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Sieben besondere Tage aus den vergangenen 50 Jahren lädt der Philosoph Clemens Sedmak zum imaginären Geburtstagsfest der Europäischen Union: etwa den 15. Februar 2003, an dem die Massen gegen den Irakkrieg demonstrierten; den 29. April 2002, an dem gegen das Recht auf Sterben entschieden wurde; oder den 27. September 2005, an dem Hunderte afrikanischer Flüchtlinge an Europas Grenzen stießen und starben. Aus diesen symbolträchtigen, guten wie bösen Tagen schält der Autor - ein brillanter Courseur und Kenner der europäischen Geistesgeschichte - deren moralisches Potenzial heraus. Denn: In Krisen zeigt sich seine Existenz oder sein Fehlen. Und am Umgang mit Krisen entscheidet sich, ob Europa eine lebenswerte Zukunft für die nach uns Geborenen bereithält oder ob diese in Fragen der Moral nur zwischen Übeln wählen können: »Ein moralisches Dilemma besteht, wenn wir nicht handeln können, ohne uns schämen zu müssen.«
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Seitenzahl: 174
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Clemens Sedmak
Die SEI ist aus einer Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft und Kirche hervorgegangen und bemüht sich um Anstöße für eine humane Gesellschaft, vor allem durch die Förderung des kreativen Austausches zwischen jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus ganz Europa.
Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der DeutschenNationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 Verlag Anton Pustet Salzburg – Wien – MünchenA-5020 Salzburg, Bergstraße 12Sämtliche Rechte vorbehalten.
Lektorat: Mona Müry-Leitner, Silke DürnbergerSatz: Sieglinde LeibetsederDruck: Ueberreuter, KorneuburgISBN 978-3-7025-0562-2www.pustet.at
Vorwort
Zum Geburtstag
Geburtstage und Gäste
Moralische Ressourcen
Geladene Gäste
1 Europäische Identität: der 15. Februar
2 Ringen um das Menschenbild: der 29. April
3 Verträge brauchen Vertrauen: der 3. Mai
4 Wunde des Wissens: der 11. Mai
5 Vernunft im Religiösen: der 12. September
6 Boot auf hoher See: der 27. September
7 Verheißungen der Moderne oder der 24. Dezember
Das Symposion
Europäische Werte und das gute Leben
Die politische Kraft von Bindungen
Die Warnung vor einer einheitlichen Vision
Der 50. Jahrestag des Abschlusses der Römischen Verträge hat hier und dort zu Feierlichkeiten geführt, wurde dieses Datum – der 25. März 1957 – doch als Geburtsstunde des Europäischen Projekts gefeiert, das sich als Europäische Union seit den 1990er Jahren in einem beispiellosen Prozess der Veränderung und Vereinheitlichung Europas befindet. Dieses Jubiläum gibt Anlass, über eine Frage nachzudenken, die man als für Europas entscheidenden Kernpunkt ansehen kann – die Frage nach den moralischen Ressourcen Europas. An einem 50. Geburtstag stellen sich Fragen nach den Quellen eines Lebens, nach den Ressourcen, aus denen geschöpft wurde, auch nach den bemühten moralischen Kräften. Der 50. Geburtstag eines Menschen erinnert daran, dass hier ein Mensch aller Wahrscheinlichkeit nach den größeren Teil seines Lebens schon hinter sich hat. Aus diesem Grund mag sich in die Freude ein Hauch von Wehmut mischen. Im Falle des „Projekts Europa“ dürfen wir darauf hoffen, dass wir es hier nicht mit einem Projekt zu tun haben, das schon mehr Vergangenheit als Zukunft hat – zumal wir uns auch nicht mit dem Gedanken trösten könnten, dass die Kinder und Kindeskinder das Lebenswerk weiter tragen. Die einzelnen Nationalstaaten sind nicht die Kinder Europas, im Gegenteil: Sie sind als Eltern des Projekts in Erscheinung getreten. Der Blick in die Zukunft spendet also mehr Kraft als der Blick in die Vergangenheit. Und dieser Blick bleibt an manchen Unebenheiten der Gegenwart hängen – wo steht das europäische Projekt?
Um des Arguments willen, denn natürlich sind Rom oder die Römischen Verträge weder Anfang noch Mitte Europas: Stellen wir uns Europa, die von Zeus nach Kreta entführte Tochter des Agenor, als 50-jährige Frau vor, wenn sie zu ihrem Geburtstagsfest lädt. Hier interessieren uns auch ganz praktische Fragen: Sind wir eingeladen? Warum? Wer wird noch kommen? Was sollen wir mitbringen, was sollen wir anziehen, wie wird das Programm sein? Eine Geburtstagsfeier lässt tief in eine Kultur blicken, gehören doch die Choreographie von Geschenkübergaben mithin zum Subtilsten, was eine Kultur entwickelt.
Der folgende Essay möchte dabei grundsätzliche Fragen ansprechen, die nicht nur zum Anlass eines Geburtstages Aktualität beanspruchen können. Das zeigt sich schon daran, dass dieses Büchlein nicht zum eigentlichen Geburtstag, sondern danach erscheint – zu einem Zeitpunkt, wo das Feiern hinter uns liegt, mit all den Fragen, die Jubiläumsfeste aufwerfen. Wir wollen ja davon ausgehen, dass ein 50. Geburtstag nicht nur in ausgelassener Stimmung gefeiert wird, sondern auch Momente ruhigen Rückblickens mit sich bringt. In solchen Momenten wird über das Leben als Ganzes nachgedacht und die ebenso leise wie unabweisbare Frage: Worum gehr es eigentlich?
Worum geht es eigentlich – im Leben eines einzelnen Menschen, in einer Gesellschaft, in Europa? Diese Fragen werden im Rahmen der Salzburg Ethik Initiative (SEI), die von Erzdiözese Salzburg, Universität Salzburg und Raiffeisenverband Salzburg getragen wird, verfolgt. Gerade auch die Fragen nach den Fundamenten und der Zukunft Europas werden im Rahmen der SEI gestellt. Aus dieser Initiative heraus ist dieser Essay entstanden. Zu Dank verpflichtet bin ich den Stützen und Trägern der Salzburg Ethik Initiative: Erzbischof Alois Kothgasser, Prälat Hans Walter Vavrovsky, Prälat Johann Reißmeier, Rektor Heinrich Schmidinger, Professor Manfred Holztrattner, Direktor Peter Braun. Danken darf ich auch Vizerektorin Sonja Puntscher-Riekmann und Gottfried Schweiger für die Diskussionen um die Grundlagen Europas sowie Mona Müry-Leitner, Leiterin des Verlags Anton Pustet, für die Anregungen und die Begleitung auf dem Weg zu diesem Buch.
Dieser Essay hat mit der Erstellung einer moralischen Landkarte zu tun, mit der Herausarbeitung von Bezugsgrößen, die eine moralische Orientierung ermöglichen. Denn die Frage „Worum geht es eigentlich?“ kann nicht getrennt werden von den Fragen „Wo stehen wir?“, „Woher kommen wir?“, „Wo wollen wir hin?“. Dabei zeichnet eine solche Vermessung stets eine Momentaufnahme, das „Schiff Europa“ bewegt sich immer weiter, auch wenn jede Momentaufnahme ebenso Dauerhaftes und länger Gültiges darstellt. Ich möchte vorschlagen, die moralische Vermessung Europas vom Bild einer Geburtstagsfeier her anzugehen. Eine Geburtstagsfeier ist keine zufällige Ansammlung von Menschen und auch nicht ein Ereignis, das der schieren Dynamik der Situation mit ihren Zufälligkeiten überlassen werden könnte. Ein Fest kann gelingen oder misslingen, ähnlich wie das europäische Projekt, das Gegenstand – und auch Bezugsgröße – der Feier ist.
Jürgen Habermas hat in einem berühmten Bild die Situation der Philosophie der Neuzeit mit einer Gerichtsverhandlung verglichen, die zum Zwecke der Verhandlung der Frage „Was ist gültige Erkenntnis?“ einberufen wurde. Ähnlich fruchtbar könnte es sein, die Frage nach der Identität Europas in den Rahmen einer Geburtstagsfeier zu stellen. Welche Gäste dürfen nicht fehlen? Welche Gäste sind Bezugsgrößen, die den Standort Europas bestimmen? Eine Geburtstagsfeier bringt eine Reihe von Gästen zusammen. Diese sind mit der Geschichte Europas verbunden, in manchen Fällen ist ihre Anwesenheit Ergebnis von Einladungen, die man nicht nicht aussprechen kann. Selbst wenn, um ein Beispiel nennen, eine Geburtstagsfeier ohne die Erinnerung an die Behandlung von Flüchtlingen in Europa dem Geist von Behaglichkeit und Selbstgefälligkeit zuträglicher sein könnte und der Blick das Drama der Migration überbordenden Partygeist dämpfen dürfte, ist die Berücksichtigung dieses für Europas Identität prägenden Geschehens unabdingbar. Eine Geburtstagsfeier sagt sehr viel über die Identität von jemandem aus, durchaus auch im diskursanalytisch interessanten Modus der Heuchelei oder der strategisch gewählten Lobrede.
Eine Geburtstagsfeier drückt Identität aus, hat also den Charakter des Ausdruckshandelns; eine Geburtstagsfeier stiftet Identität, weil Menschen zusammenkommen, die ihre Bindung an das Geburtstagskind zum Ausdruck bringen; eine Geburtstagsfeier festigt und verteidigt Identität, weil die Art der Feier über das, was jemand darstellen will, etwas aussagt. Ein Geburtstag ist ein Fest, das Identität vergewissert. Im Unterschied zum Szenario einer argumentationsgestützten Gerichtsverhandlung geht es bei einer Geburtstagsfeier um die Kraft der Zeugenschaft, mehr um das „Zeigen“ und weniger um das „Sagen“, mehr um das „Wie“ als um das „Was“, um Feier und nicht Diskurs, um Identität und weniger um Argument.
Die Geburtstagsgäste erinnern sich auch an den eigentlichen Anfang, den Geburtstag des „Celebrandum“, des zu Feiernden. Die Geburtsstunde Europas mag man in den Römischen Verträgen sehen, aber das nimmt der Geburtstagsfeier einen gewissen Zauber, den Zauber der vagen Idee, des erwartungsvollen und unklaren Begriffs, der tastenden Sehnsucht, der kühnen Initiative, die am Anfang gestanden haben muss. Ähnlich verhält es sich doch bei der Geburt eines Kindes. Wir mögen der Geburt durch nüchternen Kaiserschnitt gedenken, aber was hier gefeiert wird, ist eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Menschen, die zueinander und zum Neuen, das aus dieser Anerkennung und Zuerkennung rührt, „Ja“ gesagt haben. Der Beginn neuen Lebens liegt vor dem Beginn der Schwangerschaft, der Beginn des Projekts Europa liegt vor der Unterzeichnung von Verträgen, ja vor der Vorstellung von Kontraktualisierung. Es liegt durchaus im Charme einer Geburtstagsfeier, an das Mysterium des Lebens zu rühren, das nicht restlos berechnet und vollständig kontrolliert werden kann. Es ist Aufgabe derjenigen, die das Projekt Europa feiern, an die nichtkontraktualistischen Anfänge, an die Kategorien „Traum“, „Hoffnung“, „Sehnsucht“, „Vision“ zu erinnern, die die Kraft gaben, den Weg hin zu den Verträgen in Angriff zu nehmen, Schritt für Schritt, getragen von einer wegweisenden und richtunggebenden Vision.
Der Schumanplan wurde am 9. Mai 1950 vorgestellt. Er ging auf eine Idee von Jean Monnet zurück, die französisch-deutsche Stahl- und Kohleproduktion unter eine gemeinsame Organisation zu stellen und sie für eine Beteiligung weiterer Staaten zu öffnen. Dieser Vorschlag war die Frucht eines Nachdenkens über die Zukunft Europas, näherhin über die Bewältigung der Gegebenheiten von Krieg und Nachkriegszeit, noch genauer über die Rolle, die Deutschland in Europa spielen sollte. Bereits 1924 hatte eine Gruppe rund um den französischen Nationalökonomen Charles Gide ein Komitee für eine Europäische Zollunion gegründet. Einerseits sollte damit eine Epoche transnationalen, europäischen Denkens eingeläutet werden, andererseits ging es um die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungen, was vor allem durch die zwei Jahre später erfolgte Gründung einer Internationalen Rohstahlgemeinschaft seinen Ausdruck fand. Weltwirtschaftskrise und Zweiter Weltkrieg verwandelten diesen Weg in eine Sackgasse - die allerdings nach Letzterem wieder geöffnet wurde. 1947 wurde die Bewegung für eine Europäische Einheit ins Leben gerufen, entscheidend mitgetragen durch Churchills Überzeugungen und Engagement. Im Mai 1949 wurde in Strassburg der Europarat gegründet, der im November des darauf folgenden Jahres die Europäische Konvention für Menschenrechte verabschiedete. Zuvor hatten mit Jahresbeginn 1948 die Beneluxstaaten eine Zollunion realisiert, die allerdings erst nach erfolgter Antwort auf die brennende Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa und den französisch-deutschen Beziehungen zu einem Motor für einen europäischen Transformationsprozess werden konnte. Der Schumanplan stellt eine solche Antwort in Aussicht. Deutschland wurde als gleichwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft behandelt und Teil eines internationalen Verbandes, der die Zukunft Europas prägen sollte. Im April 1951 wurde in Paris von sechs Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet. Großbritannien, gestützt durch angloamerikanische Zusammenarbeit und das Netz des Commonwealth, übte gegenüber dieser Dynamik eines europäischen Projekts noble Zurückhaltung, was eine französische Prägung der europäischen Institutionen zur Folge hatte. Dass Paris zum intellektuellen Zentrum der Nachkriegsjahre wurde, verstärkte zudem den französischen Einfluss. Dazu kam die für viele schmerzhafte Entkolonialisierung, die ein verstärktes Interesse am europäischen Raum mit sich brachte. Subtile Dynamiken von Exklusion und Inklusion, Allianzenbildung und Bündnisformung zeichneten sich ab, nachdem die europäische Transformation die Einteilung von „Siegerstaaten“ und „Kriegsverlierern“ de facto aufgehoben hatte. Gleichzeitig wurde jedoch die Zäsur zwischen Westeuropa und Osteuropa verstärkt und ein ungleichzeitiges und zweigleisiges Europa geschaffen.
Die Vorgeschichte zur Geburt1 ist ein vielschichtiges Konzil, das mit Stimmen von Hoffnung und Aufbruch, Ernüchterung und Fokussierung, Gestaltungswillen und Sorge, Misstrauen und Vorsicht, Kontrollabsicht und Regenerierungssehnsucht den Lärm des Krieges und die Wunde des Schweigens übertönen wollte. Hier stellen sich die Fragen: Was gab die Kraft für dieses schwierige Unterfangen? Woraus schöpften diejenigen, die das Projekt Europa verfolgten, ihr Durchhaltevermögen? Auf welche moralischen Ressourcen wurde hier zurückgegriffen? Es soll nicht verhehlt werden, dass neben wirtschaftlichen Überlegungen auch ein Hintergrund christlich-demokratischer Politik, verkörpert durch Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer und Robert Schuman eine Rolle gespielt haben dürfte. Es ging um die Identität Deutschlands, um das Selbstbewusstsein eines von zwei Weltkriegen gedemütigten und gespaltenen Europa, um die Frage nach den nationalen wie transnationalen Zielen, die die Wahl von Mitteln anleiten sollten.
Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass der mit den Römischen Verträgen angesetzte Beginn einer europäischen Transformation keine leichte Geburt war. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl war die Dynamik eines europäischen Kooperationsprojektes erlahmt. Es blieb den Beneluxstaaten vorbehalten, hier einen – wirtschaftlich motivierten – Neuanfang zu setzen. Der Hinweis, dass kleine Staaten zu diesem Zeitpunkt den bremsenden Ballast von Stolz und Sorge um Souveränitätseinbußen nicht im selben Maße zu tragen hatten wie die größeren Gebilde, mag vielleicht den Charakter einer Lektion haben. Die Konferenz von Messina 1955 brachte jedenfalls die sechs EGKS-Staaten und einen britischen „Observer“ an einen Tisch. Bereits im November dieses Jahres setzte sich die britische Euroskepsis durch, was zu einem Ausstieg des Inselkönigreiches führte. Der belgische Politiker Paul-Henri Spaak führte nach der Konferenz eine Kommission an, die im März 1956 ihre Empfehlungen vorlegte. Der Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde von jenen sechs Staaten unterzeichnet, die fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Projekt einer Montanunion unternommen hatten. Es dürfte kaum zu argumentieren sein, die Römischen Verträge als Ausdruck eines um sich greifenden Europaenthusiasmus zu deuten. Vielmehr waren volkswirtschaftliche Bedenken angesichts des Beginns des postkolonialen Zeitalters und der Ära eines zweigleisigen Europa mit seinen Auswirkungen auf Absatzmärkte – dezidiert nationale Interessen also – Motor des Geschehens, der allerdings nur stotternd in Gang gesetzt wurde: Widerstand gegen das Projekt trat in Frankreich ebenso auf wie in Deutschland, etwa aus dem Mund von Ludwig Erhard. Widerstand gegen das EWG-Programm zeigte sich in weiterer Folge auch darin, dass im November 1959 eine Europäische Freihandelszone debattiert wurde, die die EWG-Staaten allerdings nicht umfasste, da Frankreich einen entsprechenden Vorschlag Großbritanniens, das sich nun zunehmend für europäische Partner zu interessieren begann, zurückgewiesen hatte. Dass die europäische Transformation in institutioneller Hinsicht durch die EWG bewirkt wurde, zeigt sich unter anderem in der zunehmenden Attraktivität dieses sich auch zusehends nach exklusiver Clubstruktur verstehenden Bündnisses, das Großbritannien erst im dritten Anlauf im Jahr 1973 – gemeinsam mit Dänemark und Irland – die Mitgliedschaft zuerkannte. Sowohl die Vor- als auch die Nachgeschichte der Römischen Verträge sind also von Konflikten und Spannungen, strategischen Überlegungen, wirtschaftlichen Interessen, pragmatischem Entgegenkommen und einer gehörigen Portion Skepsis geprägt.
Diese Mischung drückt auch das Ringen um Profil, Konturen, Zielbestimmungen und Identität aus. Auf der Suche nach der europäischen Identität mag es dienlich sein, einen Blick auf die Gästeliste zu Europas 50. Geburtstag zu werfen. Man begegnet sieben Gästen, sieben symbolträchtigen Tagen aus der Geschichte des Projekts Europa. Sie sind zugleich Koordinaten einer moralischen Landkarte Europas. Es sind mehrheitlich junge Gäste als Teil der jüngeren und jüngsten Geschichte Europas — zum einen weil die jungen Gäste die Zukunft prägen und einen besonderen Bezug zu unserer gegenwärtigen Situation aufweisen, zum anderen weil sich in der Fähigkeit, Junges wachsen zu lassen, die Reife ein Menschen zeigt, seine Generativität, seine Fähigkeit, fruchtbar zu wirken. Zudem bietet sich die Vielschichtigkeit von Identität im jungen Leben – Enkel geben Lebensschwung und Lebenskraft, können aber auch die Midlifecrisis mitverursachen. Werfen wir also einen Blick auf sieben geladene Gäste, die zur Geburtstagsfeier des europäischen Projekts gekommen sind. Nicht alle Tage sind „willkommen“, auch wenn sie geladen werden mussten; so manche Tage hätten wir lieber nicht erlebt.
Eine moralische Vermessung soll eine Frage verhandeln, die mit dem zusammenhängt, was in meinem Leben zum Wichtigsten gehört - dem Wohl meiner Kinder. Wenn wir nach Europas Zukunft und Profil fragen, so fragen wir nach einer „Lebenswelt“, nicht nur nach einem „System“. Wir fragen nach Parks mit ihren Bänken, auf denen man sitzen kann, wir fragen nach Universitäten und ihren Zugängen, wir fragen nach Geschäften und ihren Angeboten, wir fragen nach Wohnraum und kulturellem Leben; wir fragen nach Räumen und Zeiten für Freundschaften; auch das klingt noch zu sehr nach faden Allgemeinplätzen: Wir fragen danach, ob aus Europa noch Filme wie La vita e bella kommen werden, wir fragen danach, welche Bücher sich in der Ära nach Harry Potter in den Buchhandlungen türmen werden; wir fragen danach, welche Form von Bindungen Menschen bereit sein werden einzugehen; wir fragen nach der Rolle, die die Gedanken Kants, das Lebenswerk der Mutter Teresa, die Musik Schuberts spielen werden. Auch das klingt irreführend. Wir wollen ja nicht erraten, wie die Zukunft sein könnte, sondern uns danach fragen, aus welchen Quellen unsere Kinder schöpfen werden, wenn sie durchs Leben gehen. Was wird ihnen den langen Atem für schwierige Vorhaben geben? Wie werden sie Erich Fromms Die Kunst des Liebens lesen? Was werden sie mit den biblischen Geschichten als Orientierung für ihr Leben anfangen können? Oder auch: Wie werden sie ihre Geburtstage feiern? Wie werden sie unsere Geburtstage feiern? Werde ich als 80-jähriger Mann unter dem Erwartungsdruck ewiger Jugend stehen und mit dem Zwang des Beweglichen und Dynamischen ringen müssen? Werden meine Kinder in einer Gesellschaft leben, die mir mehr oder weniger subtil zu verstehen gibt, dass auf mein Ableben gewartet wird, dass mein Leben teuer im Sinne von „kostspielig“ und nicht im Sinne von „wertvoll“ ist und die Demographie mich zum Teil jenes schweren, alten und unbeweglichen Haufens zählen lässt, der die Waagschale der gesellschaftlichen Balance niederdrückt? Wird Auschwitz im kulturellen Gedächtnis Schritt für Schritt in weite Ferne rücken, so wie der Dreißigjährige Krieg?
Die Frage nach der Identität Europas ist für diejenigen, die in Europa leben wollen oder sich als Europäer verstehen, keine Frage von Formeln oder Formularen, sondern eine Frage der Lebenswelt, einer Welt, um deren Lebenswert wir kämpfen. Die Frage nach Europa ist vor allem auch die Frage nach der Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, ein Leben, das begründet und empfohlen werden kann. Es geht um die Frage nach den Quellen, aus denen wir leben wollen und die es uns möglich machen zu leben – es geht um moralische Ressourcen, Quellen für Bindungen und Bindungskraft. Mutter Teresa und Mahatma Gandhi schöpften ihre moralische Lebenskraft aus religiösen Überzeugungen; Peter Benenson, der Gründer von Amnesty International, berief sich auf seinen Sinn für Recht und Gerechtigkeit und seine Achtung im den Menschenrechten; Simone Weil auf ihren Sinn für Solidarität und ihre Erfahrung des Leidens in der Arbeitswelt. Es soll hier nicht um eine Bewertung moralischer Ressourcen gehen, wie sie etwa im Werk von Lawrence Kohlberg ausfindig gemacht werden könnte, sondern lediglich um die Frage nach den moralischen Ressourcen, die uns in Europa zur Verfügung stehen. Man kann dies durchaus mit Energievorkommen vergleichen. Welche Quellen für moralische Energie, für die Kraft, moralisch zu handeln, können wir in Europa identifizieren?
Moralische Ressourcen sind also Quellen für Bindungen; sie haben zumindest drei Dimensionen: Eine kognitive Dimension, die mit Überzeugungen verbunden ist; eine affektive Dimension, die mit einer gefühlsmäßigen Färbung dieser Bindungen zusammenhängt; eine volitive Dimension, die diese Bindungen als Resultat wie einen Motor von Willensentscheidungen werden lässt. Ein Versprechen, abgegeben an einem Sterbebett, kann eine moralische Ressource sein, eine Entscheidung, die mit gefühlsmäßigen Bindungen und Überzeugungen einhergeht. Der Wunsch, ein Leben zu führen, für das man sich nicht schämen muss, kann eine moralische Ressource sein, verbunden mit Überzeugungen betreffend das gute und gelingende Leben und verbunden mit den Empfindungen gegenüber den Menschen, mit denen man das Leben lebt. Philippe Grimbert, um wieder auf Europa zurückzukommen, beschreibt in seinem autobiographischen Roman Ein Geheimnis die Geschichte seiner Familie, einer jüdischen Familie in Paris in den Jahren des Krieges. Diese Geschichte mag in manchem vielen Familiengeschichten ähneln, die durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges in Europa in neue Konstellationen gepresst wurden. Diese Geschichte wird für ihn zu einer moralischen Ressource, ist ausschlaggebend für seinen Wunsch, sich der Psychoanalyse zuzuwenden. Eine Freundin, die ihm Zugang zu dieser seiner Geschichte verschafft hatte, ließ ihn dadurch erkennen, welchen Platz er in dieser Geschichte einnahm, in der es Verstrickungen und Verschleppungen, einen deportierten Bruder gab. „Von der Bürde befreit, die auf meinen Schultern lastete, hatte ich daraus eine Stärke gemacht.“2 Aus dieser Familiengeschichte wird für Philippe Grimbert eine Quelle für moralische Orientierung und moralische Kraft, eine moralische Ressource.
Werte sind dann moralische Ressourcen, wenn sie Gegenstand identitätsstiftender Selbstverpflichtungen sind. Die Anerkennung des abstrakten Wertes „Toleranz“ bedeutet noch keinen Zugang zu einer moralischen Ressource; das ist erst dann der Fall, wenn das Verständnis von und Bemühen um Toleranz die Lebensform prägt, der Charakter durch die Bindung an diesen Wert geformt wird, Beispiele toleranten Handelns angeführt und Geschichten über Herausforderungen an eine Haltung der Toleranz erzählt werden können. Gerade in schwierigen Situationen zeigen sich die moralischen Ressourcen, aus denen wir schöpfen. Es ist eine Sache, Solidarität als einen Wert anzuerkennen und zu bewerben. Es ist eine andere Sache, in Zeiten der Krise diesen Wert zu leben. Um noch ein Beispiel aus Frankreich zu nehmen: Irène Némirovsky, die 1942 in Auschwitz ermordet wurde, schildert in ihrem jahrzehntelang verschollenen Roman Suite Française den Sommer 1940 in Paris. Die große Flucht der Menschen beginnt, in dieser Zeit der Katastrophe offenbaren sich die moralischen Kräfte und Charaktere der Menschen: Die wohl situierte Madame Péricand, die zunächst mit großen Gesten Almosen verteilt hatte, erkennt zusehends das Ausmaß des Dramas und die Knappheit der Lebensmittel. Sie verbietet ihren beiden Kindern strikt, weitere Vorräte zu teilen. „Die christliche Nächstenliebe, die Mildtätigkeit von Jahrhunderten Zivilisation fiel wie eitler Zierart von ihr ab und enthüllte ihre ausgedörrte, nackte Seele. Sie waren allein in einer feindseligen Welt, sie und ihre Kinder. Und sie mußte ihre Jungen ernähren und schützen. Der Rest zählte nicht mehr.“3 Der Rest zählte nicht mehr angesichts der lähmenden Angst, der Enge des ungewissen Ausgangs und der dadurch beschleunigten Entsolidarisierung, wie sie den meisten von uns auch aus eigenem Verhalten bekannt ist.