Eva sieht rot - Liza Cody - E-Book

Eva sieht rot E-Book

Liza Cody

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Beschreibung

Band 2 der Eva-Wylie-Trilogie: »Wenn ich eines Tages abtrete, dann mit einem Knalleffekt. Ich will kein Fleischklumpen sein, den jeder ausgenutzt hat und keiner kannte. Wenn ich einmal abtrete, kennt jeder meinen Namen.« Eva Wylie soll Huren Nachhilfe in Selbstvertei­di­gung geben. Doch während sie widerwillig Training in Schreien und Zutreten erteilt, scheint sich die ganze Welt gegen sie zu verschwören. Ihre mühsam zusammengehaltene Existenz ist gefährdet, und Eva sieht rot …

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Liza Cody

Eva sieht rot

Die Eva-Wylie-Trilogie Band2

Aus dem Englischen von Regina Rawlinson

Ariadne Kriminalroman 1203

Argument Verlag

Inhalt

Cover

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

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15

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17

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24

Impressum

1

Ich wollte bloß ein paar Bananen kaufen. Ich war auf dem Weg zum Laden, als ich eine Horde Blagen sah, die irgendwas umkreisten und dabei wie die Hyänen heulten. Sie johlten:

Dawn, die dreckige Nutte,

stinkt wie ’ne siffige Kutte.

Pennt mit jedem Freier,

geht jedem auf die Eier,

ihr Schlüpfer liegt im Dreck,

und ihr BH ist weg.

Dawn bedeutet Ärger. Sie ist total im Eimer und ein Klotz am Bein. Sie säuft wie ein Loch. Ich ging auf die andere Straßenseite. Wenn sie mich entdeckte, würde sie bloß erwarten, dass ich ihr die Blagen vom Hals schaffte und sie in einer Schubkarre nach Hause brachte. Also verdrückte ich mich lieber in Hanifs Laden.

Ich ließ mir Zeit hinter den Regalen. Wenn ich schön langsam machte, würde Dawn sich von selbst wieder berappeln und ohne meine Hilfe nach Hause wackeln. Anderen zu helfen endet immer in Tränen. Und Besoffenen zu helfen ist die reinste Zeitverschwendung. Besoffene sind nicht dankbar, sie bezahlen ihre Schulden nicht, und sie haben ein Gedächtnis wie ein Sieb. Wozu sollst du nett zu einem sein, der hinterher sowieso nicht mehr weiß, wie nett du warst? Kannst du mir das vielleicht verraten? Es hat bloß Sinn, einem anderen einen Gefallen zu tun, wenn der sich später auch daran erinnert und dir seinerseits einen Gefallen tut.

Außerdem sind sogar gereizte Wespen friedlicher als die Kids in diesem Teil Londons. Lass dir einen guten Rat geben – wenn du deine Ruhe haben willst, leg dich nie mit mehreren Jugendlichen auf einmal an. Ich war selbst mal jung, deshalb weiß ich, wie schlimm Blagen sein können, wenn sie in der Überzahl sind. Für ein Rudel gelten die normalen Regeln nicht, und jeder kleine Hosenscheißer, der alleine keiner Fliege ein Bein ausreißen könnte, wird in der Gruppe zu Conan dem Barbaren. Wenn ich’s mir recht überlege, gilt das für Erwachsene genauso.

Ich kenne mich mit Menschenmengen aus. Darin bin ich Expertin, weil ich Catcherin bin.

Ganz recht. Ich, Eva Wylie, die Londoner Killerqueen. Vielleicht hast du schon von mir gehört, wenn nicht, ist es auch egal. Auf jeden Fall mache ich mir allmählich einen Namen als der fieseste und härteste weibliche Bösewicht im Ring. Also erzähl mir nichts von Menschenmengen. Halt lieber die Klappe und stell die Lauscher auf. Du glaubst, ein paar Leute auf einem Haufen ergeben eine Menschenmenge? Das stimmt nicht, und das kannst du an jedem Publikum sehen. Ein Publikum ist nicht einfach bloß ein Haufen Leute. Es ist ein Tier. Ein brüllendes Tier. Man kann es streicheln, bis es Ruhe gibt. Man kann es reizen. Man kann es triezen und aufstacheln. Es kann friedlich sein, aber meistens ist es grausam. Leute, die sich niemals trauen würden, mich zu kritisieren, wenn sie mir auf der Straße Auge in Auge gegenüberstünden, schmeißen mir die ungeheuerlichsten Beleidigungen an den Kopf, wenn sie wissen, dass sie jederzeit in der Menge untertauchen können.

Das ist mir egal. Das stecke ich weg. Dafür werde ich bezahlt. Aber ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich mich mit einer Horde bösartiger, versauter Kids anlege. Außerdem bin ich Dawn nichts schuldig. Im Gegenteil.

Ich bin früher ab und zu mit Dawns kleiner Schwester Crystal rumgezogen, als wir beide noch Platte gemacht und an denselben Plätzen geschnorrt haben. Das war, bevor ich auf die Füße fiel, als ich noch auf der Straße lebte. Und bevor sich für Crystal das Blatt wendete und sie ihren Marktstand kriegte. Damals machte Dawn das dicke Geld, und Crystal und ich mussten Kohldampf schieben.

Die Geschichte war folgende. Eines Nachts, es war so bitterkalt, dass dir deine körperlichen Ausdünstungen in der Jacke gefroren und die Frostbeulen aufbrachen, hatten Crystal und ich uns in einem Abrisshaus in Hammersmith einen Schlafplatz gesichert. Wir hatten es uns gerade gemütlich gemacht, als wir von einer Truppe Uralthippies samt Hunden aufgescheucht wurden. Acht Hippies und drei Köter.

Gegen ein paar Gruftis hätte ich bestimmt was ausrichten können, ich war nämlich damals schon ziemlich kräftig. Aber gleich gegen acht! Und drei Hunde. Heute wäre es ein Klacks für mich, sie wüssten nicht, wie ihnen geschieht. Aber damals hatte ich mein volles Potenzial noch nicht realisiert. Außerdem war Crystal ein ziemlicher Wicht – Dreikäsehoch wäre noch übertrieben. Und wir hatten kein Abendessen organisieren können, wir waren also nicht gerade in Topform.

Jedenfalls haben uns die Gruftis rausgeschmissen, und wir saßen wieder auf der Straße und wussten nicht, wohin. Da sagt Crystal: »Los, wir gehen nach Paddington, vielleicht lässt uns meine Schwester bei sich auf dem Fußboden schlafen.«

Ich war total geplättet. Ich wusste gar nicht, dass sie eine Schwester hatte. Und während wir durch die leeren Straßen nach Paddington latschten, fragte ich mich, wieso Crystal Platte machen muss, wenn ihre Schwester was zum Wohnen hatte.

Das fand ich heraus, als wir ankamen.

»Verpiss dich, Crystal«, sagte Dawn. Das war das Erste, was sie von sich gab, als sie die Tür aufmachte. Hinter ihr sah ich ein warmes Zimmer, ganz in Rosa. Aber Dawn versperrte uns den Weg. »Wenn du glaubst, ich lass dich rein, bist du schief gewickelt«, sagte sie. »Du stinkst wie eine Müllkippe, und was ist das für eine Type, die du da angeschleppt hast? Die Zwillingsschwester vom Incredible Hulk?«

»Das ist Eva«, sagte Crystal.

»Die kann auch abschieben«, sagte Dawn. Sie war in voller Kriegsbemalung, rosa Backen und schwarz umrandete Augen um drei Uhr morgens. Das konnte meiner Meinung nach nur eines bedeuten. Und ich hatte recht.

»Ihr kostet mich Geld, wenn ihr vor meiner Tür rumsteht«, sagte Dawn. »Das ist hier schließlich keine Absteige.«

»Nur zum Aufwärmen, Dawn«, sagte Crystal. »Wir bleiben auch nicht lange. Es ist arschkalt draußen.«

Ich fand es furchtbar, sie so betteln zu sehen. Sie war zwar nur ein Furz im Wind, aber sie hatte was auf dem Kasten.

»Was du unter aufwärmen verstehst, kenne ich«, sagte Dawn. »Als du das letzte Mal hier warst, habe ich mich anschließend tagelang gekratzt. Ich musste mein Bett mit Flohspray einsprühen. Zieht Leine.« Und sie knallte uns die Tür vor der Nase zu, aber da hatte ich schon längst den Riesenkasten Pralinen auf ihrem Bett gesehen und die Comichefte und die heizbaren Lockenwickler. Alles, was eine Nutte braucht, um sich zwischen zwei Nummern die Zeit zu vertreiben.

Und dann standen wir wieder draußen, in der Affenkälte.

»Reizende Familie«, sagte ich. Meine Schwester hätte uns nämlich nicht rausgeschmissen. Wenn ich bloß gewusst hätte, wo sie war. Meine Schwester hätte uns einen Tee gekocht und uns auf ihrem Bett ein Nickerchen machen lassen. Sie hätte uns eine ganze Handvoll Pralinen gegeben und ein heißes Bad eingelassen.

»Wo steckt denn deine tolle Schwester?«, sagte Crystal. Sie konnte ziemlich gehässig sein, wenn sie Kohldampf hatte. Sie wusste nämlich genau, dass ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich suchte nach ihr, aber ich fand sie nicht.

So habe ich Dawn damals kennengelernt, und ich habe es bis heute nicht vergessen. Vergeben und vergessen ist nur was für Leute, die es sich leisten können. Nicht für mich. Ich kann bis in alle Ewigkeit nachtragend sein, wenn ich Lust dazu habe.

Aber es lohnte sich nicht, Dawn etwas krummzunehmen. Sie schadete sich selbst am meisten. Sie hatte keine Traute. Den ganzen Mumm in der Familie hatte Crystal abgekriegt. Jetzt hat Crystal ein Zimmer und einen Trödelstand auf dem Mandala Street Market, und Dawn steht an der Straßenecke und steigt zu irgendwelchen Freiern ins Auto. Und alles, was sie verdient, versäuft sie im Pub. Kann man noch blöder sein?

Sie ist bloß hierher gezogen, auf die Südseite vom Fluss, damit sie Crystal leichter anpumpen kann. Früher hatte sie einen Beschützer, aber mit ihm lief es so wie mit allen Kerlen, wenn sie mit einer Frau fertig sind. Mit ihm ging es steil bergauf. Und mit Dawn lief es so wie mit allen feigen Frauen, die keinen Beschützer haben. Mit ihr ging es rapide bergab.

So läuft es immer, wenn man von anderen abhängig ist. Glaub mir. Auf dieser Welt darfst du dich nur auf dich selber verlassen. So hat Crystal es gemacht, so habe ich es gemacht. Und wir haben es geschafft.

Ich bezahlte meine Bananen und ging. Dawn war immer noch da. Die Kids hatten sie umgerempelt, und ein Junge versuchte ihr mit einem Stock den Rock hochzuschieben.

»Dawn ist eine Nutte, Dawn ist eine Nutte«, johlten sie. »Die kann jeder kriegen, im Stehen und im Liegen.«

Ich wollte mich gerade umdrehen und nach Hause gehen, als plötzlich Crystal wie von der Tarantel gestochen über die Straße gerast kam. Sie schnappte sich den Stock und drosch um sich wie ein mordlustiger Gartenzwerg. Sie ist selber nicht viel größer als eine Zehnjährige, aber sie hatte Dawn die Meute im Handumdrehen vom Hals geschafft. Sie sah so komisch aus, dass ich mich fast totgelacht hätte.

Großer Fehler. Sie entdeckte mich.

»Eva!«, schrie sie. »Pack mal mit an.«

»Du kannst mich mal!«, schrie ich zurück. »Ich hab zu arbeiten.«

Aber dann zeigte ein Jüngelchen mit dem Finger auf mich und sagte zu seinen Kumpeln: »Ist das nicht das Kampfschwein?«

»Kampfschwein« ist noch eine der netteren Beleidigungen, die ich bei einem Kampf zu hören kriege. Und weil ich geschmeichelt war, dass mich der Wicht erkannt hatte, marschierte ich ganz lässig rüber. Unterwegs zog ich mir die Jacke aus, damit alle meine muskulösen Arme sehen konnten. Ich bin sehr stolz auf meine Arme. Da steckt jede Menge harte Arbeit drin. Auf meinen Bauch bin ich nicht so stolz, aber den wollte ich auch schließlich keinem zeigen. Jedenfalls nicht mitten auf der Straße. Und schon gar nicht, ohne dafür bezahlt zu werden.

»Pack mal mit an«, sagte Crystal noch einmal.

»Bist du echt das Kampfschwein?«, fragte einer der Jungen.

»Was dachtest du denn?«, sagte ich. »Aber hüte deine Zunge, sonst muss ich es dir beweisen.«

»Mein Dad sagt, Catchen ist bloß Schau.«

»Ja?«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Der Bursche war beeindruckt. Er machte zwei Schritte zurück. Ich war stolz wie Oskar. Letztes Jahr um diese Zeit kannte mich kein Mensch, jetzt werde ich auf der Straße angesprochen. Das zeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

»Mein Dad sagt, wenn es hart auf hart kommt, sind Catcher nicht zu gebrauchen. Wenn es echt zur Sache geht.«

»Pass auf«, sagte ich. »Du gibst mir jetzt den Namen und die Adresse von deinem Dad, falls du sie überhaupt weißt, und dann wollen wir mal sehen, was er sagt, wenn ich dich durch seinen Briefschlitz schiebe.«

Crystal sagte: »Gib nicht so an, hilf mir lieber.«

Sie hatte Dawn hingesetzt und ein bisschen an ihr herumgewischt, aber um sie auf die Beine zu stellen, hätte sie eine Motorwinde gebraucht. Sie hatte überhaupt keine Knochen mehr in den Beinen. Ich hatte meine Ma schon in derselben Verfassung gesehen, und ich weiß, da hilft nur eins: der gute alte Feuerwehrmanngriff. Und den wandte ich dann auch an. Nicht Dawn zuliebe, bestimmt nicht. Von mir aus hätte sie auf der Straße verrotten können. Aber Crystal und ich hatten einiges zusammen durchgemacht. Wir sind nicht gerade ein Herz und eine Seele, das waren wir eigentlich nie, aber wir haben ein-, zweimal im selben Boot gesessen, und obwohl sie mir nie einen Gefallen getan hat, hat sie mir auch nie geschadet. Engere Freunde habe ich nicht.

Crystals Zimmer sah fast so chaotisch aus wie ihr Trödelstand. Möbel gab es keine; es war eher ein Lagerraum mit einer Matratze in der Mitte. Wir packten Dawn ins Bett, damit sie sich auspennen konnte, dann ging Crystal wieder auf den Markt und ich zurück zum Schrottplatz.

Da wohne ich nämlich – auf einem Schrottplatz. Und wenn dir das komisch vorkommt, überleg doch mal, ob du vielleicht auch fürs Wohnen bezahlt wirst. Wenn du aber einen Hauswirt oder eine Hypothek am Hals hast, brauchst du über mich nicht zu lachen. Ich wohne umsonst. Das gehört zum Job. Das ist nämlich der andere Job, den ich neben dem Catchen noch habe, ich bewache nachts den Schrottplatz. Wenn du also auf Ersatzteile oder Werkzeuge scharf bist und nicht dafür bezahlen willst, musst du zuerst an mir und meinen Hunden vorbei. Einfach ist das nicht, das kannst du mir glauben. An Ramses, Lineker und mir ist noch so gut wie keiner vorbeigekommen. Wir mögen vielleicht nicht die Schönsten sein, aber dafür haben wir mächtig was auf dem Kasten; wir können kämpfen und Krach schlagen.

Als die Arbeiter nach Hause gegangen waren, machte ich den Laden dicht, wie jeden Abend. Ich ließ die Hunde raus, und wir machten unseren Rundgang auf dem Gelände. Eigentlich muss ich die ganze Nacht aufpassen, aber manchmal habe ich noch andere Sachen zu erledigen. Kommt immer darauf an, wer besser zahlt. Aber solange ich rechtzeitig zurück bin, um die Hunde zu füttern und das Tor aufzuschließen, braucht davon keiner was zu erfahren.

Heute Abend hatte ich eine Verabredung mit der Feindin. Sie hält sich für wahnsinnig clever und cool und lauert bloß darauf, mich eines Tages zu schnappen. Wobei sie mich schnappen will? Solche Leute gibt es eben, und sie haben alle irgendwas mit der Polizei zu tun.

Du hast’s erfasst, die Feindin ist eine Bullentante. Sie sagt zwar, sie ist nicht mehr bei der Truppe, aber ich sage, einmal Bulle, immer Bulle. Das bleibt kleben wie Scheiße an den Schuhen.

Auf dem Schild an ihrer Bürotür steht »Lee – Schiller«. Lee ist die Feindin, Schiller ihr Partner. Er ist ein alter Krauter, die Sekretärin ist eine alte Schreckschraube. Die Feindin hat ein richtiges Altenzentrum aufgemacht. Deshalb braucht sie mich. Ich muss die Jobs erledigen, die einer mit Krückstock nicht schafft.

Ich machte die Tür auf, und es klingelte. Die Schreckschraube saß an ihrem Tisch und schrieb etwas in ein großes Buch.

Sie sagte: »’n Abend, Eva. Wollten Sie Ihr Geld abholen?«

»Was dachten Sie denn?«, sagte ich.

Sie gab mir einen Briefumschlag. Ich riss ihn auf und zählte die Scheinchen. Alles da.

»Haben Sie einen neuen Auftrag für mich?«, fragte ich.

»Anna ist im Moment nicht da«, sagte sie. Als ob ich das nicht gewusst hätte. Sonst taucht die Feindin nämlich sofort auf, wenn es an der Tür klingelt. Neugierige Kuh – muss immer wissen, was gespielt wird. Auch wenn es sie nichts angeht. Typisch Bulle.

»Wenn etwas hereinkommt, weiß sie ja, wo sie Sie finden kann«, sagte die Schreckschraube. Was mich stinksauer machte. Darum kreuze ich ja regelmäßig bei der Feindin auf. Weil es mir nicht besonders gefällt, dass sie weiß, »wo sie mich finden kann«. Wenn es etwas gibt, was du über mich wissen solltest, dann das: Eva Wylie wurde nicht in die Welt gesetzt, um der Polizei das Leben leichter zu machen.

Und die Feindin machte mir das Leben schwer. Kein Nebenjob, keine Extrakohle. Ach, sie konnte mich mal.

2

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Dawn tot war.

Ich stand wie immer gegen drei Uhr nachmittags auf; ich machte Tee und aß Bananen und ein paar Marmeladenbrote zum Frühstück. Dann ging ich zum Trainieren und Duschen in Sams Fitnessstudio. Da versammelt sich die ganze Truppe von Deeds Promotions. Manche von uns trainieren profimäßig – Harsh und ich zum Beispiel. Die anderen hängen bloß dumm rum, posieren und tratschen. Ich gehe jedenfalls ins Studio, um in Form zu bleiben und zu erfahren, wann ich meinen nächsten Kampf habe. Außerdem hole ich mir da meine Börse ab.

Es gibt auf dieser Welt nicht viele Leute, die dir die Kohle bar auf die Kralle zahlen, wie es sich gehört. Du machst deine Arbeit, aber auf den Lohn lassen sie dich warten. Das haben sich die Oberbosse fein ausgedacht. Es ist doch so: Wer meinen Kampf sehen will, muss zahlen, sonst kommt er nicht rein. Also ist die Kasse voll. Wieso muss ich dann auf meine Kohle warten? Hä? Weißt du’s vielleicht? Wieso kriegt Mr.Deeds von Deeds Promotions, der bloß den ganzen Tag auf seinem fetten Arsch sitzt, seine Kohle zuerst? Und wieso bin ich, also diejenige, die die ganzen blauen Flecken und Beleidigungen erntet, als Letzte an der Reihe, wenn es ans Löhnen geht?

»Bitte sehr, zähl ruhig nach«, sagte er, als ob er mir einen Gefallen täte. »Es ist alles da, aber du kannst es ruhig nachzählen. Wie immer.«

Und ich habe es nachgezählt. Sonst müsste ich auch schön blöd sein. Bei meinem letzten Kampf hatte ich es mit einer gewissen Gypsy Jo zu tun, und als ich sie in der letzten Runde an den Knien runterriss, kriegte sie ein Bein frei und ist mir mit dem Stiefel auf den Ellenbogen getrampelt. Er tut mir seit Tagen weh, und wenn Mr.Deeds meint, ein schlimmer Ellenbogen wäre nicht wenigstens ein paar Scheinchen wert, ist er ein noch größerer Vollidiot, als seine Frau sowieso schon denkt.

»Du hast da eine Schwellung«, sagte Harsh. Er wurde heute auch ausgezahlt. »Du musst heiße und kalte Umschläge machen. Und den Arm schonen.«

»Ich trainiere es ab«, sagte ich, weil Mr.Deeds zuhörte.

»Stehst du auf der Verletztenliste?«, fragte er. Einen Arsch wie ein Elefant, Lauscher wie ein Karnickel und so viel Verstand wie eine Wollmaus.

»Ich doch nicht«, sagte ich. Wenn ich verletzt bin, gibt er mir keinen Kampf. Kein Kampf, keine Kohle.

Harsh sagte: »Damit wirst du dir mehr antun, als Gypsy Jo dir angetan hat.«

Ich wusste nicht, ob ich froh oder sauer sein sollte. Ich finde es schön, wenn Harsh sich für mich interessiert, aber leider gibt er dann meistens etwas von sich, was ich nicht hören will. Er hatte eine graue Jogginghose und ein altes schwarzes, ärmelloses T-Shirt an, und seine Deltamuskeln glänzten schweißnass vom Trainieren.

»Es hat jemand nach dir gefragt«, sagte er.

»Wer?«

»Hat sie nicht gesagt. Ein Mädchen.«

»Wann?«

»Vorhin.«

»Ich will hier keine Fremden haben«, sagte Mr.Deeds. Er meint, wenn die Leute wüssten, wie wir trainieren, würden sie uns im Ring nicht mehr ernst nehmen.

»Sie war nur am Eingang«, sagte Harsh. »Da habe ich sie getroffen.«

Harsh hat eine Engelsgeduld. Schließlich gehen Mr.Deeds die Unterhaltungen anderer Leute überhaupt nichts an.

»Sie hat gefroren«, sagte Harsh. »Also ist sie einen Augenblick reingekommen. Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus –‹«

»Da drüben«, sagte ich und zeigte mit dem Kinn zum Fenster. Harsh mag ein wunderbarer Catcher sein, aber wenn es darum geht, vor jemandem, der mich auf dem Kieker hat, den Mund zu halten, hapert es bei ihm ein bisschen.

»Was wollte sie?«, fragte ich, als wir allein am Fenster standen.

»Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus, dass Dawn tot ist.‹ Sie will dich sehen.«

Das war die ganze Botschaft. Mehr wusste Harsh auch nicht. Dawn war tot. Kein Wie, Warum oder Wo. Keine Ahnung, warum Crystal mich sehen wollte.

Das war das große Rätsel – wieso wollte Crystal mich sehen?

Daran, dass Dawn tot war, war nichts Rätselhaftes. Ein Blick genügte, und du wusstest, dass es mit ihr böse enden würde. Sie schlief für Geld mit Männern, und sie war nicht wählerisch. Sie war zu jeder Tages- und Nachtzeit besoffen. Sturzbesoffen. Sie konnte nicht auf sich aufpassen. Und wer nicht selbst auf sich aufpassen kann, ist erledigt. So einfach ist das.

»Tut mir leid, sagte Harsh. »War Dawn eine Freundin von dir?«

»Um Gottes willen«, sagte ich. »Sie wohnte bloß in derselben Gegend.«

»Trotzdem«, sagte Harsh.

»Trotzdem war sie nicht meine Freundin«, sagte ich und ließ ihn stehen.

Nach dem Aufwärmen ging ich an die Geräte. Ich konnte mir vorstellen, wie Dawn in einem Kühlfach im Krankenhaus lag. Aus irgendeinem Grund dachte ich, sie wäre ertrunken. Was spielte es auch für eine Rolle, wie sie abgetreten war? Sie war schon halb tot, als sie noch am Leben war. Sturzbesoffen, abgestürzt, tot. Ich ging an ein Gerät, mit dem man speziell die innere Oberschenkelmuskulatur trainiert. Du ziehst mit dem Fußgelenk ein Gewicht nach unten, bis das Bein ganz angewinkelt ist. Und so zählte ich die Übungen mit – ausgenutzt, ausgelutscht, abgestürzt, tot, fünf, sechs, sieben, acht. Und so weiter, immer schön im Takt. Dann auf der anderen Seite, alles noch einmal von vorn. Ich wollte meine Beine und Bauchmuskulatur richtig schön durchtrainieren. Und meine Ellenbogen schonen. Wie Harsh gesagt hatte.

Du hältst mich für ein herzloses Luder, stimmt’s? Oder du meinst, ich spiele dir das herzlose Luder nur vor, um meinen Ruf zu wahren. Weil die Londoner Killerqueen eine ganz Harte ist. Der ist es egal, ob ihre Gegnerin kleiner ist oder verletzt. Die knallt alle mit der Nase auf die Bretter, ohne Rücksicht auf Verluste. Und wenn die Londoner Killerqueen ein Herz aus Stein hat, muss Eva Wylie sich genauso abgebrüht geben. Dabei ist sie tief drinnen weich und warm und kuschelig.

Mach dir nichts vor. Dawn ist mir schnurzpiepegal. Was hat Dawn je für mich getan, außer mich in einer kalten Nacht vor die Tür zu setzen? Wer war damals das herzlose Luder? Sie, mit ihren Pralinen und ihren heizbaren Lockenwicklern. Hat sie sich einen Dreck um mich geschert? Hat sie nicht. Sie war jung und hübsch und so taufrisch, wie man es bei ihrem Leben überhaupt sein kann. Das war ihr Glück. Aber sie hat es nie mit jemandem geteilt, auch nicht mit ihrer kleinen Schwester.

Jung und hübsch, das war einmal. Gestern hatte sie eher verquollen und schwammig ausgesehen. Ein Fleischklumpen auf dem Bürgersteig. Jetzt war sie ein Fleischklumpen in einem Kühlfach.

Wenn ich eines Tages abtrete, dann mit einem Knalleffekt.

Ich will kein Fleischklumpen sein, den jeder ausgenutzt hat und keiner kannte. Wenn ich einmal abtrete, kennt jeder meinen Namen. Ich werde jemand sein. Du wirst schon sehen!

Also lass mich mit Dawn in Ruhe. Ich will nichts davon wissen.

Darum habe ich auch nicht nach Crystal gesucht. Was geht mich Crystal an? Ich kannte sie ein bisschen, als es uns beiden dreckig ging – eine Zeit, an die ich mich nicht allzu gern erinnere –, und wir leben beide auf demselben Quadratkilometer Südlondons. Das ist nichts Besonderes. Das tun zwei Millionen andere auch. Denen schulde ich genauso wenig.

Am Abend kam Crystal mich besuchen. Ich saß auf der Hängertreppe und aß kalte Spaghetti aus der Dose. Lineker scharwenzelte um mich rum, obwohl er weiß, dass ich ihm nichts abgebe. Er wird gefüttert, wenn er seine Arbeit gemacht hat, und keine Minute früher. Wieso sollte er besser behandelt werden als andere Berufstätige? Er ist schließlich kein Schoßhund.

Plötzlich hörten wir Ramses am Tor.

»Ro-ro-ro«, machte Ramses. Er bellt wie ein voll aufgedrehter Elektrobass.

Lineker stellte die Ohren auf, aber das war auch schon alles. Mir ging der Hut hoch.

»Lineker«, sagte ich. »Du bist ein gefräßiger, fauler Schwachkopf. Wenn ich dich nicht ins Herz geschlossen hätte, wärst du längst zu Katzenfutter verarbeitet worden – zu fünfzig Dosen Katzenfutter, bei deiner Größe.«

Mein Ton gefiel ihm nicht. Das war an dem Abend das erste Mal, dass bei ihm ein Fünkchen Verstand aufblitzte. Mir war auch wirklich nicht zum Spaßen zumute. Lineker drückt sich gern, wenn es schwierig wird, und das mag ich ganz und gar nicht.

Er lief los, machte »yak-yak-yak« und fletschte die großen weißen Zähne, als ob er es ernst meinte. Was ist dieser Hund doch für ein Angeber.

Ich bewaffnete mich mit Schraubenschlüssel und Taschenlampe und ging hinterher. Am Zaun hängt ein Schild, auf dem »Armour Protection« steht. Das Schild ist kaum noch zu lesen, und ich weiß auch nicht, wer Armour Protection war oder ob es die Firma je gegeben hat, aber jetzt nenne ich jedenfalls Ramses, Lineker und mich so. Es ist ein guter Name, klingt irgendwie gefährlich.

Als ich ans Tor kam, stand Ramses mit hochgezogenen Schultern und vorgeschobenem Kopf vor dem Zaun, und Lineker rannte aufgeregt auf und ab. Er kläffte immer noch, aber Ramses gab nur noch ein tiefes, stählernes Grollen von sich. Das hört sich schön unheimlich an. Wenn du direkt neben ihm stehst, kannst du zwischen ihm und dem Röhren einer 1000er Harley manchmal nicht mehr unterscheiden.

Ich schlug mit dem Schraubenschlüssel gegen den Zaun und schrie: »Wer ist da?« Ich dachte, es wären Kids, aber es war Crystal.

Sie sagte: »Eva, ich bin’s. Kannst du mal kurz rauskommen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin im Dienst.«

»Kannst du dann vielleicht irgendwas mit den Hunden machen und mich reinlassen?«

»Die sind auch im Dienst«, sagte ich. Es war mir peinlich, mich mit jemandem zu unterhalten, dessen Schwester in einem Kühlfach lag, und ich wollte zurück zu meinen Spaghetti. Außerdem war Crystal nicht allein, und wenn du glaubst, ich würde irgendwelche Fremden auf meinen Schrottplatz lassen, bist du noch dümmer, als ich dachte.

»Hat dir der Typ nichts gesagt?«

»Was für ein Typ?«

»Im Fitnessstudio«, sagte sie. »Er sollte dir was ausrichten.«

»Ach so, im Studio«, sagte ich. »Ich war heute nicht da. Ich habe meine Ma besucht.«

Was, wie du ganz genau weißt, eine dicke Lüge war. Ich hätte meine Ma besuchen sollen. Ich hatte sogar daran gedacht, sie zu besuchen, aber dann wollte ich mir lieber doch nicht die Ohren von ihr volljammern lassen. Genauso wenig wie von Crystal.

»Dann weißt du es noch gar nicht?«, sagte Crystal. »Dawn ist tot.«

»Scheiße«, sagte ich. Ich versuchte, mitfühlend zu klingen. Schließlich ist eine Schwester eine Schwester, auch wenn sie für ein paar miese Kröten ihre Haut zu Markte trägt.

»Sie haben sie in der Gasse hinter dem Full Moon zusammengeschlagen«, sagte Crystal. Also war Dawn doch nicht ertrunken. Ich weiß selber nicht, wie ich darauf gekommen bin. Vielleicht, weil sie so aufgedunsen ausgesehen hatte.

»Wir haben sie doch ins Bett gesteckt«, sagte ich. Ich wollte damit nichts zu tun haben. »Als wir gegangen sind, ging es ihr gut.«

»Sie muss wohl noch Durst gekriegt haben«, sagte Crystal. »Als ich nach Hause kam, war sie jedenfalls weg. Sie ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Heute Morgen habe ich es dann erfahren. Ich musste sie identifizieren. Eva?«

»Ja?«

»Ich hab sie nicht mehr wiedererkannt. So übel war sie zugerichtet.«

Dazu kannst du nicht viel sagen.

»Schnauze, Ramses«, knurrte ich. Ramses sah mich mit seinem Ich-bin-ein-Babyfresser-Blick an.

Die Fremde hatte noch keinen Mucks von sich gegeben, aber jetzt sagte sie: »Ich war gestern Abend im Full Moon. Ich glaube, sie ist mit zwei Kerlen mitgegangen.«

»Die blöde Kuh«, sagte ich.

»Sie war betrunken.«

»Trotzdem.«

»Crys?«, sagte die Fremde. »Hast du nicht gesagt, sie hätte Mitleid?«

»Nie im Leben«, sagte Crystal. »Ich habe bloß gesagt, dass sie vielleicht helfen kann. Aber kein Wort von Mitleid.«

»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte ich.

»Um ein paar Frauen, die im Full Moon anschaffen gehen«, sagte Crystal. »Sie wollen Karate lernen oder so.«

»Haha«, sagte ich. »Diese Schlampen?«

»Haha, ja« sagte die Fremde. »Wir ›Schlampen‹.«

Crystal sagte: »Dawn war nämlich nicht die Erste in unserer Gegend, die es erwischt hat.«

»Und sie wird auch nicht die Letzte sein«, sagte die Fremde. »Wenn wir uns nicht organisieren.«

»Ihr und euch organisieren?« Ich musste lachen. »Was habt ihr vor, wollt ihr eine Nuttenwehr gründen?« Ich konnte mich nicht wieder einkriegen.

Die Fremde richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, wobei nicht sehr viel herauskam, und sagte: »Für den Anfang sollst du uns erst mal Selbstverteidigung beibringen. Aber wenn du keine Lust hast, tragen wir unser Geld eben woandershin.«

Ich hörte auf zu lachen. Ich sagte zu Crystal: »Meint die das ernst? Und was hast du damit zu tun?«

»Eigentlich gar nichts«, sagte Crystal. »Es war nur so, dass ich unbedingt ins Full Moon gehen musste. Die Bullen sagen einem nämlich überhaupt nichts, Eva. Wenn es jemanden wie die arme Dawnie trifft, ist es ihnen ziemlich egal. Sie meinen, so eine hätte es nicht anders verdient. Deshalb musste ich ins Full Moon und herausfinden, ob sie noch jemand gesehen hat.«

»Und da saßen ein paar von uns ›Schlampen‹ rum«, sagte die Fremde. »Wir hatten eine kleine Lagebesprechung. Letztes Jahr hat es eine Kleine aus Leeds erwischt. Und im März die nächste Kollegin. Und jetzt Dawn. Das macht drei Tote.«

»Ich kann zählen«, sagte ich.

»Aber die Bullen nicht«, sagte die Fremde. »Drei ›Schlampen‹ sind für die nicht halb so viel wert wie eine einzige ›anständige‹ Frau. Von denen haben wir keine Hilfe zu erwarten. Also müssen wir uns selber helfen.«

»Genau«, sagte Crystal. »Als sie darüber geredet haben, musste ich die ganze Zeit daran denken, wie gut es gewesen wäre, wenn Dawn Ahnung von Selbstverteidigung gehabt hätte. Sie wurde andauernd durch die Mangel gedreht. Und da habe ich an dich gedacht und an deine Catcherei. Du könntest es ihnen beibringen.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, es war so eine hirnverbrannte Idee. Ich sollte diesen Weibern Unterricht geben?

»Sie haben Geld«, sagte Crystal. »Sie können zahlen.«

Natürlich hatten sie Geld. Ich konnte mir bloß nicht vorstellen, dass sie es für etwas Sinnvolles ausgeben würden. Und dann war da noch etwas. Frauen, die sich ihre Brötchen im Liegen verdienen, sind meistens nicht die allerkräftigsten.

»Und?«, fragte die Fremde.

»Klappe. Ich überlege.«

»Hoffentlich brauchst du nicht die ganze Nacht dafür.«

»Wer bist du überhaupt?«

»Du kannst Bella zu mir sagen«, sagte sie. »Und ob du es nun wissen willst oder nicht, ich habe einen kleinen Jungen und einen alten Großvater zu versorgen, und es kommt nicht viel Kohle dabei rum, wenn ich mir hier vor deinem Tor die Beine in den Bauch stehe, während du dir lang und breit deinen Holzkopf kratzt.«

»Okay, super«, sagte ich grinsend. »Dann zieh doch ab. Mach dich vom Acker. Geh und lass dir den Popo anwärmen, und wenn du schon mal dabei bist, kannst du dir auch gleich noch deinen Holzkopf einschlagen lassen.«

»Du machst also mit?«, sagte Bella. »Ach, ist ja auch egal. Pass auf, ich mach es dir ein bisschen leichter. Ich sehe doch, dass das Denken nicht gerade deine starke Seite ist. Wenn du mitmachen willst, kommst du morgen Mittag ins Full Moon. Wenn nicht, kannst du mir mal im Mondschein begegnen. Klar?«

Damit drehte sie sich um und dampfte ab. Sie sah genauso aus wie das, was sie war. Und ich dachte, wie soll ich so einer Tussi in dem engen Röckchen und mit den hohen Absätzen das Kämpfen beibringen?

»Selbstverteidigung?«, sagte ich zu Crystal. »Die kann doch kaum laufen. Wozu soll ich ihr beibringen, wie man schlägt und tritt, wenn sie sich so bescheuert anzieht?«

Crystal und ich sahen Bella nach, wie sie von einer Straßenlaterne zur anderen stöckelte, bis sie schließlich am unteren Ende der Mandala Street um die Ecke verschwand.

Crystal seufzte. Sie hatte Jeans und ein T-Shirt an. Anständige Klamotten, genau wie ich. Aber auf Crystal würden sowieso keine geilen Freier fliegen. Sie hat ein Gesicht wie ein Affe, und sie schminkt sich nicht.

Sie sagte: »Kann ich reinkommen, Eva? Ich weiß nicht, wohin. In meinem Zimmer riecht es noch so nach Dawn.«

Ich konnte sie doch nicht zum Teufel jagen, oder? Du kannst mich ruhig einen sentimentalen Trottel schimpfen, aber ich konnte sie nicht einfach vor dem Tor stehen lassen, so elend, wie sie war.

»Du musst versprechen, dass du nicht heulst«, sagte ich, während ich aufschloss. »Ich kann Geflenne nicht ausstehen.«

»Ich flenne nicht«, sagte sie. »Ich bin wütend.«

Das hörte sich schon besser an. Also ließ ich sie rein und nahm sie auf einen Tee in meinen Hänger mit.

Crystal ist genauso wenig eine Heulsuse wie ich. Aber sie wollte reden. Das stört mich nicht. Ich höre gern Geschichten.

»Du hast Dawn nie gemocht«, sagte sie, als wir unsere Teebecher in der Hand hatten.

»Sie hat mich nie gemocht«, sagte ich. »Es wäre was anderes, wenn sie uns an dem Abend reingelassen hätte.«

»Du erinnerst dich immer nur an das Schlechte«, sagte sie.

Andersherum müsste ich schön blöd sein. Wenn du das Schlechte vergisst, wie sollst du es dann in Zukunft vermeiden können? Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Außerdem habe ich nie was Gutes von Dawn gehört.

»Dawn war nicht immer so«, fuhr sie fort und ließ die Oberlippe in den Tee hängen. »Nur hübsch, das war sie immer schon. Früher habe ich sie deswegen beneidet, aber das hat sich gelegt, als ich älter wurde. Alle wollen was von einem, wenn man gut aussieht. Wenn man hübsch ist, ist man immer die Doofe.«

Mit Doofen kennt Crystal sich aus. Deshalb ist sie auch so eine gewiefte Marktfrau.

Sie merkte nicht, dass ich grinste, und erzählte weiter. »Schon als sie noch ganz jung war, elf oder zwölf, haben sich die Kerle an sie rangewanzt, mit den üblichen blöden Sprüchen. ›He, schönes Kind. Darf ich dich einladen? Möchtest du tanzen gehen?‹ Und sie ist schon in Kneipen mitgegangen, als sie noch viel zu jung dafür war. Und sie dachte, die Kerle wären sehr spendabel. Sie wusste nicht, dass nichts umsonst ist. Alles hat seinen Preis.

Das erste Mal kam sie nach Hause, und sie weinte, und sie hatte Blut an den Beinen, und sie sagte, jemand hätte ihr wehgetan. Ab da hat sie dann gewusst, dass es nichts umsonst gab. Aber gelernt hat sie nichts daraus. Sie hat sich immer wieder verliebt. Sie glaubte an die Liebe. Sie hat gesagt, durch die Liebe fühlt sie sich wie ein richtiger Mensch.

Es gab da einen Kerl. Wir haben ihn manchmal auf dem Schulweg gesehen. Wenn wir mal zur Schule gingen. Er fuhr einen großen roten Wagen und trug todschicke Anzüge. Er hat Spielautomaten geleert.

Nach der Schule sind wir nämlich oft in den Fummelbunker gegangen. Und ich konnte sehen, dass er ein Auge auf Dawn geworfen hatte. Weil ich schon damals versucht habe, auf sie aufzupassen. Sie brauchte wirklich ein Kindermädchen.

Dieser todschicke Kerl, der hat immer zu mir gesagt: ›Verzieh dich, du Knirps. Du störst.‹

Und ich habe gesagt: ›Das erzähl ich unserer Mum. Deine Sorte kenn ich.‹

Und er hat gesagt: ›Du hast doch von Tuten und Blasen keine Ahnung.‹ Und dann hat er zu Dawn gesagt: ›Wenn du deine kleine Schwester unbedingt dabeihaben willst, kannst du mit den Jungs auch gleich auf den Spielplatz gehen.‹

Und dann hat sie gesagt: ›Hau ab, Crystal.‹ Und wenn sie mich wegschickte, musste ich gehen.

Einmal habe ich mir solche Sorgen gemacht, dass ich es tatsächlich unserer Mum erzählt habe. Und die hat es ihrem Mann erzählt. Und der hat uns mit dem Gürtel verprügelt und in unserem Zimmer eingesperrt. Aber Dawn war verliebt, und sie ist aus dem Fenster geklettert. Und sie hat wochenlang nicht mehr mit mir geredet. Darum hat sie mir auch nicht gesagt, dass ihre Tage ausgeblieben sind. Und als sie endlich doch damit rausgerückt ist, war sie schon im dritten Monat.«

»Ich wusste gar nicht, dass Dawn ein Kind hatte«, sagte ich.

»Hatte sie auch nicht«, sagte Crystal. »Sie hat es verloren. Beziehungsweise sie hat es bekommen, aber es war ganz blau bei der Geburt, und wir konnten es nicht retten. Es war nämlich so. Sie hat mir erzählt, dass sie einen Braten in der Röhre hatte, und dann haben wir beschlossen, mit diesem todschicken Typen zu sprechen. Sie dachte, er liebte sie auch. Sie dachte, er könnte es kaum abwarten, sie zu heiraten, und dass er sie nur deshalb noch nicht gefragt hätte, weil sie minderjährig war.

Aber das Erste, was er sagte, war: ›Woher soll ich wissen, dass es von mir ist?‹ Und das zweite: ›Heiraten? Ich glaube, da hätte meine Frau was dagegen.‹ So kam also raus, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte, nicht viel jünger als Dawn.

Dann sagte er: ›Hier hast du ein paar Kröten, lass es wegmachen. Aber wehe, du lässt dich hier noch mal blicken und heulst mir die Ohren voll. Wenn du nämlich dann das nächste Mal in den Spiegel guckst, wirst du glauben, du stehst vor dem Schaufenster einer Metzgerei.‹ Genau so hat er es gesagt, Wort für Wort. So waren die Typen, in die Dawn sich verliebt hat.

Ich konnte auch nicht viel machen. Aber natürlich habe ich ihm die Reifen aufgeschlitzt und ihm einen Backstein durch die Windschutzscheibe geschmissen.«

»Natürlich«, sagte ich. Crystal ist wie ich. Sie hat eine Menge Selbstachtung.

»Aber er hat seine Meinung nicht geändert«, sagte Crystal, »Bis Dawn dann ihren ganzen Mut zusammengenommen hat und zum Arzt gegangen ist. Bis all die Tests gemacht waren, war sie schon fast im fünften Monat, und da wollte es ihr keiner mehr wegmachen. Und dann hat unsere Mum Wind davon gekriegt, und ihr Mann hat Dawn rausgeschmissen.«

»Und du bist wahrscheinlich mitgegangen«, sagte ich. »Um auf sie aufzupassen.« Wenn es meine Schwester gewesen wäre, hätte ich nämlich dasselbe gemacht. Nur dass meine Schwester nie so in die Bredouille geraten würde. Dafür ist sie viel zu klug, und mit Männern hat sie auch nichts am Hut.

»Klar«, sagte Crystal. »Wir sind nach London gegangen und haben auf der Straße gelebt, und eines Nachts kriegte Dawn Schmerzen, und dann kam das Baby, ein kleines Mädchen, ganz grün und blau, als ob sie verprügelt worden wäre, und sie wollte einfach nicht atmen, und deshalb haben wir sie im Garten von einem der Abrisshäuser in der Kipling Street begraben.

Eigentlich war es meine Schuld. Ich hatte den Dreh noch nicht raus und konnte nie so viel zusammenschnorren, dass Dawn genug zu essen bekam. Aber im Grunde war es besser so. Zu dritt hätte ich uns nie durchgebracht, und Dawn wäre bestimmt ins Heim gekommen. Das hätte sie nie ertragen.

Jedenfalls war sie von der Liebe geheilt, und der nächste Kerl, mit dem sie sich einließ, musste blechen. ›Crystal‹, hat sie zu mir gesagt, ›es ist genau dasselbe, wie wenn man es aus Liebe macht, man hat nur etwas mehr zu essen auf dem Tisch.‹

Und weil sie immer noch jung und hübsch war, hat ihr irgendwann ein anderer Kerl das Zimmer in Paddington gegeben. Und er hat auf sie aufgepasst. Und obwohl sie ihm zwei Drittel ihrer Einnahmen abgeben musste, ging es ihr trotzdem viel besser als je zuvor. So gut ist es ihr auch danach nie wieder gegangen.«

»Du wolltest doch nicht flennen«, sagte ich.

»Ich flenn doch gar nicht«, sagte sie. »Ich bin bloß wütend.«

Also lieh ich ihr ein T-Shirt, damit sie sich die Nase putzen konnte.

3

Ich habe gesagt, dass ich gerne Geschichten höre, aber diese gefiel mir nicht besonders. Außerdem habe ich sie schon viel zu oft gehört. Mit anderen Namen und anderen Worten kommt sie dir doch bestimmt auch bekannt vor.

Crystal döste auf meiner Couch ein, also ging ich raus und patrouillierte mit Ramses und Lineker noch ein paarmal durch das Gelände.

»Ein Glück, dass du kein Weibchen bist«, sagte ich zu Lineker. »Du bist genau die Sorte, die sich von einem verheirateten Kerl ein Kind anhängen lassen würde.« Er war schlank, schön und dösig, und wenn er Ramses und mich nicht gehabt hätte, die ihn auf Trab hielten, wäre er von allen nach Strich und Faden ausgenutzt worden.

Als ich noch jung war, habe ich andauernd solche Geschichten gehört. Wenn du viel Zeit in Besserungsanstalten und Heimen verbringst, hörst du so ziemlich alles, was einem Mädchen überhaupt zustoßen kann. Und eines kann ich dir sagen, die Liebe kann ein verdammt tödliches Spiel sein. Was für die Mädchen Liebe ist, ist für die Jungen Gebumse, nur wollen das die Mädchen nicht wahrhaben. Ich bin bloß froh, dass ich mehr Rückgrat habe.

Wetten …? Du denkst jetzt bestimmt, ich habe keinen Schimmer, wovon ich rede. Du wirfst einen Blick auf mich und denkst, auf die war nie einer scharf. Was weiß die schon von Sex? Das beweist mal wieder, wie wenig Ahnung du hast.

Ich habe es einmal probiert, und es hat mir nicht gefallen. Jetzt weißt du’s.

Na ja, eigentlich habe ich es nicht probiert. Sondern jemand hat es mit mir gemacht. Aber gefallen hat es mir trotzdem nicht. Und um die Wahrheit zu sagen, er hatte auch nicht viel davon. Vor allem nicht, nachdem ich seine Hose in den Heizkessel geschmissen hatte. In einem Heizungskeller ist es nämlich passiert – als ich mal wieder im »Heim« war. Ich habe oft den Unterricht geschwänzt und mich im Heizungskeller verkrochen, weil es der wärmste Raum in dem ganzen Bau war, und eines Nachmittags hat mich der Hausmeister erwischt. Er sagte, er würde mich nicht verraten, wenn ich mich von ihm betatschen ließe. Haha. Jedenfalls hat er seine Hose verloren, und ich habe rausgekriegt, wo manche Mädchen ihre Süßigkeiten und Zigaretten herhatten.

Und so was sollte ein »Heim« sein? Dass ich nicht lache!

Was du in diesen Anstalten natürlich nie hörst, sind die Geschichten von den Mädchen, die den todschicken Kerl im großen roten Wagen geheiratet haben. Denn irgendeine muss ihn sich ja schließlich geangelt haben, oder? Sonst hätte er wohl kaum Frau und Kinder gehabt. Und vielleicht glaubte sie, sie wäre sein Ein und Alles. Vielleicht sind sie samstags zusammen losgezogen und haben Tapeten für das Gästezimmer ausgesucht. Vielleicht hat sie nie etwas von der kleinen Dawnie und dem blauen Baby erfahren. Oder sie wusste es doch. Vielleicht hat sie sich von ihm scheiden lassen und ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Oder sie ist immer noch mit ihm zusammen, kocht ihm das Essen und sieht sich mit ihm seine Lieblingssendungen im Fernsehen an, weil sie nicht an seine Kröten rankommt und lieber unglücklich sein will als arm.

Wer die Mäuse hat, hat die Macht, sage ich immer. Deshalb will ich auch so viel Kohle wie möglich machen. Und wenn ich dann reich und berühmt bin, muss ich nie mehr irgendwelchen Geldsäcken in den Arsch kriechen.

Als ich keine Lust mehr hatte, Lineker zuzusehen, wie er Ratten jagte, ging ich zurück in den Hänger. Crystal war wieder wach und hatte den Kessel aufgesetzt. Ihr kleines Affengesicht war todtraurig, und ich fand, es wurde langsam Zeit, dass sie nach Hause ging. Sie machte mir Beulen in mein sonniges Gemüt.

Aber sie sagte: »Wenn ich bloß wüsste, was für Schweine das gewesen sind, Eva. Es war nämlich mehr als einer. Die Mädchen haben gesagt, dass Dawn mit zwei Kerlen rausgegangen ist, und ihr Körper war mit Abdrücken von Fäusten und Stiefeln übersät.«

»Falls ich den Selbstverteidigungskurs gebe«, sagte ich, »lautet eine meiner ersten Regeln: ›Nimm dir nie mehr als einen Kunden auf einmal vor.‹ Blöder geht’s doch wirklich nicht.«

»Dawn war nicht sehr helle«, sagte Crystal.

»Na ja, sie war aber auch ziemlich abgefüllt«, sagte ich großmütig. »Vielleicht hat sie doppelt gesehen.«

»Sie hatte kein Geld mehr bei sich«, sagte Crystal. »Die Scheißkerle müssen sie auch noch ausgeraubt haben.«

»Vielleicht hat sie alles versoffen.«

»Nein«, sagte Crystal. »Die Mädchen haben gesagt, ihren letzten Drink hätte sie mit einer Zehnpfundnote bezahlt.«

»Die nächste Regel«, sagte ich. »Immer schön dein Geld bei dir behalten. Ist doch Schwachsinn, mit großen Scheinen zu wedeln und irgendwen auf dumme Gedanken zu bringen.«

»Ich glaube nicht, dass es um das Geld ging«, sagte Crystal. »Es waren doch bloß ein paar Pfund. Und sie hat auch nicht gerade reich ausgesehen. Im letzten Jahr jedenfalls nicht mehr. Da machte sie eher einen abgerissenen Eindruck.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe sie gesehen.« Wie aus der Gosse gezogen. Keine Selbstachtung.

»Aber mir hat sie trotzdem etwas bedeutet«, sagte Crystal. »Sie war meine Dawnie. Nur konnte ich ihr das Saufen nicht abgewöhnen und das Anschaffengehen auch nicht. Das habe ich nie geschafft. Auch früher nicht, als wir noch jünger waren. Und jetzt gibt kein Schwein mehr einen Pfifferling für sie. Den Bullen ist sie egal. Die suchen noch nicht mal nach dem Mörder. Die sagen, für eine wie Dawn ist so was Berufsrisiko.«

»Typisch«, sagte ich. Es soll keiner behaupten können, dass ich mit der Polizei einer Meinung bin, aber diesmal hatten die Bullen gar nicht so unrecht.

»Also, Eva«, sagte Crystal. »Wenn ich herauskriege, wer es war, hilfst du mir dann, die Kerle umzubringen? Oder mich sonst irgendwie zu rächen?«

Was für eine Frage! Ich sollte wegen Dawn jemand umbringen? Crystal musste verrückt geworden sein. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass sie tatsächlich übergeschnappt war. Wenn meine Schwester in einem Kühlfach liegen würde, von oben bis unten mit Stiefelabdrücken übersät, wäre ich wohl auch durchgedreht. Aber wegen Dawn würde ich mich in nichts hineinziehen lassen. Nie im Leben.

»Okay«, sagte ich. »Du suchst sie, und ich zahle es ihnen heim.«

Mir blieb nichts anderes übrig. Crystal war schließlich wahnsinnig. Mit Wahnsinnigen kannst du nicht diskutieren, weil du sonst selber wahnsinnig wirst. Und zum Schluss gibst du ihnen sowieso recht. Da kannst du dir die Diskutiererei genauso gut sparen und ihnen gleich recht geben.

Ausnahmsweise hatte ich diesmal das Richtige gesagt, denn Crystal trank ihren Tee aus und döste wieder ein. Doch noch im Schlaf sah sie einsam und verlassen aus. Aber sie war mir im Weg. Ich musste um sie herumschleichen, damit sie nicht aufwachte und womöglich noch ein paar grandiose Ideen hatte, die nur ein Mensch mit einem Gehirn-Bypass verstanden hätte.