Etwas verborgen Schönes - Arne Jensen - E-Book

Etwas verborgen Schönes E-Book

Arne Jensen

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Beschreibung

„Wenn man dem Herzen keinen Raum gibt, stirbt es.“

Uckermark, 2022: Ein altes Gutshaus nicht weit vom Nirgendwo entfernt, mitten im Juli. Die Neunzigjährige Ottilie Rabe versammelt ihre weit verzweigte Verwandtschaft, um ihren Nachlass zu regeln. Doch das Treffen reißt alte Wunden auf. Vor allem will sie einem blinden Fleck in ihrer Erinnerung nachgehen. Denn Ottilie hat über Jahrzehnte etwas verheimlicht, und das ist so ungeheuerlich, dass es ihrer aller Leben für immer verändern wird.

Berlin, 1944: Ein hochrangiger Gestapo-Offizier wird tot in seiner Wohnung aufgefunden, er wurde mit einem Hammer erschlagen. Der ermittelnde Kriminalrat Werner Beltheim steht unter großem Druck, den Fall rasch aufzuklären. Dringend tatverdächtig ist die Tochter des Toten, die neben ihm auf einem Hocker sitzt. Ihr Name ist Ottilie Rabe …

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Das Buch:

»Wenn man dem Herzen keinen Raum gibt, stirbt es.«

Uckermark, im Sommer 2022:

Ein altes Gutshaus im Nirgendwo. Ottilie Rabe – von allen Lili genannt – ist über neunzig und muss dringend ihren Nachlass regeln. Auch Lilis Enkelin Nairi macht sich auf den Weg nach Gut Torchau, um ihre geliebte Großmutter zu sehen. Doch das Treffen mit der weit verzweigten Verwandtschaft reißt alte Wunden auf. Denn Lili hat über Jahrzehnte etwas verheimlicht, was so ungeheuerlich ist, dass es ihrer aller Leben für immer verändern wird.

Berlin, 1944:

Ein hochrangiger Gestapo-Offizier wird erschlagen in seiner Wohnung aufgefunden. Kriminalrat Werner Beltheim steht unter großem Druck, den Fall rasch aufzuklären. Dringend tatverdächtig ist die Tochter des Toten, die neben ihm auf einem Hocker sitzt. Ihr Name ist Ottilie Rabe …

Ein Roman über den großen Traum von einem selbstbestimmten Leben.

Der Autor:

Arne Jensen war lange Arzt und in der Traumatherapie tätig und interessierte sich schon früh für die jüngere deutsche Geschichte und deren Folgen für die Nachkriegsgeneration. »Etwas verborgen Schönes« ist sein erster Roman im Heyne Verlag, in den er sein Spezialgebiet familiäre Kriegstraumata einfließen lässt. Arne Jensen lebt mit seiner Familie in Hamburg und in Schleswig-Holstein.

ARNE JENSEN

Etwas verborgen Schönes

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Editorische Notiz

In diesem Roman verwendet der Autor für seine Figuren auch rassistische Wörter und Konzepte, die im Kontext dieser Zeit gebräuchlich waren

Originalausgabe 12/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/Adriana

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28890-7V002

www.heyne.de

All jenen in Bewunderung gewidmet,

die immer wieder den Mut aufbringen,

anders zu sein – auch wenn es schmerzt.

Inspiriert durch wahre Ereignisse.

Weitere wichtige Personen:

Werner Beltheim: Kriminalrat bei der Kripo 1944

Dr. Anna Schönberg: Psychiaterin und Mitarbeiterin beim Reichsgesundheitsamt 1944

Ilse von Gratten: Ottilies Großmutter mütterlicherseits

Norbert von Gratten: derzeitiges Familienoberhaupt der Familie von Gratten, Psychologe

Dr. Eberhard „Ebbi“ Luchtmann: Ottilies Lebensgefährte und Anwalt

Gernot Beyer: Kriminalbeamter des BKA im Ruhestand, jetzt Privatermittler

I

Es gibt Augenblicke, da wir wählen müssen zwischen einem höchst eigenen Leben in Fülle, in Gänze und Vollendung; oder ob wir ein falsches, oberflächliches, entwürdigendes Leben führen wollen, nach dem die Welt in ihrer Heuchelei verlangt.

(Oscar Wilde, 1854 – 1900)

(aus: O. Wilde, Lady Windermere’s Fan, 1893; Übersetzung des Autors)

1

Berlin, April 1944

In der Wohnung roch es stark nach Kohlebrand. Ihre Mutter hatte wohl den Kaminzug etwas zu weit geschlossen. Oder ihr Bruder Ludwig. Zwar gab es in dem modernen Bau bereits eine Zentralheizung, aber in der Stube stand auch noch ein Ofen. Für die Gemütlichkeit. Heute Abend würde es folglich mächtig Ärger geben. Denn ihr Vater mochte den Schwefelgestank der billigen Braunkohle nicht. Und kleine Anlässe genügten, seinen Zorn zu entfachen.

Ottilie stand im Schlafzimmer ihrer Eltern. Alle nannten sie Lili, nur ihr Vater nicht. Ihr Blick war jetzt auf das große Fenster gerichtet, das zum Hinterhof wies. Durch den nur einen Spalt weit geöffneten Fensterflügel drang kühle, feuchte Luft ins Zimmer. Es hatte in den letzten Tagen immer wieder geregnet, jetzt allerdings kam die Sonne durch. Lili fühlte sich unwohl. Es schien, als wäre ihre Aufmerksamkeit in diesem Moment nur auf Kleinigkeiten gelenkt. Spuren von Straßendreck auf den Dielen. Und der Schirm hatte getropft, an der Garderobe im Flur stand sogar eine Wasserpfütze. Ja, Vater würde außer sich sein. Er liebte den hellen, frisch gewachsten Holzboden. Auf der Fensterbank und dem Sims lag etwas Schmutz. Lili erkannte auf der Anrichte eine ältere Ausgabe des Völkischen Beobachters. »Festung Sewastopol uneinnehmbar!«, verkündete das Blatt vollmundig. Winzig kleine Staubkörner schwebten vor ihren Augen, das Licht brach sich an ihnen als heller Pfeil und zeigte auf einen Herrenhalbschuh neben dem Bett. Dort, an dicken, glänzenden Tropfen, flammte es jäh auf in dunklem Rubinrot. Das herrlich feine Hirschleder war sicherlich ruiniert. Die Farben und kleinen Flocken, die neckisch darüber tanzten, gaben allem einen unwirklichen, beinahe zauberhaften Schimmer.

Rubin und Silberfaden, dachte sie und erinnerte sich an die Märchen, die ihre Großmutter so oft erzählt hatte. Die Edelsteine wurden von Feen im letzten Glühen des Abendlichts erschaffen, hatte sie gesagt. Und das feine Metall wurde von ihnen aus dem Tau der Wiesen am Morgen gesponnen. Vielleicht schützte dieses geheime Wissen den Menschen vor dem Irrsinn der Wirklichkeit? Ihr Onkel hatte zu Märchenmusik getanzt. Vor dem Krieg. Lili drückte das Paar abgetragener Spitzenschuhe an sich. Onkel Anton hatte schon immer Leinen bevorzugt. Folglich musste sie besonders achtgeben, denn ihre Hände waren schmutzig geworden. Mit Sorge musterte sie einen kleinen, roten Fleck auf dem Stoff. Sie würde Oma fragen, wie sie ihn wieder herausbekäme.

Während die junge Frau nur dastand, wanderte der Lichtpfeil langsam weiter zum Kopfende des Bettes. Der Körper des Vaters lag seltsam verrenkt, ein Arm auf dem Nachttisch, als hätte er eben nach einem Buch greifen wollen. Die Strahlen des harten Sonnenlichts spiegelten sich im Glas der teuren Armbanduhr. Es war gesprungen. Wie kleine Adern strebten die Risse einer Mitte zu. Fast perfekt, nur im Bereich der Zeiger waren sie leicht verschoben und eingedrückt. Lili bemerkte einen Schimmer in den Augen ihres Vaters. In ihnen lag ein Staunen, als hätten sie den Sinn des Lebens im letzten Augenblick noch erfasst. Doch sie waren trüb, in der Tiefe war nur noch ein bleiches Blau zu erahnen.

Lilis Verstand schien auf seltsame Weise blockiert. Alle Eindrücke blieben irgendwie stecken. Ihre Augen sahen zwar, ihre Ohren hörten. Sie spürte den Luftzug durch das Fenster und nahm den ungewöhnlichen Geruch im Zimmer wahr. Aber ihr Geist und ihre Sinne spielten ihr Streiche. Als würden innen und außen verschwimmen.

Und dann plötzlich drang der Lärm doch zu ihr durch. Die Sirenen. Was geschah da draußen? Ging es sie etwas an? Nur die Öffentliche Vorwarnung, also noch kein Grund zur Sorge für die Bewohner der umliegenden Straßen. Dennoch lösten die Geräusche Unbehagen in Lili aus, denn sie kündigten das große Unheil, den nahenden Tod, an. Ihr Heranwachsen in dieser Stadt war seit Jahren begleitet gewesen von den Ängsten der Familien und der Trauer der Witwen. Das Grauen war jedoch in den letzten Monaten immer näher gekommen. Nicht nur die Front im Osten. Der Tod in Berlin schoss jetzt aus den Wolken. Luftalarm bedeutete, dass es jeden überall zu jeder Zeit erwischen konnte. Aber obwohl Lili erst sechzehn war, wusste sie, dass das Ende auch Trost bedeuten konnte. Es hatte viele Freitode in der Stadt gegeben. Gequälte Menschen, die in ihrer Verzweiflung nicht weiterwussten, sich in die Spree oder vor die Hochbahn warfen. Soldaten auf Heimaturlaub hatten eher sich und ihre Geliebte erschossen, als wieder an die Front zurückkehren zu müssen. Natürlich stand so etwas nicht im Völkischen Beobachter. Oma Ilse hatte ein paar schlimme Geschichten erzählt. Und die wenigen Andeutungen aus den Briefen ihres Onkels reichten aus, dass Lili sich vorstellen konnte, wie grausam es an der Front zuging.

Vielleicht hätte sie in diesem Moment etwas fühlen müssen. Trauer und Entsetzen? Angst? Oder wenigstens eine Abscheu, denn hier lag doch der eigene Vater! Zerschlagen in seinem Blut. Eine Gestalt, die im Leben so bedrohlich gewesen war. Lili betrachtete seine bleichen Hände, feingliedrig und fast zart. Und doch brutal. Wie oft hatten sie zugeschlagen? War es also Erleichterung, die sie verspürte? Sie wusste es nicht, denn alle Gefühle schienen durch eine Art innere Erstarrung unzugänglich.

Zwölf Sekunden tönte draußen der Alarm. Und unten im Hof, auf der Straße ging das Leben weiter, als wäre nichts gewesen. Vielleicht konnte auch sie einfach in die Küche gehen? Oder ein paar Tanzschritte in ihrem Zimmer üben? Dort, in Richtung Innenhof, war das Jaulen etwas gedämpfter zu hören. Dann kamen zwölf Sekunden Grabesstille. Es war, als hielte die Volksgemeinschaft den Atem an. Wieder der Lärm. Und die letzten zwölf Sekunden waren immer die längsten, denn mit ihnen setzten die bangen Fragen ein: Kommt der richtige Alarm? Aus welcher Richtung fliegen sie ein? Wer ist heute dran?

Die Meldung im Drahtfunk verhieß nichts Gutes. Waren Luftangriffe zu befürchten, dann wurde der Rundfunkbetrieb abgeschaltet und durch das Telefonnetz »über Draht« ersetzt. Wer einen Anschluss und ein Gerät hatte, musste es einschalten und die Meldungen mithören. Natürlich hatte ihr Vater von seiner Dienststelle einen modernen Apparat erhalten, der nicht mühsam von Hand umgeschaltet werden musste. Ein schnöder Volksempfänger wäre auch unter seiner Würde gewesen. Das hübsche Gerät von Philips hatte Lili von Anfang an fasziniert. Die Frequenzwählscheibe zeigte nämlich die Namen vieler Orte, die zum Träumen einluden: Lissabon, Neapel, Budapest, Tallin, Rom, Paris. Das Radio stand auf einer Anrichte in der Stube nahe der Tür, sodass es bei Bedarf überall in der Wohnung gut zu hören war. Nun krächzte die Stimme des Rundfunksprechers aus dem Lautsprecher: »Achtung! Achtung! Hier spricht das Flugüberwachungskommando Berlin. Wir bringen eine Luftlagemeldung. Feindliche Bomberverbände befinden sich über dem Raum Braunschweig im Anflug auf die Reichshauptstadt. Wir melden uns in Kürze wieder.«

Ihr Vater hatte auf dem Amt natürlich wieder früher von dem bevorstehenden Angriff erfahren und war aus dem Dienstgebäude an der Prinz-Albrecht-Straße nach Hause in ihre Wohnung in der Nähe des noblen Belle-Alliance-Platzes geeilt. So bekam die Familie immer die besten Plätze im Bunker an der U-Bahn-Station Kaiserhof. Oft ließ er sie auch einfach durch einen Fahrer abholen, und sie nutzten die Schutzbauten des Reichssicherheitshauptamtes, die einem unterirdischen Hotelbetrieb ähnelten.

Als ihr Vater vor einiger Zeit stark angetrunken gewesen war, hatte er bei Freunden damit geprahlt, dass der Sicherheitsdienst auf allen englischen Flugplätzen Spione beschäftigte. »Wir wissen schon alles«, pflegte er zu sagen. »Der Sicherheitsdienst kennt bereits alle Frontbewegungen, bevor die erste Granate einschlägt. Bevor Schütze Arsch überhaupt bemerkt, dass ihm die Sohlen brennen. Wir wissen sogar, welches Mundwasser Zarah Leander benutzt. Von Stalins Klopapier ganz zu schweigen.«

Lili stand da, den Mund halb geöffnet, den Blick starr nach vorn gerichtet, und sie war unfähig, sich zu bewegen. Die Welt schien stillzustehen. So wie neulich im Astor-Kino am Kurfürstendamm. Der Film mit Hans Albers. Das Bild hatte plötzlich angehalten. Gerade in dem Augenblick, da Albers eine Liebeserklärung hauchen wollte. Seltsam dämlich hatte er ausgesehen mit seinem halb offenen Mund und den herabgesunkenen Lidern. Nach einem Moment des Stillstands war dann das Zelluloid geschmolzen. Albers hatte sich einfach in der Hitze aufgelöst. Erst war nur ein Punkt auf seiner Wange erschienen. Ein Loch, das schnell größer wurde. Dann hatte sich die Szene in einer kleinen Stichflamme aufgelöst. Vielleicht stammte auch das Bild in diesem Schlafzimmer nur aus einem Film. Vielleicht war es gar nicht real? Vielleicht würde es sich einfach auflösen, bevor es sich für immer in ihren Verstand eingrub. Vielleicht war es nur ein Kerzenschatten, der mit dem Erlöschen des Dochts verschwand und das Grauen mit sich nahm.

Plötzlich hörte sie ihren Namen. Leise und doch energisch.

»Lili! In den Flur. Komm schon!«

Oder bildete sie sich diese bekannte Stimme nur ein?

»Herrgott, komm endlich!«

Schließlich leistete sie dem heftigen Drängen Folge. Im Treppenhaus war es gespenstisch still. War mittlerweile der Vollalarm ausgelöst worden? Sonst klackten doch wenigstens die Blechklappen der Sehschlitze an den anderen Türen, wenn jemand im Hausflur stand. Nichts. Jemand packte Lili am Arm, zog sie hinab bis zum ersten Stock, aber dort riss sie sich los.

»Die Schuhe!«, rief sie so laut, dass ihre Stimme durch das gesamte Haus hallte. Sie rannte wieder nach oben. Ihr Rock hob und senkte sich, als sie immer zwei Stufen gleichzeitig nahm. Wenig damenhaft. Sie hinkte, als sie wieder in das Schlafzimmer trat, war erleichtert. Denn dort auf dem Bett, am Fußende lagen die Ballettschuhe. Noch völlig außer Atem drückte sie sie fest an sich.

Die Dielen knarrten. Sie sprachen zu ihr. Wie oft hatte sie diesen Stimmen gelauscht, wenn sie nachts weinend im Bett lag? Kleines Mädchen, sei nicht traurig, hatten sie ihr zugeraunt. Du bist doch schön. Und wunderbar. Schau her, wir trösten dich, wenn es kein anderer tut. Maikäfer, flieg! In eine Welt ohne Schmerz und harte Worte.

Da waren aber auch die anderen Stimmen. Die dunklen, die bösen. Nein, du dummes, hässliches Kind. Strafen werde ich dich! Denn du bist ein Teufel im Weibergewand. Du bist nur Dreck, Unrat. Unnütze Fresserin, ekelhafte Kreatur, nicht nur Wechselbalg, sondern Hautwechsler. Und des Vaters Hand zerdrückte den feinen, kleinen Käfer im Mai. Lachend.

Lili wiegte sich im Stehen, als lauschte sie dem Schlaflied, das ihre Mutter in fernen Tagen gesungen hatte. Sie verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Knarz. Und zurück. Knack. Hier roch es noch immer seltsam. Der Kohlebrand. Knarz und Knack. Aber da drang noch etwas anderes an die Nase, etwas beinahe Tierisches.

Schreie. Tumult. Entsetzte Nachbarn standen plötzlich im Flur der Wohnung, spähten voller Neugier und Abscheu hinein. Zentimeter für Zentimeter hatten sie sich vorgeschoben, Würmern gleich. Hatten sich gegenseitig Mut zugesprochen und eindringlich die Pflichten guter, deutscher Nachbarn betont. Der Blockleiter Baumann bellte Befehle. »Lüders zu mir!«

Der einäugige Versehrte aus dem Ersten Weltkrieg, der in der immer größer werdenden Menschentraube ganz hinten gestanden hatte, nahm zunächst Haltung an. Dann bemerkte er offenbar, dass er von seinem Standort aus dem Befehl nicht Folge leisten konnte, und schob sich vor.

»Platz da, Leute. Ich bekomme Weisung!«, rief er stolz.

»Zum Edeka runter!« rief Baumann. »Lassen Sie sich mit dem Fernsprechapparat 16 43 11 verbinden. 16 43 11. Das ist die Kriminalpolizei am Werderschen Markt. Verstanden, Lüders?«

Der Mann nickte, stand wieder stramm.

»Gut, Lüders. Melden Sie ein Gewaltverbrechen. Ab!«

Da! Fliegeralarm. Nun wurde es wirklich ernst. Die innere Spannung der Leute im Raum stieg im Gleichklang mit den Sirenen. Wieder eine Meldung über den Drahtfunk:

»Achtung! Achtung! Hier spricht das Flugüberwachungskommando Berlin. Wir geben eine Luftlagemeldung! Der gemeldete Verband Feindflugzeuge hat seinen Kurs beibehalten und befindet sich jetzt im Anflug auf die Reichshauptstadt. Wir melden uns in Kürze wieder.«

Lili begann zu weinen. Sie rief nach ihrer Mutter, und dann bemerkte sie, wie ihr feines Höschen nass wurde. Der Urin bildete einen kurzen Moment lang eine Pfütze auf den gebohnerten Bodendielen. Und im nächsten Augenblick schon verteilte er sich in den Holzritzen. Das Rinnsal nahm Kurs auf das große Rote, das sich von rechts langsam vorschob. Als wollten sich die Säfte dort unten vereinen. Wie viel Zeit war denn vergangen? Ein Wimpernschlag? Eine Ewigkeit?

»Wo ist denn die Mutter?«, rief jemand.

Wie durch einen Schleier nahm Lili die Welt um sich herum wahr. Alles schien verschwommen, leicht unscharf. Und es war, als steckte Watte in ihren Ohren.

»Ruft doch endlich einen Arzt!« Frau Wenders. Sie war nett.

»Der Hammer! Mein Gott, der Hammer.«

»Man wird hier alles auf den Kopf stellen!«

»Ich habe nichts zu verbergen.« Grollberg aus der Mansarde.

»Ruhe, Volksgenossen«, ging der Blockleiter dazwischen. »Wir können uns jetzt keine Unruhe leisten. Jeden Moment kann …«

Als wollte ihm die Stadt da draußen recht geben, erklangen zwei kurze Alarmtöne.

»Achtung! Achtung! Hier spricht das Flugüberwachungskommando Berlin. Wir geben eine Luftlagemeldung! Luftlage 15. Die gemeldeten Feindflugzeuge befinden sich jetzt im Anflug auf die Reichshauptstadt. Ich wiederhole. Luftlage 15.«

»Luftgefahr!«, rief jemand. Der Luftschutzwart. »Ruhe bewahren. Ihr habt es gehört, Kameraden! Wir haben eine Viertelstunde, dann knallt es hier. Ab jetzt übernehme ich, Kamerad Baumann. In fünf Minuten will ich jeden bei den Schutzräumen sehen. Volle Ausrüstung. Heute ist Kontrolle. Ist das klar? Baumann, Sie prüfen am Einlass. Los, los. Was steht ihr noch herum?«

Da. Die Hausgemeinschaft lauschte einige Sekunden, alle Hälse schienen sich nach Südwesten zu recken, länger zu werden in Erwartung des Schreckens.

In der Ferne war bereits das Knattern der Flak zu hören. Draußen auf der Straße blökte das Bosch-Horn eines Hanomag, dessen Fahrer wohl hoffte, noch sicher in einer Halle oder Tordurchfahrt unterzukommen. Ungeduldiges Fahrradklingeln durchzog das Viertel, es wurde geschimpft und befohlen. Dazu gaben die Kaliber 88 mm aus Lichterfelde und 105 mm von der Batterie Düppel ihr Grollen. Zeitzünder oder Kontaktzünder. Ein hohes Surren. Dann kam das typische Wump. Armer Maikäfer. Berlin schoss sich ein.

Das Blut am Boden erreichte den Fuß des Mädchens.

2

Berlin, September 1944

Kriminalrat Werner Beltheim spürte, dass seine Anspannung von Minute zu Minute wuchs. Er ging im Flur des Gerichtsgebäudes Moabit unruhig auf und ab, sprach hin und wieder mit sich selbst oder schüttelte den Kopf. Bis zur Verhandlung gegen Ottilie Rabe waren es noch etwa zehn Minuten. Er und die Psychiaterin Dr. Anna Schönberg waren als Zeugen geladen. Immer wenn er sich auf die Bank setzte, schien es, als ließen ihn glühende Kohlen nach ein paar Sekunden wieder aufspringen. Das letzte Mal hatte er sich so gefühlt, als seine Tochter zur Welt gekommen war.

Es schien, als wären seine Bemühungen letztlich doch umsonst gewesen. Dabei hatte er versucht, die junge Frau zu schützen, und gehofft, dass er ihr einen Prozess ersparen konnte. Er war auch für sich selbst ein hohes Risiko eingegangen. Wenn aufflog, dass er Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes belogen hatte, dann sah es schlecht aus. Mit einer Versetzung an die Front könnte er vielleicht noch umgehen, aber seit dem Attentat auf den Führer waren auch die Familien unliebsamer Volksgenossen nicht mehr vor Verfolgung sicher. Er schwitzte und rieb sich die feuchten Hände.

Als leitender Ermittlungsbeamter in der Sache Walter Rabe hatte er die wichtigsten Dokumente mitgebracht, obwohl dem Gericht alle relevanten Beweismittel in Abschrift zugegangen waren. Mehr als vier Monate hatte ihn der Fall beschäftigt. Gegen die Widerstände aus Partei und Sicherheitsdienst hatte er versucht, einfach ordentliche Kripoarbeit zu leisten. Er kannte alle Indizien, Beweise und Verhörprotokolle. Hypothesen hatte er entwickelt und später verworfen. Und einen kurzen Moment lang hatte es so ausgesehen, als ob er und die Ärztin der jungen Frau würden helfen können.

»Sondergericht, Anna! Sondergericht!«, flüsterte er leise, aber eindringlich. Verzweiflung lag in seiner Stimme.

Dr. Schönberg saß neben ihm und nickte stumm. Sie kannte den älteren Mann seit über zehn Jahren, und zwischen ihnen hatte sich eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt.

»Sie wird es schaffen«, meinte sie. In ihrer Beziehung zueinander war sie der besonnenere Part. Und Beltheim wusste natürlich, dass sie ihn nur beruhigen wollte. »Setz dich, Werner. Du machst mich nervös.«

»Warum nicht Jugendgericht? Sie ist erst sechzehn.« Der Polizist sprach mehr zu sich selbst, denn eigentlich kannte der die Antwort.

»Was hast du erwartet, Werner? Den Tod eines Parteimitglieds und Mitarbeiters des Sicherheitsdiensts werden diese Leute nicht mit einem Verweis und drei Wochen Jugendarrest durchgehen lassen.«

Diese Leute. Beide wussten, dass eine derartige Bemerkung heutzutage ausreichen konnte, um von der Gestapo eingehend befragt zu werden. Diese Leute, das waren die ganz Strammen, die Verbohrten und besonders Harten. Die Endsieg-Apostel und Parteifanatiker. Beltheim ballte bei diesen Gedanken die Fäuste, bis die Knöchel weiß wurden und schmerzten. Denn seit Jahren fragte er sich mit immer größerer Verbitterung, was ihn eigentlich von diesen Leuten unterschied. Dabei hatte er anfangs noch geglaubt, er könnte die Dinge anders machen. Nun kam jedoch noch ein neues Gefühl hinzu. Durch Ottilies Verurteilung rückte die Sache verdammt nah an ihn heran. Bisher war er nur der Ermittler gewesen. Zumindest nach außen unbeteiligt. Nun aber konnten ihm die Leute vom Sicherheitsdienst – er scheute sich von jeher, sie Kollegen zu nennen – auch persönlich an den Karren fahren. Der innere Zwiespalt war kaum zu ertragen. Er wollte dieser Frau, Ottilie Rabe, helfen. Aber er wollte sich und seine Familie nicht in Gefahr bringen. Er musste eine Entscheidung treffen.

»Ich werde mir etwas ausdenken, Anna«, sagte er und gab sich entschlossener, als er es war. »Mir fällt schon etwas ein. Irgendetwas, damit man sie in Ruhe lässt!«

»Nein, das wirst du nicht tun«, entgegnete Schönberg. »Du reitest dich damit auch in die Grütze. Und für Ottilie wird es in ein paar Wochen nur umso schlimmer.«

»Es ist so weit.« Ein hagerer Mann in Anwaltsrobe hinkte ihnen entgegen. Ottilies Verteidiger. Er wirkte bieder und still, fast unterwürfig. Aber Klara Rabe hatte für ihre Tochter den besten Strafverteidiger verpflichtet, den Berlin derzeit zu bieten hatte. Beltheim wusste, dass der Mann zum Dunstkreis um den berühmten Anwalt Rudolf Dix gehörte, der mit einer eleganten Mischung aus Kritik und Opportunismus manchen Mandanten vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Allerdings hatte er im Laufe der Prozessvorbereitungen den Eindruck gehabt, der Mann wäre als Gärtner besser geeignet, seine Mandanten zu unterstützen.

Ruhig durchatmen, ermahnte er sich und spürte Annas Hand auf seinem Unterarm. Der Mann tut, was er kann. Wenn er dem Richter oder Beobachter von der Partei zu dumm kommt, landet er an der Front.

»Verhandelt wird der Fall 44/10 Strich R 19. Das Reich gegen Ottilie Rabe.« Wie zur Bestätigung krähte jetzt ein greiser Gerichtsdiener den Aufruf zum Beginn der Sitzung in den zugigen Flur. »Das ehrenwerte Gericht tagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zutritt nur für Prozessbeteiligte, geladene Zeugen und Beobachter.«

Die Verhandlung gegen Ottilie Rabe geriet zu einer Farce. Beltheim war vom Sicherheitsdienst instruiert worden, was er sagen durfte. Und was nicht. Wenn er nicht spurte, drohte ihm die Entlassung. Vielleicht sogar eine Versetzung an die Front. Der Beobachter der NSDAP saß neben einer Sekretärin, die das Protokoll führte. Wenn er einen Finger hob, unterbrach sie ihr Tippen. Und setzte erst wieder an, wenn er ein weiteres Zeichen gab. Mehrere Zeugen, die der Kriminalkommissar nie zuvor gesehen hatte, bekundeten zu Beginn des Prozesses Ottilies schlechten Leumund, ihre Aufsässigkeit und die mangelnde Bereitschaft, der Volksgemeinschaft dienlich zu sein. Mehrmals gelang es dem Verteidiger, die Zeugen in Widersprüche zu verwickeln. Aber jedes Mal unterbrach der Parteibeisitzer die Mitschrift, einmal wandte er sich sogar direkt an den Richter und schien ihm zu soufflieren. Dann verlas der Vorsitzende ein polizeiliches Protokoll zum Tathergang, das Beltheim – obwohl er der leitende Ermittler in dieser Angelegenheit war – in dieser Form nie zu Gesicht bekommen hatte. Auch hier verwies Ottilies Anwalt auf Unstimmigkeiten, wurde aber rüde vom Vertreter der Anklage zurechtgewiesen.

»Gerade in dieser schweren Zeit, einer Zeit, die Führer und Volk im Ringen um den edelsten Sieg zusammenschweißt, stehen die Ermittlungen und Rechtsprechung im Dienst der höheren Sache«, tönte der Reichsanwalt. »Sie werden sich diesem Dienst doch wohl nicht verweigern, Herr Kollege?«, schob er in drohendem Tonfall nach und sah zum Parteibeobachter, der sich eigene Notizen machte. »Wir können nicht auf Punkt und Komma achten, wenn es um die eine, doch so offensichtliche Wahrheit geht. Kleinsinn ist Zersetzung! Recht schützt das Ganze, nicht den Einzelnen. Und Urteile werden im Sinne völkisch-germanischen Brauchtums zum Wohle der Gemeinschaft gesprochen.«

Ottilies Verteidiger protestierte vehement und verlangte eine Unterbrechung, die ihm jedoch nicht gewährt wurde. Stattdessen sollte Ottilie abschließend zu den Anschuldigungen Stellung nehmen.

»Fräulein Rabe, was haben Sie zu den gegen Sie erhobenen Vorwürfen zu sagen?«, fragte der Vorsitzende Richter Römmele. Im Alltag wurden alle jungen Menschen geduzt, aber hier vor Gericht waren der Abstand und die Einschüchterung durch eine förmliche Anrede natürlich beabsichtigt.

Der Mann schob seinen massigen Oberkörper nach vorn. Da er ohnehin erhöht saß, wirkte er nun beinahe bedrohlich. Beltheim hatte kurz vor dem Verfahren herausgefunden, dass Dr. jur. Karl-Heinz Römmele sehr aktiv im Rechtswahrerbund auftrat, mehrmals in Fachartikeln die Bedeutung einer harten Rechtsprechung für den Endsieg hervorgehoben hatte und natürlich Parteimitglied war.

»Ich weiß nicht«, antwortete die junge Frau nach einigem Zögern. »Ich kann mich kaum erinnern. Vater kam nach Hause … Es sollte Alarm geben. Ich war … Da war Blut …«

»Schildern Sie, was geschehen ist!«

»Ich weiß es wirklich nicht mehr. Diese Leute haben mich aus dem Zimmer geschoben. Danach. Ich meine, unsere Nachbarn. Oder die Polizei.« Sie blickte Hilfe suchend zu Beltheim. »Vorher war ich in meinem Zimmer. Im Schlafzimmer lag Papa. Ich … Es ist fast so, als wäre bei einer Filmvorführung der Strom ausgefallen.«

»Sie können sich an den Tod Ihres Vaters nicht erinnern?«, fragte der Vorsitzende mit sarkastischem Unterton. Dabei ließ er die Stimme zum Ende der Frage eine Oktave höher klingen. Eine Unart, die er sich bei Richter Freisler vom Volksgerichtshof abgeschaut hatte. »Können Sie sich denn überhaupt an etwas aus Ihrem Leben erinnern, Fräulein? Etwa an Ihr unzüchtiges Auftreten? An Ihr Fernbleiben von der Schule? Sie scheinen mir ein recht flatterhaftes Vögelchen zu sein.« Er lachte, und sowohl der Reichsanwalt als auch der Beobachter stimmten pflichtgemäß ein.

Beltheim wäre am liebsten aufgesprungen. Die Zuständigkeit eines Sondergerichts für jugendliche Straftäter war eine komplizierte Angelegenheit. Die Angeklagte konnte auf diese Weise als Jugendliche nach Erwachsenenrecht abgeurteilt werden. Als Gründe wurden fast immer eine Veranlagung zum »Schwer- und Berufsverbrecher«, zu »asozialem Verhalten« oder die »Schädigung der Volksgemeinschaft« angegeben. Das Strafmaß war ähnlich hoch wie bei Volljährigen. Immerhin durfte es für »die deutsche Frau« – so die Weisung des Führers Adolf Hitler – nicht die Todesstrafe geben.

»Herr Vorsitzender, ich darf auf das ärztliche Gutachten verweisen«, versuchte Ottilie Rabes Verteidiger erneut einen Einwand. »Außergewöhnliche Belastungen können die Erinnerung massiv beeinträchtigen. Die …«

»Papperlapapp. Die Fakten zählen«, unterbrach ihn Römmele. »Niemand kann irgendwo sein und irgendetwas tun, ohne sich daran zu erinnern! Außer …« Seine Stimme wurde gefährlich leise. »Außer er oder sie ist schwachsinnig.«

Anna Schönberg stöhnte leise auf. Alle im Saal schienen zu wissen, was es bedeuten würde, käme man hier auf die Idee, Ottilie Rabe doch noch für geisteskrank zu erklären. Sie würde in einer dieser »Anstalten« verschwinden. Bei ihrer Befragung versuchte die Ärztin deshalb, diesen Verdacht mit Nachdruck auszuräumen.

»Ottilie ist bei klarem Verstand«, erklärte die Psychiaterin im Zeugenstand. »Ihre Leistungen in der Schule liegen im oberen Mittelfeld. Für die Aussetzer ihrer Erinnerung gibt es plausible Erklärungen. Hochrangige Kapazitäten der Nervenheilkunde …«

»Jüdischer Unfug, Herr Vorsitzender!«, ging der Staatsanwalt dazwischen. »Mir sind die Arbeiten dieser sogenannten Fachleute sehr wohl bekannt. Eine Zersetzung deutschen Geistes. Zeugin! Wagen Sie es nicht, das Ansehen dieses Gerichts durch Verweise auf derart undeutsche Schriften zu beleidigen!«

»Sie wollen doch Professor de Crinis von der Charité nicht als undeutsch oder gar jüdisch bezeichnen?«, gab Schönberg zurück.

»Ja, ja. Nehmen wir einmal an, es gibt diese Aussetzer des Gehirns, wie Sie in Ihrem Gutachten behaupten, Frau Doktor«, meinte der Richter. »Die Angeklagte wurde am Tatort aufgegriffen. Sie stand neben dem Leichnam ihres Vaters, die Hand blutbesudelt. Da brauche ich keine Erinnerung der Verdächtigen, um eins und eins zusammenzuzählen!«

»Verzeihung, Herr Vorsitzender«, warf der Verteidiger zögerlich ein. »In dieser Frage muss der Zeuge Beltheim gehört werden. Schließlich war er es, der die Ermittlung von Anfang an geführt hat. Eine Entscheidung nach Aktenlage führt zu fehlerhafter Einschätzung.«

Kriminalrat Beltheim spürte ein Stechen in der Brust. In ihm baute sich eine seltsame Mischung aus Zorn und Furcht auf. Er verabscheute derartige Situationen, die ihm seine eigene Ohnmacht vor Augen führten. Er konnte gegenüber Vorgesetzten durchaus laut werden, wenn er sich überfahren fühlte. Aber wie sollte er hier reagieren? Zehn Jahre hatte er sich in diesem Staat bedeckt gehalten, meistens still seine Arbeit getan. Er hatte Kaiserreich und Republik erlebt. Und irgendwann würden auch dieser Krieg und der Führerspuk zu Ende gehen, sagte er sich oft. Bloß nicht auffallen. Und dennoch sauber bleiben. Für Ottilie Rabe hatte er sich mächtig aus dem Fenster gehängt. Er mochte diese junge Frau. Und er mochte es nicht, dass Parteiinteressen und Ideologie ihr das Leben verpfuschen konnten. Andererseits wurde sein Auftritt hier vor Gericht vom Beobachter der NSDAP genau registriert. Der Mann würde sicherlich eine Beurteilung schreiben. Und die Folgen für Beltheim und seine Familie waren kaum abzusehen.

»Sehr gut«, unterstützte der Richter ausnahmsweise den Vorschlag der Verteidigung. »Die deutsche Kriminalpolizei ist unbestechlich und unerbitterlich!«

Beltheim versuchte behutsam, die gröbsten Verdrehungen im Bericht zu korrigieren, wurde jedoch bei seiner Befragung mehrmals ermahnt, bei der Sache zu bleiben. Jede Äußerung von Zweifel an den Indizien wurde vom Staatsanwalt mit Einsprüchen zurückgewiesen, denen der Richter jedes Mal stattgab. Der Parteibeobachter hob derart oft den Finger, dass die Protokollführerin wohl kaum zwei Zeilen zu Beltheims Zeugenaussage niederschreiben konnte. Es schien, als sollte auch seine Aussage nur bestätigen, was in den Köpfen der Anklagevertreter bereits zementiert war.

»Das gesamte bisherige Leben der Angeklagten ist ein klarer Verstoß gegen alles, wofür unser neues System steht«, meinte der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer. Der ältere Jurist war eigens aus Leipzig von der Reichsanwaltschaft am dortigen Reichsgericht angereist. »Uns liegen zudem einige Hinweise auf rassenbiologische Fragen vor, die in naher Zukunft noch zu überprüfen sind. Natürlich würde die Feststellung einer rassischen Minderwertigkeit die eindeutig vorliegende …« Er schnaubte verächtlich. »… starke, asoziale Komponente erklären. Es gibt außerdem noch Klärungsbedarf auf polizeilicher Seite. Zeugen berichten von heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Angeklagten und ihrem Vater. Sogar die Mutter Klara Rabe wurde verletzt! Ottilie Rabe widersetzte sich den Forderungen des Opfers, sich medizinisch untersuchen zu lassen. Sie lehnte jeden Versuch ab, eine Besserung ihrer abnormen Haltung und Eingliederung in die Gemeinschaft zu erreichen. Somit ist unzweifelhaft festzustellen, dass die Angeklagte wenigstens eine Mitschuld am Tode ihres Vaters, des mehrfach belobigten, angesehenen Parteimitglieds und Mitarbeiters der Sicherheitsbehörden Walter Rabe, trägt. Strafmildernd setze ich die offenkundige soziale Unreife und das Alter der Angeklagten an. Ich fordere deshalb die Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren.«

Es ging ein ungläubiges Raunen durch die Reihe der wenigen Anwesenden. Ottilie Rabe schluchzte, Beltheim fluchte leise. Der Verteidiger wurde offenbar ebenfalls vom geforderten Strafmaß überrascht und ließ vor Schreck seine Aktenmappe fallen.

»Ruhe in meinem Gericht!« schnauzte Richter Römmele und schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »Herr Verteidiger, hätten Sie die Güte, sich und Ihre Unterlagen zu sammeln? Wir haben heute noch anderes vor. Ich gebe Ihnen für den Schlussvortrag zwei Minuten. Der gesamte Kasus atmet den Geist einer widernatürlichen Unordnung. Ihr Blätterhaufen spricht Bände. Es reicht mir, die Zeit läuft!« Er sah demonstrativ auf seine Uhr. »Ich warte auf Ihr Plädoyer!«

Ottilies Rechtsbeistand gab den Versuch auf, die Aktenblätter zu ordnen. Er sah kurz zu dem Kripobeamten, als erhoffte er sich von ihm Unterstützung. Aber dann setzte er zu seinem Vortrag an, in dem er alle Zweifel an der Schuld der Angeklagten zusammenfassen wollte. Er hielt dabei die Augen geschlossen, wirkte hochkonzentriert. Beltheim wusste, dass jedes Wort wichtig – aber auch gefährlich – sein konnte.

»Erstens: Ich muss an dieser Stelle klarstellen, dass jede Form körperlicher Gewalt in der Vergangenheit nachweislich und ausschließlich vom Opfer ausging. Zweitens: Meine Mandantin wurde zwar am Tatort aufgegriffen, aber dieser Umstand lässt nicht auf ihre Täterschaft schlussfolgern. Drittens: Das rechtsmedizinische Gutachten bestätigt die Anwendung von brutaler Gewalt, zu der die Angeklagte rein körperlich nicht …«

»Noch fünfzehn Sekunden, Herr Anwalt!«

»Ein medizinisches Gutachten bescheinigt, dass Fräulein Rabe unter keinerlei Störung an Körper und Geist leidet.«

Der Richter beendete das nervöse Stakkato, das sein Stift auf der Tischplatte aufgeführt hatte, und hob mahnend seinen Zeigefinger.

»Ja, ich …« Der Verteidiger hob die Hände, als stünde er vor dem Lauf einer Waffe. Ihm blieb nur noch, einen Antrag für das Strafmaß zu formulieren. »Gut, dann beantragt die Verteidigung drei Monate Jugendarrest und anschließend eine noch festzulegende Dienstzeit zum Wohle der Volksgemeinschaft.«

Beltheim sackte in sich zusammen. Der geforderte Jugendarrest war nur eine Art strengere Erziehungsmaßnahme. Dass der Richter hierauf eingehen würde, war mehr als unwahrscheinlich. Hätten die Verantwortlichen diese milde Strafe in Erwägung gezogen, wäre sicher kein Sondergericht berufen worden. Ein hartes Urteil, etwa zehn Jahre Zuchthaus, würde allerdings das Leben, wie Ottilie es kannte, für immer zerstören. Beltheim fragte sich, welche Chance die junge Frau hier überhaupt gehabt hatte. Wahrscheinlich waren von Partei und SD klare Anweisungen an Richter Römmele und die Reichsanwaltschaft ergangen, die alles bereits im Voraus bestimmt hatten. Der Richter erhob sich, die anderen im Saal taten es ihm gleich.

»Das Gericht braucht keine Bedenkzeit«, meinte er. »Im Namen des Führers ergeht folgendes Urteil: Fräulein Ottilie Rabe wird bis zur Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres in das Jugendschutzlager Uckermark überstellt. Danach sind fünf weitere Jahre in ordnungsgemäßer Schutzhaft zu verbüßen. Mit Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres kann die Reststrafe, gute Führung vorausgesetzt, zur Bewährung ausgesetzt werden.«

Anna Schönberg begann zu weinen.

»Verdammt«, flüsterte Beltheim. »Sie kommt ins KL. Sieben Jahre. Das übersteht sie nicht!« Er sah Ottilie an, die wie versteinert wirkte. Er hatte erwartet, beinahe gehofft, dass sie jetzt eine Regung zeigen würde. Weinkrämpfe, Zittern, einen Zusammenbruch, sogar einen Wutanfall, alles hätte er in einem solchen Moment verstanden. Aber sie stand stumm da. Zunächst glaubte er, ihrem Blick nicht standhalten zu können, bis er bemerkte, dass sie durch ihn hindurchsah. Es schien fast, als wäre sie gar nicht mehr anwesend.

3

Berlin, Oktober 1944

Eine Verurteilung zu Schutzhaft nahm den Betroffenen auch noch ihre letzten Rechte. Nur nahe Angehörige durften den Gefangenen schreiben, und die Zensur leitete viele Briefe nicht weiter. Das Recht, Pakete zu empfangen, hatte sich der Häftling erst durch gute Führung zu »verdienen«. Selbst Besuche nach der Verhandlung und vor dem Antritt der eigentlichen Haftzeit im Lager wurden nur in Ausnahmefällen genehmigt. Durch die Zunahme der Bombenangriffe auf die Stadt hatte es in letzter Zeit erhebliche Schäden an der Infrastruktur gegeben. Auch Ottilies Verlegung in das Jugendlager Uckermark hatte sich hierdurch verzögert. So war es der Ärztin Anna Schönberg unter Vorgabe medizinischer Gründe gelungen, sie im Gefängnis Moabit noch einmal zu besuchen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte die junge Frau trotzig, als ein Wärter sie in den Besucherraum geführt hatte. »Es ist doch alles entschieden. Es hat nicht geklappt.«

»Hat es doch«, meinte Schönberg. »Zumindest teilweise. Es hätte auch das Fallbeil sein können. Du weißt selbst, dass sie jetzt sogar Lebensmitteldiebstähle sehr hart bestrafen. Selbst harmlose Witze bringen schnell Gefängnis ein.«

»Was ist heute schon harmlos?«, erwiderte Ottilie. »Und KL würde ich nicht unbedingt als Erfolg sehen.« Im allgemeinen Sprachgebrauch vermieden es die Leute gemeinhin, über die Konzentrationslager zu sprechen. Zwar wusste man von ihnen, aber sie zu erwähnen, beschwor scheinbar eine Art von bösem Zauber. Als fürchtete man, dadurch Unheil auf sich zu ziehen. Als Verurteilte hatte Ottilie diese Scheu vor dem Unglaublichen jedoch offenbar abgelegt.

»Natürlich nicht. Aber Kriminalrat Beltheim hat gute Kontakte zu Regierungsdirektorin Wieking. Ihr ist das Jugendlager in der Uckermark unterstellt. Und ich kenne mehrere Leute beim Jugendamt und bei der Fürsorge. Wir versuchen, dich in einer Arbeitskolonne unterzubringen, die etwas außerhalb liegt.« Die Psychiaterin sah kurz über die Schulter zum Wachposten, der jedoch die gestrige Ausgabe des Völkischen Beobachters durchblätterte. Sie sprach sehr leise weiter. »Wir alle wissen, dass es nur noch ein paar Wochen sind, Ottilie. Beltheim meint, dass es in zwei oder drei Monaten zu Ende ist. Waffenruhe und dann Frieden. Verhalte dich dort im Lager ruhig, und du wirst bald alles überstanden haben.«

»Aber ich bin doch verurteilt! Was soll sich ändern, wenn der Krieg vorbei ist?«

»Bitte, nicht so laut! In der BBC haben sie gesagt, dass bei Kriegsende die Lager aufgelöst und die Häftlinge entlassen werden. Vielleicht erweist es sich auf diese Weise noch als Glück im Unglück, dass sie dich ins KL schicken.«

»Papa wollte mich auch wegschicken. Wegsperren. Ungeschehen machen.« Die junge Frau wirkte von einem zum anderen Moment beinahe wieder kindlich. Sogar ihre Stimme hatte sich verändert. »Vielleicht haben sie recht? Und ich bin wirklich asozial.«

»Unsinn«, erwiderte die Ärztin mit belegter Stimme. »Ich habe viele erfahrene Kollegen, die schon vor zwanzig Jahren bestätigt haben, dass …«

»Ich habe Angst«, unterbrach Ottilie sie.

»Es wird nicht so schlimm werden, wie du befürchtest.«

»Das meine ich nicht.« Die Jugendliche legte die Handflächen gegen die Schläfen und schien fest zuzudrücken. »Es muss doch da oben drin sein! Ich war da! Alle sagen es. Sogar Fotografien gibt es. Da stehe ich mit Blutflecken an der Hand im Schlafzimmer. Was habe ich getan?«

»Ganz ruhig. Wir haben doch darüber gesprochen, Ottilie.«

Schönberg wollte sie in den Arm nehmen, aber der Wärter wies sie zurecht und drohte, den Besuch abzubrechen.

»Wie geht es Mutti?«, wechselte Ottilie abrupt das Thema.

»Sie erholt sich. Die Sache war zu viel für sie. Erst die Schläge, jetzt die Nerven. Sie hat versprochen, sich sofort um eine Besuchserlaubnis im Schutzlager zu bemühen, wenn sie wieder auf den Beinen ist.«

»Und Ludwig?«

»Er ist jung. Du musst ihm Zeit geben. Er weiß im Moment nicht, was und wem er glauben kann.«

»Das weiß er sehr wohl!«, entgegnete Ottilie heftig. »Er war doch immer der gute Sohn von Papa! Gedeiht, wie es sein soll. Ein Führerkind. Er glaubt jeden Scheiß, den sie ihm bei den Pimpfen eintrichtern.« Sie schien kurz davor, einen Wutanfall zu bekommen.

»He! Mal janz ruhig mit die junge Pferde«, schnauzte der Wachbeamte sie an.

»Du kannst nichts erzwingen«, meinte Anna Schönberg mit sanfter Stimme. »Ich verstehe dich, aber die Dinge brauchen Zeit. Veränderungen brauchen Zeit.«

»Dürfen Sie mich da …« Ottilie waren Tränen in die Augen getreten. »Ich meine, dürfen Sie mich weiter behandeln?«

»Ich habe dich begutachtet, nicht behandelt«, erwiderte die Psychiaterin. »Lass dir von den Leuten nichts einreden. Du bist völlig normal.« Sie sah zu dem Mann an der Tür, der seine Aufmerksamkeit allerdings wieder seinem Naseninhalt zugewandt hatte. Sie berührte Ottilies Hand, drückte sie beinahe zärtlich. »Das, was du jetzt als Schwäche und Makel empfindest, ist in Wahrheit deine größte Kraft und dein größter Schatz. Ein paar Wochen noch, Ottilie, dann beginnt eine neue Zeit. Und es wird auch deine sein.«

Ottilie blickte die Ärztin an und schwieg. Langsam trockneten die Tränen auf ihren Wangen. Sie schienen beide zu ahnen, dass sie sich das letzte Mal sahen. Und dennoch würden sie einander lange begleiten.

*

Beltheim und Schönberg gelang es tatsächlich, Ottilie in einer Außenstelle des Jugend-KLs unterzubringen. In der Nähe von Prenzlau hatte die SS auf einem Gutshof mehrere Gebäude und eine Absperrung errichten lassen.

»Rabe, Baracke drei zum Sortieren und Flicken!«, hatte sie die Aufseherin eingeteilt.

Es war eine öde und deprimierende Arbeit. Vierzehn Stunden täglich besserte Ottilie Uniformen und andere Kleidung der Wehrmacht aus. Manchmal waren die Sachen nur zerrissen. Vielleicht hatte ihr Träger einen Ast oder spitze Steine übersehen. Viel öfter jedoch musste sie Stoffreste auf jene typischen Löcher nähen, die von Kugeln und Splittern verursacht worden waren. Trotz der Arbeit der Bleichkolonne, die das Blut vor dem Ausbessern herauswaschen musste, konnte Ottilie oft noch Reste davon erahnen. Sie arbeitete an Totenkleidung, die für viele weitere – noch lebende – Tote vorgesehen war.

Ich werde abhauen, überlegte sie mehr als einmal. Und eine Flucht wäre wahrscheinlich recht einfach gelungen. Der Zaun stand nicht unter Strom und wurde nachts nur schwach beleuchtet. Es gab keine Wachtürme, keine Maschinengewehre, keine SS-Aufseher, nur mehrere verkrüppelte Soldaten, die gerade noch zum Wachdienst taugten.

»Vergiss es, Lili«, meinte Helga Poczak, eine minderjährige Volksdeutsche, die wegen Unzucht mit Nichtariern einsaß.

Die beiden jungen Frauen hatten sich schnell angefreundet. Ottilie fühlte, dass sie eine Seelenverwandte war. Innerlich ebenso zerrissen wie sie selbst.

»Weißt du, Lili, ich bin in Polen geboren«, hatte sie gesagt. »Nach Kriegsbeginn lag mein Dorf plötzlich in Großdeutschland. Und jetzt sind da die Russen. Wer bin ich? Was bin ich? Polin oder nur Deutsche zweiter Klasse? Bin ich asozial und verwahrlost, weil ich Pavel Jankowski geküsst und gestreichelt habe?«

Helga hatte Lili erklärt, dass es dumm gewesen wäre, ohne Plan fortzulaufen.

»Willst du nach Osten? Viel Spaß mit den Russen! Sofern du durch die Frontlinie kommst.«

»In den Dörfern der Umgebung denunzieren sie dich sofort.«

»Nach Westen oder nach Berlin? Du kannst in den Städten nur untertauchen, wenn du dort viele Leute kennst.«

»Und wenn sie dich erwischen, geht es nach Ravensbrück ins große KL. Schwerstarbeit für Siemens & Halske. Pressen, Drehen und Polieren. Oder Munition ätzen, damit bringen sie dich in sechs Monaten um. Dagegen ist hier das Paradies. Ich sage dir, vergiss es.«

Anna Schönberg sollte recht behalten, denn das Reich ging unter. Aber sie hatte nicht ahnen können, dass es dabei alles andere mit sich in den Abgrund reißen würde. Nicht einmal die abgebrühtesten Parteigänger konnten ahnen, welch grausamer Veitstanz den Menschen während der letzten Kriegswochen noch bevorstehen würde. Das Jugendschutzlager Uckermark wurde gegen Ende des Jahres aufgelöst. Aber es wurde zu einem Sterbelager der Frauen aus dem KZ Ravensbrück. Die Jugendlichen mussten vier Monate lang die ausgemergelten, vergifteten, infizierten Körper »betreuen«, bis endlich der Tod gnädiger schien als jedes weitere Vegetieren.

Ottilie erfuhr davon nur durch Helga, die sie hin und wieder am Zaun des Außenlagers traf. Sie selbst war aufgrund ihres Geschicks zu einer Tuchfabrik in Prenzlau abkommandiert worden, durfte sich dort sogar relativ frei bewegen.

Helga starb an Typhus. Anfang April 1945.

4

Berlin, April 2022

Lili hatte wieder einmal einen Plan ausgeheckt. Und sie bat mich um Hilfe bei dessen Umsetzung. So machten wir es immer. Wir griffen uns unter die Arme, hakten uns unter, stützten uns gegenseitig. Obwohl wir uns auch in vielerlei Hinsicht unterschieden, funkten unsere Antennen doch oft auf gleicher Wellenlänge. Und unsere Träume flogen dann eine Zeit lang gemeinsam in dieselbe Richtung. Dieses Mal jedoch war ich überrumpelt, irgendwie ratlos.

Ich kannte Lili als einen Menschen, der nicht nur voller Ideen steckte, sondern diese Ideen auch realisierte. Es zumindest versuchte. Eigentlich müsste ich von Oma Ottilie sprechen, aber sie war eine Großmutter der besonderen Art. Wir konnten uns auf Augenhöhe begegnen. Trotz des Altersunterschieds von gut sechzig Jahren. Vielleicht hatte sie auch einfach diese besondere Kraft in sich, die es ihr erlaubte, andere so sein zu lassen, wie sie waren. Für meine Mutter war ich seit dreieinhalb Jahrzehnten Tochter. Da war immer eine Art Ungleichgewicht zwischen uns geblieben. Sie bevormundete mich nicht wirklich, aber in entscheidenden Momenten wusste sie es eben doch besser. Mein Leben durfte nach ihren Maßstäben nie gänzlich mein Leben sein. Lili hingegen hatte nichts Gluckenhaftes an sich, wir gönnten uns unsere Eskapaden und Eigenheiten. Nun jedoch hatte sie den Bock endgültig abgeschossen.

Ich scrollte durch ein paar Bilder, die sie mir geschickt hatte. Eine ganze Galerie, die eine Mischung aus Idylle und Katastrophe zeigte. In Romanen gab es diese verwunschenen Ecken mit einem Herrenhaus in unberührter Natur. Jane Austen auf Downton Abbey, so etwas in der Art. Aber im echten Leben lauerten da nur jede Menge Arbeit und Ärger. Zudem wurde das Geld bei so etwas immer schneller verbrannt, als es gedruckt werden konnte.

»Du willst ein Landgut kaufen?«, fragte ich fassungslos und blickte zum wiederholten Mal auf das Bild einer Bruchbude, die offenbar zu einer anderen Zeit auf einem anderen Planeten ein elegantes Haupthaus gewesen war. Mir schien eine solche Entscheidung mit vierundneunzig doch etwas zu gewagt. »Verstehe ich dich richtig? Irgendeine abgewirtschaftete Klitsche, die keiner dieser Landgeier und Spekulanten haben wollte?«

»Nicht irgendeine Klitsche«, erwiderte sie. »Es ist Gut Torchau.« Sie sagte es in einem Tonfall, als müsste ich wissen, was sie damit meinte. Als ich sie nur reichlich belämmert ansah, fuhr sie fort: »In der Uckermark.«

»Die Uckermark? Da erhängen sich doch die Ratten in den Kellern. Aus Not und Langeweile.«

»Du übertreibst, Nairi. Es ist sehr hübsch dort. Gute Luft, Ruhe und viel Platz. Alles, was es hier nicht gibt.«

»Als ob dich Unruhe jemals gestört hätte.« Ich nahm mein Smartphone und navigierte mich durch die Suchfunktion meiner Map. Nichts. »Uckermark finde ich. Gut Torchau nicht.« Es verwunderte mich nicht weiter. Für Berliner hatte ländliche Umgebung immer etwas von Friedhof.

»Es ist bei Prenzlau und wurde nach der Wiedervereinigung aufgegeben. Natürlich hat man danach das wertvolle Ackerland in der Umgebung abgeteilt, aber die Gebäude und das direkte Hofland wollte niemand haben.«

Eine von zehntausend Immobilienleichen der alten DDR, dachte ich und konnte mein Entsetzen kaum verbergen. Übrig geblieben nach dem Wendeboom der Steuersparmodelle und dem längst ausgeträumten Traum der »blühenden Landschaften«.

»Unglaublich, nicht wahr?«, fuhr Lili fort. »Da steht ein ganzes Landgut drei Jahrzehnte lang leer. Du musst dir den Hof unbedingt ansehen. Schon seit der Wiedervereinigung versuchte die Treuhand, ihn zu verkaufen. Vor zwei Jahren haben dann Ebbi und ich Torchau entdeckt. Im Prinzip wurde es verschenkt. Aber niemand war so verrückt, zuzugreifen.«

»Außer dir.« Ich spürte zwar dieses Prickeln, das sich immer einstellte, wenn Lili zu neuen Abenteuern aufbrach. Aber ich befürchtete auch, diese Sache könnte eine Nummer zu groß werden. »Was willst du denn mit dem Hof? Du hast doch nicht vor, Berlin den Rücken zu kehren?«

Wir saßen in meiner Küchen-Wohnzimmer-Werkstatt und tranken Tee. Klar, wenn ich auf einer Party beim Prosecco-Schlürfen angeben wollte, nannte ich mein Zuhause ein Innenstadtloft. Aber eigentlich war es eine halb verfallene Tischlerei in einem Kreuzberger Hinterhof. Das Vorderhaus stand unter Denkmalschutz, und kein Baufahrzeug von nennenswerter Größe passte durch die Tordurchfahrt. Bisher war mein Refugium also vom Neubauwahn verschont geblieben. Reines Glück.

»Ich möchte etwas hinterlassen, das Leuten Freude macht«, meinte sie.

»Zwanzig Jahre Sanierungsarbeiten?« Lili machte es mir nicht leicht. Ich hatte einige Bekannte, die dem Häuslebau-Wahnsinn verfallen und daran beinahe zerbrochen waren. Reihenhaus mit ausgebautem Spitzboden auf einem Grundstück, das kaum zwei Saunatüchern Platz bot. Alles für lachhafte achthunderttausend. Die Ehe guter Freunde war über solchen Themen sogar zerbrochen. Ich hatte diese moderne Form der Mammon-Sklaverei nie verstanden. Planungschaos, Geldsorgen und Lärm waren in meinem Leben ohnehin ein ewig nervendes Dreigestirn und bedurften keiner weiteren Hypothek. Andererseits steckte bei Lili und Ebbi sicher kein Nestbau-Instinkt hinter dieser Entscheidung. Dass ich mir eine solche Sache partout nicht vorstellen konnte, hieß nicht zwangsläufig, dass eine über Neunzigjährige ebenso dachte. Ich entschied, dass mir die Rolle der altbackenen Bedenkenträgerin weder stand noch zustand. Und ich nahm mir vor, aus der Komfortzone des Entgeistertseins herauszukommen. Bisher waren Lili und ich mit einem Vertrauensvorschuss und einer Portion Wohlwollen immer gut gefahren.

»Ich werde es dir erklären, Nairi. Aber es ist eine lange Geschichte. Du weißt, dass ich mich immer bemüht habe, in der Gegenwart zu leben und nicht wehmütig nach hinten zu sehen. Aber Gut Torchau ist für mich wie ein Blick zurück in die Vergangenheit. Teilweise schmerzhaft, aber notwendig.«

Ich wurde hellhörig. Solche Töne kannte ich von meiner Großmutter nicht. Tatsächlich wusste ich sogar recht wenig über ihre frühe Lebensgeschichte. Sie hatte nur ein paar Dinge erzählt, die sich zu DDR-Zeiten abgespielt hatten. Sie gestattete mir hin und wieder ein paar kurze Einblicke in ihr früheres Leben. Es war, als würde man eine umfangreiche Biografie nur durchblättern. Sie hatte in den Fünfzigern eine Tischlerlehre gemacht und restaurierte seit Jahrzehnten alte Möbel, die sie aus Abrisshäusern rettete. Gegen alle Widerstände hatte sie etwas später meine Mutter adoptiert und sich als Alleinerziehende durchs Leben geboxt. Lange Zeit hatte sie am Berliner Stadtrand ein Museum geleitet, in dem vor dem Verfall gerettete Möbel aus allen Epochen des neunzehnten Jahrhunderts ausgestellt waren. In den späten Sechzigern war sie mit Menschen zusammengekommen, die man heute als queer bezeichnete. In dieser Szene war sie stets sehr aktiv geblieben. Da sie auch nie verheiratet war, machte ich mir da so meine eigenen Gedanken. Und sie war in der Tat eher ein Mensch, der nach vorn blickte. Irgendwie hatte sich zwischen uns nie das Bedürfnis entwickelt, lang und breit über das bisher Erlebte zu sprechen. Mir war das sogar ganz recht, da es auch bei mir ein paar Dinge gab, die ich lieber in ihren Schubladen lassen wollte.

»Gut Torchau hat eine besondere Bedeutung für mich«, begann Lili. »Als ich vor zwei Jahren mitbekam, dass es für einen symbolischen Preis zum Verkauf stand, war für mich klar, was ich tun musste.«

»Hast du dort mal gelebt?«, fragte ich. »Ich dachte, du wärst schon immer in Berlin gewesen?«

»Es gibt etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe. Selbst deine Mutter weiß nichts davon. In meiner Jugend sind Dinge passiert, die ich irgendwie selbst nie richtig begriffen habe.« Sie wurde ernst. »Du weißt, dass während meiner Kindheit und Jugend die Nazis an der Macht waren.«

Ich hatte ein ungutes Gefühl, und mir war nicht mehr danach, Scherze über die Uckermark oder heruntergekommene Gehöfte zu machen. Ich schwieg und nickte.

»Ich wurde als Sechzehnjährige von einem Gericht in Berlin zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Etwa ein halbes Jahr vor Kriegsende. Sie haben mich in ein Lager für Jugendliche gesteckt. Ein besonderes Lager.«

»Du warst …?« Ich mochte es kaum aussprechen. »Meinst du etwa ein KZ? Du warst in einem Konzentrationslager?« Von manchen Themen glaubte ich, dass sie niemals meine eigene Familie betreffen könnten. Nun war es so weit, und ich fühlte mich beinahe wie gelähmt.

»Ein Nebenlager von Ravensbrück.« Lili nickte. »Für asoziale und verwahrloste Mädchen. Sie nannten es Jugendschutzlager Uckermark.«

»Doch nicht Torchau?« Ich war fassungslos. »Du willst ein Haus erwerben, das zu einem KZ gehörte?«

»Nicht ganz. Ich hatte Glück im Unglück. Die Ärztin, die damals ein Gutachten für das Gericht anfertigen sollte, hat nach meiner Verurteilung alles darangesetzt, dass ich eine Arbeitsstelle in einem sogenannten Außenlager bekam. Wie sie das angestellt hat, weiß ich nicht. Und ich konnte ihr niemals dafür danken. Jedenfalls war Gut Torchau eher das, was man später ein Erziehungsheim genannt hätte. Zwar streng und vergiftet durch das NS-Weltbild, aber ich konnte dort überleben. Wir mussten Kleidungsstücke nähen und ausbessern. Für die Front. Später habe ich erfahren, wie grausam dagegen Ravensbrück und das eigentliche Lager Uckermark waren.«

»Trotzdem«, sagte ich. »Warum tust du dir das an? Die Erinnerungen müssen doch quälend sein.«

»Sind es wirklich die Erinnerungen, die uns quälen?«, fragte sie. »Oder ist es das Unverarbeitete in uns, das mit diesen Erinnerungen zusammenhängt? Genau darum geht es mir, Nairi. Dass Torchau zum Verkauf stand, war für mich ein Zeichen, dass noch etwas zu erledigen ist. Ich möchte, dass dort etwas Gutes entsteht.«

»Ich verstehe das nicht, Lili. Was hast du denn als junges Mädchen angestellt? Asozial. Ein ekelhaftes Wort. Es muss doch selbst für die Nazis irgendeinen Anlass gegeben haben, dass sie dich wegsperren wollten.«

»Ich muss einige Dinge klären, Nairi. Es gibt ein paar Geheimnisse in meinem Leben, von denen ich selbst nichts weiß.«

Ich starrte sie verwirrt an. Das Ganze klang spooky.

»In meiner Jugend sind Dinge passiert, an die ich mich nur bruchstückhaft erinnern kann«, erklärte sie mir. »Ich meine nicht, dass ich sie im Lauf der Zeit vergessen habe. Ich meine, dass sie irgendwie nie richtig da oben drin waren.« Sie tippte sich gegen die Stirn. Mit ruhiger Hand griff sie nach der Kanne und schenkte uns Tee nach. »Und außerdem ist die Story noch nicht zu Ende. Denn ich bin ein paar Jahre nach der Nazizeit noch einmal nach Gut Torchau gekommen.«

5

Ostberlin, Sommer 1952

Acht Jahre. Jahre der Unsicherheit, des Zweifels. Was um sie herum in der zerstörten Stadt geschah, geschah auch in ihr. Ottilie lebte in ihren inneren Trümmern, in denen sie herumirrte, ihre verlorene Kindheit suchte. Trümmer, die sie mühsam zu beseitigen versuchte. Eine Aufgabe, die das kleine Mädchen in ihr, das jetzt endgültig zur Frau geworden war, allzu oft überforderte. Zwar war sie noch bei ihrer Mutter gemeldet, aber sie blieb tagelang fort, lebte auf der Straße oder kam bei Zufallsbekanntschaften unter. Sie liebte das Tanzen, doch an Ballettunterricht war nicht zu denken. Also fand sie Trost in Charleston und Jitterbug. Rum and Coca-Cola war nicht nur das Fanal einer neuen Zeit, es war Lilis Hymne, das Menetekel ihrer frühen erwachsenen Jahre. Sie trank, sie liebte, sie schlug.

Acht Jahre waren vergangen, seit ein Nazirichter sie in ein Lager geschickt hatte. Seit nunmehr drei Jahren gab es zwei Staaten, die sich Deutschland nannten. Lili lebte im Osten der Stadt. Und jetzt war es wieder so weit. Sie wurde erneut angeklagt. Ihr Pflichtverteidiger hatte das Schreiben der Staatsanwaltschaft vorgelesen:

Fräulein Ottilie Rabe werden folgende Vergehen zur Last gelegt: Erstens mehrfach ungebührliches Verhalten gegenüber der Polizei und Verwaltung. Zweitens mehrfach unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit. Drittens mehrfacher Verstoß gegen Auflagen und Anordnungen der staatlichen Fürsorge und der Arbeiterwohlfahrt. Viertens eine Vielzahl kleinkrimineller Handlungen, unter anderem Diebstahl und Straßenhandel ohne Reisegewerbekarte. Fünftens bewusste Schädigung der im Aufbau befindlichen sozialistischen Gemeinschaft der Deutschen Demokratischen Republik durch ungerechtfertigte Inanspruchnahme und Bindung wichtiger Arbeits- und Betriebsmittel.

»Wir müssen diese Anschuldigungen unbedingt ernst nehmen«, hatte der Mann gesagt. »Eine bewusste Missachtung des sozialistischen Werte- und Normensystems wird schwer geahndet. Auf dem SED-Parteitag wurden entsprechende Richtlinien verabschiedet.«

Ottilie kam es so vor, als hätte sie die Worte schon einmal gehört. Jugend hatte zu spuren. Damals, heute. Hüben wie drüben. Altes Denken in sozialistischem Anstrich. Die junge DDR glich einem pickligen Teenager mit ausgeprägtem Minderwertigkeitskomplex. Jede Bemerkung war verdächtig. Volkspolizisten hatten sie betrunken aufgegriffen. Sie trug Jeans und rauchte amerikanische Zigaretten. Eine Halbstarke!

*

»Fräulein Rabe.« Der grauhaarige Richter am Jugendgericht Mitte räusperte sich, blätterte in der Akte und musterte die Angeklagte eingehend, bevor er weitersprach. »Trotz Ihres Alters hat die Kammer entschieden, dass im vorliegenden Fall das Jugendrecht zur Anwendung kommen wird. Dabei ist insbesondere die Tatsache von Bedeutung, dass die Delikte und jenes Verhalten, über welches hier entschieden wird, bereits zu Zeiten des faschistischen Regimes ihre Ursprünge hatten. Indes muss an dieser Stelle betont werden, dass viele junge Menschen unter dem Faschismus gelitten haben, nicht nur Sie. Und diesen Menschen ist es fast immer gelungen, sich von ihren inneren Fesseln zu befreien, ohne auffällig zu werden. Sie hingegen waren jahrelang unter besondere Aufsicht der Wohlfahrt und Jugendfürsorge gestellt. Dadurch genossen Sie Privilegien, die Ihnen die sozialistische Gesellschaft teilweise bis heute gewährt. Das Gericht stellt hierzu fest: Sie, Fräulein Ottilie Rabe, haben die Möglichkeiten nicht genutzt, sich als wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft zu erweisen. Was haben Sie dazu zu sagen?«

Lili hatte schwere Jahre auf den Straßen Berlins hinter sich und war nicht auf den Mund gefallen. Mittlerweile wusste sie sich gut zur Wehr zu setzen. Gerade diese Eigenschaft hatte ihren Verteidiger jedoch veranlasst, ihr zu raten, vor Gericht zu schweigen. Was hätte sie auf solchen Blödsinn auch erwidern sollen? Sie war in einem System der maximalen Anpassung groß geworden. Und jetzt, Mitte zwanzig, forderte ein neuer deutscher Staat wieder genau dies. Wegducken, verbiegen, einfügen. Maximale Anpassung eben. Wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft. In ihr brodelte es.

»Ich deute Ihr Schweigen als erstes Zeichen der Reue. Mit viel Wohlwollen. Die Anklagepunkte wurden Ihnen durch Ihren Anwalt erläutert? Was haben Sie dazu zu sagen?«

Lili hatte Schwierigkeiten, den Ausführungen des Juristen zu folgen. Lange Reden verursachten ihr eine Art Schwindel. Sie fühlte sich dann orientierungslos. Ohnehin schien es, als hätte sie sich bereits vor Jahren im Irrgarten ihres eigenen jungen Lebens verlaufen. Sie konnte sich kaum konzentrieren und schweifte auch beim Sprechen schnell ab. Wirkliche Ruhe fand sie nur bei handwerklichen Tätigkeiten. Auch die Schulausbildung hatte sie gleich nach Kriegsende abbrechen müssen. Aufsässigkeit und Arbeitsverweigerung hatte das abschließende Urteil im Zeugnis gelautet. Nicht gerade hilfreich, wenn man eine Lehrstelle suchte.

»Sie haben Glück, Fräulein Rabe«, fuhr der Richter fort. »Das Gericht folgt der Argumentation Ihres Anwalts. Es gilt, das Übel an der Wurzel zu packen und zu entfernen. Ihr Vater war ein ranghoher Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes und Mitglied der Hitlerpartei. Wir erkennen an, dass Sie selbst daran keine Schuld trifft. Dennoch sind gerade Sie geprägt durch eine unmenschliche, faschistische Erziehung, und Sie waren auch eine Nutznießerin der väterlichen Position. Die Ursache Ihrer mangelhaften Fähigkeit, sich in die neue Gesellschaft einzubringen, ist also in einer Zeit zu suchen, zu der Sie selbst minderjährig waren. Daher wird Ihnen das Gericht die Möglichkeit einer nachträglichen Reifung geben.«

Zwei Jahre Umerziehung in einem Jugendwerkhof, lautete das Urteil. Wahlweise sollte die Maßnahme vorzeitig als gelungen gelten, wenn Lili dort eine Lehre begann und die Beurteilungen positiv waren.

*

Vor sieben Jahren hatten die sowjetischen Truppen bei ihrem Vormarsch auf Berlin den großen Gutshof westlich der Oder als Zwischenquartier genutzt. Die damaligen Besitzer waren Hals über Kopf geflohen und bis heute nicht zurückgekehrt. Zumal sie Nutznießer der Zwangsarbeit in einem Jugendlager der Nazis gewesen waren. Da hoffte man besser darauf, im Westen unter die Decke des Vergessens kriechen zu können. Beinahe alles auf dem Hof war geplündert worden. Ein Nebengelass war abgebrannt, viele Fenster im Hauptgebäude waren zerstört und mit Brettern notdürftig gesichert. An allen Außenwänden waren Schusslöcher zu erkennen, die kleine und größere Putzstücke aus der Fassade gerissen hatten.

Lili überkam in doppelter Hinsicht das Gefühl, in der Zeit zurückgereist zu sein, als sie zwei Wochen nach Prozessende auf dem alten Landsitz eintraf. Ein unvoreingenommener Besucher musste denken, dass an diesem Ort schon vor hundert Jahren alle Uhren stehen geblieben waren. Es gab kein Telefon, kein fließendes Wasser. Der Stromanschluss reichte gerade für ein paar Lampen und ein Radio. Wurde er überfordert, flogen die Sicherungen heraus. Holz und billige, schwefelhaltige Kohle sorgten für alles, was mit Wärme zu tun hatte: Bad, Heizen, Kochen. Eine elende, dreckige Plackerei. Aber in Lili weckte Torchau auch aus einem anderen Grund Erinnerungen, die allerdings keineswegs romantischer Natur waren. Vor fast acht Jahren war sie schon einmal hier angekommen. Nicht am Haupthaus, sondern bei einem Wirtschaftsgebäude etwa hundert Meter entfernt. Dort hatte die Kriminalpolizei Berlin in einem umzäunten Bereich eine der vielen Außenstellen des Jugendschutzlagers Uckermark eingerichtet. Nun also war es der Jugendwerkhof Uckermark. Wie es schien, konnten sich Namen ändern. Und dennoch blieben manche Dinge, wie sie waren.

Ein ausgemusterter Militärlaster brachte die jugendlichen Delinquenten bis vor das alte Gutshaus. Lili war bei Weitem die Älteste unter ihnen. Jugendwerkhof. Der neue sozialistische Staat wollte dort junge Menschen zu guten Genossen machen. Bisher hatte sie nur flüchtig von diesen Einrichtungen gehört, wenn sie dem Tuscheln auf den Gängen der Wohlfahrt lauschte. Dann war die Rede von Umerziehung. Von Lager, Strafen und Zwangsarbeit. Sogar Jugend-KZ hatte es ein pickliger Bursche leise genannt. Sehr leise. Wie recht er doch damit hatte, konnte nur Lili wissen. Aber sie hatte lieber den Mund gehalten.

Was hatte sie eigentlich falsch gemacht? Warum taten diese Leute ihr das an? Damals die Nazis, jetzt das neue System. Was sollte sie denn »besser« machen? Weshalb brauchte sie eine andere Erziehung? Wer entschied, was normal war?

Ja, sie war manchmal wütend. Sie konnte schimpfen wie ein Bierkutscher. Sie hatte mehreren Jungs kräftig eine verpasst, wenn sie versucht hatten, ihr dumm zu kommen. Sie trank gelegentlich zu viel Alkohol und rauchte. Und arbeiten konnte sie nur, wenn es ihr Spaß machte. Wenn sie wusste, warum sie etwas tat. Sie musste das Ergebnis ihrer Arbeit in Händen halten. Die vom Amt angeordneten Arbeitsmaßnahmen – Fließband, Packen oder Putzen – waren in den letzten Jahren sämtlich nach kurzer Zeit gescheitert.

»Lauenberg, Wiesner, Rabe, Teller. Zweiter Stock, auf Stube drei! Einweisung um fünf im Speisesaal.« Die raue Stimme des Wärters zerriss ihren Gedankenfaden.

Vielleicht musste sie tatsächlich lernen, sich einzufügen. In Regeln. In eine Ordnung. Erziehung versprach Besserung. Besserung bedeutete Anpassung. Und umgekehrt. Alle behaupteten es. Gleich werden, um nicht aufzufallen. Um nicht anzuecken. Die Anstaltskleidung bestand für alle aus grauer, grober Wolle. Gerüchten zufolge kam sie noch aus Restbeständen von der Wäschestelle des KZ Ravensbrück. Essen gab es zu festen Zeiten auf Blechgeschirr. Licht aus um zehn. Wecken um sechs.

»Nummer 05 – 12.« Lili reagierte nicht sofort. Zahlen gehörten für sie zu Fahrplänen und Waren, nicht zu Menschen. »05 – 12! Rabe, verdammt! Melden um sieben Uhr in Bereich B 7. Einteilung zum Lumpensichten und -sortieren.«

Ausgerechnet. Die dämlichste Arbeit. Vielleicht verlangte sie schlicht zu viel vom Leben. Beim Essen horchte Lili auf die Gespräche derjenigen, die schon länger hier waren. In der Tischlerei wurden offenbar fähige Lehrlinge gesucht. Nur Jungen. Natürlich.

»Rabe. Eingeteilt bei der Schneiderei«, hieß es am nächsten Tag. Typische Arbeit für Mädchen und Frauen.

Lili bekam den ersten Verweis, als sie sich einige Tage später unaufgefordert bei Harry Soltmann, dem zuständigen Tischlermeister, meldete. Drei weitere folgten, bis sie endlich doch zur Probe dortbleiben durfte. Harte Monate folgten. Sie musste beweisen, dass sie besser war als die Burschen, die über sie lachten. Viele Tränen flossen. Und sie tat, was sie immer getan hatte.

Sie überlebte.

6

Berlin, Mai 2022

Gott sei Dank, es gab sie noch. Alte, aufgelassene Fabriken in den Hinterhöfen von Kreuzberg. In meinem Fall war es ein Möbelhersteller mit Tischlerei gewesen. Familienbetrieb seit der vorletzten Jahrhundertwende. Ein alter Nachbar kannte sogar noch den letzten Besitzer.