 Todesverständnis in den Religionen
17.7 Kommunikation über den bevorstehenden Tod
17.8 Therapiezieländerungen
17.9 Todesverständnis
17.10 Organtransplantation
17.11 Conclusio
Literatur
18 Moral Distress in der Arbeit mit geriatrischen Patienten
Olivia Kada
18.1 Einleitung
18.2 Zur Definition von Moral Distress
18.3 Theoretische Einbettung und Forschungsstand
18.4 Moral Distress im Kontext Geriatrie
18.5 Moral Distress im Kontext Pflegeheim
18.6 Ein Blick auf die Interventionsebene
18.7 Zusammenfassung
Literatur
19 Persönliche Betrachtungen eines Spitalsarztes in einem österreichischen Krankenhaus
Mario Molnar
19.1 Einleitung
19.2 Vom Landeskrankenhaus zum Klinikum
19.3 Zusammenfassung
Literatur
20 Psychiatrieethik – Ethik in der Psychiatrie
Herwig Oberlerchner
20.1 Einleitung
20.2 Das Recht auf Selbstbestimmung
20.3 Überprüfung der Selbstbestimmungsfähigkeit
20.4 Zwangsmaßnahmen im Kontext Psychiatrie
20.5 Würde
20.6 Freiheit und Suizid
20.7 Präventive Ethik im Kontext Psychiatrie
20.8 Zusammenfassung
Literatur
21 Das Thema Sterben und Tod in Dokumenten der Bioethikkommission
Alois Birklbauer
21.1 Einleitung
21.2 Definition zentraler Begriffe
21.3 Wesentliche Theoriebezüge
21.4 Empfehlungen der Bioethikkommission
21.5 Zusammenfassung
Literatur
22 Ethische Aspekte der Altersprolongierung
Johannes Huber
22.1 Gibt es einen siebenten Schöpfungstag?
22.2 Zentrale Fragen der heutigen Medizin
22.3 Ausblick auf die ethischen Fragen der Zukunft
Literatur
23 Social Egg Freezing – Auswirkungen auf die Gesellschaft und der damit verbundenen Sicht des Alters
Bernhard Svejda
23.1 Einleitung
23.2 Medizinischer Hintergrund
23.3 Rechtslage
23.4 Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen
23.5 Auswirkungen auf die Gesellschaft
23.6 Auswirkungen auf das Altern
23.7 Latest News
23.8 Zusammenfassung
Literatur
24 Schwierige Entscheidungsfindungen an der Schwelle zum Leben
Robert Birnbacher
24.1 Einleitung
24.2 Zwillingsschwangerschaft und selektiver Fetozid
24.3 Das »best interest concept« in der täglichen Praxis
Literatur
25 Wie intelligent ist künstliche Intelligenz …?
Rüdiger Stix
25.1 Einleitung
25.2 Definitionen zentraler Begriffe
25.3 Darstellung wesentlicher Theoriebezüge
25.4 Zusammenfassung
Literatur
26 Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen
Gerald Pichler
26.1 Einleitung
26.2 Allgemeines zur »Forschung an Einwilligungsunfähigen«
26.3 Betroffene Patientengruppen
26.4 Dauerhaft nicht einwilligungsfähige Personen
26.5 Blick und Ziele und Formen der Forschung
26.6 Schutz des Menschen
26.7 Schutz des Menschen
26.8 Rechtliche Aspekte
26.9 Zusammenfassung
Literatur
27 Intensivmedizin für alte Patienten – klinischer Kontext und ethische Fragestellungen
Andreas Valentin
27.1 Einleitung
27.2 Die Relativität des Altersbegriffes
27.3 Beeinflusst ein hohes Alter die Prognose eines Intensivpatienten
27.4 Kriterien für die Aufnahme an die Intensivstation
27.5 Intensivmedizin und Therapielimitation
27.6 Die individuelle Situation ist wesentlich
27.7 Zusammenfassung
Literatur
Teil III – Spezifische Kapitel mit Fallbezug
28 Leitlinien in der Geriatrie aus ethischer Sicht
Walter Schippinger
28.1 Einleitung
28.2 Medizinische Leitlinien
28.3 Der geriatrische Patient
28.4 Fallvignette
28.5 Ethische Beratung des Falls
28.6 Fazit
Literatur
29 Die PEG-Sonde bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz – macht sie Sinn?
Thomas Frühwald
29.1 Einleitung
29.2 Zusammenfassung
Literatur
30 Ethische Betrachtung der geriatrischen Aus-, Fort- und Weiterbildung
Peter Dovjak und Georg Pinter
30.1 Wie geht es weiter mit der Geriatrie?
30.2 Behandlungsschritte
30.3 Auflösung des ethischen Dilemmas
30.4 Zusammenfassung
Literatur
31 Ethikkonsile als Entscheidungshilfen
Walter Müller
31.1 Einführung
31.2 Kasuistik
31.3 Vorgeschichte
31.4 Fazit
Literatur
32 Ethische Aspekte der Kommunikation mit geriatrischen Patienten
Marina Kojer
32.1 Einleitung
32.2 Die Rolle der Ethik in der Kommunikation
32.3 Kommunikation mit Menschen mit Demenz als ethische Herausforderung
32.4 Leistungsverständnis und Teamarbeit
32.5 Fazit
Literatur
33 Demenzdiagnostik und Ethik
Dan Verdes
33.1 Einleitende Problembeschreibung
33.2 Fallbeschreibung 1
33.3 Behandlungsschritte
33.4 Fallbeschreibung 2
33.5 Beschreibung und mögliche Auflösung des ethischen Dilemmas
33.6 Botschaften
33.7 Fazit
Literatur
34 Übertherapie in der Intensivmedizin – weniger ist manchmal mehr!
Barbara Friesenecker
34.1 Einleitende Problembeschreibung
34.2 Fallbeispiel 1
34.3 Fallbeispiel 2
34.4 Übertherapie – ein häufiges Problem »moderner« Medizin
34.5 Fazit
Literatur
35 Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung in der Notfallmedizin
Dietmar Weixler
35.1 Einleitung
35.2 Wegfall der Indikation
35.3 (Mutmaßliche) Ablehnung einer medizinischen Therapie
35.4 Vorausverfügte Abwehr einer lebensverlängernden Therapie im Rettungs- und Notarztdienst – die Rolle der Patientenverfügung
35.5 Fazit
Literatur
36 Therapiezieländerung/Palliative Sedierungstherapie
Rudolf Likar, Markus Egger
36.1 Fallvignette: P., 80-jähriger Patient
36.2 Therapiezieländerungen
36.3 ARGE Ethik (ÖGARI)
36.4 Was umfassen die Therapiezieländerungen?
36.5 Opioide am Lebensende
36.6 Zusammenfassung
36.7 Palliative Sedierungstherapie
36.8 Empfehlungen zur Begleitung und Betreuung von Menschen am Lebensende und damit verbundenen Fragestellungen Stellungnahme der Bioethikkommission vom 9.2.2015
36.9 Zusammenfassung
Literatur
37 Ethische Fragestellungen in der Allgemeinmedizinischen Praxis
Dieter Michael Schmidt
37.1 Einleitung
37.2 Fallvignette
37.3 Ethik im Pflegeheim
37.4 Ethik im Gesundheitssystem
37.5 Fazit
Literatur
38 Placebo, Nocebo und keine Behandlung
Wolfgang Grisold
38.1 Einleitung
38.2 Geschichte
38.3 Was ist Placebo?
38.4 Wissenschaftliche Überlegungen zum Placebo-Effekt
38.5 Nocebo
38.6 Ethische Überlegungen
38.7 Zusammenfassung
Literatur
39 Ethische Überlegungen und das Management von neuromuskulären Erkrankungen im Alter
Stefan Quasthoff
39.1 Einleitung
39.2 Heimbeatmung
39.3 Schmerztherapie
39.4 Genetik
39.5 Drei Beispiele aus dem Bereich der cpNME
39.6 Spinale Muskelatrophie (SMA)
39.7 Morbus Pompe (chronisch progrediente Muskelatrophie)
39.8 Fazit
Literatur
40 Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit im hohen Alter – Fallreflexion
Elisabeth Medicus und Markus Mader
40.1 Einleitende Problembeschreibung
40.2 Darstellung des Falls
40.3 Darstellung der Vorgehensweise
40.4 Weiterer Verlauf
40.5 Fazit
Literatur
41 Ethische Aspekte der An- und Zugehörigenarbeit in Pflege- und Reha-Einrichtungen
Susanne Dungs
41.1 Problembeschreibung
41.2 Darstellung der Fallskizze: Herr Grün und seine Angehörigen
41.3 Das ethische Dilemma im Fall des Herrn Grün
41.4 Ethik vom Anderen her
Literatur
42 Ethische Entscheidungen am Lebensende – ein interdisziplinärer medizinrechtlicher Dialog
Rudolf Likar, Gernot Murko und Georg Pinter
42.1 Falldarstellung
42.2 Die rechtliche Dimension
42.3 Strafrechtliche Komponenten
42.4 Rechtliche Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts
42.5 Ethische Betrachtungen
Literatur
Autorinnen und Autoren
Das Jahrbuch der Diözese Gurk stand 2012 unter dem Motto »Was uns im Alter trägt«. In diesem Jahrbuch bezeichnete ich mit dem Wort des Propheten Jesaia »… bis ihr grau werdet, will ich euch tragen« – ein Zuspruch Gottes, auch im Alter und besonders dort bei den Menschen zu sein – Alter als ein Lebensprogramm mit Zukunft. Dabei ging es mir besonders darum, den Menschen aus einer Instrumentalisierung für die Arbeitswelt oder für die Freizeitindustrie herauszuhalten, einer Instrumentalisierung, die der Würde des Menschen widerspricht. In diesem Sinne ist der Mensch nicht mit seinem Alter – als Alter – zu umschreiben, sondern stets in erster Linie als Mensch zu sehen und das Alter in die Herausforderung der Gestaltung dieses Menschseins zu stellen. Würde ist unverrechenbar – negativ wie positiv auch mit der Zahl von Jahren. Würde ist nicht gebunden an Gesundheit oder Krankheit, sondern diese sind in Achtung der unverrechenbaren Würde so zu gestalten und zu behandeln, dass sie ihre Förderung erfahren können.
Auf diesem Hintergrund will ich einige Bemerkungen in Bezug auf den sehr wertvollen Sammelband über Medizin im Blick auf Alter einbringen.
Ein erster Punkt: Alter wird in einer Zeit, die unter der Perspektive der Jugendlichkeit steht – bisweilen gesteigert zum Jugendwahn –, manchmal mit Krankheit gleichgesetzt. Dies hat zur Folge, dass sich manche Mediziner und Medizinsparten in die Richtung der Anti-Aging-Medizin einordnen lassen.
Es ist erstrebenswert, dass einengende Folgen des Alterns erforscht, behandelt und dann vielleicht in Jugendlichkeit gewandelt werden, aber Alter stellt keine Krankheit dar, die bekämpft werden muss. Altern ist ein natürlicher Vorgang, der das Leben prägt und mit dem Leben gegeben ist. Deswegen ist es gerade der Entwicklung des Menschen abträglich, das Altern bekämpfen zu wollen. Vielmehr geht es aus meiner Sicht für die Gerontologie darum, Krankheit und Gesundheit unter den Bedingungen des Alters zu betrachten und nach Möglichkeiten zu suchen, das Wohlbefinden der Menschen unter diesen Bedingungen zu fördern.
Das kann nicht von Erfolg gekrönt sein, wenn man das Alter und das Altern bekämpft, sondern es soll bei der Anti-Aging-Medizin um die Frage gehen, wie Hilfe und Unterstützung in der Gestaltung des Alterns gewonnen werden können. Nach einem bekannten Spruch geht es auch in der Medizin nicht nur darum, Jahre ins Leben zu bringen, sondern ebenso auch darum, Leben in die Jahre.
Dazu eine zweite Bemerkung, diese den Gesundheitsbegriff betreffend. Gesundheit wird oft über Abwesenheit von Krankheit oder krankmachenden Faktoren definiert. Eine solche Sicht reicht dann bis in die Definition von Gesundheit in der Weltgesundheitsorganisation, nach der Gesundheit als die Abwesenheit von körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen gefasst wird. In einem solchen Zugang ist es wichtig und richtig, dass nicht nur körperliche Beeinträchtigungen, sprich Krankheiten, gesehen werden, sondern auch seelische oder soziale Begegnungen. Aber ein vollständiges Freisein von solchen Beeinträchtigungen ist illusorisch, nicht nur bei alten Menschen. Gesundheit darf also nicht nur über die Abwesenheit von Krankheit definiert werden, sondern wesentlich auch positiv als Ausrichtung auf Wohlbefinden in den Ermöglichungen und Behinderungen durch das Alter. So ist es zum Beispiel wichtig, in einem positiven Lebenskonzept die Bedrohungen und Chancen durch das Alter positiv miteinzubeziehen, etwas, wenn man den Blick nur auf Krankheiten richtet, was nur zu leicht versäumt wird: Nicht nur die Vermeidung und Heilung von Krankheiten und Beeinträchtigungen, sondern, wenn sie unvermeidbar sind, der gelungene Umgang mit ihnen soll ein Ziel ärztlicher Anregungen sein.
Daraus ergibt sich eine dritte Bemerkung: Medizinische Behandlung besonders im Alter muss eingebaut sein in eine umfassende Strategie, zusammen mit pflegerischer, physiotherapeutischer, psychischer, psychosozialer, aber auch seelsorglicher Betreuung. Aus ethischer Sicht ist ein ganzheitlicher Zugang zum Menschen notwendig. Der Platz der seelsorglichen Betreuung wird von den anderen Zugängen mitbestimmt, wie der seelsorgliche Zugang integrierend auf die anderen Zugänge wirken soll. Dabei geht es vor allem um die Sinnfrage, die Frage nach Zusammenhängen, die auch über den Glauben gefunden werden können. Das Leben des Menschen, das besonders im Alter auseinanderzudriften droht, bedarf eines seelsorglichen Zugangs, der zur ganzmenschlichen Betreuung führt.
Nun zu einer vierten Bemerkung: Vermehrt finden wir uns heute in der Situation, dass Leben gerade im Alter auf nacktes Überleben reduziert wird. Mit den Möglichkeiten der Lebensverlängerung und Lebensbewahrung, aber nicht nur mit diesen, sind auch vermehrt Situationen verbunden, in denen der Mensch nicht mehr autonom entscheiden kann, weil beispielsweise Denkfähigkeiten reduziert bis ausgeschaltet sind, wo »nur« noch das biologische Überleben im Mittelpunkt steht. In diesem Zusammenhang bricht dann die lange zurecht als Tabu ausgegrenzte Frage des »lebenswerten Lebens« auf und die weitere Frage, ob denn die Würde es nicht erfordert, diesem »lebensunwerten Leben« ein Ende zu setzen. Hier gilt am grundsätzlichen Ausgangspunkt: »Das Leben des Menschen ist unantastbar« festzuhalten. Dieser verbietet eine verrechnende Sicht auf lebenswert und lebensunwert.
Mit Würde ist nach Immanuel Kant das angesprochen, was nicht verrechenbar ist, was nicht in Konkurrenz zu anderen Werten gesetzt werden kann, auch wenn eine solche Konkurrenzsituation immer wieder in der alltäglichen Wirklichkeit geltend gemacht wird. Immanuel Kant schreibt wörtlich: »… der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen…«1 Und an einer anderen Stelle schreibt er: »Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.«2 Mit der Figur der Menschenwürde wird der Mensch also der verrechnenden Konkurrenz entzogen, was besonders im Hinblick auf die Schwachen, viele alte Menschen und die, die keinen Anwalt haben, der ihnen in der Verrechnung beistehen könnte, wichtig ist. Im Hinblick auf die Formulierung »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, wie sie sich im Bonner Grundgesetz in Artikel 1 findet, bemerkt Hermann J. Pottmeyer: »Es besteht die Neigung, überall in Gesellschaft und Geschichte zu beobachten, den Kreis der Würdeträger auf die Tatkräftigen und Leistungsfähigen einzuschränken. Dieser Neigung wehrt das Grundgesetz, wenn sein Artikel 1 die Würde des Menschen unantastbar nennt.«3 Und Pottmeyer zitiert dann Arno Baruzzi: »Die Würde ist deshalb unantastbar, weil es Unmündige, Kranke, Kinder, Gebrechliche überhaupt gibt. Das Fragile des menschlichen Daseins ist vor allem mit Art. 1 benannt.«4
Hier kommt auch die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu tragen. Wenn die Würde auf dem Prüfstand steht, so kann die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum Tragen kommen, wenn die Würde am Prüfstand steht, kann die Lehre der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott ein Moment sein, das die Würde schützt. Dies gilt besonders in den verletzlichen Phasen des Alters und des Sterbens.
Eine fünfte Bemerkung: Mit der Formel der Weisheit des Alters wird oft der Punkt angesprochen, dass der Überblick, den der Mensch in einem langen Leben gewonnen hat, nun in die Bewertung der Zusammenhänge einmündet. Damit kommt vermehrt auch die Autonomie in den Blickpunkt. Der Mensch, der für sich selbst verantwortlich ist, der selbstbestimmt sein Leben in die Hand nimmt, soll das auch und gerade im Alter tun. Mit Patientenverfügungen und ähnlichen Institutionen versuchen wir der Patientenautonomie gerecht zu werden. Mit dem Begriffsbestandteil »Verfügung« wird aber ein problematischer Gesichtspunkt angesprochen: Wer kann über Leben verfügen? Kann ich selbst über mein Leben verfügen? Verfügen kann man nur über Sachen: Ist das Leben eine Sache?
Somit zeigt sich angesichts des Alters die Wichtigkeit von Autonomie wie auch ihre Grenze. Erkenntnis heißt in unserem Zusammenhang auch Erkenntnis zur Anerkenntnis. Wir müssen, und auch der alte Mensch selbst, anerkennen, dass Leben unverfügbar ist, dies als Konsequenz der Würde. Weisheit wird damit auch eine Einordnungsgröße, der Mensch eingeordnet in die Weite des Lebens überhaupt.
In diesem Zusammenhang eine letzte Bemerkung: Medizin hat ein wichtiges Ziel in der Bekämpfung des Todes. Medizin bedeutet aber auch Anerkenntnis des Todes, um aus dieser Einordnung heraus die Mitverantwortung für die Gestaltung des Sterbens ableiten zu können. Die Entwicklung zeigt, dass in einer weitgehenden Bindung der Ressourcen an die Bekämpfung des Todes zu wenig in die Begleitung des Sterbens investiert wurde. In palliativmedizinischen Zugängen, in der Hospizarbeit haben sich wichtige Bewegungen zur Begleitung im Sterben entwickelt.
Das Bedenken dieser und anderer Punkte kann einen Beitrag bedeuten, dass Alter verstärkt ein Lebensprogramm mit Zukunft werden kann. Ich danke allen, die mit ihren Beiträgen zu diesem Programm beitragen.
Dr. Alois Schwarz
1 Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Schriften hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft. Erste Abteilung, Werke. Bd. IV, Berlin 1911, 385-463, 428.
2 Ebenda 434.
3 Pottmeyer, H.J., Das kirchliche Krankenhaus – Zeugnis kirchlicher Diakonie, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, hrsg. von Marre H./Stubing, J., Bd. 17, Münster 1983, 62-82, 64.
4 Baruzzi, A., Europäisches »Menschenbild« und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Freiburg/Br. 1979, 109, zit. von Pottmeyer H.J., Das kirchliche Krankenhaus 64.
Frau Z. verspürt seit zwei Tagen rezidivierend Palpitationen (unregelmäßigen Herzschlag) und ein Beklemmungsgefühl in der Brust. Zusätzlich hat sie das Gefühl, nicht durchatmen zu können. Im Herbst des Vorjahres bestand bereits eine ähnliche Symptomatik. Damals erfolgte eine umfassende stationäre Abklärung. Zusätzlich gibt sie Polyurie (vermehrtes Harnlassen) an.
Die Patientin wird aufgrund dieser Anamnese von ihrer Hausärztin in die Notaufnahme geschickt.
Im Labor zeigt sich eine mäßiggradige, normochrome, normozytäre Anämie (Blutarmut) bei einem Hb von 9,3 g/dl, sowie ein Kreatinin von 1,86, BUN 53 mg/dl, eine GFR von 23 ml/min (deutliche Einschränkung der Nierenfunktion), sowie eine Hyponatriämie von 120 mmol/l (Salzmangel).
In der Notfallambulanz gibt die Patientin Übelkeit an und erbricht daraufhin. Sie erhält eine Kurzinfusion mit einem entsprechenden Medikament und des Weiteren eine Kochsalzinfusion.
Das Medikament Candesartan HCT wird in der Notaufnahme aufgrund der Hyponatriämie abgesetzt (Nebenwirkung).
Aufgrund der Beschwerden, als auch Bradykardie (langsame Herzfrequenz von 47/Minute) wird die Patientin zur Beobachtung an der Aufnahmestation aufgenommen.
Die Patientin ist tags darauf Herz-Kreislaufmäßig stabil, gibt leichte Übelkeit an und wird in weiterer Folge auf eine Akutgeriatrie verlegt.
Bei der Übernahme von der Notaufnahme berichtet die Patientin, dass sie schon zu Hause in den letzten Wochen immer wieder Übelkeit, Erbrechen sowie rezidivierend dünn-breiige Stühle gehabt hat. Es bestand kein Fieber und kein Kontakt mit Menschen mit einer Durchfallsymptomatik.
Die Patientin kommt zu Hause öfter zu Sturz. Sofern aus der Anamnese erhebbar, handelt es hierbei am ehesten um Stolperstürze (lokomotorische Genese der Stürze).
Die Patientin ist zu Hause mit einem Rollator mobil, bei Einkäufen unterstützt sie die Tochter, die in derselben Stadt wohnt.
Frau Z. beschreibt eine Kurzzeitgedächtnisstörung, die sie im Alltag gelegentlich belastet. Sie kann mit Brille noch die Zeitung lesen, hat beim Hören trotz Hörgerätversorgung größere Probleme, vor allem wenn mehrere Menschen gleichzeitig mit ihr sprechen. Die Zahnprothese passt nicht mehr richtig, wodurch sie beim Essen in letzter Zeit beeinträchtigt ist.
Es besteht eine leichtgradige Stressharninkontinenz, die die Patientin unter Nutzung einer Vorlage gut beherrschen und kompensieren kann.
Die Patientin lebte bisher allein in ihrer Wohnung. Im Bedarfsfall erhält sie Unterstützung durch die in der Nähe lebende Tochter. Zusätzlich zur Pension erhält sie Pflegegeld der Pflegestufe 1.
• Candesartan HCT 16/12,5 mg
1-0-0-0
• Furosemid 40 mg
0,5-0-0-0
• Alter:
96 Jahre
• Geschlecht:
weiblich
• Allgemeinzustand:
leicht reduziert
• Ernährungszustand:
reduziert
• Größe:
154 cm
• Gewicht:
46 kg
• BMI:
19,4
• Blutdruck:
200/80mmHg
• Pulsfrequenz:
47/Minute
• Lunge:
Eupnoe, diskretes Entfaltungsknistern, sonst unauffällig
• Herz:
2/6 Systolikum über der Aortenklappe, rhythmisch unauffällig
• Abdomen:
die Bauchdecke ist weich, es besteht kein Druckschmerz, es sind keine Resistenzen palpabel, die Darmgeräusche sind in allen vier Quadranten lebhaft, es besteht keine Abwehrspannung, kein Meteorismus
• Extremitäten:
keine wesentlichen Einschränkungen in der Beweglichkeit, keine Ödeme
• Hämoglobin:
9,5g/dl (normochrome, normozytäre Erythrozyten)
• Creatinin:
1,22mg/dl
• GFR-Cockcroft/Gault:
22 ml/min.
• CRP:
7 mg/dl
• Natrium:
128 mmol/l
• Kalium:
3,9 mmol/l
Labor im weiteren Verlauf des stationären Aufenthaltes:
• Leukozyten
20.790/µl
• Hämoglobin:
9,1g/dl
• Creatinin:
1,43 mg/dl
• Natrium:
143 mmol/l
• hs Troponin
438 pg/ml
Sinusrhythmus 47/min., LT, ST-Senkungen horizontal bis descendierend in II, III, aVF, V3-V6, QTc-Zeit 440 msec.
Gering verbreiterter Herzschatten.
• Im Vergleich dazu zunehmend fleckige Verdichtungen über der rechten Lunge sowie links apikal – in erster Linie im Rahmen von Infiltraten.
• Incipiente Stauungszeichen bei grenzwertig großem Herz.
• Geringer Pleuraerguss linkssseitig.
• Ausgeprägte Atheromatose der Aorta.
• Unverändert die Residuen links medio-basal.
Deutliche Zunahme der Infiltrate beidseits.
• Barthel-Index bei Aufnahme: 85 von 100 Punkten,
• Hilfsmittel bei stationärer Aufnahme: Rollator
• MMSE (Mini Mental State Examination): 27 von 30 Punkten
• MNA (Mini Nutritionl Assessment): 10 Punkte (Malnutritionsrisiko)
• Hypertensives Lungenödem (Wasseransammlung in der Lunge)
• Respiratorische Insuffizienz (starke Beeinträchtigung der Atmung)
• Pneumonie bds. (Lungenentzündung beidseits)
• Dysphagie für Flüssigkeiten (Schluckstörung)
• Hyponatriämie (Salzmangel)
• prim. art. Hypertonie (Bluthochdruck)
• Sinusbradykardie (langsame Herzfrequenz)
• chronische Niereninsuffizienz IV (chronisches höhergradiges Nierenversagen)
• renale Anämie (Blutarmut wegen der Nierenschwäche)
• Osteoporose
• Vitamin D-Mangel
• Hypoalbuminämie (Verminderung des Eiweißgehaltes im Blut)
• Brustdrüsenkrebs Operation links + Bestrahlung vor Jahren
Bereits am Abend des Überstellungstages an die Akutgeriatrie zeigte die Patientin ein hypertensives Lungenödem (Wasseransammlung in der Lunge) mit einer respiratorischen Insuffizienz (starke Beeinträchtigung der Atmung). Nach Akutversorgung wurde die Patientin kurzzeitig an der Intensivstation zur CPAP-Atemtherapie übernommen. Nach der stationären Rückübernahme am Folgetag präsentierte sich die Patientin mit ausgelenkten herzspezifischen Biomarkern (Hinweis auf Unterdurchblutung des Herzmuskels), mit einer Anämie (Blutarmut) und deutlich ausgelenkten Nierenretentionsparametern (Nierenschwäche). In Folge sind die Entzündungswerte im Blut deutlich ansteigend, klinisch und radiologisch findet sich eine Pneumonie (Lungenentzündung) beidseits. Es erfolgt eine antibiotische Therapie und es wird eine logopädische Begleitung mit Dysphagieprophylaxe-Maßnahmen veranlasst. Eine Rollatormobilität ist schon kurz darauf wiedergegeben.
Einige Tage später kommt es in den Morgenstunden neuerlich zu einer respiratorischen Verschlechterung mit akutem Sättigungsabfall (starke Beeinträchtigung der Atmung). Unter Anforderung des Notfallteams wird die Patientin zur weiteren Versorgung an die Intensivstation des Hauses transferiert.
Übernahme der Patientin zur Atemtherapie an der Intensivstation: Beginn mit einer nicht-invasiven Beatmung. Die nicht-invasive Beatmung war nicht erfolgreich, deswegen wurde bei der Patientin tags darauf eine Intubation (Einführen eines Beatmungsschlauchs in die Lunge) durchgeführt. Die Patientin hatte eine Lungenentzündung, die zu einer massiven Beeinträchtigung der Lungenfunktion führte, und auch deutlich erhöhte Entzündungswerte. Bei der Patientin mussten eine invasive Beatmung zur besseren Belüftung der Lunge sowie eine kinetische Therapie (d. h. Bauchlage) durchgeführt werden.
Es konnte durch invasive kardiorespiratorische und antibiotische Therapie nach fünf Tagen eine Besserung erzielt werden. Die Patientin konnte extubiert werden (Entfernung des Beatmungsschlauchs). Die Patientin konnte in deutlich gebesserten Zustand auf die Akutgeriatrie rückverlegt werden.
Mit der Patientin wird besprochen:
• dass bei einer Verschlechterung keine weitere Intensivtherapie durchgeführt wird, weiters:
– keine weitere Intubation (Einführen eines Beatmungsschlauchs)
– keine Tracheotomie(Luftröhrenschnitt)
– keine Dialyse (Ersatz der Nieren)
– keine kardiopulmonale Reanimation (Wiederbelebung)
• Es wird ein dementsprechendes Gespräch mit der Patientin geführt und auch dokumentiert
• Dies wird auch der Tochter mitgeteilt
Wie ist Ihre Einschätzung aus ethischer Sicht?
Wenn Sie aus dem Blickwinkel Ihrer Forschung bzw. praktischen Tätigkeit auf die Vignette blicken, welche Assoziationen haben Sie?
Wie steht Ihr Buchkapitel mit der Vignette in Verbindung bzw. was kann aus dem Kapitel für die Arbeit mit vergleichbaren Patienten und/oder die Forschung abgeleitet werden?
Warum ist dieses Buch gerade jetzt so wichtig für Patienten5, deren Angehörige, Pflege und Ärzte?
Rudolf Likar: Das Projekt ist vor zwei Jahren entstanden, es war ein Wunsch von mir. Georg Pinter ist gleich aufgesprungen. Der Grund ist einfach: Die ethischen Fragen stellen eine immer größere Herausforderung in der Medizin dar. Wir können heute schon so viel leisten, sogar Organe ersetzen. Aber es bleibt die Frage: Tust du dem Menschen dabei etwas Gutes? Gibst du ihm noch Lebensqualität? Oder ziehst du dich zurück in Therapieentscheidungen aufgrund von Leitlinien? Die Menschen werden immer älter, die 80-Jährigen sind eine der am stärksten wachsenden Altersgruppe. Die Herausforderung an die Intensivmedizin lautet nicht mehr, was wir tun können – weil wir fast alles tun können –, sondern wo die Grenzen liegen und wo wir uns zurücknehmen, weil wir praktisch keine Selbstbestimmtheit und keine Verbesserung der Lebensqualität mehr erlangen können.
Georg Pinter: Der entscheidende Punkt war, dass wir heute wissen, dass die Zahl der Maßnahmen, die man unternimmt, oft nicht notwendig ist. Sie führen nicht wirklich zu einer Verlängerung des Lebens, sondern eher zum Dahinsiechen und zur Verlängerung des Leids. Was wir heute wissen, ist, dass die Ärzte die Überlebenszeit ihrer Patienten oft viel zu lange ansetzen. Das geschieht aufgrund der emotionalen Bindung zu den Patienten auf der einen Seite und aus dem, was wir nicht gelernt haben, auf der anderen: Zu erkennen und zu akzeptieren, dass der Weg unweigerlich an das Ende führt. Das ist für einen Arzt, der so sozialisiert wurde, dass er zur Heilung beitragen soll, oft nur schwer zu akzeptieren. Da gibt es Versagensängste, das Nicht-loslassen-können – und das Nichtbeschäftigen mit der eigenen Endlichkeit. Das führt zu diesem Konfliktpotential. Diese Entscheidungen sind für einen einzelnen Arzt gar nicht möglich. Was wir seit vielen Jahren auf unserer Palliativstation beobachtet haben: Das Wissen um diese Umstände kommt nur langsam in Umlauf, obwohl wir an der Quelle sitzen. Das Lernen über diese Grenzsituationen findet nur sehr verzögert statt. Das ist ein emotionales, psychologisches und soziales Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen.
Wie kann man gegensteuern?
Pinter: Den Kollegen müssen wir vermitteln, dass in der Palliativmedizin auch eine Systematik dahintersteht, die man lernen kann, wie man eine Chemotherapie lernen und sich das Wissen aneignen muss. Auch Haltung ist erlernbar. Bei unseren Ethiktreffen sind oft nur die älteren Mediziner dabei – auch das müssen wir ändern.
Likar: Wir haben früher, im Studium, noch mit nächtelangen Diskussionen unseren Charakter formen können. Das Studium ist heute aber verschult, keiner lernt mehr, Entscheidungen zu treffen. Das, was auf die Ärzte zukommt, ist nichts, was man nach den Leitlinien herunterbeten könnte. Etwas nicht nach Leitlinien zu machen, sondern eine humane Entscheidung zu treffen, eine patientenspezifische, wie den Abbruch einer medizinischen Behandlung. Also eine radikale Patientenorientiertheit, wenn ich zum Beispiel merke, dass es schwerste Lungenprobleme gibt, und ich trotzdem noch den Atemschlauch einsetze – da muss ich innehalten. Da geht es um Entscheidungen, für die ich schon im Vorfeld die Kraft hätte aufbringen müssen, sie mit dem Patienten abzusprechen. Etwas nicht zu tun ist auch eine medizinische Leistung, es ist eine Haltung, aber die müssen wir erst lernen. Und dabei gibt es eine große Kluft zwischen denen, die immer etwas tun wollen, und jenen, die das nicht wollen. Ich brauche dafür zuerst eine medizinische Indikation und dann ein Therapieziel. Ich muss eine Prognose haben, es müsste eine Verbesserung der Lebensqualität geben und auch der Patient muss sich äußern, wenn er kann. Das ist die große Herausforderung: Kann ich eine Verbesserung der Lebensqualität erreichen, habe ich eine Prognose, dass es besser wird? Und da ist der Kernpunkt: Viele Ärzte denken nicht daran, dass sich die Lebensqualität verschlechtert.
Pinter: Weil das ganze System Leitlinien-getriggert ist. Und es immer mehr Spezialisierung gibt. Damit glaubt jeder, dass er alleine in der Schuld und in der Haftung ist. So sichert man sich auch ab. Wahrscheinlich müssen wir unser ganzes Ausbildungssystem überdenken. Auch hinsichtlich der neuen Arbeitszeitenregelung, weil weniger Zeit in der Ausbildung da ist. Und es ist immer schwieriger, etwas nicht zu tun als es zu tun. Nehmen wir die PEG-Sonde her, für einen dementen Menschen, in seiner letzten Lebensphase: Eine PEG-Sonde zu legen, das wissen wir, ist oft falsch. Oft ist die Prognose mit der Sonde sogar schlechter, weil er früher stirbt.
Likar: Wenn es darum geht, Ernährung über den künstlichen Weg zuzuführen, dann ist das ist eine medizinische Indikation, das gehört nicht zu den Grundbedürfnissen. Das heißt, ein Grundbedürfnis wäre, wenn ich dem Patienten einen Löffel gebe, und er kann selbst noch die Nahrung vom Löffel nehmen und schlucken. Aber wenn er das nicht mehr kann, und ich die Ernährung künstlich zuführe, dann brauche ich eine Indikation. Auch für die Flüssigkeitstherapie brauche ich eine Indikation, das wissen viele nicht. Aber wenn ich nur sehe, dass ich mit einer künstlichen Essenszufuhr den Sterbeprozess verlängere, dann darf ich den Menschen nicht mehr ernähren. Ich muss natürlich Mundpflege und so weiter machen, weil das spürt er – aber nicht, wie viel Ernährung ich ihm zuführe. Da sind viele Fragen, die auf uns zukommen. Jetzt diskutieren wir, ob der Patient noch eine Dialyse bekommt oder ob er beatmet wird – aber wir werden auch darüber diskutieren, ob die künstlich zugeführte Ernährung überhaupt indiziert ist.
Hat sich die Medizin verselbstständigt und vom alten, kranken Menschen entfernt? Hat sich die Medizin auch deshalb verselbstständigt, weil anscheinend mit der Reparaturmedizin – wenn schon nicht alles – immerhin vieles möglich ist?
Likar: Viele kommen auch durch die Angehörigen unter Druck. Dr. Google lässt grüßen. Aber wir sollten vor den Angehörigen und dem Internet-Wissen keine Angst haben, wenn es das erweiterte Erwachsenenschutzrecht gibt, dann müssen wir aufpassen. Denn Nichtmediziner haben von der Tragweite der Entscheidungen keine Ahnung. Unsere Aufgabe ist es, die Angehörigen dorthin zu führen. Der Betroffene spürt, auf welchem Lebensweg er ist. Wenn ich zu einem schwer Lungenkranken sage, dass wir darauf schauen, wenn es zu schwerer Atemnot kommt, dass er schlafen kann, dann ist er froh, dass wir das ansprechen. Oder wenn wir darüber reden, ob er noch einen Atemschlauch oder ein Beatmungsgerät haben möchte, wenn es dem Ende zugeht. Wir sollten uns nicht entmündigen lassen und die Entscheidung auf die Angehörigen abwälzen. Ein Angehöriger hat vielleicht mit der Krankheit Erfahrung, aber nicht die Expertise über 30 Jahre.
Müsste man das Medizin-Studium ändern, das in seiner jetzigen Form vieles nicht leisten kann?
Pinter: Es gibt zum Beispiel ganz neue Therapien bei Tumorerkrankungen, die die Lebenszeit verlängern. Aber das, was der Arzt erkennen muss, lautet: Was ist der Effekt davon? Auf das bereitet das Studium niemanden vor. Ein Fall aus meinem Freundeskreis erklärt vielleicht das ganze Dilemma: Bei einem Patienten ist mit 88 Lungenkrebs diagnostiziert worden, und weil er robust war, hat man sich zu einer Chemotherapie entschieden. Der Sohn berichtet heute, dass die Entscheidung, wenn er gewusst hätte, was passiert, wie massiv die Nebenwirkungen sind, vielleicht anders ausgefallen wäre. Die Lebensqualität war nicht tumorbedingt, sondern therapiebedingt schlecht. Natürlich kann man das nie voraussehen. Es geht letztlich darum: Wie geht es dem Patienten nach der Therapie? Und dafür braucht es extrem viel Erfahrung und dass man den Weg gemeinsam geht. Aber ich habe oft das Gefühl, dass man diesen Weg nicht gemeinsam mit den Patienten geht. »Gutes wollen, schlechtes Tun«, das ist das Thema, in dem wir uns immer wieder bewegen. Der Effekt für den Patienten ist oft schlechter als das, was wir erreichen wollten.
Likar: Pramstaller hat das Buch »Rettet die Medizin« geschrieben. Er hat gesagt, wir sollen von der Ökonomie wieder zur wertebasierten Medizin kommen, vom Spezialisten zum Generalisten und allgemein zum Partner für Verwaltung, vom Heiler der alten zur neuen Welt usw. Im Studium wird ja immer das virtuelle Thema gebracht, wir können Teleradiologie bis zu Telediagnostik und Televisite. Aber eine Hand zu halten, dem Patienten in die Augen zu schauen und ihn zu fragen: Du, geht’s dir schlecht? Es ist ein großer Unterschied, ob ich – überspitzt formuliert – übers iPad alles Gute wünsche. Alles geht Richtung tele, tele, tele, und wir schalten uns selber aus – und das ist die teure Medizin, denn wenn die Parameter des Patienten laut Telemedizin stimmen, aber es eine schwerste Lungenkrankheit gibt, sehe ich die tele nicht. Wenn wir in Zukunft Entscheidungen treffen, ohne den Patienten zu sehen, dann ist das der falsche Weg. Menschen kommunizieren anders, wenn ich neben ihnen sitze, als wenn ich sie über den Bildschirm anschaue.
Pinter: Wir haben eine Untersuchung über unnötige Pflegetransporte ins Krankenhaus gemacht. Da werden Menschen zum Sterben in das Krankenhaus geflogen. Eine zutiefst inhumane Medizin. Wir haben analysiert, warum das passiert: Aus dem Beweggrund, dem Patienten zu helfen. Aber es hat keiner mit ihm geredet, ob er da überhaupt hin will. Oder ob er in seiner gewohnten Umgebung bleiben will. Der Notarzt kann das akut nicht entscheiden, weil er vorher nicht mit dem Patienten geredet hat.
Likar: Es ist immer wichtig, dass man die Entscheidungen in der Phase der Krankheit trifft, weil man als Gesunder keine Vorstellung hat, was da letztlich vorgeht. Man überfordert jeden, wenn man das vorher macht. Der Lebenswille ist ja sowieso der stärkste, da ändert sich nichts. All diese Entscheidungen, die man dem Gesunden im Erwachsenenschutzrecht aufbürdet, gehen zu weit. Wir geben damit die Kompetenz ab, aber die Situation wird dadurch nicht besser beherrschbar. Wir delegieren die Verantwortung – etwa, ob ein Luftröhrenschnitt gemacht wird. Aber der Patient, der kein Mediziner ist, hat ja keine Ahnung, welche Auswirkungen das auf die Lebensqualität hat.
Pinter: Im Buch wird ein Kapitel über die Verantwortung des Menschen selbst behandelt ( Kap. 10). Der sich darauf verlässt, dass, wenn etwas passiert, die Medizin sowieso alles reparieren kann, wie beim Auto. Das funktioniert ja auch zum Teil ganz gut. Es wird aber ganz wichtig sein, dass der Mensch für sich selbst Verantwortung übernimmt, auch in seinem Lebensstil. Etwa beim Rauchen.
Likar: Wir haben den Tod letztlich zu einer Diagnose gemacht. Menschen, die sterben, können auch ohne Arzt sterben, alles versuchen wir zu therapieren, und wenn wir es nicht therapieren können, dann wollen wir es erfassen. Aber wenn ich das den Angehörigen nicht erkläre und die Verantwortung übernehme, dann kann ich nicht erwarten, dass das verstanden wird.
Pinter: Der Tod ist der Todfeind der Gesundheitsreligion, schreibt Lutz in einem Essay. Aber der Tod ist nicht der Todfeind, der Tod ist da. Mit der Geburt ist auch der Tod impliziert, das ist in der Medizin aber ausgeblendet. Aber den Weg muss jeder gehen. Das ist der Weg, den die Palliativmedizin aufgezeigt hat.
Likar: Ich glaube, was wichtig ist: Zum Hinterfragen solcher komplexen Entscheidungen in den letzten Tagen eines Menschen brauche ich Freunde im medizinischen Team. Da hilft mir keine perfekte Work-Life-Balance, da hilft mir kein Berg, den ich besteige. Da hilft mir nur ein perfektes Team in der Medizin, das ich aufbauen muss. Ich brauche über mein Tun und Handeln Menschen, mit denen ich auch in meiner Freizeit rede.
Pinter: Das geht sich in den aktuellen 48 Stunden Arbeitszeit und bei dem Arbeitsdruck, den die Ärzte haben, nicht aus.
Likar: Genauso ist es. Aber wenn ich nicht reflektiere, und es nicht als Haltung sehe, sondern als Job, dann komme ich nicht weiter.
Pinter: Es braucht einen Systemwandel, wir haben so viele erfahrene tolle Leute in den Häusern, die aber in die Praxis abwandern, weil sie den Druck oder anderes nicht ertragen. Es braucht einen Systemwandel, auch mit uns selber. Dass die Jungen andere Lebensentwürfe haben, das ist so. Wir haben ja noch Prüfungen gehabt, die wir mit und am Patienten präsentieren und beantworten mussten. Stattdessen gibt es heute Multiple Choice-Tests, die der medizinischen Realität nicht entsprechen. Etwa wenn ich heute einen alten, multimorbiden Menschen hernehme, der zuerst einmal 15 Medikamente bekommt – dann ist er erst richtig krank. Es braucht ein Team, ohne Teamwork funktioniert es nicht.
Ist das nicht alles zu viel Verantwortung für den Menschen Mediziner?
Likar: Jungärzte sollte man in der Ausbildung keine ethischen Entscheidungen treffen lassen. Erst, wenn sie Oberärzte sind. Solche Entscheidungen kann man aber nur zu zweit, in einem erfahrenen Team, treffen. Entscheidungen müssen auch mit der Pflege kommuniziert und vom Team getragen werden.
Pinter: Jeder, der in dem Zusammenhang etwas beiträgt, ist wichtig. Die Struktur ist in den Abteilungen da, aber das muss auch inhaltlich von Ärzten und Pflege so getragen und gelebt werden. Der Arzt muss aber den Lead haben. Er ist der, der die Fäden zusammenführt, und er kann sich auch beraten lassen. Etwa von einem Ethikboard.
Likar: Jedes große Haus sollte so ein Ethikboard haben. Nach dem Gesetz steht auch fest: Wir Ärzte müssen entscheiden, weil wir verantwortlich sind. Ich kann die Entscheidung nicht abwälzen. Abzuwarten sind die Auswirkungen zum erweiterten Erwachsenschutzrecht. Ein Angehöriger, der gewählte Erwachsenenvertreter, der den Patienten vertritt, weiß ja nicht, was eine Herzinsuffizienz ist, und warum wir uns so entscheiden.
Pinter: Das neue Erwachsenenschutzrecht bedeutet, dass ich den Willen des Patienten ergründen muss. Im Falle einer Erkrankung wählt man jemanden, der mich vertritt, wenn ich nicht reden, kommunizieren kann.
Likar: Nur als Beispiel: Wenn der gewählte Erwachsenenvertreter sagt, ich darf den Luftröhrenschnitt nicht machen, dann darf ich ihn nicht machen, auch wenn er medizinisch indiziert ist.
Pinter: Quasi jede invasive medizinische Entscheidung wäre abzuklären. Jetzt ist es so, dass man den Willen erkunden muss. Bis jetzt haben Angehörige de facto kein Recht gehabt. Bis jetzt war der Angehörige etc. Auskunftsperson, jetzt muss ich als Arzt im Register nachschauen, wer das ist. Der Erwachsenenvertreter kann zwar nichts einfordern, …
Likar: … aber er kann gewisse medizinische Dinge unterbinden, die ich machen möchte.
Als junger Arzt, der mit der ganzen Technik aufgewachsen ist und jetzt mit immer häufiger werdenden Klagedrohungen gegen Mediziner oder Beeinflussungen der Erwachsenenvertreter befasst ist, würde ich mich ausschließlich auf Leitlinien und technische Hilfsmittel verlassen. Alles andere wäre fahrlässig, denn sobald ich mich von diesem Pfad wegbewege, werde ich angreifbar. Hier ist doch längst der Point of no return erreicht. Es gibt schon auch eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Ärzte zu dem macht, was sie sind.
Likar: Damit werden – wenn man dieser Ansicht folgt – automatisch der menschliche Faktor und die Reflexion des jungen Arztes ausgeschlossen. Ich hatte einmal einen Patienten, der hat in einem langen Behandlungszeitraum nie Danke gesagt. Als es zu Ende ging, bin ich bei ihm gesessen. Wir haben längere Zeit nichts gesprochen, dann hat er plötzlich Danke gesagt. Da habe ich gewusst, er wird gehen. Aber dieses Danke hören, diese menschliche Begegnung, das ist alles vorbei, wenn ich mich ausschließlich auf die Absicherungsmedizin verlasse. Das Danke, von dem wir leben und aus dem wir für unseren Beruf Kraft schöpfen, werden wir dann nicht mehr erleben. Und es wird mich in meiner Entwicklung auch nicht mehr weiterbringen.
Pinter: Das was wir gelernt haben, ist etwas anderes: Mit dem Patienten zu reden, ihn anzufassen, das erwartet er sich auch. Die Anamnese zu machen, weil der Arzt der einzige ist, der Menschen schnell anfassen darf. Kommt er mit Bauchweh, dann muss man den Bauch einmal anschauen, befühlen. Aber was heute viel zu oft passiert: Ab geht’s ins CT, schon aus dem, was wir gesagt haben, aus der Angst heraus, dass man angreifbar wird. Dann stellt sich heraus, dass ohnehin nur die Blase voll war und diese entleert werden muss. Das ist der Klassiker. Aber der menschliche Faktor, das ist das, was zählt. Die Diagnosen werden zu 60% aus der Anamnese, aus der Geschichte des Patienten und der Erfahrung des Arztes heraus gemacht. Und nicht von einer Maschine.
Likar: Karl Kraus hat gesagt: Keiner ist gesund, man ist nur unterdiagnostiziert. Man kann heute ja schon bei jedem von uns irgendeine Diagnose finden. Was Junge machen ist, nach bildgebenden Verfahren und Laborwerten zu entscheiden, ohne auf Signale zu achten, die Haut, die Augen.
Pinter: Klar gesagt werden muss: Die Zeitabläufe sind heute schon anders in der Ausbildung. Die Ausbildung auf den einzelnen Gebieten ist auf Tage geschrumpft. Damals war die Medizin ja noch viel langsamer, heute muss man noch schneller entscheiden. Es hat schon mit den Strukturen zu tun, die Anforderungen haben sich massiv verändert. Und das Anspruchsverhalten der Patienten genauso. Heute geht einer mit einem Schnupfen in die Notaufnahme, wenn er draußen beim niedergelassenen Arzt keinen Termin findet. Und blockiert so wichtige Ressourcen – auch in den Köpfen der Ärzte.
Likar: Das neue Arbeitszeitgesetz mit den kürzeren Arbeitszeiten bedingt, dass der junge Arzt, der heute anfängt, gar nicht mehr die Komplikationen sieht, weil der Patient schon wieder weg ist, wenn er seinen nächsten Dienst antritt. Wenn er nicht nachfragt, dann bekommt er das nicht mit. Auch aufpassen muss man aufs Konkurrenzdenken mit der Pflege, die sich akademisiert, und der Ärzteschaft. Man kann das Ganze ja nur im Team bewältigen. Ich werde nur respektiert, wenn ich die Skills kann. Wenn die Pflegekraft die Skills besser kann, werde ich keinen Respekt bekommen. Da müssen die Ärzte genauso wie die Pflege umdenken – und nur gemeinsam wird es gehen.
Pinter: Es geht um den Respekt füreinander. Die Zeitabläufe werden ja noch schneller, es werden Betten reduziert, die Landärzte werden weniger, und auch für ältere Menschen heißt das, die Medizin wird noch schneller. Das wird eine riesige Herausforderung an die Führungskräfte, die Arbeitsplätze so zu gestalten, dass sich alle noch verwirklichen können. Auch diese Seite wird in der Ethik-Diskussion zu wenig beachtet.
Likar: In der ganzen Spezialisierung schaut es so aus: Jetzt liegt eine alte Patientin bei einem, sagen wir Schulterspezialisten. Sie hat einen Oberschenkelhalsbruch, dazu Hypertonus, schweren Diabetes etc. Das kann einer, der hauptsächlich Schulter-Operationen macht, gar nicht mehr alles therapieren. Weil er es nie gelernt hat. Wir brauchen auch im Krankenhaus neben den Spezialisten die Generalisten. Wenn es so weitergeht, werden wir zwar Superspezialisten haben, aber ohne Generalisten, die die einzelnen Fachgebiete verbinden und einen großen Überblick haben, wird sich die Mortalitätsrate wahrscheinlich erhöhen. Weil das Allgemeinwissen fehlt. Deshalb muss ich schauen, dass ich Allgemeinmediziner im Krankenhaus habe, die Stationsärzte sind.
Pinter: Die Krankenhäuser werden sich neu orientieren müssen. Sozialisiert sind wir mit diesem Pavillion-Denken, jedes Fach hat sein eigenes Haus, aber jetzt mit einem Alterstraumazentrum haben wir zum Beispiel mehrere Fächer zusammengebracht. Da geht es nicht mehr um Grenzen zwischen Anästhesie und Unfallchirurgie und Geriatrie, sondern es geht um einen Prozess, der für den Patienten läuft. Und er bekommt, was er braucht. Das erfordert viel Kommunikation.
Likar: Wir haben uns im Klinikum Klagenfurt als Alterstraumzentrum zertifizieren lassen. So haben wir diesen Prozess aufgebaut. Dinge, die früher vielleicht normal waren, müssen wir heute in einem Zertifizierungsprozess neu aufsetzen, damit das funktioniert.
Pinter: Damit sind wir das erste in Österreich. Wir haben gesehen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen neu strukturiert werden muss, weil der alte, multimorbide Patient, unterschiedlichste Behandlungen braucht. Zu viele Spezialisten können sogar wieder schaden, weil da Medikamente etc. für jedes einzelne Fachgebiet aufgebaut werden. Der alte, multimorbide Patient, braucht eine breite Behandlungsbasis. Das kann ich nur in einem Prozessdenken realisieren. Sonst passiert das, was Rudolf Likar sagt – die Mortalitätsrate wird steigen, wenn man sich nicht für die alten Patienten spezielle Prozesse in der Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen aneignet. Die Gruppe der 85 plus steigt am stärksten. Diese Bevölkerungsgruppe ist vulnerabel und braucht spezielle Zugänge.
Likar: Von einem müssen wir uns auch verabschieden: Wir können nicht alles reparieren. In der Intensivstation sage ich immer: Wenn einer als alter rostiger VW reinkommt, der geht nicht als Porsche raus. Die Menschen glauben aber, wenn er auf Intensiv war, dann kriegen wir ihn besser hin als je zuvor. Wir schaffen aber maximal, den Letztzustand wiederherzustellen. Es gibt eine massive Fehlerwartung an die Medizin. Wir müssen in die Vorsorgemedizin investieren. Wenn es keine Konsequenz hat, dann macht es keiner. Ich kann ja genießen, ich muss aber auch mit Sport gegensteuern. Wir haben ja eine Krankheitsmedizin. Wenn du einen Arzt triffst, bist du krank. Wenn ich 80 bin und ich komme mit einer Gelenksabnützung zum Arzt, dann habe ich eine Arthrose. Wieso kann ich nicht wieder mit einer Gelenksabnützung, die in dem Alter normal ist, wieder rausgehen – ohne Diagnose zur Abrechnung?
Pinter: Weil man das sonst nicht abrechnen kann.
Likar: Klar, auch hier liegt der Hund begraben. Das ist pervers.
Pinter: Wir machen die Menschen krank, weil das System es erfordert.
Likar: Da müssen wir ebenso anfangen umzudenken.
Pinter: Ja, was ist normal im fortgeschrittenen Alter und was nicht? Es braucht viel mehr als ein System. Es braucht jemanden, der nachdenkt, der sich mit dem Patienten befasst. Wir brauchen in der Medizin das Comeback des menschlichen Faktors, den wir schon erwähnt haben. Ohne den wird es nicht mehr gehen. Das war auch die Motivation, dieses Buch zu schreiben, um das Bewusstsein für das Thema zu schaffen – und zu schärfen.
Wie hätten Sie die Fallvignette entschieden?
Likar: Ich hätte mit ihr im Vorfeld in einer Patientenverfügung alles niedergeschrieben. Um nicht wieder einen Intensivaufenthalt zu haben, bei dem alles noch schlechter und schlimmer wird. Sie war ja multimorbid und eingeschränkt. Wenn man es niedergeschrieben hat, nimmt man den Druck heraus – auch die Patientin hat etwas Zeit zu reflektieren. Dann kann man den Weg gemeinsam gehen.
Pinter: Da kann ich nichts hinzufügen, nur ein Beispiel von einem Kongress, auf dem ich war. Ein Arzt hat dort einen Fall präsentiert: Die Patientin schreit, sie hat starke Bauchschmerzen, keine Kommunikation ist mehr möglich. Auf dem Kongress haben dann die Ärzte abgestimmt, was man in diesem Fall tun solle. Die meisten haben entschieden, nichts mehr zu tun, die Schmerzen zu lindern etc. Dann hat der vortragende Arzt das Bild der Patientin hergezeigt. Es war seine eineinhalbjährige Tochter. Das ist das Bild, was ich dazu habe: Es gibt kein Regelwerk, ich muss mir immer wieder von Neuem ein Bild machen, und wenn ich es selber nicht machen kann, dann muss ich andere dazu holen. Primär haben wir die Aufgabe, Leben zu erhalten. Jeder Mensch lebt gerne. Er lebt aber dann nicht gerne, wenn die Lebensqualität nicht das bringt, was er sich vorstellt. Und wenn es keine Hilfe gibt, sind viele dankbar, wenn man sie auf dem letzten Weg auch entsprechend begleitet. Das ist der Zugang. Man schaut hin, was ist das Bessere vom Schlechten, oft gibt es keine andere Wahl. Dieser menschliche Faktor und das Nachdenken sind entscheidend.
Likar: Wir Österreicher sind ja Weltmeister im Fremdbeurteilen. Das ist aber nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist, den Menschen zu fragen, was sein Lebensziel ist, was will er. Wenn es ihm reicht, mit dem Rollator zum Tisch zu fahren, dann machen wir das. Schaffen wir das nicht, dann muss ich den Patienten als Arzt auch darauf aufmerksam machen. Aber das Therapieziel Lebensqualität bestimmt der Betroffene. Das muss nicht Mauritius sein. Sondern vom Bett raus und mit dem Rollator zum Tisch zu fahren. Das »Wie« bestimmt immer der Patient. Reinhören, sich zurücknehmen, nachdenken. Darum geht es.
In Österreichs Spitälern wird gespart, österreichweit gibt es Bestrebungen, bestimmte Medikamente/Therapien nicht mehr zur Verfügung zu stellen: Nach welchen Kriterien finden Sie als kaufmännisch Verantwortlicher den Frieden mit dieser Entscheidung/Fallvignette, wenn es darum geht, einem Menschen zu sagen: »Man sollte nicht mehr therapieren, sondern die Frau in Würde sterben lassen?«
Karl Cernic: Es gibt aus meiner Sicht keine Kriterien, die einen als kaufmännisch Verantwortlichen sogenannten »Frieden« finden lassen. Es ist zudem nicht eine Frage des »Sparens«, sondern eine Frage des Ressourceneinsatzes. Sicherlich sind wir mit steigenden Kosten konfrontiert. Fragen, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, sind in diesem Zusammenhang:
• Welche Leistungen werden an welchem Standort angeboten?
• Welche Struktur/Zentren für eine bestmögliche Versorgung sind zu bilden?
• Welche Kooperationen sind notwendig, um notwendiger Zentralisierung und Regionalisierung Rechnung zu tragen?
• Welche Organisationsformen bieten eine bestmögliche Akutversorgung?
• Welche Versorgungstufen benötigen wir in welchem Ausmaß?
Dies ist ein kleiner Fragenauszug, der in Wirklichkeit viel umfangreicher ist, jedoch zeigen soll, dass die kaufmännisch Verantwortlichen die Pflicht haben, die Infrastruktur und Bedingungen für Medizin und Pflege bereitzustellen, damit diese ihre Leistung erbringen können. Im Grunde genommen ist die Frage nur fachlich-medizinisch und ethisch zu beantworten und nicht kaufmännisch, wichtiger ist der Ressourceneinsatz.
Eine Ärztin hat mir unlängst erklärt, sie sei nicht dafür ausgebildet worden, Menschen zu erklären, dass es keine Therapie mehr gebe, sondern alles zu tun, um Menschen zu helfen, selbst wenn es aussichtslos ist. Wer soll die grundsätzliche Entscheidung tragen, ob Therapien dieser Art eingesetzt werden oder nicht? Die kaufmännisch Verantwortlichen? Doch die Ärzte? Die Politik?
Cernic: Hierbei ist das Rollenbild und Verständnis des Arztseins sicherlich zu hinterfragen, denn wir haben heute, insbesondere bei älteren Menschen in der Versorgung, das Phänomen der Über- und Unterversorgung. Diese multimorbiden Patienten sind oftmals nicht in der Lage, ihre Beschwerden, Schmerzen und Wünsche zu kommunizieren. Die Frage der Angemessenheit und deren Abwägung der weiteren Behandlungsentscheidung kann Ärzten nicht abgenommen werden, es handelt sich hierbei nicht um das Einfordern von Rationierungsentscheidungen, sondern um ethische Entscheidungskompetenz. Aus diesem Grund werden mittlerweile zudem in einigen Krankenhäusern eigene Ethik-Konsile oder Ethik-Boards eingerichtet, sodass Behandlungsentscheidungen gemeinsam (von mehreren Schulten) getragen werden, ob eine Therapiefortführung bzw. ein Therapieende durchgeführt wird. Es wäre zu begrüßen, dass hierbei der Handlungsrahmen seitens der Politik in manchen medizinischen Segmenten stärker definiert wird. Es stellt sich die Frage, ob sozusagen die Behandlung entsprechend Leitlinien und State of the art zukünftig ausreichen wird.
Wie weit spielt der Kostenfaktor in der Entscheidungsfindung in diesem Fall eine Rolle? Aus internen Klinikinformationen und aus internen Akten von Beraterfirmen wird ein Bild gezeichnet, dass solche Entscheidungen sehr wohl durchleuchtet auf den Prüfstand gestellt werden. Welche Rolle spielt der in vielen Ländern gewachsene politische Druck, mehr Einsparungen zu erzielen?
Cernic: Die Kostenfrage ist aus meiner Sicht insofern zu beantworten, dass die Kosten bzw. das Budget immer in der Betriebsführung eines Krankenhauses ein wesentliches Thema ist. Die Erfahrung zeigt, dass in Krankenhäusern, bzw. Abteilungen, welche qualitativ in der Leistungserbringung hochstehend sind (Blutverbrauch, Infektionen, Komplikationsrate, …) und zudem ihre Prozesse, d. h. die Ablauforganisation klar strukturiert (von der Terminvergabe, Aufnahme, Diagnostik, Therapie bis zur Entlassung) und mit eindeutigen Regeln versehen, das Kostenthema nicht das beherrschende Thema ist. Die Wichtigkeit der Qualität und Effizienz stehen hier vor der Kostensituation eher an erster Stelle. Sind zudem Maßnahmen zur Aus- und Fortbildung über das notwendige Maß hinaus wahrgenommen und Interdisziplinarität (Zusammenarbeit der Berufsgruppen und innerhalb der Berufsgruppen) mehr als ein Lippenbekenntnis, sind diese Abteilungen oftmals hocheffizient und halten ihre Budgets ein, bzw. liegen für Steigerungen klare Argumente vor.
Aktuell zwingen natürlich Kostensteigerungen die Abteilungen zunehmend, ihre Abläufe und Qualität der Leistungserbringung zu hinterfragen und diese zu verändern, dass die Effektivität und Effizienz gesteigert wird, sodass eine Steigerung der Ergebnisqualität erzielt werden kann.
Kennen Zahlen in diesen Fällen überhaupt Ethik? Oder muss man erst recht Zahlen einsetzen, weil man angesichts des menschlichen Leids sonst keine Entscheidung treffen kann?
Cernic: Zahlen kennen keine Ethik. Jedoch die Wissenschaft, welche auf Zahlen basiert, gibt uns eine Leitplanke. Bernhard Naunyn tätigte folgende Aussage: »Die Heilkunde wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein! Mir ist es sonnenklar, dass da, wo die Wissenschaft aufhört, nicht die Kunst anfängt, sondern rohe Empiri und das Handwerk.«6
Welches Verhalten und welche vorausschauenden Maßnahmen von Ärzten und Patienten wären sinnvoll und hilfreich, um Entscheidungen zum Lebensende auch zum Wohl des Patienten treffen zu können?
Herbert Janig: Die Fallvignette bietet eine ausführliche Dokumentation des physischen Gesundheitszustandes von Frau Z. aus rein medizinischer Sicht. Die Beschreibung dieses Gesundheitszustandes umfasst – zeitlich gesehen - nicht einmal ein Promille ihres bisherigen Lebens. Was aus der Vignette nicht hervorgeht, welche sonstigen psychischen, sozialen u. a. Umstände ihr Leben charakterisieren: Angehörige außer der erwähnten Tochter? Beziehungen zu diesen? Ökonomische Situation? Hoffnungen, Wünsche, Enttäuschungen etc. ihres bisherigen Lebens? Vorstellungen in Bezug auf das Sterben und den Tod, diesbezügliche Vorsorgemaßnahmen? Pflegerelevante Informationen?
Optimal wäre es, wenn es eine gemeinsame Entscheidung zwischen Ärzten, Pflege, der Patientin und ihrer Angehörigen gäbe und nicht nur eine diesbezügliche »Mitteilung«. Das aber hängt sehr und unmittelbar davon ab, ob und wie die Patientin sich in ihrem bisherigen Leben auf das Sterben und den Tod vorbereitet hat und – vor allem – ob und wie sie diese ihre Entscheidungen, Gefühle wie Ängste und Sorgen, Enttäuschungen und Hoffnungen auch anderen mitzuteilen imstande war. Sofern es Patienten, Ärzten, anderen Behandlern und Angehörigen gelungen ist, schon vor kritischen Entscheidungen gemeinsam festzulegen, was unter bestimmten Umständen zu tun oder zu unterlassen ist – im Sinne des Advance Care Planning – wird es verhältnismäßig leichtfallen, im Sinne des Patienten kritische Entscheidungen zu treffen und zu vermitteln. Im vorliegenden Fall scheint es eine solche vorausschauende Planung nicht gegeben zu haben. Hier können sich Ärzte als Hilfestellung für ihre Entscheidungen am Lebensende von Patienten nur an allgemeinen ethischen Grundprinzipien orientieren. Die vier ethischen Grundprinzipien von Beauchamp und Childress sind als Georgetown-Mantra bekannt geworden: Zu berücksichtigen sind das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (respect for autonomy), das Prinzip der Schadensvermeidung (non-maleficence), das Patientenwohl (beneficence) und die soziale Gerechtigkeit (justice).
So »rückenstärkend« für die ärztliche Entscheidungsfindung das Vorhandensein von und die Orientierung an ethischen Grundprinzipien sein mögen, so schwierig ist es auch in der Umsetzung, und so enttäuschend mag es auch für Patienten und Angehörige sein, denn: wie soll ein Arzt wissen, was der Patient tatsächlich als »Wohl« empfindet, was »Schaden« verursacht, der vermieden werden soll? Ohne, dass der Arzt die näheren Lebensumstände des Patienten kennt, kann er sich nur an seinen eigenen Normen und an Leitlinien oder ähnlichen Vorgaben medizinischer Behandlung orientieren. Will der Patient mehr Autonomie, Selbstbestimmung über sein Leben und Sterben erhalten, steht er in der Pflicht, dies auch zu kommunizieren. Im Wesentlichen geht es auch darum, dass Ärzte zwar die Verpflichtung haben, aber oft einfach keine Zeit, sich wirklich mit den Patienten oder den Angehörigen zu beschäftigen, um die Situation des Patienten zu erfassen. Ich glaube auch, viele Patienten geben sich und ihren Körper beim Arzt ab, gleich wie ein Auto in die Reparaturwerkstatt. Das kann nicht zielführend sein, eine Änderung kann aber auch nicht von außen verordnet werden.
Ist die ethische Entscheidungsfindung auch eine Belastung? Wie bewerten Sie die Vignette vor dem Hintergrund des Gesundheits- und Pflegemanagements?
Olivia Kada: Die Vignette ist aus medizinischer Perspektive verfasst und enthält eine Vielzahl an behandlungsrelevanten Parametern. Für mich ist an der Vignette aber gerade das interessant, was keine Erwähnung findet. So erfahren wir nichts über die Empfindungen, Hoffnungen und Wünsche der Patientin oder ihrer nahen Angehörigen. Es werden medizinische Details und Diagnosen detailliert beschrieben ganz im Sinne von Vulnerabilitäten, ein Blick auf die Ressourcen fehlt.
Der Gerontologe Andreas Kruse verweist nachdrücklich auf die große Bedeutsamkeit rehabilitativer Elemente in der Behandlung hochaltriger Menschen und die damit einhergehende ethische Verantwortung, Autonomie bis zum Lebensende zu erhalten und zu fördern.
Ebenfalls sind keine Informationen vonseiten der nicht-medizinischen Gesundheitsberufe enthalten. Das Thema Sturzprävention – in der Vignette wird von wiederholten Stürzen im häuslichen Umfeld berichtet – als klar interdisziplinäres Arbeitsfeld sei hier nur beispielhaft erwähnt. Das Thema der interdisziplinären Zusammenarbeit stellt auch gleich die Brücke zum jenem Thema dar, mit dem ich mich in diesem Buch auseinandersetzte: Moral Distress.