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Institutionen sind verfestigte Formen des sozialen Lebens. Krankenhäuser und Schulen sind z. B. Institutionen, aber auch die Ehe oder bestimmte kulturelle Traditionen. Als stabile Formen des Zusammenlebens prägen Institutionen Gesellschaften und werden deswegen häufig als Motoren für gesellschaftliche Veränderungen angesehen. Der Sozialethiker Clemens Sedmak bietet in diesem Band eine systematische und beispielreiche Einführung in die Ethik von Institutionen. Seine Grundthese lautet, dass anständige Institutionen Bedingungen für Integrität schaffen und damit das gute Leben von Menschen befördern.
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Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2025
Clemens Sedmak
ANSTÄNDIGE INSTITUTIONEN
Ethik für Organisationen und Unternehmen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Lektorat: Sophie Dahmen, KarlsruheUmschlaggestaltung: Finken & Bumiller, StuttgartE-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print: 978-3-451-07245-1ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-83666-4
1.Institutionen und Lebenswelten
2.Die Bedeutung von Institutionen
3.Institutionen und Vorstellungskraft
4.Design und Fundament einer Ethik von Institutionen
5.Integritätsgefährdende Institutionen
6.Moralische Güter
7.Moralische Rahmengüter
8.Primäre moralische Güter
9.Sekundäre moralische Güter
10.Moralische Stützgüter
Institutionen dienen dem Zweck, das gute Leben von Menschen unter Berücksichtigung der vielen nichtmenschlichen Formen von Leben zu befördern. Institutionen sind Mittel zum Zweck, nicht Zweck. Das Bauen von Institutionen ist nicht Endpunkt menschlichen Lebens, sondern Arbeit an Werkzeugen und Rahmenbedingungen. Wir können uns institutionellen Dynamiken nicht entziehen.
Diese Studie will eine leicht zugängliche Hinführung zu Fragen der Institutionenethik sein, wobei Verständlichkeit nicht um den Preis einer bloß beschreibenden Herangehensweise erkauft werden soll. Dieses Buch will also nicht nur sagen, was Institutionen sind, sondern auch und vor allem, wie sie sein sollen. Durch dieses Buch wird sich eine normative Linie ziehen, eine These darüber, was aus moralphilosophischer Sicht von Institutionen erwartet werden soll. Es verfolgt damit ein doppeltes Ziel: inhaltliche Verständlichkeit und moralische Klarheit.
Ich gehe in diesem Text von einer einfachen und plausiblen Wertebasis aus, die im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden wird. Von da aus soll eine praxisnahe Reflexion über würdezentrierte Institutionen angeboten werden, die im Dialog mit vielen Beispielen erfolgt. Dabei werden zwölf moralische Güter (Grundwerte) und zu jedem dieser Güter drei Dimensionen identifiziert, die als Fragerichtungen dienen, also als Einladungen, in eine bestimmte Richtung zu sehen. Die Frage, was die einzelnen Güter und deren Dimensionen für eine spezifische Institution bedeuten, kann nicht delegiert werden und bleibt Aufgabe der praktischen Vernunft in einem partikularen Zusammenhang.
Der hier gewählte Zugang soll theoretische Diskussionen mit praktischen Beispielen und Erfahrungen aus dem Alltag von Institutionen verbinden. Das Buch kann auf primäre Daten zurückgreifen, die für diese Institutionenethik geschaffen wurden ‒ eine Reihe von Interviews mit Angestellten des englischen National Health Service (NHS), mit Mitarbeiter:innen in österreichischen Spitälern und ausgewählten Institutionen sowie eine Reihe von Interviews mit Personen im Reinigungsdienst im Großraum Salzburg. Diese Daten wurden hier verarbeitet und mit der allgemeinen Theorie der Institutionenethik verbunden.
Die Institution der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und im weiteren Verlauf der Verlag Herder haben dieses Buch unterstützt und gastfreundlich aufgenommen; mein großer Dank gilt Susanne Fischer, Jonas Bogumil, Regine Gamm und Patrick Oelze für die ebenso wohlwollende wie geduldige Begleitung.
Ein eindrückliches Beispiel für das Bemühen um eine anständige Institution darf an den Anfang des Buches gestellt werden ‒ die Universität Salzburg unter der Leitung von Rektor Heinrich Schmidinger. Heinrich Schmidinger hat die Geschicke der Universität als Dekan, als Vizerektor und als Rektor mitbestimmt. Er hat seine Qualitäten als »Gentleman« im Sinne John Henry Newmans immer wieder bewiesen. Ein Gentleman ist fähig, unterschiedlichste Menschen willkommen zu heißen, er ist rücksichtsvoll und damit ein Beispiel dafür, wie ein Mensch einen anderen Menschen respektieren kann. Respekt geschieht nicht im Lauten und Grellen, nicht im Pompösen und Demonstrativen.
In einem Interview mit dem Standard im Dezember 2015 sagte der damalige Rektor Schmidinger und Präsident der Österreichischen Universitätenkonferenz: »Ich bin ein Mensch, dem das Lautstarke nicht liegt und der von Kampf nicht viel hält, sondern auf stille Diplomatie und Vermittlung setzt.« Stille Diplomatie ist beispielhafter Dienst an Höflichkeit, Vertrauen und Frieden. Die stille Diplomatie Schmidingers zeigte sich in der Fähigkeit, Brücken zu bauen über vermeintliche oder reale Gräben hinweg. Dadurch wurde Vertrauen geschaffen und eine Kultur des Zuhörens etabliert.
Heinrich Schmidinger hat durch das Beispiel seiner Führungsarbeit gezeigt, was Integrität in administrativer Tätigkeit bedeuten kann.
So sei dieses Buch Heinrich Schmidinger gewidmet.
Salzburg und South Bend im Sommer 2024
Über viele Jahre hinweg gab es in der Stadt Salzburg eine Initiative, die niederschwellige, unbürokratische und damit nicht-institutionalisierte finanzielle Unterstützung für Bedürftige anbieten wollte. Zuletzt hatte Initiator Max Luger einen »Fairshare«-Container im Zentrum der Stadt, in unmittelbarer Nähe zum Sitz des Bürgermeisters, betrieben. Alle, die Geld geben wollten, konnten ihn dort zu bestimmten Zeiten besuchen, alle, die in Geldnot waren, durften an seine Tür klopfen.1
Die Initiative enthält viele Lehrstücke über das Wirken und Walten von Institutionen. Max Luger ist bei der Errichtung seines Containers auch auf bürokratische Unterstützung angewiesen. Er erhält eine Bewilligung von Bürgermeister und zuständigem Stadtrat, er bekommt ein Grundstück zugewiesen, auf dem er den Container aufstellen kann. Damit er Strom in den Container legen kann, sind bestimmte Auflagen zu erfüllen. Dann beginnt er, an vier fixen Tagen zu fixen Zeiten, den Container zu öffnen. Diese stabilen Zeiten am stabilen Ort mit stabiler Funktion sind bereits Ausdruck einer gewissen elementaren Institutionalisierung. Luger will Lücken füllen, die das institutionalisierte Sozialsystem aufweist; bei Zwangsräumungen beispielsweise kann es zu dramatischen Situationen kommen, in denen Menschen durch alle Sicherungssysteme fallen und rasche Überbrückungshilfe brauchen. Ähnliches gilt für das Einklagen von nicht bezahlten Alimenten. Der Container bietet schnelle und unbürokratische Hilfe an, Geld wird über den Tisch verteilt, Menschen kommen ohne Termin, können jederzeit während der Öffnungszeiten auftauchen. Luger hat kein teures Büro (den Container hat er selbst bezahlt), keine Werbeausgaben, keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Lugers Initiative reagiert damit auf die oft bittere Erfahrung, die Armutsbetroffene mit Institutionen machen müssen. Zum Beispiel: »Ich musste lange warten. Nach drei Stunden kam ich dran, da hatte ich schon sieben Zettel ausgefüllt, gefühlt hunderttausend Unterlagen. Und dann sagte mir die Mitarbeiterin ins Gesicht, dass ich nichts bekomme.«2 Luger ersetzt diese gesichtslose Hilfe von großen Institutionen (wie auch das roboterisierte Spenden durch Mausclicks) durch den persönlichen Kontakt. Die meisten Unterstützer sind Freunde und Bekannte, die Luger persönlich kennen, Vertrauen ist die Basis des Umverteilungsgeschäfts.
Aber auch im Fall des Fairshare-Containers lässt sich Bürokratie nicht zur Gänze vermeiden. Luger macht sich Notizen, wenn er Gespräche mit Bedürftigen führt. »Der Verwaltungsaufwand ist minimal und doch schleicht sich Bürokratie in das Projekt ein … Die Namen der Spenderinnen und Spender und die gespendete Summe wird in eine ›Geberliste‹ eingetragen. Für jede Bittstellerin und jeden Bittsteller wird ein ›Stammdatenblatt‹ angelegt. Luger erfasst Basisinformationen wie Familienstand, Größe der Wohnung, Anzahl der Kinder oder Hintergrundinformationen zur Notlage.«3 Er arbeitet mit einem »gläsernen Konto«, sodass alle jederzeit sehen können, wie viel gespendet und wie viel ausgegeben worden ist. Er übernimmt auch alle Nebenkosten selbst, sodass er tatsächlich damit werben kann, dass jeder gespendete Euro direkt an Menschen in Geldnot weitergegeben wird. Und doch muss er, wie jede Institution, Regeln einführen und sich an Regeln halten: Luger muss ein Kategoriensystem einführen und Prioritäten klären; die ersten drei Kategorien sind: (1) Unfälle, schwere Krankheiten oder hohe Medikamentenkosten; (2) Alleinerziehende, die wegen unterlassener Unterhaltszahlungen klagen; (3) zerbrochene Familien, meist in Verbindung mit Drogensucht. Er muss sich also überlegen, wo die Wirkung des Geldes am größten ist.4 Luger unterstützt Wohnungslose nicht, da es in Salzburg eine Reihe von Organisationen gibt, die dies tun. Er will also »Unterstützungsnischen« bewohnen und auf nicht entsprechend abgedeckte Notlagen antworten. Und er tut dies mit Kategorien, die, zumindest implizit, zwischen »ordentlicher und würdiger Armut« und anderen Armutsformen unterscheiden lassen. Diese Regeln sind selbstredend Ansätze einer Institutionalisierung. Hier deutet sich auch eine Arbeitsteilung an ‒ Lugers Initiative kann Lücken schließen, die von staatlichen Einrichtungen oder großen Hilfsorganisationen nicht abgedeckt werden. Und gleichzeitig ist das Sozialnetz auf die großen Einrichtungen angewiesen.
Lugers niederschwellige Initiative kann rasch an Grenzen kommen, etwa durch: Dauernotlagen, Betrug, Vernetzung, Gewalt. Luger will keine Stamm- und Dauergäste. Das Konzept zielt auf einmalige oder wenigstens seltene Hilfe im Ausnahmefall ab. So muss Max Luger einer Frau erklären, dass er ihr nicht regelmäßig helfen kann. Sie ist Alleinerzieherin mit einem behinderten Kind, der Mann ist gewalttätig, das Pflegegeld reicht nicht.5 Da tun sich strukturelle Defizite auf, die Lugers private Initiative nicht abfangen kann. Hier bringen ihn Menschen, die sich in verfestigten Armutslagen befinden, an Grenzen. Betrug: Luger bekommt auch Lügen aufgetischt: die verlorene Geldtasche, der verlorene Mantel mit Reisegeld; eine Betrügerin aus Deutschland erzählt, dass sie von ihrem Freund auf die Straße gesetzt worden sei.6 Ein drogenabhängiger Mann täuscht eine Krebserkrankung vor.7 Die Initiative, die auf Vertrauen beruht, will nicht in den Abgrund von dauerhaftem Misstrauen gedrängt werden. Es fehlt aber an Kontrollmechanismen. Vernetzung: Menschen in Not sind gut vernetzt. Es spricht sich herum, was Luger anbietet und welche Geschichten erfolgversprechend sind. Armutsbetroffene Menschen sind gezwungen, Lebenskünstler zu sein und sich nach dem Angebot zu strecken. Das kann rasch zur Überforderung der doch überschaubaren Mittel kommen. Luger kann nur verteilen, was er hat. Schließlich, tragischerweise, zeigt sich auch Gewalt als eine Grenze. Jeder und jede kann zu den Öffnungszeiten den Container betreten. Hier gibt es keine Pforte, kein Sicherheitspersonal, Geld ist zugänglich. Max Luger wird von einem jungen drogensüchtigen Mann überfallen und niedergeschlagen.8 Durch das Trauma des Überfalls kommt die Initiative an ein Ende.
Auch dieses Ende ist eine Lektion in Institutionenforschung. Institutionen können sich besser auf die »worst case«-Szenarien vorbereiten als eine private Initiative. Ein höherer Grad an Institutionalisierung kann die Aktivitäten, um die es geht, besser schützen und verfestigen.
Die Frage, der sich Max Luger gestellt hat, bleibt: Gutes tun ohne Bürokratie ‒ wie geht das?
Diese simple Frage führt in den Kern der Ethik von Institutionen. Wie unterstützen Institutionen das gelebte Gute? Wo werden Institutionen zum Hindernis und Stolperstein auf dem Weg zu Menschlichkeit und Solidarität?
Gehen wir von Salzburg nach Toronto: Die New York Times berichtet in ihrer Ausgabe vom 16. April 2021 von Khaleel Seivwright, der in Toronto mit der Hilfe von 40 ehrenamtlich Tätigen und beträchtlichen Spendengeldern mehr als hundert einfache Holzunterkünfte für Wohnungslose errichtete. Der Anfang war ein Moment der Menschlichkeit: Khaleel sah die Zelte am Rand der Straße und wollte angesichts der sinkendenden Temperaturen zum Anfang des Winters etwas tun, um menschenwürdigen Lebensbedingungen eine Chance zu geben. So errichtete er eine einfache Holzbox mit einem Fenster, installierte einen Rauchmelder und klebte einen Zettel an die Außenwand: Jede:r ist hier willkommen.9
Die kleinen »Häuser« wurden auf öffentlichen Flächen, etwa in Parks, aufgestellt. Khaleel Seivwright hatte selbst die Erfahrung von Wohnungslosigkeit gemacht, als er auf einer großen Baustelle in der Nähe von Vancouver arbeitete und während eines Zeitraums von fünf Monaten in einem Zelt in einem großen Park nahe dem Burnabysee hauste. Die Einsicht, dass ein Zelt kein angemessenes »Dach über dem Kopf« ist, war im Falle von Herrn Seivwright erlittenes Erfahrungswissen.
Die Stadtverwaltung in Toronto war nicht amüsiert, erklärte die Unterkünfte für illegal und nicht den Sicherheitsstandards angemessen und verfügte Delogierungen. Khaleel Seivwright wurde aufgefordert, das Errichten von derartigen Notunterkünften zu unterlassen. Camping in Parks sei gesetzeswidrig. Gegen diese Entscheidung und dieses Vorgehen regte sich wiederum der Widerstand der Zivilgesellschaft.
Gutes tun trotz der Bürokratie: geht das?
Das Hauptargument der Stadtverwaltung Torontos ist das Argument der Ordnung. Menschliches Zusammenleben muss Regeln unterworfen sein, also einer bestimmten Ordnung folgen, um langfristig reibungsarm funktionieren zu können. Phänomene wie »Wildwuchs im öffentlichen Raum« und »dauerhafte Übernahme von öffentlichen Räumen für private Zwecke« erodieren die Ordnung. Und hier gilt immer auch das Argument von den »gefährlichen Anfängen« ‒ wenn einmal eine Tatsache geschaffen wird (eine Behausung in einem Park), werden weitere Tatsachen im Sinne des Vorbildeffekts folgen ‒ und wo führt diese Entwicklung hin?
Gleichzeitig ist die Frage nach den Alternativen zu stellen ‒ über 80 000 Menschen sind auf einer Warteliste für geförderte Wohnungen in Toronto erfasst. Sollen sie in Zelten leben? Die Kapazität der städtischen Obdachlosenheime reicht nicht aus, zudem sind sie (wiederum im Sinne der notwendigen Ordnung) klaren Regeln unterworfen.
Welche Rolle sollen Institutionen im Zusammenleben von Menschen spielen?
Man kann Institutionen als Einrichtungen verstehen, die Dienst am guten Leben leisten. Sie sind, um ein Bibelwort zu paraphrasieren, für den Menschen da, nicht umgekehrt. Institutionen sind besonders da gefragt, wo Einzelne an ihre Grenzen kommen. In einer Gesellschaft teilen sich Institutionen und Individuen die »Würdearbeit«, die Arbeit, die notwendig ist, damit Menschen in Würde und miteinander leben können. Hier sind sowohl einzelne Menschen als auch Institutionen moralisch verletzlich.
Zurück nach Salzburg: Im Herbst 2022 erschüttert ein Pflegeheimskandal die Stadt. Der profitorientierte Betreiber eines Pflegeheims hat Missstände zu verantworten. Hungernde, verwahrloste, wunde Senioren. Die Volksanwaltschaft stattet der Pflegeeinrichtung am 21. April 2022 einen unangekündigten Besuch ab. Die der Salzburger Landesregierung und dem Sozialministerium vorgelegte »Missstandsfeststellung und Empfehlung des Kollegiums der Volksanwaltschaft«10 ist erschütternd. Ein Zitat aus dem Bericht:
»Besonders dramatisch stellte sich zum Zeitpunkt des Kommissionsbesuchs die Situation der Bewohnerin Frau N.N. (Pflegestufe 5, 42,5 kg) dar. Frau N.N. gab gegenüber der Kommission am Besuchstag selber an, ihren Alltag im Bett liegend bei ständig starken Schmerzen im Steißbereich zu verbringen. Die Kommissionsmitglieder beobachteten einen Verbandswechsel durch die zuständige DGKP, bei dem ein massiver Dekubitus mit Beteiligung des Steißknochens und einer etwa zwei Hände großen Hauttasche freigelegt wurde. Vom Wundgeschehen ging bereits Fäulnisgeruch aus. Frau N.N. wurde vor dem Verbandswechsel weder ein Schmerzmedikament angeboten, noch wurde sie nach aktuellen Schmerzen gefragt. Es erfolgte keine professionelle Reinigung der Wundränder, und eine tägliche Wundbeschreibung fehlte ebenfalls … Die Kommission stufte die Situation von Frau N.N. als lebensbedrohlich ein und befürwortete einen sofortigen Transfer in eine Krankenanstalt. Wie die Kommission später erfuhr, verstarb Frau N.N. kurze Zeit nach dem Kommissionsbesuch.«11
An dieser tragischen Begebenheit zeigt sich die moralische Vielschichtigkeit von Institutionen: Professionelle Pflege kann in einem Familienverband nur selten gewährleistet werden; das macht eine höhere Institutionalisierung der Pflege (über die Institution der Familie hinaus) notwendig; professionelle Pflege findet in einem Rahmen statt, der auf eine angemessene Infrastruktur und Personalausstattung angewiesen ist. Im vorliegenden Fall hatte das Pflegeheim mit Unterbesetzung zu kämpfen, was die Betreiberfirma allerdings nicht daran hinderte, mit Blick auf die Finanzierungsstruktur zu agieren.12 Das lässt die Frage nach den Anreizsystemen stellen und wirft auch die Frage auf, ob eine »for profit«-Gestaltung des Pflegebereichs ethisch vertretbar ist. Die Begebenheit zeigt auch die Verschränkung von Institutionen auf (Volksanwaltschaft stattet dem Pflegeheim einen Kontrollbesuch ab und übermittelt einen Bericht an Landesregierung und Bundesregierung). Diese innerinstitutionelle Verschränkung zeigt sich auch darin, dass sich an diesem Skandal beteiligte Institutionen (etwa Stadt Salzburg, Land Salzburg) über die Verantwortung uneins waren, eine Dynamik, die sich häufig in der Verschiebung und Zuschreibung von Schuld zeigt. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass eine bestimmte Institution in eine Landschaft von Institutionen eingebettet ist ‒ so konnten andere Pflegeeinrichtungen in Salzburg Bewohner des dysfunktionalen Pflegeheims aufnehmen. Der Begriff der Dysfunktionalität ist in diesem Fall gerechtfertigt, da das Pflegeheim seiner Funktion (oder »Mission«), Menschen nach menschenwürdeverträglichen Standards zu betreuen, nicht (mehr) nachgekommen war. Dabei geben die gesetzlichen Bestimmungen, denen das Pflegeheim unterliegt, Anhaltspunkte für die einzuhaltenden Standards und damit auch für die Funktionstüchtigkeit an die Hand. Institutionen bieten den Rahmen für die Arbeit von und in Institutionen ‒ ein Aspekt, der uns noch beschäftigen wird. Welche Regelwerke sind in welcher Dichte notwendig? Hier können sich Phänomene wie Überinstitutionalisierung wie auch Unterinstitutionalisierung zeigen. Eine Ethik von Institutionen wird entsprechend um ein Gleichgewicht ringen.
Institutionen können, wie obiges Beispiel zeigt, über Leben oder Tod entscheiden. Das wirft die Frage nach ethischen Standards für Institutionen auf oder auch die Frage: Was sind anständige Institutionen?
1 Institutionen und Lebenswelten
Institutionelle Abhängigkeiten
Institutionell überformte Biographien
2 Die Bedeutung von Institutionen
Erkenntniskulturen und Institutionen
Die politische Bedeutung von Institutionen
3 Institutionen und Vorstellungskraft
Schöne andere Welten
Höllenvorstellungen
Institutionen prägen das Leben einzelner Menschen und koordinieren das Zusammenleben; sie haben einen Einfluss auf die Gestaltung des Alltags und ihr Einfluss reicht bis in enge Gemeinschaften wie Familien und intime Beziehungen, Ehen und Partnerschaften. Institutionen sind notwendige Elemente menschlicher Koexistenz, weil wir in ungeregeltem Chaos oder dem Naturzustand, wie ihn Thomas Hobbes beschrieben hat, nicht dauerhaft friedlich leben könnten. Institutionen sind einerseits Wertgebäude ‒ wie die Institution der Ehe ‒, andererseits Einrichtungen zur sozialen Koordination wie eine Schule. Ein Standesamt ist eine Institution, die andere Institutionen verwaltet. Der besondere Akzent in diesem Buch liegt auf greifbaren (»tangiblen«) Institutionen wie Schulen, Behörden und Krankenhäusern.
Institutionen sind verfestigte Formen des Zusammenlebens.1 Sie sind, wie es Helmut Dubiel ausgedrückt hat, »der unmittelbaren Disposition des individuellen Subjekts weitgehend entzogen.«2 Institutionen sind Strukturen oder soziale Praktiken. Sie gestalten das überindividuelle Leben in einer Weise, die Emil Durkheim bewogen hat, »alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen« als Institutionen zu bezeichnen und damit die Soziologie insgesamt als Wissenschaft von den Institutionen zu verstehen.3 Institutionen sind menschengemachte Regelwerke, die menschliche Interaktionen koordinieren.4 Institutionen sind »unentbehrlich, wenn im Miteinander der vielen die Handlungen koordiniert und eine gewisse gegenseitige Verläßlichkeit gewährleistet werden soll.«5 Institutionen prägen das Leben von uns Menschen, sowohl als formale als auch als informelle Institutionen; letztere sind Traditionen und etablierte Weisen, miteinander umzugehen. Diese informellen Institutionen schaffen eine Handlungssicherheit, die ihrerseits jenes Vertrauen stärkt, ohne das gedeihliches Zusammenleben nicht möglich ist.6 Informelle Institutionen schaffen auch Erzählungen, in denen wir uns wiederfinden, identitätsstiftende Erinnerungskulturen und kollektive Gewohnheiten. So wird gemeinsame und geteilte Praxis möglich. Die Landschaft von unterschiedlichen Institutionen schafft eine soziale Gemeinschaft.7 Auf diese Weise wird menschliches Zusammenleben strukturiert.
Institutionen schaffen und verwalten Kategorien und Klassifikationen und nehmen dadurch auch Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen. Steuerbehörden verwalten Steuerklassen, Sozialämter verwalten Pflegestufen, Einwanderungsbehörden verwalten den gesetzlichen Status eines Menschen im Land und so weiter. Douglas Massey hat gezeigt, dass die migrationsbezogene Gesetzgebung in den USA Kategorien geschaffen und verwaltet hat, die über Existenzfragen entschieden haben: Während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren wurden fast eine halbe Million Mexikaner deportiert; während des Zweiten Weltkriegs wurden tausende mexikanische Arbeiter im Rahmen des Bracero-Programms durch zeitlich begrenzte Visa ins Land geholt. Mit dem Auslaufen dieses Programms im Jahr 1964 wurden alle diese Arbeiter illegal.8 Dies geschieht durch institutionelle Entscheidungen, die gewissermaßen am grünen Tisch über Zughörigkeit und Status von Menschen entscheiden. Hier werden durch Kategorien und Kategorisierungen Status geschaffen und die Wahrnehmung von Status beeinflusst ‒ man denke an die vielen kolonialen Gesetzgebungen, die die Kategorie »schwarz« oder »farbig« verwaltet haben, oder das südafrikanische Apartheidsregime mit seiner »Farbenlehre«.9
Institutionen strukturieren unseren Handlungsraum und den Status von Handelnden und Handlungen.10 John Searle führt den Begriff der Statusfunktion ein; Institutionen haben die Macht, Status zu schaffen. Ein einschlägiges Beispiel ist der Übergang von einer physischen Mauer zu einer symbolischen Begrenzung. Ein Stamm, um Searles Beispiel zu verwenden, baut eine Mauer, um sich vor Feinden zu schützen. Die Mauer ist mächtig und schwer zu überwinden. Im Laufe der Zeit jedoch zerfällt das Konstrukt, die Mauer bröckelt, es bleibt nur eine Reihe von Steinen über, die ein Kind überschreiten kann. Dennoch kann, mit hinreichender institutioneller Kraft, die Steinreihe als sozusagen symbolische Begrenzung ausreichen, um Menschen davon abzuhalten, den von den Steinen eingesäumten Grund zu betreten. Menschen wissen, dass sie die Grenze nicht übertreten sollen. Es wäre ihnen leicht möglich, dies zu tun. Aber der Status der Steine hat sich geändert, geht über die (harmlose) physische Struktur hinaus. Dieser Schritt von der Mauer zur Linie wurde institutionell ermöglicht, zeigt die Statusfunktion von Institutionen auf.11 Auf diese Weise kann ein Stück Papier zu einem Zahlungsmittel werden oder zu einem Ausweis oder zu einem Ermächtigungsschein. Durch die Statusfunktion von Institutionen werden Geburtsurkunden und Ernennungsurkunden, Währungen und Verträge, Eigentum und Transfer von Eigentum ermöglicht. Urkunden dienen auch als Statusindikatoren (ebenso wie Eheringe, Uniformen, Führerscheine). Diese Statusfunktion von Institutionen ist auf die institutionelle Kraft und die Klarheit der Statusindikatoren angewiesen.
Institutionen sind Ermöglichungsorte. Hier kann sich Handeln ereignen, das sonst nicht erfolgen kann. Der Begriff des institutionellen Handelns deutet an, dass Menschen, die im Rahmen einer Institution in Erfüllung einer Rolle agieren, dies in einem überpersönlichen Sinn tun können. Institutionen schaffen und strukturieren Handlungsräume. Sie ermöglichen Handlungen, die ohne institutionellen Rahmen nicht möglich wären. Viele mögen sich an Austins berühmtes Beispiel vom misslungenen Sprechakt des Taufens erinnern: »Nehmen Sie etwa an, ich sehe ein Schiff vor dem Stapellauf, gehe hin, schmettere die Flasche dagegen, die am Rumpf hängt, verkünde ›Ich taufe dieses Schiff ›Stalin‹, und schlage, um das Maß vollzumachen, die Keile weg; das Dumme ist bloß: ich war nicht für die Taufe bestimmt.«12 Die Taufe ist missglückt, weil die institutionellen Rahmenbedingungen nicht gegeben waren. Institutionen verwalten insbesondere die Kategorie der »Gültigkeit«. Man denke an die Idee einer notariellen Beglaubigung. Diese greift auf institutionelle Ermöglichungsbedingungen zurück. Institutionen stellen einen Rahmen bereit, innerhalb dessen und aufgrund dessen symbolisch gehandelt werden kann. Die Verleihung von akademischen Graden, das Ausfertigen von Urkunden, eine Ernennung im Staatsdienst ‒ all diese Handlungen werden zwar von Einzelnen vollzogen, drücken aber institutionelles Handeln aus. Dieses kann auch durch sichtbare Zeichen (Titel, Kleidung) ausgedrückt werden, die wiederum für die Erzeugung von Respekt verwendet werden können.13 Institutionelles Handeln ist mit institutionell verwaltetem Status verbunden, der entsprechend ausgedrückt wird.
Institutionen verwalten also Statuskategorien, prägen die Wahrnehmung, strukturieren Handlungsräume und ermöglichen Handlungsmacht wie auch die Erzeugung von »offizieller Anerkennung« und »Gültigkeit«. Als verfestigte Formen des Zusammenlebens weisen Institutionen bestimmte Eigenschaften auf: Sie sind grundsätzlich veränderungsresistent und haben damit das Potential einer stabilen Struktur, die sich Druck und Zwängen von außen entgegenstemmt.14 Mit dieser Eigenschaft verbunden ist der Umstand, dass Institutionen dauerhaft sind, sie sind auf gewohnheitsmäßigem Handeln aufgebaut, das sich entsprechend verfestigt. Institutionen sind machtvoll und üben diese Macht über Personen aus. Entsprechend gilt für Institutionen, dass sie verhaltensstrukturierend wirken, sie prägen und beschränken das Verhalten von Menschen.15 Institutionen sind mehrdimensional, sie weisen eine Verschränkung von »tangiblen« und »intangiblen« Elementen auf, nicht sichtbare Werte und sichtbare Ausstattungen und Verhaltensweisen greifen ineinander. Institutionen sind interdependent in dem Sinne, dass eine bestimmte Institution von anderen Institutionen abhängt. Eine Steuerbehörde oder eine Schule hängen offensichtlich in ihrer institutionellen Stabilität und Geltung von anderen Institutionen ab. Darüber hinaus sind Institutionen wertfundiert, ihre Geltung hängt von der Anerkennung von Autoritätsverhältnissen und damit von geteilten Überzeugungen jener Personen ab, die im Rahmen einer Institution miteinander interagieren. Schlieβlich müssen Institutionen legitimiert sein, wollen sie Ansprüche stellen. Die Macht institutioneller Autorität ist gebunden an kollektive Akzeptanz.16
Institutionen erheben Statusansprüche wie auch Ansprüche auf Kooperation (»compliance«). Aufgrund dieser Forderungsstruktur sind Institutionen auf entsprechende Legitimierung angewiesen. Letztere ist die Rechtfertigung der institutionellen Ansprüche, die auf anderen (politischen, rechtlichen) Institutionen beruhen und erst zur Akzeptanz von Institutionen führt. Die Delegitimierung von Institutionen kann zu deren Zusammenbruch führen.17 As Beispiel kann die 1996 gescheiterte Länderfusion von Berlin und Brandenburg angeführt werden; die Fusion, obgleich politisch und ökonomisch durchaus sinnvoll, kam aufgrund einer Legitimitätskrise nicht zustande. Die ostdeutsche Bevölkerung hatte aufgrund enttäuschter Erwartungen und wohl auch schlechter Erfahrungen zu wenig Vertrauen in die politischen Institutionen, die dann als nicht legitimiert angesehen wurden.18 Die Legitimität einer Institution hängt nicht nur von der betreffenden Institution und deren Operationskultur, sondern auch von Geschichte und Rahmenbedingungen ab.
Die genannten Eigenschaften mögen alle Institutionen miteinander teilen, aber von ihrem moralischen Status her gesehen kann man Institutionen hoch differenziert betrachten. Erstens sind Institutionen vom Typ her moralisch unterschiedlich positioniert. Es macht einen Unterschied, ob wir ein Krankenhaus oder ein Konzentrationslager betrachten. Zweitens sind Institutionen von den normativen Leitprinzipien her moralisch unterschiedlich zu beurteilen, eine Schule kann beispielsweise von einem inklusiven Ansatz geleitet sein oder sich als Kaderschmiede für ein nichtdemokratisches Regime verstehen. Drittens können moralisch relevante Unterschiede in Bezug auf die Alltagspraktiken einer Institution festgemacht werden, auch in einem gut geführten Krankenhaus kann es vereinzelt zu Grobheiten oder Misshandlungen kommen. Deswegen liegt es nahe, sich Gedanken über die moralischen Standards zu machen, die in Institutionen realisiert werden.
Diese drei Hinweise geben Anhaltspunkte für die Skizzierung der Landschaft moralischer Probleme, die mit Institutionen verbunden sind. Moralische Probleme können jedenfalls in Bezug auf die Idee, Mission und Legitimation von Institutionen auftreten. Die Legitimation eines Krankenhauses wird offensichtlich leichter ausfallen als die Legitimation eines Untergrundgefängnisses für besondere Verhöre, wie etwa im Fall der CIA-Gefängnisse in Polen, Litauen und Rumänien. Auch in der Frage nach der eigentlichen Mission (dem Auftrag) einer Institution können sich moralisch relevante Konflikte zeigen ‒ beispielsweise in der Frage nach dem Sinn des Strafvollzugs (Rehabilitation, Abschreckung, Rache?). Moralische Herausforderungen einer Institution können Design und Management betreffen: eine Institution für Demenzkranke kann als geschlossene Anstalt konzipiert sein oder alltagsnahe gebaut werden wie ein Demenzdorf. Drittens sind die institutionalisierten Gewohnheiten, die wiederholten Alltagspraktiken, die etablierten Prozesse moralisch relevant. Wie steht es zum Beispiel um Formen von Anerkennung? Diese Aspekte werden die in diesem Buch entworfene Institutionenethik bestimmen.
Institutionen sind deswegen moralisch relevant, weil sie die Lebenswelten von Menschen und moralische Aspekte menschlicher Existenz und des Zusammenlebens auf substantielle Weise beeinflussen.
Institutionen prägen das Leben von Menschen. Hier kommen die Mikroebene von individuellem Leben und die Makroebene von politischen und strukturellen Rahmenbedingungen zusammen.1 Lebensformen sind institutionell gefärbt und geformt. Rahel Jaeggi hat menschliche Lebensformen als kulturell geformte »Ensembles von Praktiken und Orientierungen« und »deren institutionellen Manifestationen und Materialisierungen« gezeichnet.2 Institutionen sind gewissermaßen Brücken zwischen der Mikroebene und der Makroebene, weil sie (einerseits) auf den Lebensvollzug und die Lebenswelt einzelner Menschen einwirken und von diesen auch geprägt werden und weil sie (andererseits) die umfassenden Rahmenbedingungen abbilden und auf diese rückwirken.
Lebenswelten von Menschen sind jene Kontexte, in denen sich Alltag und persönliche Beziehungen abspielen. Sie werden von den Beteiligten in einer subjektiven Sicht wahrgenommen. Der Begriff der Lebenswelt hat seine Tücken und Unklarheiten3, soll aber auf die Vertrautheit einer Umgebung abzielen, in der sich (vor allem auch regelmäßige) Lebensvollzüge abspielen. In der Lebenswelt von Menschen sind informelle Beziehungen, spontanes Handeln, Intimität und subjektive Lebensgestaltung möglich. Diese nicht-institutionelle Seite des Lebens lässt die Einzigartigkeit der Person zum Ausdruck kommen. Jürgen Habermas hat seinerzeit von der Kolonialisierung der Lebenswelt gesprochen.4 Systeme mit ihren administrativ auferlegten Erwartungen und Verhaltensnormen dringen in die Alltagswelt der Menschen ein und zwingen lebensweltliche Dynamiken zu einer Anpassung an Systeme. Es ist Teil der Strategie von totalitären Regimen, die Lebenswelten von Menschen zu kolonialisieren, sodass Familienleben, Freundschaften, persönliche Interessen kontrolliert und institutionell überformt werden. So kann Orwell in seiner Schilderung eines totalitären Regimes in 1984 schreiben: »Fast alle Kinder waren heutzutage schrecklich. Am schlimmsten von allem war jedoch, daß sie mit Hilfe von solchen Organisationen wie den Spähern systematisch zu unbezähmbaren kleinen Wilden erzogen wurden … Es war für Leute über dreißig nahezu normal, vor ihren eigenen Kindern Angst zu haben.«5 Die Lebenswelt des Familienlebens wird systematisch von institutionalisiertem Handeln überformt. »Die Kinder dagegen wurden systematisch gegen ihre Eltern aufgehetzt; man brachte ihnen bei, sie zu bespitzeln und jeden ihrer Verstöße gegen die Disziplin zu melden. Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen.«6 Das ist keineswegs nur Stoff von fiktiven Texten. Das Trauma des Kommunismus zeigt sich unter anderem im flächendeckenden Vertrauensverlust, der Familien wie Freundschaften und Kollegialität betroffen hat.7 Die Geschichte des Pavlik Morozov, der zum Helden wurde, weil er seine Eltern verraten hat, mag historisch nicht wahr sein, es gibt aber doch zu denken, dass diese Geschichte eine enorme Wirkung erzielen konnte.8
Lebenswelten ermöglichen Intimität, Informalität, Spontaneität, Einzigartigkeit (Personalität). Diese vier Aspekte werden von Institutionen strukturiert, gerahmt, eingeschränkt, kanalisiert, bedroht oder auch zerstört. Auf der anderen Seite sind Institutionen wie Gefäße, die die Lebensweltenbeinhalten. Lebenswelten hängen in ihrem Funktionieren von Institutionen ab, und seien es ‒ in nichtindustriellen Gesellschaften ‒ Institutionen wie Ehe, Tauschökonomie, Initiationsriten. Die Bedeutung von Institutionen kann in besonderer Weise durch einen Blick auf menschliche Lebenswelten erhellt werden.
Institutionen spielen in den Lebenswelten von Menschen entscheidende Rollen. Dabei zeigt sich, dass die institutionelle Abhängigkeit tendenziell zunimmt, wenn sich Menschen in einer Situation erhöhter Verletzlichkeit befinden; in einer Situation also, in der das, was den betreffenden Menschen viel bedeutet, beschädigt oder genommen werden kann oder bereits Schaden erfahren hat. Eltern mit einem schwer behinderten Kind, pflegende Angehörige, Arbeitssuchende, Menschen, die von Armut betroffen sind ‒ sie alle finden sich in den Gesellschaften unserer Zeit in verstärkter Abhängigkeit von Institutionen wieder. Dabei können die Machtgefälle zwischen Institution (etwa Amt, Behörde) und den einzelnen Personen und Familien nicht geleugnet werden. Thomas Mahler, der nach einem Philosophiestudium in Deutschland den Antrag auf Arbeitslosengeld stellen musste spricht von der »Angst vor dem Amt« und der »Furcht vor dem Formular.«9 Es ist bekannt, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, immer wieder demütigende Erfahrungen mit den Institutionen machen. Franz Erhard hat den Umgang von Institutionen mit Hilfsbedürftigen im Vereinigten Königreich untersucht. Durch seine Feldarbeit in britischen Hilfseinrichtungen wurde Erhard klar, »dass sich der Alltag der Personen, die man dort antrifft, durch mehr auszeichnet als durch die Abwesenheit von Erwerbsarbeit und ökonomischem Kapital. Sie besuchen Arbeitsvermittlungen und bekommen dort gesagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie sind alkohol- und drogenabhängig und machen die Erfahrung, dass sie selbst und ihr soziales Umfeld daran zugrunde gehen. Sie suchen Essensausgaben und Suppenküchen auf, um ihre Familie durchzubringen, und landen in Auffangunterkünften oder auf der Straße. Durch diese Erfahrungen entwickeln sie Gefühle der Scham und der Kränkung. Sie wissen, dass sie nicht Teil der Erwerbs- und Konsumwelt sind, und verzweifeln daran. Gleichzeitig sehen sie oft keinen Ausweg aus dieser Lage.«10 Die Betroffenen erfahren durch die Einrichtungen des aktivierenden Wohlfahrtsstaats »vor allem Bevormundung und Kontrolle und erleben sich als hochgradig abhängig und fremdbestimmt von einer Institution.«11 Sie machen »Erfahrungen eines institutionell verwalteten Lebens«12 mit entsprechendem Autonomieverlust und der damit verbundenen Beschämung und Abwertung.13 Eine Betroffene schildert ihre aktuellen Lebensumstände als »eine Situation der multiplen Abhängigkeit, Autonomieeinschränkung und des Kampfes gegen die Institutionen …, die für sie alltagbestimmend wird.«14 Sie erfährt sie sich in einer Position des Bittstellens und des Ausgeliefertseins.15 Ein nach vielen Jahren arbeitslos gewordener Arbeiter erfährt eine tiefe Kränkung »aus einer ihm verweigerten Hilfe in einer Situation der Bedürftigkeit und Orientierungslosigkeit. Erstmals in seinem Leben mit Arbeitslosigkeit konfrontiert (›after working forty years‹), und das in einem Alter, in dem eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt schwierig ist, habe er nur falsche Ratschläge bekommen (›all the wrong advice‹). Erst habe er sich gemeldet, wurde dann aber wieder weggeschickt, um schließlich vorgeworfen zu bekommen, dass er sich nicht gemeldet habe. Er zeichnet so das kafkaeske Bild einer undurchsichtigen, widersprüchlichen Institution … die mit Menschen nach einer Verwaltungslogik und in Form von Vorwürfen verfährt, während er selbst machtlos bleibt«.16
Im Machtspiel zwischen Institution und Person ist in der Regel die Institution überlegen. Deswegen ist auch das Verhältnis von Lebenswelt und Institution dann besonders delikat, wenn Menschen in besonderen (und auch besonders verwundbaren) Lebenslagen institutionelle Unterstützung suchen (müssen). Ian Brown berichtet etwa von den ersten zehn Lebensjahren seines schwer behinderten Sohnes Walker, die ihn in eine »diagnostische Hölle« mit vielen Expertinnen und Experten geführt haben.17 Sein Leben mit einem Kind, das aufgrund der Seltenheit der Conditio nicht in klare Kategorien eingeordnet werden kann, wird zu einem ständigen Kampf mit der kanadischen Bürokratie, die auf den Nicht-Standardfall nicht vorbereitet ist (IBJ 100‒103). Alles muss geregelt sein und einer Regel untergeordnet werden können. »Alles, was wir brauchen, bedarf eines neuen Antrags: Welches Formular?« (IBJ 103) Ein Formular ist in mancherlei Hinsicht der Inbegriff einer Institution. Hier zeigen sich Ordnung, eine vor einer besonderen Situation feststehende Lesart von Welt und die Botschaft, dass der Einzelfall ein Fall von vielen ist. Entsprechend eingeschränkt ist die Freiheit derjenigen, die ein Formular ausfüllen. Hier wird ein Standard von »Normalität« gesetzt und verwaltet. Das wird besonders delikat, wenn es um die Situationen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen geht ‒ »irritierende Anomalien sind nicht das, was staatliche Bürokratien am besten können.«18
Diese besondere Erfahrung zeigt das schillernde Ineinander von persönlicher Lebenswelt und Institutionen: »Das wahre Problem ist strukturell. Bis vor Kurzem wollte niemand … in den entsprechenden staatlichen Institutionen … zugeben, dass ein Kind geliebt werden und doch zu schwierig sein konnte, als dass seine oder ihre Eltern es versorgen könnten.« (IBJ 114). Ian und seine Ehefrau sind sich nicht einig, was den gebotenen Grad der Institutionalisierung betrifft. Soll für Walker eine geeignete Einrichtung gefunden werden? Soll Walker, wie es seiner Mutter lieb wäre, mit entsprechender Pflegeunterstützung daheimbleiben können? (Kommentar Ians: »Ich bin nicht ihrer Meinung. Ich bin nicht sicher, dass ein Miniaturkrankenhaus in unserem Heim eine Verbesserung wäre«: IBJ 115). Die Lebenswelt der Familie wird institutionell überformt, ein Bekannter Ians kommentierte entsprechend: »Wir haben das Recht verloren, bloß eine Familie zu sein und in Ruhe gelassen zu werden.« (IBJ 177) Gleichzeitig ist die Familie auf die institutionelle Unterstützung und Begleitung angewiesen, weil die Grenzen dessen, was Privatpersonen in ihren persönlichen Umfeldern leisten können, rasch erreicht werden.
Die große Herausforderung, der sich Ian Brown zu stellen hat, ist denn auch die Frage, wie eine professionelle Einrichtung »zugleich auch ein Zuhause« sein kann, ein »Ort voller Mitgefühl, wo den Menschen unaufhörlich verziehen wird.« (IBJ 216) Brown fand diesen Ort in der »Arche« in Frankreich, in einer Lebensgemeinschaft von Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Begleiterinnen und Begleitern. Hier wurde der Institutionalisierungsgrad mit entsprechendem Regelwerk niedrig gehalten und gleichzeitig die Idee hochgehalten, dass die Lebenswelt in der Gemeinschaft von den Bedürfnissen der Hauptbewohnerinnen und -bewohner abhängig gemacht wird. »Dies war ihre Welt, nicht unsere, dies waren ihre Maßstäbe, nicht unsere. Das Leben verlief langsamer, das Leben selbst war einfacher, es gab Verzögerungen und Probleme, aber niemand nahm sie ernst. Es war ein angenehmer Ort und vermittelte einem mehr das Gefühl, dass das Leben anders sein sollte.« (IBJ 232)
Die Frage nach der Beziehung zwischen »Institution« und »Gemeinschaft« ist gerade in solchen Zwischenformen, wie sie die »Arche« bildet, aufschlussreich. Hier ist auf der einen Seite ein institutioneller Rahmen, auf der anderen Seite die Erfahrung und Formung von Gemeinschaft innerhalb der Institution. Dabei zeigen sich bestimmte Spannungen, arbeitet doch eine Institution mit Regeln und berechenbarer Stabilität, während eine auf Beziehungen gebaute Gemeinschaft weniger vorhersagbar ist und der Zerbrechlichkeit der beteiligten Personen Raum gibt. Professionalität und Freundschaftlichkeit sind unterschiedliche Deutungsrahmen, die auch mit unterschiedlichen Erwartungen und »Erfolgskriterien« einhergehen. Professionalität ist an »Austauschbarkeit« gebunden (es soll für professionelle Zusammenarbeit keinen großen Unterschied machen, wer mit wem kollaboriert), während im Rahmen der Freundschaft die Achtung vor der Einzigartigkeit dominiert. Natürlich wissen wir um die Realität von Freundschaften innerhalb von Behörden oder Universitäten oder Krankenhäusern. Diese wirken einerseits humanisierend auf den Arbeitskontext, andererseits können sie ‒ im Sinne der vielen Facetten von »Freunderlwirtschaft« ‒ auch zu moralisch relevanten Verstörungen führen. Durch das Ineinander von »Institution« und »Gemeinschaft« entstehen Zwischenräume.
Dieses Bauen an Zwischenräumen kann auch in einem anderen Kontext beobachtet werden, etwa in der Begleitung von wohnungslosen Menschen. Axel Tigges führt ein Beispiel aus Wien an: »Zum Beispiel gibt es zusammen mit dem Ofenstüberl immer für Obdachlose ein Mittagessen, wo ein Wirt, einmal im Monat ‒ schon über ein Jahr lang ‒ zwölf Leute einlädt und kostenlos bewirtet. Und jetzt melden sich auch schon andere, die sich daran beteiligen wollen, das Essen zu finanzieren, sodass immer mehr Obdachlose wirklich auf Augenhöhe kommen und das Gefühl haben, wir werden wirklich als Menschen anerkannt, wir müssen nicht nur in Sozialeinrichtungen, sondern wir können in ganz normale Gaststätten gehen und werden einfach gesehen.«19 Hier bietet eine Institution einen Rahmen für Gemeinschaft und Freundschaft an, was ein klarer Hinweis auf die Menschenfreundlichkeit dieser Einrichtung ist. Diese Dynamik zwischen »Institution« und »Gemeinschaft« wird uns noch in Kapitel 9 beschäftigen.
Institutionen spielen also im Leben von Menschen eine besondere Rolle, wirken in Lebenswelten hinein, können Lebenswelten auch prägen, kolonialisieren. Ich will an drei Beispielen deutlich machen, wie die Überformung von Biographien (und besonderen Lebensabschnitten) durch Institutionen geschehen kann. Das Leben dieser Menschen wäre ohne Institutionen ganz anders verlaufen, hätte sich anders dargestellt (oder hätte vielleicht auch gar nicht funktioniert).
Inge Jens hatte nach der Demenzerkrankung ihres Mannes Walter die Pflegeverantwortung übernommen. Sie reflektiert die Rolle von Institutionen in diesem Kontext. In ihrer Autobiographie20 berichtet sie, dass erste Anzeichen, dass etwas nicht in Ordnung war, im Jahr 2002 auftraten. Später wurde ihr Mann in einer Freiburger Klinik psychiatrisch behandelt. Bereits hier zeigt sich die im weiteren Jahrzehnt unverzichtbare Durchlässigkeit von institutioneller und persönlicher Unterstützung: »Die Klinik hatte mich gebeten, ihn in dieser schwierigen Situation nicht allein zu lassen« (JUE 271). Die Behandlung in einem anderen Spital in Tübingen sah einen substantiellen Klinikaufenthalt vor. Walter Jens lehnte kategorisch ab. Wieder war Inge gefordert. »Der Arzt schaute mich an: ›Trauen Sie sich zu, ihn bei sich zu behalten?‹ Ich konnte die Frage guten Gewissens bejahen. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass, wenn Walter gesund werden sollte, ich bei ihm bleiben musste« (JUE 273). Der behandelnde Arzt ‒ auch das ein Zeichen der angesprochenen Durchlässigkeit von Institution und Lebenswelt ‒ gab Inge Jens seine private Telefonnummer und signalisierte seine durchgängige Erreichbarkeit. Der Hausarzt (als niederschwelligere Institution) fungierte als Bindeglied zwischen Familie und den klinischen Einrichtungen. Die eigene Lebenswelt von Inge Jens wurde mehr und mehr von Verunsicherung und Unsicherheiten geprägt, die letzten öffentlichen Auftritte, die sie mit ihrem Mann absolvierte, waren qualvolle Zitterpartien.
Die häusliche Welt wurde an ihre Grenzen gebracht und die Notwendigkeit institutioneller Unterstützung wurde offensichtlich. Nach einem »spontanen Ausbruch heftiger Aggressionen« wurde Walter Jens in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und entsprechend medikamentös eingestellt und behandelt (JUE 280). »Mit vereinten Bemühungen verschiedener Instanzen« (auch darunter kann man sich ein Zusammenspiel von institutionellen und persönlichen Faktoren vorstellen) gelang es, Walter Jens in ein vertrautes Krankenhaus zu verlegen (JUE 281). Auf diese Weise wurde Zeit gewonnen, um im gewohnten Zuhause entsprechende Adaptationen durchführen zu können. Inge Jens erzählt von ihrem 80. Geburtstag, den sie mit Freunden feierte, der Versuchung, das Fest abzusagen, trotzend, im Wunsch, »mich des Daseins von Freunden zu vergewissern … Ganz offensichtlich war es mir ein starkes Bedürfnis, mich angesichts der dramatischen Veränderungen gewisser Traditionen zu erinnern, die unser gemeinsames Leben strukturiert hatten« (JUE 283). Die Situation wurde immer herausfordernder, auch wenn Inge Jens sich Hilfe geholt hatte. Walter Jens weigerte sich, die für ihn neu eingerichteten Räumlichkeiten zu beziehen. Durch all diese Veränderungen wurde auch die Institution »Ehe« auf eine Probe gestellt, hatten sich doch Walter und Inge Jens auf der Basis eines auf Augenhöhe stattfindenden Gesprächs zusammengefunden. Walter wurde »langsam ein anderer« (JUE 290), Inge Jens musste mit verbaler und dann auch physischer Gewalt umgehen.
Institutionelle Überbrückungen erleichterten die Situation: Inge Jens ließ sich im Tübinger Spital die Hüfte operieren, um daran einen vierwöchigen Reha-Aufenthalt anzuschließen. Dies erlaubte es ihr, Abstand zu gewinnen. Währenddessen war Walter in einem Basler Spital untergebracht.21 Nach seiner Rückkehr in die vertraute Umgebung seines Hauses, in dem er seit vier Jahrzehnten gewohnt hatte, stürzte er und musste wieder ins Krankenhaus. Die beiden Söhne des Ehepaars Jens erklärten sich bereit, die Verantwortung für den Vater zu übernehmen, sodass Inge Jens ihren Reha-Aufenthalt ordnungsgemäß abschließen konnte. Die Betreuerin leistete etwas, was das Krankenhaus nicht leisten konnte ‒ sie brachte Walter Jens dazu, an seiner Beweglichkeit zu arbeiten und unternahm auch Ausflüge. Hier zeigt sich eine Rolle, die zwischen Institution und Familie liegt und auf semi-familiäre und semi-institutionelle Weise Unterstützung anbot. »Sie investierte viel Geduld, Energie, und, vor allem, Zuwendung« (JUE 296).22 Walter wurde wieder in einen Zustand gebracht, in dem er sich an Tischgesprächen mit eingeladenen Gästen zu freuen schien, auch wenn er nicht mehr teilnehmen konnte. Aber selbst wenn ihm das »Was« des Gesprächs nicht zugänglich war, fühlte er doch, »wie« wer behandelt wurde. So konnte er wieder in die familiäre Lebenswelt hineingenommen werden. Und das ist nur, wie Inge Jens ausdrücklich eingesteht, einem privilegierten Status geschuldet, der die Finanzierung von privater Betreuung und Betreuung im Privaten möglich macht.
Walter Jens wird in der ihm vertrauten Lebenswelt begleitet, sein Leben spielt sich nicht in einem institutionalisierten Rahmen ab. »Er muss seine Tage nicht in einem Pflegeheim verbringen. Die ihm seit Jahrzehnten vertraute Umgebung erleichtert die Orientierung … Sein Haus in der Tübinger Sonnenstraße ist der Ort, an dem er sich unter den jetzigen Umständen am sichersten fühlen kann« (JUE 304). Diesen Primat der Begleitung im vertrauten Daheim vor der institutionalisierten Betreuung drückt Inge Jens auch in ihrem letzten Buch aus, das ausschließlich der Demenzerkrankung ihres Mannes gewidmet ist.23 Es geht ihm daheim »physisch und auch psychisch erheblich besser als im Krankenhaus … Er ist eben einfach wieder zu Hause« (JLE 24). Die altvertraute Umgebung bildet einen Stabilisierungsfaktor (JLE 81), Inge Jens ist dankbar, dass sie ihn zuhause haben kann (JLE 108), im Heim würde er, nach der Einschätzung seiner Frau, »sofort verkümmern« (JLE 45). Dies ist möglich durch die Erreichbarkeit und gelegentliche Hilfe des Roten Kreuzes (JLE 80) und durch besagte semi-familiäre und semi-institutionelle Hilfe, die organisiert werden konnte.24 Die Qualität dieser außerfamiliären, aber doch sehr persönlichen Begleitung wird auch dadurch massiv verstärkt, dass die Pflegerin einen Bauernhof hat, auf den sie Walter Jens mitnehmen kann. Dort gibt es viel zu sehen und auf unkomplizierte Weise zu erleben (JLE 76), zwanglose Abwechslung und Unterhaltung. Das ist ein Beispiel für »deinstitutionalisierte« Demenzbegleitung, die dennoch über eine gewisse Infrastruktur verfügt. Inge Jens äußert sich skeptisch gegenüber professionalisierten Pflegediensten: »Dass Dementenfürsorge am wenigsten von professionellen Pflegediensten vorgenommen werden kann, weiß jeder Betroffene: das ständig wechselnde Personal, das morgens, mittags und abends Hereinschauen, Wasser auf einen vorbereiteten Teebeutel Gießen und Ähnliches … dieses ganze ‒ wie ich gern zugebe: für physisch Kranke meistens ausreichende Versorgungsritual nützt einem Dementen und seinen Bedürfnissen nichts« (JLE 84). »Der notgedrungen häufige Personalwechsel ängstigt den Patienten, weil er ihm eine der ohnehin schon raren Orientierungshilfen nimmt und so die Umwelt noch weiter entfremdet« (JLE 125).
Die mangelnde institutionelle Fähigkeit, auf die Bedürfnisse eines Demenzkranken einzugehen, schildert Inge Jens auch im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt. Das durchaus wohlmeinende Personal ist nicht darauf vorbereitet, einen Demenzkranken zu betreuen. Auf die Frage, ob er hungrig sei, antwortete er fälschlich mit »Nein« (JLE 122), Inge Jens musste intervenieren, um einen Teller Suppe zu bekommen. »Ich bat, vielleicht einiges Nahrhafte in die Suppe zu mixen, denn die Vollkornbrotscheiben, so, wie sie zwischen dem reichlich bemessenen, keimfrei in Plastikfolie abgepackten Aufschnitt auf dem Teller lagen, waren für einen zahnlosen Dementen nicht zu bewältigen. Der Pfleger sah mich mitleidsvoll an: ›Zerkleinern? Mixen? Aber wo denn?‹« (JLE 122). »Etwas später kam eine Stationshilfe und räumte ‒ ohne den Deckel auch nur anzuheben ‒ mit einem freundlichen ›Na, hat’s geschmeckt‹ das Abendbrot-Set wieder weg« (JLE 123). Inge Jens fuhr mit der Erkenntnis heim, »dass es für einen Demenzkranken nicht sehr schwierig sein müsste, zwischen all der beeindruckenden Hightech-Apparatur ganz schlicht und altmodisch zu verhungern« (JLE 123).25 Tatsächlich war das Krankenhauspersonal frustriert, weil Walter Jens die halbe Nacht getobt, sich die Schläuche herausgerissen und die Pfleger und Schwestern beschimpft hatte: »Er hatte Hunger gehabt ‒ ein Gefühl, das ihm neben Unbehagen auch Angst machte ‒ und folglich um sich geschlagen« (JLE 124). Die vertraute häusliche Pflegerin erschien am nächsten Morgen mit einem Liter Vanille-Pudding und übernahm gemeinsam mit Inge Jens in der weiteren Folge die Verpflegung des Patienten, denn »die Klinik lieferte trotz mehrfacher Bitten um pürierte Nahrung ihr Standardessen« (JLE 124). Hier sind Defizite auf zwei Ebenen bemerkbar ‒ auf Ebene der Schulung des Personals und auf Ebene der institutionellen Ermöglichung demenzgerechten Handelns. »Noch am dritten Tag des stationären Aufenthaltes meines Mannes fragte mich eine Schwester, die sich freundlich mit dem Patienten ›unterhalten‹ und ihm zum Schluss konkrete Anweisungen gegeben hatte, auf meinen Hinweis, dass er sie nicht verstünde, erstaunt und ehrlich mitleidig: ›Ach, ist er taub?‹« (JLE 127). Hier zeigt sich ein Mangel an Vorstellungskraft ebenso wie der institutionelle Druck, Standardvorgehen umzusetzen. Nur aufgrund des Privilegs, den Krankenhausaufenthalt mit zwei häuslichen Pflegekräften unterstützen zu können, konnten die Tage in der Klinik einigermaßen demenzgerecht gestaltet werden.
Zusammenfassend: Die Standardisierung der Institution steht in einer Spannung mit den je persönlichen und auch zeitaufwändigen Betreuungsbedürfnissen von Demenzkranken. Es gibt eine Zwischenform zwischen Lebenswelt und Institution, das ist die vertraglich geregelte Beziehung zu Personen, die das familiäre Umfeld unterstützen. Fazit: Es braucht »den Willen und die Kraft, genau hinzuschauen und zuzuhören« (JLE 152).
Ein zweites Beispiel: Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux erzählt von einer delikaten Erfahrung mit Institutionen. Sie schildert eine illegale Abtreibung, die sie als Studentin vornehmen ließ.26 Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine moralphilosophische Diskussion von Schwangerschaftsabbrüchen, auch wenn man moralisches Versagen auf Seiten von einzelnen Personen sowie Institutionen wie Familie und Gesundheitssystem diskutieren könnte. Noch einmal: es geht mir um den Blick auf die Rolle von Institutionen in einer Situation von persönlicher und legaler Verwundbarkeit und nicht um die moralische Bewertung von Ernaux’ Handeln. Faktum ist, dass Ernaux in der damaligen Situation auf kein offizielles institutionelles Netzwerk zurückgreifen konnte, was die Bedeutung von Institutionen im Leben von Menschen unterstreicht. Wir sehen in ihrer Schilderung auch keine Institutionen, die das Austragen des Kindes unterstützt hätten. Die beste Lösung aus Ernaux’ Sicht bestand »immer noch darin …, einen Arzt finden, der ›im Hinterzimmer‹ praktizierte, oder eine Frau mit dem hübschen Namen ›Engelmacherin‹, die beide sehr viel Geld kosteten« (EDE 18). Der durch die Illegalität der Abtreibung entstehende Schwarzmarkt ist entsprechend unreguliert, was Ernaux dann auch in Schulden treibt. Die rechtliche Situation in Frankreich in den frühen 1960er Jahren erlaubte es Institutionen des Gesundheitssystems nicht, in einer Situation ungewollter und unerwünschter Schwangerschaft tätig zu werden. Dadurch fehlen offizielle Standards, Kulturen der Rechenschaftspflichtigkeit, zugängliche und regulierte Prozesse. Die offiziellen Systeme und deren Rollenträger wollen möglichst nichts mit der schwangeren Studentin zu tun haben: »Eine junge Frau wie ich verdarb Ärzten den Tag. Ohne Geld und Beziehungen ‒ sonst wäre sie nicht auf gut Glück bei ihnen gelandet ‒ rief sie ihnen das Gesetz in Erinnerung, das sie ins Gefängnis bringen und ihnen ein lebenslanges Berufsverbot bescheren konnte« (EDE 24). Die illegale Abtreibung fand dann im Schlafzimmer in der Wohnung einer Krankenschwester statt, die diesen illegalen Dienst teuer anbot. Nachdem Ernaux nach ihrem Besuch bei der Krankenschwester einen Arzt konsultieren wollte, wurde ihr rasch klar, dass er nicht mit ihr in Kontakt treten wollte. »An seinem Ton hörte ich, dass mich zu sehen das Letzte war, was er wollte, und ich nicht mehr anrufen solle« (EDE 44).
Die tragische ‒ wenn auch nicht ohne eigenes Handeln und Entscheiden herbeigeführte ‒ Dynamik, die sich in der Lebenswelt von Annie Ernaux damals abspielte, war die paradoxe Verbindung zwischen dem medizinisch gebotenen Angewiesensein auf Institutionen und der Verweigerung oder durchdie Gesetzeslage bedingten Unfähigkeit von Institutionen, ihr Beistand zu leisten. Sie konnte das von einem Arzt empfohlene Medikament in einer Apotheke ‒ auch diese Teil des institutionalisierten Gesundheitssystems ‒ nicht erhalten: »Ich betrat die nächstgelegene Apotheke, gegenüber dem Métropole, um das von Doktor N. empfohlene Medikament zu kaufen. Eine Frau bediente mich: ›Haben Sie ein Rezept? Ohne Rezept kann ich Ihnen das nicht geben.‹ Ich stand mitten in der Apotheke. Zwei, drei Apotheker im weißen Kittel hinter der Theke sahen mich an. Das fehlende Rezept bewies meine Schuld. Ich hatte das Gefühl, sie könnten die Sonde durch meine Kleidung sehen. Dies war einer meiner verzweifeltsten Momente« (EDE 45).
Das institutionelle Vakuum, in dem sich die Tötung des Embryos abspielte, gipfelte in einem Abortus im Studentenheim. Eine Freundin wurde in die »Rolle einer improvisierten Hebamme« (EDE 48) gedrängt, Annie verlor Blut, wollte dem Gesundheitssystem trotzen, wurde dann aber doch von Angst überwältigt: »Ich wollte nichts mit Ärzten zu tun haben, ich war bisher gut ohne sie zurechtgekommen. Ich versuchte aufzustehen, mir wurde schwarz vor Augen. Ich dachte, dass ich verbluten würde. Ich schrie O. an, ich bräuchte sofort einen Arzt« (EDE 48). Der herbeigerufene Arzt wurde zornig und schickte sie in die Notaufnahme ‒ »ich sagte, dass ich lieber in eine private Klinik wolle. Streng wiederholte er ›in die Notaufnahme‹ und bedeutete mir damit, dass das der einzige Ort für ein Mädchen wie mich war« (EDE 49). Im Krankenhaus wartete der nächste zornige Arzt auf Ernaux, ein junger Chirurg: »Er stellte sich vor meine gespreizten Beine und brüllte: ›Ich bin doch nicht der Klempner!‹ Das sind die letzten Worte, die ich hörte, bevor die Betäubung einsetzte« (EDE 50). Kommentar der Betroffenen: »Dieser Satz, wie alle anderen, die das Ereignis begleitet haben, banale Sätze, gedankenlos dahingesagt, hallt immer noch in mir nach. Weder die Wiederholung noch die gesellschaftspolitische Einordnung können seine Gewalt schwächen: Ich hatte so etwas nicht ›erwartet‹ … Dieser Satz … hierarchisiert nach wie vor die Welt in mir, trennt wie mit dem Schlagstock die Menschen in Ärzte auf der einen Seite und Arbeiter und Frauen, die abtreiben, auf der anderen, in Herrschende und Beherrschte« (EDE 51). Durch den Mangel an institutioneller Verankerung des Schwangerschaftsabbruchs war auch nicht mit zuverlässiger Vorhersagbarkeit, geregelten Vorgängen und entsprechender Klarheit von Erwartungen zu rechnen. Die etablierte Institution des Krankenhauses übernimmt teilweise die Funktion des Rechtssystems ‒ so spricht Ernaux von der »bestrafenden Behandlung des Krankenhauses« (EDE 53). Sie spricht von Demütigungen und Angst (EDE 53).
Es ist ein kleines Detail der Erfahrung, dass die von Institutionen im Stich gelassene Studentin Ernaux sich auch von der institutionellen Kirche verraten fühlte. »An einem anderen Nachmittag betrat ich eine Kirche, Saint-Patrice in der Nähe des Boulevard de la Marne, um einem Priester zu beichten, dass ich abgetrieben hatte. Sofort bemerkte ich meinen Fehler … für ihn war ich eine Verbrecherin. Als ich wieder hinausging, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war« (EDE 56).
Unbeschadet der moralischen Bewertung der Situation haben wir es in diesem Fall mit einer Situation erhöhter Verwundbarkeit im institutionsfreien Raum zu tun. Wir finden eine junge Frau, die erst dann in den Zuständigkeitsbereich einer Institution fällt, als sie sich in einer medizinischen Notsituation befindet. Daraus lässt sich auch eine Einsicht in die Ethik von Institutionen ableiten: Es kann als Teil des moralischen Auftrags von Institutionen angesehen werden, dass sie Räume für moralisch wünschenswertes Handeln öffnen und sichern.
Ernaux vergleicht ihre damalige Situation als mittellose Studentin mit der Situation von Flüchtlingen, setzt in kühnem Schwung den »Schlepper« mit der »Engelmacherin« gleich: »Während ich dies schreibe, versuchen Flüchtlinge aus dem Kosovo von Calais aus nach England überzusetzen. Die Schleuser verlangen Unsummen und verschwinden manchmal vor der Überfahrt. Doch nichts kann die Kosovaren anhalten, genauso wenig wie alle Migranten aus armen Ländern: Sie sehen keine andere Rettung. Man verfolgt die Schleuser, man beklagt ihre Existenz so wie dreißig Jahre zuvor die der Engelmacherinnen« (EDE 44). Diese Analogie lässt tief blicken, weist sie doch auf die eingangs erwähnte Macht von Institutionen hin, Kategorien zu schaffen und diese zu verwalten. Das Beispiel zeigt, dass die Abwesenheit von Institutionalisierung zu einer erhöhten Verwundbarkeit führen kann und dass die Institution des Rechts und die Institutionen der Verwaltung von Recht gleichzeitig auch Formen und Erfahrungen von Verwundbarkeit verwalten. Die Kategorien des »Gültigen« und »Gesetzlichen« sind miteinander verbunden und wirken in die Lebenswelt von Menschen hinein.
Das dritte Beispiel stammt aus den Vereinigten Staaten: Jesmyn Ward erzählt von ihrem Aufwachsen in den US-amerikanischen Südstaaten (Mississippi, Louisiana) und beschreibt die Realität des strukturellen Rassismus in ihrem autobiographischen Werk Men We Reaped.27 Ihr Leben beginnt in einem Krankenhaus, in dem das medizinische Personal ihr wenig Überlebenschancen einräumt und dies den verstörten Eltern auch kommuniziert (JWM 42-43). Ohne die institutionelle Unterstützung ‒ sie verbrachte zwei Monate im Krankenhaus ‒, aber wohl auch ohne den festen Glauben ihrer Eltern an ihre Kämpfernatur hätte sie kaum überlebt. Ihre Eltern leisteten Widerstand gegen den Pessimismus, der ihnen vom ärztlichen Personal vermittelt wurde; damit wehrten sich die Eltern gegen den institutionalisierten Diskurs und das institutionelle Handeln.28 So kämpfte sich Jesmyn Warden aufgrund von und gleichzeitig trotz Institutionen ins Lebens.
Die Rolle des Krankenhauses im Leben der Autorin zeigt sich an einigen Stellen. Als ihr kleiner Bruder mit dem 19jährigen Onkel eine wilde Autofahrt unternimmt, die mit einem Unfall endet, der den Mundraum des Kindes verletzt, geht die Familie nicht ins Krankenhaus ‒ vielleicht weil sie Angst vor der Krankenhausrechnung hatte (JWM 56). Als Jesmyn als Fünfjährige von einem Hund gebissen wird, erfährt sie grobe Behandlung im Krankenhaus, vier Männer hielten sie fest, als sie gegen Tollwut geimpft wurde (JWM 59). Das Krankenhaus macht die doppelte Verwundbarkeit der afroamerikanischen Familie explizit ‒ die kontextuelle Verwundbarkeit als Patientin oder Patient und die strukturelle Verwundbarkeit einer schwarzen Familie im Süden der Vereinigten Staaten. Das zeigt sich auch im Umstand, dass psychische Gesundheitsprobleme von Schwarzen unterdiagnostiziert und entsprechend wenig behandelt werden (JWM 175-176) ‒ Ward spricht nicht im Abstrakten, sondern reflektiert den Suizid eines 19-jährigen Freundes.
Wards Schulerfahrung ist insofern bemerkenswert, als sie oftmals die einzige afroamerikanische Schülerin in ihren Schuljahren war (JWM 182) und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sie versuchten, nicht anzuschauen, wenn sie über Schwarze sprachen (JWM 2). Die Institution der Schule prägte die Erfahrung des Außenseitertums (Jesmyn macht auch die Erfahrung von Mobbing: JWM 136) und die Wahrnehmung einer ausgeprägten Anspruchshaltung bei ihren Klassenkolleginnen und -kollegen (JWM 5). Die Schule bleibt ein Kampfplatz für Jesmyn (JWM 138) ‒ und auch ein Ort von Demütigungen, an dem auch Scherze über Lynchmorde gemacht werden.29 Der Urgroßvater ihrer Mutter, ein amerikanischer Ureinwohner, sah sich von der weißen Regierung im Stich gelassen und baute seine eigene Einzimmer-Schule für die indigene Bevölkerung (JWM 12) ‒ als Zeichen des Protests gegen die ungerechte offizielle Institutionenkultur und als Form der Emanzipation. Die emanzipatorische Funktion der Institution Schule zeigte sich auch im Leben von Jesmyns Mutter, die nach dem Schulabschluss nach Los Angeles ziehen konnte (JWM 19) und Hochschulkurse besuchte, um als Lehrerin arbeiten zu können (JWM 46). Jesmyn selbst besucht die Eliteuniversität Stanford, was sie aber eher verstörte als mit Selbstvertrauen erfüllte.30
Die jüngere Familiengeschichte ist geprägt von Demonstrationen an »öffentlichen« (den Weißen vorbehaltenen) Stränden in den späten 1960er Jahren, was dazu führte, dass die Polizei die Demonstrierenden attackierte (JWM 16). Das Verhältnis zur Polizei wird als schlecht gezeichnet, geprägt von Misstrauen und Angst. Familien wollen keine »Hitz« (»heat«), ein Wort für Polizeiaufmerksamkeit (JWM 106). Die Erfahrung, immer wieder von der Polizei angehalten und durchsucht zu werden (JWM 175), trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Rassismus zeigt sich auch darin, dass schwarze Jugendliche, die das Gesetz übertraten, in den Jugendstrafvollzug gesteckt wurden (JMW 24). Auch das Phänomen des Schulabbruchs beschreibt Ward in einer Analyse von rassistischer Diskriminierung ‒ junge schwarze Männer beenden die Schule, weil sie passiv von den Schulen hinausgedrängt oder aktiv für deviantes Verhalten bestraft werden.31 Rassismus zeigt sich auch in der Gestaltung der öffentlichen Plätze in überwiegend von Schwarzen bewohnten Vierteln. In den Park, in dem sich viel an jugendlichem Leben abspielte, war kaum investiert worden, er wurde auch nicht gepflegt und unterschied sich damit von anderen Grünflächen in mehrheitlich »weißen Vierteln.«32 Infrastrukturelle Diskriminierung spielt auch eine Rolle beim Tod eines 20jährigen Freundes, der mit dem Auto an einem unbeschrankten Bahnübergang mit einem Zug kollidiert, in einer mehrheitlich afroamerikanischen Gegend.33 Wir haben es hier mit Strukturen der Verwundbarkeit zu tun, die von Entscheidungen und vom Operieren vieler verschiedener Institutionen abhängen, die miteinander interagieren. Das wird besonders dann deutlich, wenn Dinge schieflaufen oder eine Katastrophe eintritt.
Am 17. August 1969 wurde das Mississippi-Delta von Hurrikan Camille, einem Hurrikan der Kategorie 5, getroffen. Die überforderten Behörden errichteten Notunterkünfte in Zelten, eröffneten aber auch die Option, sich anderswo anzusiedeln, was die Familie von Jesmyns Vater zum Umzug bewog (JWM 17). Eine institutionelle Antwort auf ein Naturereignis führte zu einem geographischen Neuanfang.34 Der Anfang war schwierig ‒ Wards Vater schloss sich einer Gang an und war, wie auch Jesmyns Mutter und viele ihrer peers, gezwungen, schon in jungem Alter Erwachsenenverantwortung zu übernehmen (JWM 19).35 Jesmyn musste bald als älteste Tochter Haushaltsverantwortung übernehmen (JWM 133). Die Institution des Familienlebens, wie sie Jesmyn Ward beschreibt, war von tiefsitzender Geschlechterdiskriminierung geprägt und einer Ungleichverteilung von Freiheiten und Privilegien zugunsten der Burschen und Männer (JWM 88). Gewalt war oftmals die Sprache zur Konfliktbewältigung, Pubertät und sexuelle Aktivitäten begannen in jungem Alter. Drogen sind ein frühes und stetes Thema. Es war in Wards Kindheit die Ausnahme, Kontakt zu einer Familie zu haben, in der beide Eltern noch präsent waren und solide Arbeitsplätze hatten (JWM 84). Jesmyn schildert die Sprachlosigkeit, angesichts des tiefen Grabens zwischen ihrem Leben und dem Leben von Schulkolleginnen und -kollegen, die mit beiden Eltern in der gehobenen Mittelklasse aufwuchsen: »Wir hatten nichts, worüber wir sprechen konnten« (JWM 183). Ihre eigene Lebenswelt war weniger »heil«. Viele Väter verließen die Familien, was diese Institution nachhaltig schwächte, ein Phänomen, das Ward auch mit der belasteten Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang brachte.36
Ein Freund von Jesmyn, dem sie in diesem Buch ein Denkmal errichten will, wurde im Alter von 31 Jahren erschossen ‒ wohl weil er in einem Gerichtsprozess gegen einen Drogenhändler aus New Orleans aussagen wollte (JWM 78). Die Ambivalenz des Justizsystems zeigt sich auch in der tiefen Enttäuschung der Familie, als der weiße Fahrer, der Jesmyns Bruder tödlich verletzt hat, mit einer geringen Strafe davonkommt (JWM 233).37
An einer Stelle beschreibt Ward, wie eine »Papierspur« aus belastenden Dokumenten (»paper trail«) entsteht und der schwarze Jugendliche mehr und mehr ins Visier der Behörden rückt.38 Das dysfunktionale Verhältnis des Individuums zu Institutionen zeigt sich auch in Provokationen wie dem Versuch, angesichts eines herannahenden Zuges möglichst lange auf den Schienen zu bleiben, bis der Triebfahrzeugführer in Panik gerät (JWM 122), oder in der Freizeitbeschäftigung von Jesmyns Bruder, Ladendiebstähle in einer Supermarktkette zu begehen (JWM 204). Jesmyns Vater versuchte sich im Aufbau einer Institution, einer Kung Fu-Schule (JWM 140‒141). Das Geschäftsmodell war nicht nachhaltig (JWM 141). Umgekehrt geben Institutionen auch Hoffnung: Die Aussicht auf eine Militärkarriere gibt einem Freund Zukunftsperspektiven (JWM 174), die örtliche Bibliothek wird zu einem Zufluchtsort für Jesmyn (JWM 207), vor allem auch deswegen, weil ihre Mutter ‒ aus einer verständlichen Sorge um Teeangerschwangerschaft ‒ ihr verboten hatte, sich mit Burschen zu treffen.
Das Beispiel zeigt, dass Institutionen auch in diskriminierender Weise Lebenswelten und Lebenschancen prägen. Institutioneller Rassismus wie auch Rassismus in Institutionen verschlechtern die Aussichten von bestimmten Bevölkerungsgruppen. Das sitzt so tief, dass es auch ohne offensichtlich bösen Willen zu Diskriminierungen kommen kann. Ich darf abschließend ein Beispiel aus der amerikanischen Universitätswelt anführen: Eine afroamerikanische Kollegin berichtet über institutionalisierten Rassismus in Form der Evaluierung von Lehrveranstaltungen. Das System ‒ Studierende bewerten Lehrende und die Lehrveranstaltung ‒ wirkt sich nachteilig auf Minderheiten aus.39 Grob gesagt: Weiße Studierende bewerten schwarze Lehrende tendenziell schlechter. Dennoch wird das System beibehalten, auch wenn die beteiligten Personen in den Führungsetagen der Universität guten Willens sein mögen, Rassismus entgegen zu treten. Institutionen prägen nicht nur Lebenswelten von einzelnen Personen, sie prägen auch Lebenschancen von sozialen Gruppen und nehmen Einfluss auf die großen Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit.
Institutionen spielen nicht nur im Leben von einzelnen Menschen unterschiedliche Rollen, es trifft auch zu, dass einzelne Lebensbereiche in unterschiedlichem Ausmaß institutionalisiert werden. Ein konkretes Beispiel kann in der Dynamik von religiösen Bewegungen gefunden werden. Am Anfang steht eine Person mit einer Botschaft; Person und Botschaft ziehen Jüngerinnen und Jünger an, die dann von einer eher informellen Lebensregel koordiniert werden. Mit dem Wachsen der Gemeinschaft und dem Tod der Gründungsgestalten steigt der Druck, die Botschaft in eine Doktrin zu verwandeln und die Lebensregel in eine Bürokratie.
Ein wichtiger Schritt in der Geschichte der Institutionalisierung der jüdischen Gemeinschaft unter der Führung des Mose war etwa die Schaffung des Richteramts. Mose war ursprünglich der Einzige, der Recht für das Volk und in dessen Konfliktfälle sprechen konnte. Die Vielzahl der Fälle machte es notwendig, arbeitsteilig vorzugehen und die Verantwortung zu verteilen. Mose blieb Quelle von Autorität, delegierte aber Macht: »Mose wählte sich tüchtige Männer in ganz Israel aus und setzte sie als Hauptleute über das Volk ein, als Vorsteher für je tausend, hundert, fünfzig und zehn. Sie standen dem Volk jederzeit als Richter zur Verfügung. Die schwierigen Fälle brachten sie vor Mose, alle leichteren entschieden sie selber« (Ex 18, 25‒26). Die nachfolgenden Kapitel des Buches Exodus enthalten Regelwerke, die auch die Einrichtung eines Priesteramtes (Ex 28) und Bestimmungen zur Priesterweihe enthalten (Ex 29). Diese Anweisungen zum Priestertum und den Umgang mit dem Heiligen werden im nächsten Buch des Pentateuch, dem Buch Levitikus, weiter verdichtet.
Eine ähnliche Dynamik zeigt die Bibel in Bezug auf das Christentum. Das Christentum geht auf eine Person und deren Botschaft zurück, hat sich aber im Laufe der Zeit institutionalisiert. Dieser Prozess hat das, was man Christentum nennt, in manchem so weit von den in den Evangelien festgehaltenen Grundbotschaften entfernt, dass sich Albert Nolan motiviert sah, ein Buch über »Jesus vor dem Christentum« zu schreiben.1