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Der Dreißigjährige Krieg nahm seinen Ausgang von politisch-konfessionellen Streitfragen im römisch-deutschen Reich, entwickelte sich dann aber zu einer der größten Kriegskatastrophen der Neuzeit, an der zahlreiche europäische Mächte beteiligt waren. Wie die Auseinandersetzung eine solch zerstörerische Dynamik erhalten konnte, ist die Frage, die im Zentrum des Buches steht. Da eine Friedenslösung im Reich ausblieb, wirkten die Krisenherde im europäischen Umfeld schrittweise und ungehindert ins Reich hinein. So erreichte der Krieg seine verheerendste Eskalationsstufe und wurde endgültig zu einem europäischen Konflikt. Europäisch waren auch die Kriegsführung, die Zusammensetzung der Söldnerarmeen und schließlich der Friedenskongress, mit dem der Krieg beendet wurde. Ein neue und schlüssigere Antwort auf die Frage, warum sich das Kriegsgeschehen in Deutschland scheinbar unaufhaltsam - gerade in den späteren Jahren des Krieges - mit anderen tiefgreifenden Konflikten in Europa verband, ergibt sich aus den internationalen Forschungen der letzten Jahre. Eines der Ziele des Buches ist es, diese neuen Perspektiven in einem Gesamtüberblick angemessen und verständlich zu würdigen.
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Der Dreißigjährige Krieg nahm seinen Ausgang von politisch-konfessionellen Streitfragen im römisch-deutschen Reich, entwickelte sich dann aber zu einer der größten Kriegskatastrophen der Neuzeit, an der zahlreiche europäische Mächte beteiligt waren. Wie die Auseinandersetzung eine solch zerstörerische Dynamik erhalten konnte, ist die Frage, die im Zentrum des Buches steht. Da eine Friedenslösung im Reich ausblieb, wirkten die Krisenherde im europäischen Umfeld schrittweise und ungehindert ins Reich hinein. So erreichte der Krieg seine verheerendste Eskalationsstufe und wurde endgültig zu einem europäischen Konflikt. Europäisch waren auch die Kriegsführung, die Zusammensetzung der Söldnerarmeen und schließlich der Friedenskongress, mit dem der Krieg beendet wurde. Ein neue und schlüssigere Antwort auf die Frage, warum sich das Kriegsgeschehen in Deutschland scheinbar unaufhaltsam - gerade in den späteren Jahren des Krieges - mit anderen tiefgreifenden Konflikten in Europa verband, ergibt sich aus den internationalen Forschungen der letzten Jahre. Eines der Ziele des Buches ist es, diese neuen Perspektiven in einem Gesamtüberblick angemessen und verständlich zu würdigen.
Professor Dr. Christoph Kampmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philipps-Universität Marburg
Christoph Kampmann
Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg
Geschichte eines europäischen Konflikts
2. Auflage Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Karten: Peter Palm, Berlin Umschlag: Stich, entnommen aus Eberhard Kieser, Thesaurus Philopoliticus, Frankfurt/Main 1627 Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-023667-7
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I. Einleitung: Eine europäische Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs
II. Krisen vor dem Krieg: Europa, das Reich und Böhmen bis 1618
1. Krisen im Umfeld des Reiches: Europäische Staatenkonflikte um 1600
a) Der spanisch-niederländische Konflikt
b) Der Gegensatz zwischen Spanien und Frankreich
c) Das Ringen um die Vorherrschaft im Ostseeraum (Dominium Maris Baltici)
d) Die Bedrohungslage im Südosten: Der »Lange Türkenkrieg« und seine Folgen
2. Die Krise im Innern des Reiches: Reichspolitik im Zeichen konfessioneller Polarisierung
a) Reichsordnung und Religionskonflikt I: Zur Grundproblematik
b) Reichsordnung und Religionskonflikt II: Der Lösungsversuch von 1555
c) Reichsordnung und Religionskonflikt III: Die Polarisierung des Konfessionsgegensatzes
d) Die Lähmung der Reichsverfassung und die Militarisierung der Reichspolitik
3. Der Weg in den Krieg: Die Krise in Böhmen
a) Die Sonderstellung Böhmens im römisch-deutschen Reich
b) Die aufgehaltene Gegenreformation: Adelsmacht, »Bruderzwist« und Majestätsbrief
c) Die böhmische Gegenreformation unter Matthias und die Wendung zur Gewalt
III. Vom Böhmischen zum Pfälzischen Krieg: Der »geliehene« Sieg des Kaisers (1618/23)
1. Das Werben um Verbündete 1618/19
a) Militärische Ausgangslage und Grundproblematik des Böhmischen Kriegs
b) Die böhmische Politik: Konföderationsbestrebungen und pfälzische Königswahl
c) Die Politik Habsburgs: Kurswechsel Spaniens, Kaiserwahl und Münchener Vertrag
2. Der Sieg der kaiserlichen Allianz
a) Der Krieg um Böhmen
b) Der Krieg um die Pfalz
3. Die Folgen des böhmisch-pfälzischen Krieges
a) Die Folgen für die habsburgischen Erblande: Beginn einer Neuordnung
b) Die Folgen für das Reich: Die Pfalzfrage als entscheidendes Friedenshindernis
IV. Europäische Eskalation I: Der Niedersächsisch-dänische Krieg (1623/1630)
1. Der Kriegseintritt Dänemarks
a) Der Niedersächsische Kreis zwischen katholischer Bedrohung und dänischer Expansion
b) Der Wandel der europäischen Mächtebeziehungen und der dänische Kriegseintritt
2. Das Erste Generalat Wallensteins
a) Die Berufung Wallensteins
b) Wallensteins Armeefinanzierung und ihre Folgen
c) Der militärische Triumph des Kaisers
3. Die Folgen des Krieges: Höhepunkt und erste Krisenzeichen kaiserlicher Macht
a) Veränderungen im Reich: Auf dem Weg zum »Reichsabsolutismus«?
b) Veränderungen in Europa: Neue Kriegsgefahr und dänischer Kompromissfriede
c) Vorzeichen der Wende: Vom Regensburger Kurfürstentag zur »Journée des Dupes«
V. Europäische Eskalation II: Schwedischer Krieg und schwedische Hegemonie (1630–1634)
1. Das Scheitern der (ersten) Konflikteindämmung 1629/31
a) Eine Einhegung der Konflikte im Reich? Die kaiserliche Politik 1629/30
b) Der Weg zum Kriegseintritt Schwedens
c) Der Weg zur indirekten Kriegsteilnahme Frankreichs
2. Die Hegemonie Gustav Adolfs im Reich: Entstehung und Reaktionen (1630/32)
a) Die militärischen Frontstellungen bis Sommer 1631
b) Breitenfeld, der Zusammenbruch der reichsständisch-konfessionellen Mittelparteien und die Rückkehr Wallensteins
c) Frankreich als Schutzherr der Liga? Richelieus zögerliche Protektionspolitik
d) Gustav Adolf, Wallenstein und die schwedischen Kriegsziele 1632
3. Die schwedische Hegemonie nach Gustav Adolf: Konflikte und Niedergang
a) Zwischen schwedischem und sächsischem Direktorium: Der Bruch im protestantischen Lager
b) Der Kaiser zwischen Wallensteins Militärmacht und spanischen Liga-Plänen: Neue Gegensätze innerhalb des katholischen Lagers
c) Die Entscheidungen des Jahres 1634: Auf dem Weg zum »deutschen Frieden«?
VI. Kein Friede ohne Europa: Der Prager Friede und sein Scheitern (1634–1638)
1. Die Entstehung des spanisch-französischen Krieges (1631/1635)
2. Der Prager Frieden von Mai 1635
a) Entstehung, Inhalt und Zielrichtung des Friedens
b) Die Akzeptanz des Friedens im Reich
3. Europa und das Scheitern des Prager Friedens (1635–1638)
a) Frankreich, Schweden und der »ehrenvolle Friede«
b) Das Ringen um die Durchsetzung des Prager Friedens 1635/36
c) Das Scheitern des Prager Friedens I: Der Regensburger Kurfürstentag (1636/37)
d) Das Scheitern des Prager Friedens II: Der französisch-schwedische Vertrag von 1638
VII. Der europäische Krieg in Deutschland: Der Kampf um die Friedensverhandlungen (1638–1645)
1. Allgemeine Charakteristika der Auseinandersetzung 1638/1645
2. Das Ringen um die Friedensverhandlungen I: Die Entstehung des Präliminars von 1641
a) Die militärische Entwicklung
b) Vom Kölner Kongress zum Regensburger Reichstag: Die Grundsatzpositionen der Parteien
c) Der Hamburger Präliminarvertrag: Kompromiss ohne Entscheidung
3. Die Krise der spanischen Monarchie
a) Der Krieg in Westeuropa bis 1638
b) Die spanischen Katastrophen von 1639/40
4. Das Ringen um die Friedensverhandlungen II: Umschwung im Reich und Kongressbeginn (1642/45)
a) Der schwedisch-dänische Krieg und die Strukturkrise der kaiserlichen Armee
b) Der schleppende Kongressbeginn und die Entscheidung von 1645
VIII. Ein europäischer Frieden in Deutschland? Die Errichtung der Westfälischen Friedensordnung
1. Der Westfälische Friedenskongress: Phasen seines Verlaufs und Fortgang des Krieges
2. Zwischen Erfolg und Abbruch: Der Friedenskongress bis zur Abreise Trauttmansdorffs (1645–1647)
a) Der Kriegsverlauf bis zum Ulmer Waffenstillstand (März 1647)
b) Zum grundsätzlichen Charakter der Friedensverhandlungen
c) Von den Friedenspropositionen (Juni 1645) zum Trauttmansdorffianum (Juni 1647)
d) Abbruch des Kongresses? Die Krise im Sommer 1647
3. Die Rettung des Kongresses 1647/48
a) Der Kriegsverlauf von 1647 bis 1648
b) Wiederaufnahme und Durchbruch der Verhandlungen 1647/48: Die Schlüsselrolle der »Dritten Partei«
4. Grundzüge der Friedensordnung von 1648 und ihre Folgen für Europa
a) Das Reich als Monarchie und als defensiver Rechtsverband
b) Der Ausschluss des Konfessionskriegs im Reich
c) Die europäische Vorbildfunktion des Westfälischen Friedens
IX. Kriegskatastrophe und Friedensnorm: Der Dreißigjährige Krieg in der Geschichte des europäischen Friedens
1. Der Frieden in der Friedlosigkeit: Frieden als präsente Größe zwischen 1618 und 1648
2. »Ehrenvoller Friede« oder Kriegsbeendigung: Die Haltung der europäischen Mächte zum Frieden
3. »Ehrenvoller Friede« oder Kriegsbeendigung: Die Haltung im Reich
X. Verzeichnis weiterführender Literatur
XI. Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln
XII. Personenregister
XIII. Stammtafel- und Kartenverzeichnis
Prag im Mai 1618, Prag im Oktober 1648. Der Aufstand in der böhmischen Hauptstadt gegen die Herrschaft der Habsburger steht am Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Das erbitterte Ringen um Prag zwischen den schwedischen Belagerern und der von ihrer Bürgerschaft energisch verteidigten Stadt bildete die letzte große Kampfhandlung des Krieges. Im November 1648 schwiegen auch vor Prag wie überall im römisch-deutschen Reich endlich die Waffen, nachdem die Nachricht von der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens die militärischen Befehlshaber erreicht hatte.
Die Geschichte dieses Krieges zwischen Mai 1618 und Oktober 1648 soll hier als die eines europäischen Konfliktes geschrieben werden. Deshalb bildet die Betrachtung der großen europäischen Krisen im Umfeld des Reiches, die sich sukzessive mit dem kriegerischen Geschehen im Reich verbanden, das Anfangskapitel der Darstellung. Und deshalb wird der zweiten Hälfte des Krieges, als sich der »europäische Krieg in Deutschland« endgültig und unumkehrbar entfaltet hatte, ebenso viel Raum gewidmet wie der ersten. Gerade die enge Verbindung der europäischen Politik mit dem Kriegsgeschehen im Reich und die Ereigniszusammenhänge der zweiten Kriegshälfte waren in jüngerer Zeit Gegenstand intensiver internationaler Forschungsanstrengungen. Deren Ergebnisse in einer Überblicksdarstellung einem größeren Publikum weiterzuvermitteln, ist ein wichtiges Ziel der vorliegenden Darstellung. Auf ihrer Basis erscheint es lohnenswert, sich abschließend erneut der alten Frage zu stellen, warum der Krieg solche beispiellosen Dimensionen erreichen konnte, eben zum »Dreißigjährigen Krieg« geworden ist.
Bei der Entstehung des Buches bin ich von verschiedener Seite unterstützt worden, wofür ich sehr zu danken habe. Das Buch hat von der fruchtbaren Arbeits- und Gesprächsatmosphäre am Marburger Seminar für Neuere Geschichte profitiert, wofür ich namentlich meinem Kollegen Wilhelm Ernst Winterhager danken möchte, darüber hinaus auch meiner Assistentin Frau Dr. Anuschka Tischer sowie Herrn Dr. Holger Th. Gräf. Frau Dr. Tischer danke ich zudem für die kritische Lektüre großer Teile der Darstellung und wichtige weiterführende Anregungen, ebenso Frau Dr. Antje Oschmann und Herrn Priv.-Doz. Dr. Thomas Brockmann. Dafür habe ich – wieder einmal – auch meiner Frau Marie-Luise Scherer-Kampmann zu danken, zugleich für ihre beständige Gesprächsbereitschaft und ihre stete Bereitschaft zum kritischen Mitdenken.
Für wichtige Hinweise danke ich überdies sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Konrad Repgen. Herr Priv.-Doz. Dr. Michael Rohrschneider gewährte mir Einsicht in das Manuskript seiner Habilitationsschrift, ebenso Herr Thomas Brockmann, wofür gleichfalls herzlich gedankt sei.
Wichtige Unterstützung habe ich in allen Etappen der Fertigstellung des Buches auch von den Mitarbeiterinnen meines Marburger Lehrstuhls erhalten, ganz besonders von Frau Kornelia Oepen, die zudem sehr tatkräftig bei der Erstellung des Registers mitgewirkt hat. In diesem Zusammenhang danke ich ebenfalls den studentischen Hilfskräften, namentlich Frau Christine Braun, für zahlreiche Hilfestellungen.
Den studentischen Hörerinnen und Hörern meiner Marburger Vorlesung zur europäischen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, auf der Teile der Darstellung basieren, danke ich für ihre kritische Aufmerksamkeit. Und last but not least danke ich Herrn Dr. Alexander Schweickert vom Verlag Kohlhammer sehr dafür, dass er für die Säumigkeit des durch mancherlei universitäre Selbstverwaltungspflichten immer wieder aufgehaltenen Autors so viel Geduld und Verständnis aufgebracht hat.
Marburg, den 30. Dezember 2007
Christoph Kampmann
Es ist erfreulich, dass eine zweite Auflage des vorliegenden Buches möglich geworden ist. Dies gab Gelegenheit, eine Reihe von kleineren Fehlern bzw. Irrtümern zu beheben und das Verzeichnis weiterführender Literatur (X.) um einige wichtige Titel zu ergänzen. Für die gründliche Durchsicht und tatkräftige Hilfe danke ich einmal mehr Frau Kornelia Oepen sowie Frau Stephanie Bode und Herrn Joel Hüsemann. Zu danken ist auch all jenen, die den Verfasser bei unterschiedlichen Gelegenheiten auf Corrigenda hingewiesen haben. Herzlich gedankt sei auch wieder dem Kohlhammer Verlag und namentlich Herrn Dr. Daniel Kuhn für die stets problemlose und engagierte Zusammenarbeit, die sich auch bei der zweiten Auflage bewährt hat.
Marburg, den 18. März 2013
Christoph Kampmann
Der Dreißigjährige Krieg war ein europäischer Konflikt. Zwar war vornehmlich das römisch-deutsche Reich der Schauplatz dieses Krieges, ein »deutscher« Krieg ist er jedoch von Anfang an nicht gewesen. Bereits 1618, als der Krieg mit dem Ständeaufstand in den habsburgischen Erblanden ausbrach, entschied sich Spanien zum Eingreifen im Reich – eine Entscheidung, die am spanischen Hof heftig umstritten war und die wesentliche Bedeutung für den Kriegsverlauf erlangte. In den folgenden Jahren traten weitere europäische Mächte direkt oder indirekt in den Krieg in Deutschland ein, so dass sich das kriegerische Geschehen im Reich mit europäischen Schlüsselkonflikten im Umfeld des Reiches verband. Wohl spätestens mit dem Beginn des Schwedischen Krieges 1630 war die Verbindung des Krieges im Reich mit europäischen Konflikten irreversibel geworden: In den 1630er Jahren mussten der Kaiser, Kursachsen und die übrigen führenden Reichsstände erkennen, dass eine Beilegung des Krieges nicht mehr in deutscher Hand lag, obwohl die Konfliktparteien im Reich eine bis dahin nicht gezeigte Kompromissbereitschaft erkennen ließen. Als »europäischer Krieg in Deutschland« konnte der Dreißigjährige Krieg nur noch durch eine Friedenslösung auf europäischer Ebene beendet werden.
Der Charakter des Dreißigjährigen Krieges als europäischer Konflikt ist heute wohl unstrittig und ist in jüngster Zeit immer wieder herausgestellt worden. In merkwürdigem Gegensatz dazu wird der Dreißigjährige Krieg nach wie vor verbreitet als ein im Wesentlichen »deutscher« Krieg dargestellt. Dies hängt eng mit mächtigen Traditionen der Geschichtsschreibung dieses Krieges zusammen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen und bis heute fortwirken.
In der Geschichtsschreibung des späten 17. und 18. Jahrhunderts hatte der Dreißigjährige Krieg nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Dies galt auch für die deutsche Historiographie. Es bestand zwar Konsens, dass dieser Krieg die größte Katastrophe der jüngeren deutschen Geschichte gewesen sei, aus der der Westfälische Friede als größter Glücksfall das leidgeprüfte Reich errettet habe. Dies führte aber nicht zu intensiverer gelehrter Betrachtung des Kriegsgeschehens und seiner Ursachen. Der Dreißigjährige Krieg blieb ein randständiges Thema1. Dies änderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts grundlegend, nicht zuletzt unter dem Einfluss Friedrich Schillers als Dramatiker und Historiker. Der große Krieg und seine Akteure wurden zu einem Themengebiet, mit dem sich speziell die deutschsprachige Geschichtsschreibung und gerade ihre besten Köpfe intensiv beschäftigten, und das zugleich Feld großer, leidenschaftlich geführter Kontroversen war. Hintergrund war eine prinzipiell veränderte, national bestimmte Sichtweise der Geschichte zwischen 1618 und 1648. Nicht nur der Krieg, sondern auch der Westfälische Friedensschluss, der ihn beendete, galten von nun an als nationale Tragödie Deutschlands2. Durch den Krieg im Reich hätten fremde Nationen, voran Frankreich unter Richelieu, sich in verhängnisvoller Weise immer tiefer ins Reich einmischen und ab 1635 das kriegerische Geschehen bestimmen können. Der Krieg, der Deutschland verwüstet habe, sei durch einen von Frankreich und anderen Mächten diktierten Frieden beendet worden, der Deutschland dauerhaft zerstückelt und territorial beraubt habe – eine Zersplitterung und Schwächung, die einen säkularen Niedergang des Reiches seit dem späteren 17. Jahrhundert eingeleitet habe3.
Beherrschende, stets unausgesprochene oder ausgesprochene Schlüsselfrage aller deutschen Geschichtsschreibung zum Dreißigjährigen Krieg in dieser Zeit war die Problematik von Verantwortung und Schuld, also die Suche nach jenen, die im Reich für diese Katastrophe verantwortlich zu machen seien. Für die protestantischborussische Geschichtsschreibung hatte der gegenreformatorisch-jesuitisch inspirierte Katholizismus des Kaiserhauses erheblichen Anteil an der fatalen Entwicklung. Verblendet und ohne Sinn für die Erhaltung der Reichseinheit hätte das kaiserliche Reichsoberhaupt den Niedergang Deutschlands wesentlich mitzuverantworten. Eine apologetisch-prohabsburgische Geschichtsschreibung versuchte den Wiener Hof vor diesem Vorwurf zu schützen und nun seinerseits die calvinistischen »Umstürzler« unter den Reichsständen als Schuldige zu brandmarken. Die neueste historiographiegeschichtliche Forschung zeigt sehr eindrücklich, wie stark die Geschichtsschreibung zum Dreißigjährigen Krieg seit Friedrich Schiller bei allem Reichtum von Positionen und Deutungsmustern im Einzelnen von dieser forensischen, auf Anklage und Verteidigung gerichteten Perspektive geprägt war4.
Tagesaktualität und Leidenschaft gewann diese Auseinandersetzung dadurch, dass sie sich mit der Kontroverse zwischen der kleindeutschen und der großdeutschen Richtung der deutschen Nationalbewegung verband5. Für viele Anhänger der kleindeutschen Lösung diente das angeblich historische Versagen des Hauses Österreich im Dreißigjährigen Krieg auch als ein wichtiges Argument in der Debatte um den Platz Österreichs in Deutschland. Die konfessionell-politischen Frontlinien der historischen Kontroversen erinnerten in ihrer Hitzigkeit und ihrer Fixierung auf Schuld und Verantwortung streckenweise an die Gegensätze, die die kriegsbegleitende Publizistik und die Zeitgeschichtsschreibung zum Dreißigjährigen Krieg bis in die zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestimmt hatten6. Die Leidenschaftlichkeit der Historiographie des 19. Jahrhunderts hat zuweilen den nüchternen Blick auf das Geschehen verstellt, gab aber zugleich Anstoß zu gründlicher Erforschung der Entstehung und Entwicklung des Krieges. So trug die intensive geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung dazu bei, große, bis heute unverzichtbare Quelleneditionen anzuregen, um Klarheit über einige der am heftigsten diskutierten Fragen zu gewinnen7. Allerdings hatten all diese historiographischen Bemühungen eine einseitige inhaltlich-chronologische Orientierung. Das Interesse galt in erster Linie der Politik von Kaiser und Reichsständen. Zugleich richtete sich das Hauptaugenmerk auf die erste Hälfte des Krieges bis 1635, in der die Frage nach Krieg und Frieden noch im Wesentlichen im Reich selbst entschieden wurde, und nicht auf jene Phase, als der Krieg sich bereits zum europäischen Krieg in Deutschland entwickelt hatte und die weit seltener in den Fokus der Betrachtung rückte8. Auch das große, bis heute lesenswerte Werk Moriz Ritters von 1908, das aus der Reihe der Gesamtdarstellungen der Zeit wegen seines unparteilichen und historiographisch überzeugenden Zugriffs herausragt, behandelte die Jahre nach 1635 nur noch kursorisch9. Der politisch-konfessionelle Hintergrund erklärt auch, warum die Intensität, mit der die deutschsprachige Historiographie sich mit dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigte, keine Entsprechung in den Nationalgeschichtsschreibungen anderer, am Dreißigjährigen Krieg beteiligten Länder fand10.
Kristallisationspunkt der gesamten deutschsprachigen Geschichtsschreibung, die sich im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigte, war charakteristischerweise die Person des kaiserlichen Generalissimus Albrecht von Wallenstein11. Wallenstein erschien vielen Historikern als letzte Persönlichkeit, die die nationale Tragödie Deutschlands hätte wenden, das Reich einigen und es so dem Diktat der fremden Kronen noch hätte entreißen können12. In der Debatte um die Schuld an seinem Sturz und Tod 1634 kulminierten alle Kontroversen der älteren Geschichtsschreibung zum Dreißigjährigen Krieg.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich die Beurteilung des Dreißigjährigen Krieges in der Geschichtswissenschaft grundlegend. Die national geprägten Bewertungskategorien, mit denen bislang an das Thema herangegangen worden war, verloren nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich an Bedeutung. Dass sich das römisch-deutsche Reich nach dem Westfälischen Frieden nicht zu einer starken, zentralisierten Monarchie, sondern zu einem dezentralen, defensiven Rechtsverband entwickelt habe, wurde nach der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) des 20. Jahrhundert erheblich positiver bewertet als ehedem. Die einseitig von Schuldzuweisungen und national gestimmter Polemik geprägte Betrachtungsweise des Krieges verschwand; vor allem setzte sich schrittweise seit den 1950er Jahren eine neue Bewertung des Westfälischen Friedens durch. Dieser Friede wurde nicht mehr als Tiefpunkt einer katastrophalen Entwicklung gesehen, sondern als achtbare Friedensleistung gewürdigt, genau so, wie auch die Entwicklung Deutschlands nach 1648 nicht mehr ausschließlich als traurige Zeit innerer Zersplitterung, äußerer Schwäche und nationaler Entwürdigung gesehen wurde. Schon die große Darstellung Fritz Dickmanns zum Westfälischen Frieden von 1959 markierte hier eine Wende13, der die systematische aktenmäßige Erschließung und monographische Aufarbeitung von Einzelaspekten des Friedens, insbesondere im Rahmen des großen, seit den frühen sechziger Jahren vorangetriebenen Editionsprojekts der »Acta Pacis Westphalicae« folgte14. Damit ging eine deutliche Internationalisierung der Forschungsanstrengungen zum Dreißigjährigen Krieg und zum Westfälischen Frieden einher. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Würdigung des Westfälischen Friedens im Zusammenhang mit dem auch wissenschaftlich außerordentlich ertragreichen Friedensjubiläum von 199815. Der ehedem, im 19. Jahrhundert, geschmähte Frieden von 1648 wurde dabei in der deutschen Historiographie zuweilen so euphorisch gepriesen, dass nach 1998 eine Kontroverse über die Frage einsetzte, ob nun nicht bei der positiven Würdigung des Westfälischen Frieden übertrieben worden sei und so die Realitäten des 17. Jahrhunderts aus dem Blick gerieten16.
Seit den 1960er Jahren rückte – auch dies als Ergebnis internationaler Forschungsanstrengung – der europäische Aspekt des Krieges ins Blickfeld. Nicht mehr Schuld und Verantwortlichkeit, sondern die Politik der beteiligten europäischen Mächte, ihre Zielvorstellungen und Absichten, nahmen nun größeren Raum in der Forschung ein. Davon profitierte vor allem die Erforschung des leitenden französischen Staatsmanns, Kardinal Richelieu, dessen Rolle im Dreißigjährigen Krieg von anachronistisch nationalen Denk- und Argumentationsmustern befreit wurde17.
Allerdings bedeutete die stärker europäische Akzentuierung der Forschung nicht automatisch, dass nun auch stärker »europäische« Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Kriegs folgten. Vielmehr gab es unter den Historikern seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts einflussreiche Stimmen, die sich dafür einsetzten, sich im Zuge eines verstärkt europäischen Betrachtung ganz vom Konzept eines »Dreißigjährigen Krieges« zu verabschieden, ihn »europäisch aufzulösen«. Der Dreißigjährige Krieg wurde nun als Teil einer allgemeinen politischen und sozialen europäischen Krise des 17. Jahrhunderts gesehen. Dies konnte so weit gehen, im Dreißigjährigen Krieg ein historiographisches Konstrukt späterer Zeiten zu erblicken – ein Konstrukt, der das Verständnis vom europäischen Gesamtzusammenhang der Entwicklung der Zeit eher verstelle18.
Bemerkenswerterweise hatte auch diese Sichtweise bereits eine zeitgenössische Entsprechung. Schon während des Dreißigjährigen Krieges wurde das Argument, dass der Krieg nur Teil eines großangelegten, europaweit ausgetragenen Konfliktes sei, intensiv eingesetzt, um den jeweiligen Gegner zu diskreditieren. Für die protestantische Publizistik war der Krieg im Reich nur ein Kampfplatz im Rahmen der universalen Bemühungen der Casa d’Austria, die Universalmonarchie und die Alleinherrschaft des Katholizismus zu errichten19. Einer der Hauptprotagonisten, König Gustav II. Adolf von Schweden, rechtfertigte sein seit den späten zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts geplantes Eingreifen im Reich nach innen und nach außen damit, dass alle europäischen Kriege von Südwestfrankreich bis Polen eine Einheit bildeten. Sie alle seien letztlich von der päpstlich-habsburgischen Partei entfesselt worden, um den Protestantismus zu zerstören20. Diese universalistische Einbettung des Krieges fand seine Entsprechung auf katholischer Seite, deren Publizisten den Krieg als einen Ausdruck eines europaweiten calvinistischen Zerstörungswerks ansahen21. Auch für die Polemiker des 17. Jahrhunderts gab es kein abgrenzbares Kriegsgeschehen im Reich. Dieser Gedanke begegnet in abgewandelter, also in wissenschaftlicher, gänzlich unpolemischer Form bei manchen Vertretern einer Europäisierung des Krieges im 20. Jahrhundert wieder, wenn sie den Dreißigjährigen Krieg als einheitliches Geschehen verabschieden und nur noch im Gesamtzusammenhang der »Krise des 17. Jahrhunderts« sehen wollen22.
Der Versuch, den Dreißigjährigen Krieg als nachträgliches historiographisches Konstrukt darzustellen, darf schon seit längerem – vor allem dank der gründlichen Forschungen Konrad Repgens – als widerlegt gelten. Aufgrund einer geradezu erdrückenden Fülle von Belegen konnte der Bonner Gelehrte zeigen, dass der Begriff »Dreißigjähriger Krieg« ebenso zeitgenössisch ist wie die Vorstellung einer Kontinuität des Krieges und einer Kohärenz der seit 1618 im Reich ausgetragenen Konflikte. Inzwischen ist wohl unbestritten, dass der Dreißigjährige Krieg schon aus Sicht der Zeitgenossen einen Ereigniszusammenhang, eben einen einzelnen Dreißigjährigen Krieg gebildet hat23.
Sowohl die ältere, national geprägte Sichtweise des Krieges mit seinen Schuldzuweisungen als auch die Versuche einer europäischen Auflösung des Krieges in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürfen heute in der Geschichtswissenschaft als überwunden gelten. Gleichwohl wirken diese Traditionen fort. Eine gleichmäßige, europäische Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs steht bis heute aus, und dies, obwohl jüngere Gesamtdarstellungen des Krieges die wertenden Vereinseitigungen der älteren Historiographie weit hinter sich gelassen haben. Dies zeigt schon die Schilderung des politischen und militärischen Kriegsgeschehens. Obwohl die Phase zwischen 1635 und 1648, der »europäische Krieg in Deutschland«, über den Ausgang der Auseinandersetzung entschied, spielt sie nach wie vor in den jüngeren Gesamtdarstellungen bestenfalls eine Nebenrolle, während die Frühphase des Krieges und deren Hauptprotagonisten, Wallenstein und Gustav Adolf, recht breit geschildert werden. In kaum einer neueren Gesamtdarstellung nimmt die Entwicklung der Jahre zwischen 1635 und 1645 mehr als 5 Prozent der Darstellung ein. Dies hat zur Folge, dass auch die Ergebnisse der Einzelforschung, die gerade in die Entwicklung dieser Jahre neues Licht gebracht hat, vernachlässigt werden. So ist kürzlich die für die Gesamtbeurteilung des Krieges nicht unwichtige Tatsache nachgewiesen worden, dass Frankreich und der Kaiser sich nie förmlich gegenseitig den Krieg erklärt haben24. Gleichwohl findet sich der Hinweis auf eine solche Kriegserklärung in zahlreichen neueren Darstellungen. Man könnte die Liste beliebig ergänzen. Zahlreiche wichtige Einzelergebnisse haben noch nicht die Ebene der Überblicksdarstellungen erreicht. Das gilt auch für die vielen Ergebnisse zur Diplomatie- und Militärgeschichte in der letzten Phase des Krieges. Dem entspricht, dass viele neuere Analysen und Betrachtungen zum Westfälischen Frieden oft losgelöst vom Kriegsgeschehen erfolgen – und dies, obwohl der Krieg während des gesamten Westfälischen Friedenskongresses in unverminderter Härte weiterging.
Die etwas stiefmütterliche Behandlung der letzten Kriegsphase mag auch damit zusammenhängen, dass sich die Konfliktlinien und Akteurskonstellationen in dieser Phase des Krieges extrem verkomplizierten. Zu den Hauptakteuren im Reich treten nun die europäischen Mächte mit ihren jeweils eigenen, ständig wechselnden Kriegs- und Friedenszielen, so dass es stets notwendig ist, die unterschiedlichen Handlungsebenen in den Blick zu nehmen.
In der vorliegenden Darstellung wird der Versuch gemacht, eine Geschichte des Krieges als europäischen Konflikts zu schreiben. Ein umfassender Versuch ist es nicht. Die Darstellung wird sich auf die zentralen politisch-militärischen Entwicklungslinien konzentrieren, um die Entstehung und den Verlauf der Katastrophe des Krieges auf knappem Raum verständlich und nachvollziehbar zu machen. Auf der Basis einer solchen deskriptiven Analyse soll abschließend versucht werden, den Ort des Dreißigjährigen Krieges in der Geschichte des europäischen Friedens zu bestimmen. Damit wird der Blick noch einmal auf die Frage gelenkt, die seit jeher bei der historischen Betrachtung des Krieges eine zentrale Rolle spielte, nämlich, welche Bedeutung mangelnder Friedenswille bzw. mangelnde Friedensfähigkeit für die Entstehung einer Kriegskatastrophe solchen Ausmaßes hatte25 – eine Frage, die durch die Einbeziehung kultureller Perspektiven nicht obsolet geworden ist, sondern an Tiefenschärfe gewonnen hat26. Hier soll abschließend und auf der Grundlage der neueren Forschung nach einer Antwort gesucht werden.
Nicht eigens thematisiert werden historische Aspekte, die in einer umfassenden europäischen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zweifellos systematische Berücksichtigung finden müssten. Darunter sind auch solche, die in jüngster Zeit Gegenstand intensiver Forschungen geworden sind. Beispielhaft sind der Bereich der Kriegserfahrung zu nennen27, die Frage nach dem Krieg als Medienereignis28 oder die Problematik der Migration29. Gleichwohl werden diese Themen einbezogen, soweit dies im Rahmen der auf die zentralen politisch-militärischen Ursachen- und Ereigniszusammenhänge gerichteten Konzeption möglich ist. Im Sinne des gewählten Ansatzes wird der Blick gleich zu Beginn auf die großen, europäischen Schlüsselkonflikte gerichtet, die bereits lange vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges vorhanden waren und sich sukzessive mit dem Kriegsgeschehen verbanden. Auch wird versucht, die Phasen des Krieges in etwa gleichmäßiger Gewichtung zu schildern, wobei auch der inneren Entwicklung in den Ländern der Kriegsteilnehmer dabei Aufmerksamkeit zu schenken ist.
Über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer europäischen Geschichte, die über ein Nebeneinander von Nationalgeschichten hinausgeht und zugleich ein breiteres universitäres Publikum anspricht, wird seit längerem in der Geschichtswissenschaft intensiv nachgedacht30. Gerade die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges könnte ein Ansatzpunkt für eine so verstandene europäische Geschichte sein. Denn der Krieg bildete einen territorial und zeitlich begrenzbaren Ereigniszusammenhang. Seine Erklärung entzieht sich freilich einer nationalgeschichtlichen Perspektive; sie macht eine transnationale, europäische Perspektive erforderlich und wird nur bei der genauen Analyse der europäischen Interaktionen verstehbar. Dies deutlich zu machen, ist ein wichtiges Ziel der vorliegenden Darstellung.
An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war Krieg ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussion im Heiligen Römischen Reich. Auf den ersten Blick überrascht dies, befand sich das römisch-deutsche Reich doch um 1600 »in einem relativ friedlichen Zustand« (Volker Press)1, der überdies schon seit etwa einem halben Jahrhundert andauerte. Dass der Krieg in der öffentlichen Diskussion im Reich dennoch omnipräsent war, ist im Zusammenhang mit der politisch-militärischen Situation in der unmittelbaren Nachbarschaft des Reichs, jenseits der Grenzen des Reichsverbands, zu sehen. Denn das Reich lag um 1600 im Spannungsfeld mehrerer europäischer Schlüsselkonflikte, die es jederzeit in Mitleidenschaft ziehen konnten, und zwar nicht nur aufgrund ihrer räumlichen Nähe zum Reichsgebiet, sondern auch wegen der engen politisch-konfessionellen und nicht zuletzt dynastischen Verbindungen einiger Reichsglieder zu den Konfliktparteien.
Eine besondere Bedrohung für den Frieden im Reich stellte um 1600 der Konflikt zwischen Spanien und den Niederlanden dar. Denn zum einen gehörten die Niederlande nach verbreiteter Rechtsauffassung formal noch immer zum Reich, auch wenn sie sich faktisch bereits im 16. Jahrhundert sehr weit vom Reichsverband entfernt hatten. Zum anderen bestanden enge dynastische Verbindungen der betreffenden Konfliktparteien zum Reich. Dies betraf natürlich die österreichischen Habsburger, die den römisch-deutschen Kaiser stellten und die von dem in Spanien regierenden Zweig des Hauses Habsburg unter Berufung auf die dynastische Solidarität immer wieder, wenn auch letztlich stets vergeblich, zur offenen Parteinahme in dem Konflikt aufgefordert wurden. Dies betraf aber auch politisch führende niederländische Adelsgeschlechter, allen voran das im Reich begüterte Haus Nassau-Oranien.
Der 1566 ausgebrochene Konflikt hatte in den folgenden Jahrzehnten seinen Charakter vollkommen verändert. Zu Beginn hatte es sich um einen Aufstand mehrerer über das burgundische Erbe zum Haus Habsburg gelangter Provinzen gegen ihren spanischen Landesherrn, König Philipp II. (1556–1598), gehandelt, wobei Holland und Seeland die Kernprovinzen des Aufstands gebildet hatten. Ziel der Aufständischen war die Bewahrung ihrer überkommenen politischen und vor allem konfessionellen Freiheiten gegen die Zentralisierungsbestrebungen von Philipp II. gewesen. Im Verlauf der langandauernden kriegerischen Auseinandersetzungen entwickelte sich ein (nord-)niederländisches Zusammengehörigkeitsgefühl, so dass die anfangs nur lose verbundenen aufständischen Provinzen um 1600 ein geschlossenes, calvinistisch geprägtes Gemeinwesen bildeten, das sich scharf gegen die katholischen, bei Spanien verbliebenen südlichen Provinzen abgrenzte. Überdies stiegen die von der Provinz Holland ökonomisch und politisch dominierten Niederlande bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts dank ihrer militärischen Stärke zu Lande und zu Wasser sowie dank ihrer Wirtschaftskraft zu einer europäischen Großmacht auf, die mit Spanien um Einflusszonen in Europa und Übersee kämpfte.
Für Spanien wurde der Konflikt schon in den letzten beiden Jahrzehnten der Herrschaft von Philipp II. zu einer untragbaren Belastung, weil sich Spanien auch auf anderen Kriegsschauplätzen engagierte, so in den französischen Religionskriegen. Dies überforderte die Kräfte der Monarchie und trug zum spanischen Staatsbankrott von 1596 entscheidend bei. Zum anderen sah sich Spanien im niederländischen Krieg bei der Organisation des Nachschubs und der Versorgung seiner Truppen mit erheblichen logistischen Problemen konfrontiert. Da der Seeweg von Spanien in die Niederlande, nicht zuletzt nach der Niederlage der spanischen Armada im Kampf gegen England, zu unsicher war, führte der Hauptnachschubweg über die italienischen Besitzungen Spaniens (Mailand), das Fürstentum Savoyen und die Freigrafschaft Burgund2. Aber auch dieser Weg erwies sich, vor allem wegen der Nachbarschaft Frankreichs, zunehmend als unsicher, so dass Spanien nach alternativen Versorgungswegen Ausschau halten musste. Dabei gewannen die Alpenpässe in der Ostschweiz (Veltlin) und das Elsass wachsende strategische Bedeutung für Spanien.
Angesichts dieser Schwierigkeiten wuchs auf spanischer Seite die Friedensbereitschaft. König Philipp III. (1598–1621) erklärte sich schließlich bereit, die niederländische Unabhängigkeit anzuerkennen. Der angestrebte Friedensschluss kam jedoch nicht zustande, in erster Linie, weil die Niederlande drei zentrale Bedingungen Spaniens ablehnten: Die Duldung von Katholiken, die Wiederöffnung der Schelde, durch deren Schließung die wichtigste Hafenstadt der südlichen Niederlande, Antwerpen, vom Überseehandel abgeschnitten worden war, sowie die Einstellung des niederländischen Handels in den spanischen Überseegebieten. So kam es im Jahre 1609 lediglich zu einem zwölfjährigen Waffenstillstand, der kaum die Basis für eine dauerhafte Verständigung bilden konnte. Denn vor allem der andauernde niederländisch-spanische Krieg in Übersee, der vom Waffenstillstand ausdrücklich ausgenommen war, sowie die fortgesetzte Sperrung der Scheldemündung waren für Spanien langfristig unakzeptabel3.
Dennoch stand Philipp III., hierin der politischen Linie seines Hauptministers (des sog. Valido), des Herzogs von Lerma, folgend, einer Wiederaufnahme des niederländischen Kriegs zunächst reserviert gegenüber. Spätestens seit 1617 mehrten sich jedoch die Anzeichen, dass die spanische Regierung zu einem energischeren, notfalls auch militärischen Engagement in den Niederlanden zurückzukehren beabsichtige. Vor allem die Aktivitäten der spanischen Botschafter am Kaiserhof, Zuñiga und Oñate, wiesen in diese Richtung. Ein Markstein dieser Politik war ein Geheimvertrag (der sog. Oñate-Vertrag) im März 1617 zwischen den spanischen und den österreichischen Habsburgern. Philipp III. verzichtete darin auf seine eigenen Thronfolgerechte in Böhmen und Ungarn, und im Gegenzug verpflichtete sich das designierte Oberhaupt der österreichischen Habsburger, Erzherzog Ferdinand, den spanischen Habsburgern Herrschaftsrechte im Elsass zu überlassen – ein Vertrag, der in Hinblick auf die strategische Bedeutung des Elsass für die spanischen Nachschubwege erhebliche Bedeutung gewinnen konnte. Es lag in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass der Herzog von Lerma, der bis zuletzt einer Wiederaufnahme des niederländischen Kriegs kritisch gegenüberstand, im Oktober 1618 gestürzt wurde und Zuñiga an seine Stelle trat4.
Auch in den Niederlanden fand ein erbitterter Konflikt zwischen den Anhängern und Gegnern einer eher auf Ausgleich mit Spanien bedachten Politik statt. Gerade seit der Zeit des Oñate-Vertrags nahm er an Heftigkeit zu. Protagonist einer eher zurückhaltenden Außenpolitik war der holländische Staatsmann Johan van Oldenbarnevelt; die Führungsfigur des gegnerischen Lagers, die eine eindeutig antispanische Politik favorisierte, war Moritz von Oranien. Die Auseinandersetzung gewann zusätzlich dadurch an Schärfe, dass sie sich mit theologischen Lehrstreitigkeiten zwischen einer gemäßigten Reformbewegung innerhalb des Protestantismus (Remonstranten bzw. Arminianer), der Oldenbarnevelt und seine Anhänger nahestanden, und der streng traditionell-calvinistischen Richtung, die Oranien repräsentierte, verband. Im Sommer 1617 begann der offene Machtkampf zwischen Moritz von Oranien und Oldenbarnevelt. Im August 1618 wurde Oldenbarnevelt von Oranien gefangengesetzt, auf der Synode von Dordrecht, die mit einem Sieg der traditionellreformierten Richtung über die Remonstranten endete, als Hochverräter verurteilt und kurz darauf hingerichtet. Damit hatten sich die Vertreter eines radikal antikatholischen bzw. antispanischen Kurses durchgesetzt.
Spätestens seit 1617 stand für die politische Öffentlichkeit in Europa fest, dass sich das Verhältnis zwischen den Niederlanden und Spanien wieder gefährlich zuspitzte und mit einem Wiederausbruch des spanisch-niederländischen Kriegs zu rechnen war5.
Der Gegensatz zwischen der kastilischen bzw. spanischen und der französischen Monarchie kann als eigentlicher Grundkonflikt innerhalb der christlichen Staatenwelt seit dem 15. Jahrhundert gelten. Als stärkste Gemeinwesen der Christenheit rangen beide letztlich um die Vormachtstellung in Europa; vor allem Herrschaftspositionen in den italienischen Territorien und im Westen des Reichs waren traditionell hart umkämpft. Freilich hatte dieser Grundkonflikt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an Bedeutung verloren, weil Frankreich durch jahrzehntelange Religionskriege innerlich schwer erschüttert worden war. Der Versuch Spaniens, diese Lage zu nutzen und Frankreich als Rivalen dauerhaft auszuschalten, war indessen an der vorläufigen Befriedung Frankreichs durch den ersten Bourbonen auf dem französischen Königsthron, Heinrich IV. (1589–1610), gescheitert. Ihm gelang es, den politischen Frieden zwischen den Religionsparteien – unter Wahrung der katholischen Identität Frankreichs, freilich unter erheblichen politisch-militärischen Zugeständnissen an die protestantische Partei (der sog. Hugenotten) – wiederherzustellen und Frieden mit Spanien zu schließen. Spanien musste rasch erkennen, dass Frankreich als machtpolitischer Rivale auf die europäische Bühne zurückgekehrt war. Durch den Frieden von Lyon von 1601 zwischen Frankreich und Savoyen verlor Spanien praktisch seinen durch savoyisches Gebiet führenden Nachschubweg6. Zugleich begann Frankreich, indirekt, aber doch spürbar die Gegner Habsburgs in Italien (Venedig), in den Niederlanden und im Reich zu unterstützen. 1609/10 erreichte dieses Engagement im Jülich-Klevischen Erbfolgekrieg (vgl. Kapitel II, 2 d) derartige Ausmaße, dass ein offener Krieg mit Spanien in den Bereich des Möglichen rückte7. Schon jetzt wurde sichtbar, dass Spaniens Versuch, einen neuen sicheren Truppenkorridor von Italien in die Niederlande zu errichten, langfristig auf energische französische Gegenwehr stoßen würde. Denn die Schaffung einer solchen festen spanischen Einflusszone in Italien, in der Ostschweiz und im Westen des Reichs, auf die z. B. der Oñate-Vertrag zielte, würde Frankreichs Möglichkeiten einer aktiven Reichs- und Italienpolitik wesentlich beschneiden, wenn nicht gar völlig zunichte machen. Zum offenen Konflikt kam es zunächst aber nicht, weil nach der Ermordung von König Heinrich IV. im Mai 1610 eine neue Phase innerfranzösischer Auseinandersetzungen begann. Sie zeigte, dass die französische Monarchie nach den jahrzehntelangen Religionskriegen noch keineswegs gefestigt war; vor allem der hugenottische »Staat im Staate« stellte eine permanente Gefahr für die monarchische Zentralgewalt dar. Unter Ludwig XIII. (1610–1643) wurde daher zunächst, prinzipiell bis Ende der 1620er Jahre, der Stabilisierung der Monarchie politische Priorität eingeräumt. Dies verdeckte die traditionelle Rivalität zwischen Frankreich und Spanien vorübergehend, beseitigte sie aber nicht8. Im Gegenteil: Die militärischen Ereignisse, die nach 1618 den mitteleuropäischen und dann den niederländischen Kriegsschauplatz erschütterten, waren geeignet, die machtpolitischen Gegensätze wieder zu verschärfen.
Auch im Norden und Nordosten des Reichs wuchsen seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die politischen und militärischen Spannungen, die wegen der engen wirtschaftlichen, aber auch der politisch-dynastischen Verflechtungen im Ostseeraum eine Gefährdung für die Stabilität des Reichs darstellten. Die militärischen Auseinandersetzungen, die seit 1600 in dieser Region ausgetragen wurden, sind in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg einer neuen Großmacht zu sehen, des Königreichs Schweden unter der jüngeren Linie des Hauses Wasa – ein Aufstieg, durch den das traditionelle Machtgefüge im Ostseeraum ins Wanken geriet.
Zuvor beruhte das Machtgefüge im Wesentlichen auf der Vormachtstellung Dänemarks. In der internationalen Forschungsliteratur wird das Königreich Dänemark nach der regierenden lutherischen Dynastie auch als »Oldenburg State« bezeichnet9, um den besonderen, weitausgreifenden Charakter der aus verschiedenen Teilreichen zusammengesetzten Monarchie (einer »composite monarchy« [John H. Elliott])10 treffender zu kennzeichnen. Denn das Königreich Dänemark, das unter Christian IV. (1588–1648) an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert neben Island, Grönland und mehreren strategisch wichtigen Ostseeinseln (Ösel, Gotland, Bornholm) auch die Halbinsel Schonen (im heutigen Südschweden) umfasste, war nur ein Teil der Monarchie der dänischen Oldenburger. Christian IV. regierte darüber hinaus noch in Personalunion das Königreich Norwegen, das Herzogtum Schleswig sowie – als Mitglied des Reichsverbands – das Herzogtum Holstein. Gerade die deutschsprachigen Territorien spielten für Christian IV. eine beträchtliche Rolle, weil der Einfluss der hohen Aristokratie auf die Regierungsgeschäfte hier wesentlich geringer war als in seinen übrigen Territorien11. Christian IV. betrachtete sich mit gewissem Recht als eigentlichen Inhaber der Ostseeherrschaft, vor allem weil er den Sund und damit den Zugang zur Ostsee kontrollierte. Der Sundzoll bildete zudem eine der wichtigsten Einnahmequellen der Monarchie.
Am Ende des 16. Jahrhunderts entstand freilich eine weitere zusammengesetzte Monarchie im Ostseeraum, die an Ausdehnung den dänischen Herrschaftsbereich noch zu übertreffen schien: Das Reich von Sigismund III. aus der schwedischen Herrscherdynastie der Wasa. Sigismund III. war Sohn des schwedischen Königs Johann III. und seiner Gemahlin Katharina, die dem polnischen Königshaus der Jagiellonen entstammte. Als Abkömmling der Jagiellonen sowie als Katholik war Sigismund im Jahre 1587 zum König von Polen gewählt worden, einer Wahlmonarchie mit ausgeprägten politischen Mitbestimmungsrechten des Adels, die durch die Union mit Litauen überdies zu einer der größten Monarchien der Christenheit aufgestiegen war. Fünf Jahre nach dem polnischen bestieg Sigismund auch den schwedischen Thron. Beim Königreich Schweden, das in Personalunion mit dem Großfürstentum Finnland verbunden war, handelte es sich im Gegensatz zu Polen-Litauen um eine Erbmonarchie, aber auch in Schweden war der Einfluss der monarchischen Zentralgewalt wegen der ausgeprägten Machtstellung des Adels und eines starken freien Bauerntums vergleichsweise gering.
Sigismunds Position als katholischer Herrscher des streng lutherischen Schweden war von Anfang an prekär und verschlechterte sich nach seinen zaghaften Versuchen zur Förderung des Katholizismus weiter. Große Teile des schwedischen Adels gingen zum offenen Aufstand über, setzten Sigismund 1600 ab und erhoben seinen lutherischen Onkel Karl als Karl IX. auf den Königsthron, ohne dass Sigismund, der sich nach Polen zurückgezogen hatte, auf seine schwedischen Thronrechte verzichtete. Dies markierte den Beginn einer nur durch zeitlich befristete Waffenstillstände unterbrochenen Ära polnisch-schwedischer Kriege, die insgesamt bis 1660 andauern sollte.
Angesichts dieser militärischen Herausforderung sind die beiden ersten Herrscher der jüngeren Linie der Wasa, Karl IX. (1600–1611) und vor allem sein Sohn und Nachfolger Gustav II. Adolf (1611–1632), dazu übergegangen, die schwedische Monarchie völlig zu reformieren, zu zentralisieren und ihre militärische Schlagkraft zu stärken. Dies gelang vor allem deshalb, weil Gustav II. Adolf eng mit dem schwedischen Adel zusammenarbeiten konnte, der an der Errichtung der Monarchie der (aus dynastisch-legitimistischer Sicht unrechtmäßigen) jüngeren Wasa-Linie entscheidenden Anteil gehabt hatte. Es ist bezeichnend, dass sich Gustav Adolf bei der Zentralisierung Schwedens und dem Ausbau seiner Militärgewalt wesentlich auf Axel Oxenstierna (1612–1654) als Reichskanzler und als Haupt der schwedischen Aristokratie stützte12. Im Zusammenwirken von Monarchie und Adel entstand in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ein außerordentlich effizientes schwedisches Militärwesen einschließlich eines Wehrpflichtsystems (des sog. Indelningsverk), das wesentlich dazu beitrug, aus dem mit einer Bevölkerung von ca. 1,5 Millionen Menschen vergleichsweise bevölkerungsarmen Schweden eine der stärksten Militärmächte des 17. Jahrhunderts zu machen.
Mit diesem Indelningsverk war ein wohl einzigartiges System zur Aushebung der wehrpflichtigen Bevölkerung geschaffen worden. Eine Schlüsselrolle kam dabei kriegserfahrenen Adligen zu, die in den jeweiligen Regionen für die Heranziehung der Wehrpflichtigen zuständig waren. Man legte dazu Listen der gesamten männlichen Bevölkerung über 15 Jahre an. Jeder Bezirk Schwedens musste für zehn diensttaugliche Männer einen Soldaten stellen. Wer an den Versammlungen, die der Auswahl dienten, nicht teilnahm, wurde automatisch verpflichtet. Ausgenommen von der Wehrpflicht waren Adlige, Geistliche, Waffenschmiede und Bergarbeiter. Den Hauptteil der Wehrpflichtigen hatte mithin die bäuerliche Bevölkerung zu stellen. Die Regierung bestimmte in jedem Jahr die Zahl der Auszuhebenden, die dann auf die einzelnen Bezirke verteilt wurden. Die demographischen Folgen dieses aus militärischer Sicht effizienten Systems waren langfristig einschneidend und konnten katastrophale Ausmaße annehmen: So kehrten von den 230 jungen Männern, die die nordschwedische Gemeinde Bygdeå zwischen 1621 und 1639 auf den polnischen bzw. deutschen Kriegsschauplatz entsenden musste, höchstens fünfzehn zurück, davon mindestens fünf als Invaliden. Im selben Zeitraum sank die Gesamtzahl der erwachsenen männlichen Bevölkerung in Bygdeå um 40%13.
Die Außenpolitik Schwedens unter der jüngeren Linie der Wasa nach 1600 ist in der neueren Forschung einer grundsätzlichen Neubewertung unterzogen worden. Hatte man lange Zeit ihren defensiven Grundzug bei der Abwehr der polnischen Thronansprüche und des dänischen Vormachtstrebens betont, so wird nun verstärkt die expansionistische und imperiale Ausrichtung dieser Politik hervorgehoben14. Dabei spielte das strategische Ziel einer Erringung der Ostseeherrschaft ebenso eine Rolle wie das unter den jüngeren Wasa gepflegte Selbstverständnis des schwedischen Königtums als älteste Monarchie der Christenheit (Gotizismus) und nicht zuletzt ein ausgeprägtes konfessionelles Sendungsbewusstsein Schwedens als der berufenen Führungs- bzw. Schutzmacht des Protestantismus15. Dänemark, das die wachsende Stärke Schwedens mit Argwohn sah, sich aber aus konfessionellen Gründen nicht zum gemeinsamen Vorgehen mit Polen entschließen konnte, zwang im »Kalmar-Krieg« Schweden noch einmal dazu, die dänische Vormachtstellung anzuerkennen. Nach dieser Niederlage intensivierten Gustav II. Adolf und Oxenstierna ihre Bemühungen um die Militärreform, mit einigem Erfolg: Die Schlagkraft der erstarkenden schwedischen Militärmacht zeigte sich 1617 sehr deutlich, als es Gustav II. Adolf gelang, im Kampf gegen das durch innere Wirren geschwächte Russland Karelien und Ingermanland zu gewinnen und Russland für fast einhundert Jahre vom Zugang zur Ostsee abzuschneiden. Dass Polen freilich unverändert der Hauptgegner Schwedens blieb, demonstrierte die schwedische Führung unmittelbar nach dem Frieden mit Russland durch eine massive antikatholische bzw. antipolnische Gesetzgebung, die von einer entsprechenden Propaganda begleitet wurde, und einer ersten Militäroperation in Livland im Jahre 1617. Drei Jahre später brach der Krieg Schwedens mit Polen wieder in aller Schärfe aus, und die enormen Erfolge, die Schweden dabei in kurzer Zeit erzielte (1621: schwedische Eroberung Livlands mit Riga), zeigten, dass neben Dänemark, das diese Entwicklung mit Sorge betrachtete, eine zweite protestantische und zudem expansionistische Großmacht im Ostseeraum aufstieg, mit der die übrigen europäischen Großmächte und nicht zuletzt die Habsburger zu rechnen hatten.
Eine ständige militärische Bedrohung für den mitteleuropäischen Raum stellte schließlich das Osmanische Reich dar. Unter Süleyman dem Prächtigen (1520–1566) war die islamische Großmacht faktisch zum Nachbarn des Reiches geworden und blieb dies bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Unmittelbar betroffen davon war zunächst der Herrschaftskomplex der österreichischen Habsburger, die neben ihren österreichischen Erblanden 1526 auch die Nachfolge in den Ländern der Wenzelskrone (Böhmen, den Lausitzen, Mähren, Schlesien) sowie in Ungarn angetreten hatten. Das Kaiserhaus hat freilich bei der Abwehr des sog. »Erbfeindes des christlichen Namens« die solidarische Unterstützung des gesamten Reiches diplomatisch und propagandistisch eingefordert und sie auf den Reichstagen auch in beträchtlichem Umfang erhalten. Anders als die Krisen in den Niederlanden und im Ostseeraum spaltete die militärische Bedrohung im Südosten das Reich nicht, sondern stärkte über alle konfessionellen und politischen Grenzen hinweg den Zusammenhalt der Reichsglieder.
Nach jahrzehntelangen Kriegen war es im Jahre 1568 zwischen dem Kaiser und dem Osmanischen Reich zu einem längerfristigen Waffenstillstand gekommen, der die Überlegenheit des Osmanischen Reiches über seine habsburgischen Gegner deutlich erkennen ließ. Darin wurde die Dreiteilung Ungarns festgelegt: Zentralungarn mit der Hauptstadt Ofen fiel an das Osmanische Reich, das christliche Fürstentum Siebenbürgen wurde tributpflichtiger Vasall der Hohen Pforte, und lediglich ein schmaler Grenzstreifen in West- und Oberungarn verblieb den Habsburgern, die überdies einen jährlichen Tribut an Konstantinopel zu entrichten hatten.
Der habsburgisch-osmanische Grenzraum kam freilich auch in der Zeit nach 1568 aufgrund eines ständigen Kleinkriegs nicht zur Ruhe. Im Jahre 1593 entschied sich Sultan Murad III. (1574–1595) zu einem erneuten großangelegten Feldzug gegen Ungarn, Böhmen und Österreich, der zu einem weiteren, dem sog. »langen« Türkenkrieg führte. Trotz einiger osmanischer Anfangserfolge gestaltete sich der Kriegsverlauf für Habsburg diesmal weit günstiger als in den Kriegen zuvor. Dazu trugen die umfangreichen Finanzhilfen des Reiches ebenso bei wie päpstliche und spanische Subsidien16. Überdies erwuchsen dem Sultan militärische Probleme an anderen Fronten. Die erstarkenden persischen Safawiden unter Schah Abbas I. (»dem Großen«) (1586–1628) erzielten beachtliche militärische Erfolge gegen die osmanischen Truppen, während im Innern des Osmanischen Reiches, in Anatolien, im Libanon und in Syrien, große Aufstände gegen die Zentralregierung ausbrachen. Angesichts der sich abzeichnenden Schwierigkeiten der Hohen Pforte wagte der Fürst von Siebenbürgen, Sigismund Báthory, den Übertritt auf die Seite der Habsburger, denen er gegen finanzielle und territoriale Entschädigung sein Fürstentum überließ – ein schwerer Rückschlag für die Osmanen. Doch die kaiserlich-habsburgische Seite sorgte in gewisser Weise selbst dafür, dass die Entwicklung für das Osmanische Reich noch einmal glimpflich endete. Die kaiserliche Regierung verzichtete unter dem zunehmend handlungsunfähigen Kaiser Rudolf II. (1576–1612, vgl. Kapitel II, 3b) auf eine entschlossene Ausnutzung der Lage, und reagierte eher abwartend. Noch schädlicher für Habsburg wirkte sich das rücksichtslose und provozierende Auftreten der unter General Basta in Siebenbürgen einrückenden kaiserlichen Truppen aus, die bald Widerstand unter der protestantischen Bevölkerung Siebenbürgens hervorriefen. An die Spitze dieser Widerstandsbewegung trat der calvinistische Magnat Stefan Bocskay, der sich zum Fürsten von Siebenbürgen ausrufen ließ. Dieser antihabsburgische Aufstand nahm bedrohliche Ausmaße an, zumal Bocskay bald Verbindung mit dem Sultan aufnahm und das Übergreifen des Aufstands auf ganz Ungarn zu befürchten stand. Diese Lage zwang die habsburgischen Erzherzöge, die Rudolf II. jetzt die Regierungsführung aus der Hand nahmen, trotz der strategisch ungünstigen Gesamtlage des Osmanischen Reiches einen Waffenstillstand mit dem Sultan auf der Basis des Status quo abzuschließen; Siebenbürgen blieb mithin osmanischer Vasall. Allerdings musste der Sultan den Kaiser erstmals als gleichrangigen Herrscher anerkennen und gegen eine einmalige Zahlung auf die bisherigen jährlichen Tributleistungen verzichten17.
Die Folgen des Waffenstillstands für die Lage im römisch-deutschen Reich waren weitreichend. Die Hohe Pforte wandte sich nach 1606 für mehr als drei Jahrzehnte anderen Kriegsschauplätzen zu, insbesondere den Auseinandersetzungen mit dem Persischen Reich, die sich bis 1639 hinzogen. Das vorübergehende Nachlassen der Türkengefahr verschaffte den Habsburgern einerseits größeren politisch-militärischen Handlungsspielraum, führte aber andererseits dazu, dass nun ein wichtiges »Instrument der Solidarisierung« (Volker Press)18, das bis dahin mäßigend auf die antihabsburgische Opposition im Reich und in den Erblanden gewirkt hatte, an Bedeutung verlor. Beides erhöhte die Gefahren innerer Auseinandersetzungen im Reich. Zudem wurde Siebenbürgen unter Bocskay und seinen Nachfolgern, vor allem unter Bethlen Gabor (1613–1629), zu einem ständigen antihabsburgischen Machtfaktor in der Region, der enge Kontakte mit der antikaiserlichen Opposition in den Erblanden und im Reich unterhielt. Schließlich war in der Endphase des »langen Türkenkriegs« die Regierungsunfähigkeit des Oberhauptes der österreichischen Habsburger, Kaiser Rudolf II., offenbar geworden. Damit verband sich die weitreichende innere Krise des Reichs, die nun zu betrachten ist, mit einer schwerwiegenden dynastischen Führungskrise im Hause Habsburg.
Nicht nur wegen der zahlreichen Krisen im geographischen Umfeld des Reiches wuchs unter den Reichsangehörigen seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die Furcht vor einem großen Krieg. Dies lag auch und vor allem an der bedrohlichen Situation im Reich selbst. Denn den interessierten Zeitgenossen entging nicht, dass die politischen Institutionen des Reiches in eine schwere Krise geraten waren, die eine Schlichtung oder Einhegung der vorhandenen Konflikte im Reich immer unwahrscheinlicher erscheinen ließ. Sicherlich trugen verschiedene Faktoren zu dieser Verschärfung der politischen Lage bei, aber sie hatte doch eine entscheidende Ursache: Dies war das Scheitern des Versuchs, im Rahmen der bestehenden politisch-rechtlichen Ordnung im Reich einen friedlichen Ausgleich der Gegensätze zwischen den Konfessionsparteien zu finden. Anders ausgedrückt: Die Hoffnung, den entstandenen konfessionellen Zwiespalt in die bestehende Ordnung des Reichs integrieren und dadurch rechtlich wie politisch überbrücken zu können, erwies sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in zunehmendem Maße als trügerisch. Der sich verschärfende Konfessionskonflikt führte im Gegenteil zur Lähmung der Reichsinstitutionen und zog damit alle übrigen Konflikte im Reich in seinen Bann. Damit ist in wenigen Worten die Kernursache für die schwere Krise des Reiches vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs benannt.
Die Reichsordnung des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts basierte nicht auf einer geschriebenen Verfassung im Sinne einer modernen Konstitution, sondern auf alter Gewohnheit und Herkommen, vor allem aber auf den sogenannten Reichsgrundgesetzen. Als Reichsgrundgesetze (leges fundamentales) bezeichneten die Reichsjuristen herausragende Normen, durch die Struktur und politische Funktionsweise des römisch-deutschen Reiches entscheidend geprägt wurden.
Als vornehmstes Reichsgrundgesetz galt im 16. Jahrhundert die sog. Goldene Bulle von 1356. Darin war noch einmal ausdrücklich der Charakter des römischdeutschen Reiches als einer Wahlmonarchie kodifiziert worden, der bis zum Ende des Alten Reiches nie in Frage gestellt worden ist, obwohl zwischen dem 15. und der Mitte des 18. Jahrhunderts in ununterbrochener Folge Mitglieder des Hauses Habsburg die Kaiserwürde bekleidet haben. Die Goldene Bulle legte zugleich verbindlich den Kreis der Wähler des römisch-deutschen Königs bzw. Kaisers fest: die Kurfürsten. Der Wählerkreis umfasste vier weltliche Fürsten, den König von Böhmen, den Kurfürsten von Sachsen, den Pfalzgrafen bei Rhein sowie den Markgrafen von Brandenburg und drei geistliche Fürsten, die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier. Aufgrund der Goldenen Bulle kam den Kurfürsten traditionell eine herausgehobene Stellung unter den übrigen reichsunmittelbaren, also nur dem Kaiser unterstehenden, Territorialherren im Reich (den sog. Reichsfürsten) zu.
Ein weiteres, das gesamte Rechtsleben im Reich prägendes Grundgesetz war der sog. Allgemeine Landfrieden von 1495. Durch dieses Gesetz war abschließend geregelt worden, dass kein Reichsangehöriger mehr zur bewaffneten Selbsthilfe, zur Fehde, greifen dürfe, um sich sein vorgebliches oder tatsächlich bestehendes Recht zu verschaffen. Jeder, der doch noch Gewalt anwende und damit den Landfrieden breche, sollte demnach der Reichsacht verfallen, das heißt, für sich und seinen Besitz jeden rechtlichen Schutz verlieren.
Die Verkündung des Allgemeinen Landfriedens und seine Anerkennung als Reichsgrundgesetz bildeten eine wichtige Etappe der sog. Reichsreform, durch die zwischen dem 15. Jahrhundert und der Mitte des 16. Jahrhunderts die Reichsordnung wesentlich verändert worden ist. Eigentliches Ziel der Reichsreform war die Stärkung der Reichsinstitutionen und die Verbesserung der Sicherheitslage im Reich gewesen. Über die Notwendigkeit solcher Reformen bestand breiter Konsens im Reich. Im Ergebnis wurden freilich auch die Machtverhältnisse zwischen dem kaiserlichen Reichsoberhaupt und den Reichsständen wesentlich verschoben, und zwar zugunsten der Stände. Seit der Reichsreform standen den Reichsständen weitgehende Mitspracherechte bei der Gesetzgebung bzw. der Steuerbewilligung, bei der Rechtsprechung und schließlich auch in der Reichsexekutive zu.
Für die Reichsgesetzgebung und die Bewilligung der Reichssteuern war seit der Reichsreform in erster Linie der Reichstag als Versammlung aller Reichsstände zuständig. Das Einberufungsrecht für den Reichstag, der theoretisch in jährlichem Turnus zusammentreten sollte, besaß der Kaiser, der auch die Verhandlungsgegenstände in seiner Proposition vorschlug, wobei die Reihenfolge der Beratungspunkte nach Zusammentritt des Reichstags im 16. Jahrhundert sehr häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und den Reichsständen war. Die Geschäfte des Reichstags führte der Kurfürst von Mainz als Kurerzkanzler des Reiches. Der Reichstag tagte in drei Kurien. Die Kurfürsten versammelten sich im Kurfürstenrat, alle übrigen Reichsfürsten im Fürstenrat, die reichsunmittelbaren Städte (Reichsstädte) im Städterat. Über einen Vorschlag wurde zunächst getrennt in den verschiedenen Kurien beraten. Nachdem innerhalb der Kurien mit Mehrheitsbeschluss eine Entscheidung getroffen worden war, setzte ein intensives Beratungsverfahren zwischen den Kurien ein. Ziel war es, dem Kaiser eine gemeinsame Resolution der Stände zu präsentieren. Die Städte besaßen dabei lediglich eine beratende Stimme (votum consultativum), obwohl sie einen nicht unerheblichen Anteil an der Reichssteuer aufbrachten. Wenn die Beratungen erfolgreich zum Abschluss gekommen waren und der Kaiser zugestimmt hatte, wurde der Beschluss in den sog. Reichsabschied aufgenommen, der im Namen des Kaisers am Ende des Reichstags verkündet wurde. Damit erlangten die Beschlüsse Gesetzeskraft19.
Eine noch empfindlichere Einschränkung der kaiserlichen Macht als die ständische Mitsprache bei der Steuerbewilligung und Gesetzgebung stellten Mitbestimmungsrechte dar, die die Reichsstände in der höchsten Gerichtsbarkeit ausübten, wurde doch die Rechtsprechung im frühneuzeitlichen Europa als Kernbereich der monarchischen Gewalt angesehen. Das höchste Reichsgericht, das Reichskammergericht, war um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert als ständisch kontrollierter Gerichtshof wiedererrichtet worden, auf den der Kaiser nur noch begrenzten Einfluss hatte. Vorsitzender dieses Gerichts war der sog. Kammerrichter, der vom Kaiser ernannt wurde. Die eigentlichen Urteiler des Gerichtshofs waren freilich die 18 Assessoren, die mehrheitlich von den Reichsständen benannt (präsentiert) wurden. Sechs wurden von den Kurfürsten präsentiert, sechs weitere von den übrigen Ständen, wobei den Reichsstädten kein Präsentationsrecht zustand. Auch hier zeigte sich – wie schon auf dem Reichstag – die außerordentlich starke Stellung der Kurfürsten und die Benachteiligung der Reichsstädte. Das Reichskammergericht war zuständig bei Übertretung von Reichsgesetzen (auch des Landfriedens) sowie für fiskalische Angelegenheiten und Klagen gegen Reichsunmittelbare. Revisionsinstanz des Reichskammergerichts war die sog. Visitationskommission, ein im turnusmäßigen Wechsel von unterschiedlichen Reichsständen besetztes Gremium, das einmal im Jahr tagte.
Die Kaiser haben die Einschränkung ihrer Jurisdiktionsgewalt im Reich nicht ohne weiteres hingenommen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts baute die kaiserliche Regierung parallel zum Reichskammergericht einen eigenen Gerichtshof auf, den Reichshofrat, der dem Kaiserhof zugleich als zentrale juristisch-politische Beratungsinstanz diente. Bemerkenswerterweise haben die Stände die Reichshofratsjurisdiktion zunächst widerspruchslos hingenommen, obwohl sie eine direkte Konkurrenz für das ständische Reichskammergericht darstellte. Charakteristikum des Reichshofrats war seine enge Bindung an den Monarchen und den Kaiserhof. Der Kaiser ernannte und besoldete den Präsidenten, den Vizepräsidenten sowie die übrigen zwölf bis achtzehn Mitglieder des Reichshofrats. Sämtliche bedeutenderen Rechtsstreitigkeiten, die beim Reichshofrat anhängig waren, wurden dem Kaiser im sog. votum ad Imperatorem zur letzten Beschlußfassung vorgelegt. Die Zuständigkeit des Reichshofrats umfasste alle Streitgegenstände, bei denen Rechte von Kaiser und Reich berührt waren sowie alle Zivil- und Kriminalklagen gegen Reichsunmittelbare; dazu gehörten auch Lehnsstreitigkeiten und Fälle von Landfriedensbruch. Der Reichshofrat war Ausdruck des monarchischen Charakters des Reiches, der – bei aller ständischen Mitsprache – unter den Reichsständen grundsätzlich unbestritten war20.
Die Reichsstände besaßen im 16. Jahrhundert aber nicht nur bei der Gesetzgebung und Rechtsprechung, sondern auch innerhalb der Exekutive im Reich wichtige Mitwirkungsmöglichkeiten. Traditionell galt die schwache Exekutive als Hauptproblem der politischen Ordnung. Oft fehlten die Instrumente, über die Einhaltung der Reichsgesetze, insbesondere die Gewährleistung des allgemeinen Landfriedens, zu wachen. Um hier Abhilfe zu schaffen, waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts die zehn Reichskreise geschaffen worden. Die Reichskreise waren Zusammenschlüsse von Reichsständen einer Region, um dort jeweils für die Einhaltung der Reichsgesetze, die Durchführung von Urteilen der höchsten Gerichtsbarkeit und die Landfriedenswahrung – wenn nötig auch mit militärischer Macht – zu sorgen. Die einzelnen Reichskreise unterschieden sich sehr voneinander. Es gab Kreise, die eindeutig von einem Reichsstand dominiert wurden, etwa der Bayerische oder der Österreichische Kreis, aber auch sehr heterogene Reichskreise, die aus zahlreichen kleineren Reichsständen bestanden: So waren im Schwäbischen Kreis über einhundert kreissässige Stände zusammengeschlossen. Einzelne Teile des Reiches, wie Böhmen, Schlesien und Reichsitalien waren nicht in die Kreisstruktur integriert. Eine herausragende Stellung in den Kreisen kam dem vom Kreistag gewählten Kreishauptmann bzw. Kreisobersten zu, der die höchste Verantwortung für die militärischen Angelegenheiten innerhalb eines Kreises besaß21.
Die Funktionsfähigkeit des Reiches beruhte mithin nach der Reichsreform auf einem komplizierten Zusammenwirken der Reichsstände untereinander und mit dem Kaiser, setzte also ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft unter der politischen Führungsschicht im römisch-deutschen Reich voraus. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Kirchenspaltung seit Luthers Reformation auch eine fundamentale Bedrohung für den politischen Zusammenhalt des Reiches darstellte. Denn viele Reichsstände, darunter die Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg und der Pfalz, die sich der neuen Lehre trotz ihres 1521 im Wormser Edikt ausgesprochenen formellen kaiserlichen Verbots anschlossen, gerieten in eine reichsrechtlich zweifelhafte Lage. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das Wormser Edikt in weiten Teilen des Reiches nicht umgesetzt und immer wieder suspendiert wurde. Diese reichsrechtlich problematische Situation belastete die politische Zusammenarbeit unter den Reichsständen, die für die Funktionsfähigkeit der Reichsinstitutionen notwendig war, in erheblichem Umfang und gefährdete so den gerade errungenen Landfrieden. Besonders deutlich wurde dies auf dem Reichstag, dem die Protestanten das Recht bestritten, auch Religions- und Gewissensfragen mit Mehrheitsbeschluss gesetzlich zu regeln. Es gab noch einen weiteren Grund, warum die gesamte Ordnung des Reiches durch die Reformation in Frage gestellt wurde, nämlich die hohe Zahl geistlicher Reichsstände (u. a. Reichsbistümer, Reichsabteien), die im Kurfürsten- und im Fürstenrat eine Schlüsselstellung innehatten. Traten geistliche Fürsten zur Reformation über, veränderte sich der gesamte Charakter ihres Territoriums, das in ein weltliches (häufig erbliches) Fürstentum unter einem protestantischen Herrscher umgewandelt wurde. Es bestand also die Möglichkeit, dass der Glaubenswechsel eines geistlichen Fürsten unumkehrbare Realitäten in seinem Fürstentum schuf. Auf Dauer musste dies wegen der großen Bedeutung der geistlichen Fürsten die gesamte Reichsstruktur verändern – eine Veränderung, die sowohl von Kaiser Karl V. (1519–1556), der sich in der Tradition des römisch-deutschen Kaisertums als Verteidiger und Beschützer der römischen Kirche (Advocatus Ecclesiae) sah, als auch von den altgläubigen Fürsten heftig bekämpft wurde22.
Schon in der Herrschaftszeit von Karl V. wurde deutlich, dass der religiöse Zwiespalt im Reich weder durch die Anwendung militärischer Gewalt noch durch zeitlich befristete Konzessionen an die protestantischen Reichstände zu überwinden war. Nach dem erfolgreichen Aufstand protestantischer Fürsten 1551/52 kamen Kaiser und Protestanten daher im Passauer Vertrag 1552 überein, auf einem neuen Reichstag eine dauerhaft gültige Friedensregelung zwischen den Religionsparteien aufzurichten.
Ergebnis war der auf dem Reichstag von 1555 mühsam ausgehandelte »Augsburger Religionsfrieden« – eine Bezeichnung, die etwas irreführend sein kann, verfolgte er doch nicht das Ziel, einen friedlichen Ausgleich zwischen den Religionen im Reich zu finden, sondern die weiterhin theologisch unversöhnt gegenüberstehenden Religionsparteien dauerhaft in die Landfriedensordnung des Reiches zu integrieren. Religiös motivierte Anwendung militärischer Gewalt sollte künftig ebenso verboten sein wie jeder andere Landfriedensbruch. Allerdings galt der Schutz des Landfriedensgebots nur für die beiden wichtigsten Konfessionen im Reich, die Katholiken und die Anhänger der sog. Augsburger Konfession, also die Lutheraner. Alle übrigen protestantischen Richtungen, insbesondere die Calvinisten bzw. Reformierten, mit denen mehrere Reichsstände offen sympathisierten, waren als »Sekten« ausdrücklich vom Religionsfrieden ausgeschlossen; sie blieben also in jener rechtlich zweifelhaften Lage, in der sich zuvor alle Evangelischen befunden hatten23.
Um den weltlichen Rechtsfrieden zwischen Katholiken und Lutheranern in Zukunft zu gewährleisten, wurde im Augsburger Reichsabschied eine Reihe von grundsätzlichen religionsrechtlichen Festlegungen getroffen. Zunächst wurde nur einer kleinen, herausgehobenen Gruppe von Reichsangehörigen, den reichsunmittelbaren Ständen, die freie Wahl zwischen den beiden zugelassenen Konfessionen gestattet. Sie erhielten überdies das Recht, auch die Konfession ihres Territoriums zu bestimmen (ius reformandi), was die spätere Rechtslehre auf die einprägsame Formel cuius regio, eius religio gebracht hat. Allerdings wurde allen Reichsangehörigen, die der konfessionellen Entscheidung ihres Landesherren nicht zu folgen vermochten, ausdrücklich gestattet, das Land zusammen mit ihren Familienangehörigen und unter Mitnahme ihres beweglichen und des Verkaufs ihres unbeweglichen Besitzes zu verlassen (ius emigrandi) – eine für zeitgenössische Verhältnisse keineswegs selbstverständliche Regelung24.
Im Augsburger Religionsfrieden wurde eine Gruppe von Reichsfürsten allerdings vom ius reformandi ausgeschlossen, die geistlichen Fürsten. Wegen des besonderen Charakters ihrer Fürstentümer blieb ihnen die freie Konfessionswahl verwehrt: Jeder geistliche Fürst, der nach dem Passauer Vertrag von 1552 seine Konfession wechselte, hatte seine weltliche Herrschaft aufzugeben und sich – freilich unter Beibehaltung seiner persönlichen Ehrenvorrechte – aus seinem bisherigen Territorium zurückzuziehen. Dem jeweiligen Domkapitel oblag es dann, einen Nachfolger zu wählen. Diese Regelung, die als »Geistlicher Vorbehalt« bezeichnet wurde, empfanden viele protestantische Reichsstände als diskriminierend. Für die katholische Seite war der Geistliche Vorbehalt dagegen von zentraler Bedeutung, würde doch ein Nachgeben in der Frage der Katholizität der geistlichen Territorien mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt zum Verlust der katholischen Identität des Heiligen Römischen Reiches führen. Die protestantischen Reichsfürsten nahmen schließlich hin, dass König Ferdinand I. (1531 gewählter römischer König, 1558–1564 römisch-deutscher Kaiser), der seinen abwesenden kaiserlichen Bruder auf dem Reichstag vertrat, den Geistlichen Vorbehalt in den Reichsabschied aufnahm und ihm so Gesetzeskraft verlieh. Im Gegenzug erließ Ferdinand eine Nebendeklaration, die den evangelischen landsässigen (also nicht reichsunmittelbaren) Adligen und Städten in geistlichen Territorien das Recht gab, bei ihrem Glauben zu bleiben. Anders als der Geistliche Vorbehalt blieb diese sog. Declaratio Ferdinandea geheim und fand keine Erwähnung im Reichsabschied. Offiziell in den Abschied aufgenommen wurden hingegen Bestimmungen, die die konfessionelle Zusammensetzung der Reichsinstitutionen regelten. So wurde grundsätzlich festgelegt, dass das Reichskammergericht in Zukunft protestantische Assessoren aufzunehmen habe.
Der Augsburger Religionsfrieden markierte einen wichtigen Einschnitt der politisch-rechtlichen Entwicklung des römisch-deutschen Reichs. Die lutherischen Reichsstände erreichten 1555 die dauerhafte reichsrechtliche Anerkennung der von ihnen errichteten Kirchenwesen durch das habsburgische Reichsoberhaupt und die katholischen Reichsstände, die sich davon im Gegenzug eine Absicherung ihres konfessionellen Besitzstandes gegenüber der dynamisch ausgreifenden reformatorischen Bewegung erhofften. Dieser Kompromiss war nur möglich, weil die Katholiken akzeptierten, dass sich kirchlich-kanonisches und weltliches Recht im Reich in entscheidenden Bereichen auseinanderentwickelten. Der Gedanke der Toleranz blieb beiden Seiten auch 1555 fremd; er widersprach ihrer Vorstellung von den geistlichen Pflichten der weltlichen Obrigkeit gegenüber ihren jeweiligen Untertanen zutiefst. Nur aus Not, also zur Vermeidung größeren Übels – darüber bestand Einigkeit – war der beschlossene Gewaltverzicht in Religionsangelegenheiten zu rechtfertigen. Übereinstimmung bestand zwischen den Religionsparteien auch in dem Ziel, durch die 1555 gefundene Regelung trotz fortbestehender theologischer Gegensätze einen großen Religionskrieg im Reich zu vermeiden.
Zunächst schien sich die Hoffnung auf Bewahrung des Friedens zu erfüllen. Während Frankreich seit 1562 von schweren Konfessionskonflikten erschüttert wurde, die in den Ereignissen der sog. »Bartholomäusnacht« des Jahres 1572 einen ersten blutigen Höhepunkt erreichten, blieben dem Reich militärische Konflikte zwischen den Religionsparteien bis in die achtziger Jahre erspart. Dies lag freilich auch daran, dass brisante und zwischen den Religionsparteien kontroverse Teile des Religionsfriedens praktisch nicht angewendet wurden. Vor allem durch die Übernahme geistlicher Territorien durch protestantische Administratoren, die nach 1555 kontinuierlich fortgesetzt wurde, wurde dies augenfällig. Obwohl damit nach katholischer Auffassung gegen den Geistlichen Vorbehalt verstoßen und dessen Gültigkeit damit natürlich auch wieder prinzipiell in Frage gestellt wurde, haben das Kaisertum und die meisten katholischen Reichstände dies zunächst hingenommen.