Lady Bag. Kriminalroman - Liza Cody - E-Book

Lady Bag. Kriminalroman E-Book

Liza Cody

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Beschreibung

Über das Buch Sie ist die Frau ohne Gesicht. Manche beleidigen sie, manche ignorieren sie. Manche geben etwas. Manche nur wegen des Hundes an ihrer Seite. Sie ist eine Pennerin, die genau weiß, wie die Straßen von London riechen. Doch Diese abgeklärte Lady Bag war nicht immer eine Baglady. Als eine ganz normale Frau geriet sie in die älteste Falle der Welt und wurde ruiniert. Jetzt will sie nichts mehr, nur die Gesellschaft ihrer Hündin und ihren gewohnten Rotweinpegel. Bis eines Tages ihr persönlicher Dämon ihren Weg kreuzt – mit finsteren Absichten, wie sie aus Erfahrung weiß. Statt sich zu verstecken, beschließt sie ihn zu beschatten: Sie möchte wissen, wo er wohnt. Eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen hat. Sie erwacht mit zertretenem Kopf in einem Kranken¬hausbett und wird mit einem fremden Namen angesprochen. Anscheinend hält man sie für eine gewisse Natalie Munrow, deren Handtasche sie bei sich hat. Bei erster Gelegenheit nimmt sie Reißaus und taucht ab. Was allerdings gar nicht so leicht ist, wenn man auf der Straße lebt und einem aus allen Zeitungen das eigene lädierte Gesicht entgegenblickt! Dann stellt sich heraus, dass die wahre Natalie Munrow ermordet wurde … Zornig, schlau, verkorkst, tragisch, witzig und (meistens) ehrlich: Die rotweingetränkte Schilderung der Baglady ist ein wilder, temporeicher Kriminalroman, ein gestochen scharfes Großstadtporträt und ein literarischer Kommentar zur Lage, insbesondere seit der Krise. »Man wird nicht viele Romane finden, die dermaßen originell, frisch und markant sind. Was dieses Buch zur reinen Freude macht, ist ebenso sehr die scharfe Schreibe wie das ungewöhnliche Setting.« The Morning Star »Cody hat eine neue Erzählsprache entwickelt: widerborstig und sentimental, düster und komisch und immer auf dem Punkt.« Thomas Wörtche »Codys Dialoge sind immer voller Witz und Hintersinn – und hier hat sie ihre ultimative Protagonistin gefunden. Nie wurden Plattitüden so kreativ verstümmelt, wurden Pomp und Heuchelei so unwiderstehlich zerpflückt.« Mat Coward im Morning Star

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Über das Buch

Sie ist die Frau ohne Gesicht. Manche beleidigen sie, manche ignorieren sie. Manche geben etwas. Manche nur wegen des Hundes an ihrer Seite. Eines Abends läuft ihr in der Londoner Innenstadt der Teufel über den Weg. Statt sich zu verstecken, beschließt sie, ihn zu beschatten. Eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen hat ...

Zornig, schlau, verkorkst, tragisch, witzig und (meistens) ehrlich: Die rotweingetränkte Schilderung der Baglady ist ein wilder, temporeicher Kriminalroman und ein literarischer Kommentar zur Lage, insbesondere seit der Krise.

Kann eine Obdachlose verhindern, dass der Teufel noch mehr Unschuldige in den Abgrund reißt? Die Story der namenlosen Baglady ist ein Kriminalroman, ein gestochen scharfes Großstadtporträt und ein Gegenwartsdrama mit realsatirischen Momenten.

»Man wird nicht viele Romane finden, die dermaßen originell, frisch und markant sind. Was dieses Buch zur reinen Freude macht, ist ebenso sehr die scharfe Schreibe wie das ungewöhnliche Setting.« The Morning Star

»Codys Dialoge sind immer voller Witz und Hintersinn – und hier hat sie ihre ultimative Protagonistin gefunden. Nie wurden Plattitüden so kreativ verstümmelt, wurden Pomp und Heuchelei so unwiderstehlich zerpflückt.« Mat Coward im Morning Star

»Cody hat eine neue Erzählsprache entwickelt: widerborstig und sentimental, düster und komisch und immer auf dem Punkt.« Thomas Wörtche

Über die Autorin

Liza Cody studierte Kunst und arbeitete u. a. als Roadie, als Fotografin, Malerin und Möbeltischlerin, bevor sie zum Schreiben kam. Ihre Kriminalromane um die Londoner Privatdetektivin Anna Lee wurden mit etlichen Preisen ausgezeichnet, in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Fernsehen verfilmt. In den Neunzigern begann sie mit der weltweit als Genrebreaker berühmt gewordenen Bucket-Nut-Trilogie um Catcherin Eva Wylie, für die sie u. a. den Silver Dagger erhielt. Es folgten vier weitere Romane. »Lady Bag« erschien in England im Herbst 2013. Liza Cody lebt in London.

Liza Cody

Lady Bag

Roman

Deutsch von E. Laudan & B. Szelinski

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2014

Übersetzung: E. Laudan, B. Szelinski

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 08.09.2014

ISBN 978-3-944818-56-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Else Laudan
Kapitel 1: In welchem mir der Teufel über den Weg läuft
Kapitel 2: Ich verfolge den Teufel und seine Trulla
Kapitel 3: Ich werde von einem Hund beraten
Kapitel 4: Gequält von Joss, Bier und Eifersucht
Kapitel 5: Ich gerate ans falsche Ende eines Stiefels
Kapitel 6: Eingeliefert
Kapitel 7: Ich werde Natalie
Kapitel 8: Abschied von der Harrison Mews
Kapitel 9: Eine zwielichtige Nonne und Elektra
Kapitel 10: Ich werde überredet, auf die Südseite des Flusses umzuziehen
Kapitel 11: Hausen in Babylon
Kapitel 12: In dem ich versuche, die Situation zu überdenken
Kapitel 13: Geld, Gewalt und eine neue Mitbewohnerin
Kapitel 14: Wir alle tragen Kevs Mal
Kapitel 15: Feuer!
Kapitel 16: Ich schachere mit dem Teufel
Kapitel 17: Rampenlicht
Kapitel 18: Noch mehr Rampenlicht
Kapitel 19: Elektra braucht ein Dach über dem Kopf
Kapitel 20: Das Hündchen, das sich die Zehen verbrannt hat
Kapitel 21: Schmisters schreckliche Erzählung
Kapitel 22: Bullenjerry und das Mausmomster
Kapitel 23: Genesung und ein Torpedo-Einschlag
Kapitel 24: Drohungen, Diebe und Pierre
Kapitel 25: Der letzte Tropfen
Kapitel 26: In dem die Bullen aufholen
Kapitel 27: Ich sehe Natalies Geist
Kapitel 28: Ich werde Krankenwagenfahrerin
Kapitel 29: Ich fahre dahin zurück, wo alles begann
Kapitel 30: Vom Teufel gerufen
Kapitel 31: Ich sehe des Teufels Füße
Kapitel 32: Was Schamhaar-Claire zu sagen hat
Kapitel 33: Und also erinnerte ich mich
Kapitel 34: Schmister geht ein dummes Risiko ein
Kapitel 35: Zank im Zug
Kapitel 36: Bleifuß-Bradley
Kapitel 37: Zurück in der Maschinerie
Kapitel 38: Es wird schlimmer
Kapitel 39: Bloß ein kleiner tröstlicher Moment ...
Kapitel 40: ... nach dem dann alles noch schlimmer wird
Kapitel 41: Hoffnung ist Gift
Anmerkung von Else Laudan
Links zum Thema Obdachlosigkeit

Vorwort von Else Laudan

Auf ihnen verweilt der Blick nicht so gern: Die Deckenbündel in Hauseingängen und windgeschützten Ecken sind Teil des Stadtbilds wie die kauernden Gestalten an den Konsumtempeln. Bettler. Penner. Bagladys. Hässlich und bedürftig, stören sie vielleicht den unbeschwerten Einkaufsbummel, dämpfen die Glücksversprechen der lockenden Schaufenster. Verkörpern sie doch die Kehrseite des Wohlstands ...

Wir ­leben von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Wenn wir Geld ­haben, essen und trinken wir. Wir horten kein Geld für schlechte Tage, weil alle Tage schlecht sind.

Liza Cody, Londoner Schriftstellerin mit Gossenerfahrung, verleiht der namenlosen Pennerin eine Stimme. Es ist eine schonungslos offenherzige, komische, weinselige Erzählstimme, der man gebannt durch die verregneten Straßen folgt, tief hinein in den Schlund von London und in die Wirren eines geheimnisvollen Komplotts.

Zum einen war in diesem durchnässten Sommer bei allen die Kohle knapp, und niemand bleibt gern im Regen stehen, besonders, wenn sie sich selber pleite vorkommen. Zum anderen sehen die meisten Leute nicht ein, warum sie einer Erwachsenen, die immerhin noch aufrecht gehen kann, überhaupt was geben sollen – weshalb sich die meisten von uns auf den Boden setzen, so dass wir klein und verletzlich wirken. Man sollte nie größer sein als die Leute, die man um Geld bittet.

Diese abgeklärte Lady Bag war nicht immer eine Baglady. Eine ganz normale Frau geriet in die älteste Falle der Welt und wurde ruiniert. Jetzt will sie nichts mehr, nur die Gesellschaft ihrer Hündin und wenn möglich ihren gewohnten Rotweinpegel. Bis eines Tages ihr persönlicher Dämon ihren Weg kreuzt – mit finsteren Absichten, wie sie aus Erfahrung ahnt. Doch diese Geschichte erzählt sie Ihnen am besten selbst.

Else Laudan

Kapitel 1

In welchem mir der Teufel über den Weg läuft

Der silbergraue Mann sah in seinem feinen ­Wollmantel beleibt und begütert aus. Durch die Glastür hatte er außerdem recht umgänglich gewirkt. Mein Fehler. Beurteile nie einen Mann durch Glas. Warte immer, bis du ihn riechen kannst. Der hier roch nach Tomatensuppe und Single Malt – ein blasierter Geruch.

»Wir alle müssen arbeiten – nur Sie nicht, wie es scheint. Warum sollte ich Ihnen Geld geben? Mir gibt schließlich auch niemand Geld!« Mit seinem verächtlichen Blick trieb er mich rücklings gegen ein Parkverbotsschild und quakte vor all den heimwärts eilenden Berufstätigen: »Ich unterstütze doch ­Ihren Lebenswandel nicht, indem ich Sie in Ihrer Faulheit noch ermutige.« Er hatte eine laute, misstönende Stimme, die man bestimmt eine Meile weit hörte.

Dann ging er einfach weg. Ich hasse es, wenn sie das tun. Es ist, als würden sie sagen: »So was wie dich will ich nicht mal ansehen.«

Was meint er damit – niemand gibt ihm Geld? Was ist mit all den Spesen, Steuervergünstigungen und Bonusleistungen? Ununterbrochen geben ihm Leute Geld.

Ihr denkt, ich kenne mich mit dem System nicht aus? Ich hab nicht immer so ausgesehen wie jetzt, wisst ihr. Ich bin nicht hier draußen geboren. Wenn ihr euch zu schnell ein Bild von mir macht, seid ihr genauso bigott wie dieser miese Vogel.

Elektra drückte ihre feuchte Schnauze in meine Hand, und ich streichelte ihren eleganten schmalen Schädel. »Schon gut«, sagte ich.

Von öffentlicher Erniedrigung erholt man sich nicht leicht. Ärschen wie ihm, in ihren sauberen Wollmänteln, kommt es nie in den Sinn, dass man einer kleinen Stärkung bedürfen könnte, um ihre selbstherrlichen Anwürfe zu verdauen.

Eine Frau im schwarzen Geschäftsanzug sagte: »Ich habe das eben gehört.« Sie hielt mir eine Pfundmünze hin. »Ich sage nicht, dass ich das grundsätzlich anders sehe, aber was ist mit dem Hund?« Sie roch sehr viel weiblicher, als sie aussah. Pfefferminzatem und Rosenwasser.

Ich streckte meine Hand nach der Münze aus. Im letzten Moment zog sie sie weg und sagte: »Das ist für den Greyhound, nicht für Sie. Sie müssen versprechen, dass Sie es für ihn verwenden.« Als würde sie mir ein Vermögen schenken und nicht eine lausige Pfundmünze, die kaum für Elektras Abendessen reichte.

»Für sie«, sagte ich. »Sie heißt Elektra. Ich hab sie adoptiert. Wenn ich nicht gut auf sie aufpasse, können die Leute vom Tierheim sie wieder einkassieren.«

»Das will ich hoffen«, sagte die Frau. »Warum haben Sie sie nach einem Mädchen genannt, das ihre Mutter ermordet hat?« Vielleicht sollte die Pfefferminze auch bloß den sauren Dunst von billigem Weißwein überdecken.

Ich sagte: »Als Rennhund lief sie unter dem Namen Classic FM’s Elektra von South Slough. Niemand hat hier eine Mutter ermordet.«

»Elektra schon.« Sie ließ die Münze in meine Hand fallen und wollte weggehen.

»Warum?« Ich folgte ihr ein Stück. Ich liebe Geschichten.

»Tut mir leid, ich muss meinen Zug kriegen. Schlagen Sie’s nach oder googeln Sie sie.«

Na klar, das mach ich, auf meinem Tausendtackenlaptop, das ich in jeden verschissenen Londoner Lampenmast einstöpseln kann. Wisst ihr was? In der Notunterkunft, wo ich manchmal nächtige, musst du erst einen Schlüssel kaufen, bevor sie dir erlauben, für eine Stunde dein Handy aufzuladen. Sofern du ein Handy besitzt, versteht sich, und sofern du beim Pennen auf der Straße nicht ausgeraubt wurdest, weil dein blöder Hund ein zu verweichlichtes Miezekätzchen ist, um zu bellen, damit du aufwachst. Ihre Mutter ermordet? Hah! Da hast du was in den falschen Hals gekriegt, Bürotante – diese Elektra hier könnte nicht mal ein verkrüppeltes Häschen töten. Außer natürlich, sie starrt es mit ihren großen tragischen Augen an, bis das Häschen vor lauter Einfühlung Selbstmord begeht.

Diese Augen sind der eigentliche Grund, warum ich sie genommen habe. Elektra bringt es fertig, noch aus dem kältesten steinernen Herz Münzen zu wringen. Ich hingegen? Denen ist es völlig egal, ob ich lebe oder sterbe, ich bin nämlich längst nicht so herzzerreißend wie sie. Manchmal, wenn ich ganz dringend mehr Kohle brauche, mach ich ihr Bandagen um die Pfoten. Das ist kein Betrug, sie hat wirklich Arthritis in Läufen und Pfoten. Viele ehemalige Rennhunde haben das, und auf dem kalten Steinpflaster herumzutrippeln hilft nicht gerade dagegen. Bandagen machen nur ihren Schmerz sichtbar. Und außerdem lassen sie mich wie eine fürsorgliche Besitzerin dastehen, was ich auch bin. Was aber normalerweise keiner wahrnimmt. Die sehen mich gar nicht.

Leute mögen Hunde lieber als Menschen. Und sie haben recht damit. Einem Hund kann man tatsächlich helfen. Menschen kann man nie wirklich helfen.

Schaut euch nur mich und Elektra an – sie ist alt und hat Arthritis. Die Scheißkerle, die sie Rennen laufen ließen, hätten sie glatt eingeschläfert. Als ich sie bekam, konnte sie nichts als rennen, allerdings nicht mehr schnell genug, um der tödlichen Injektion zu entkommen. Sie hatte keine Ahnung, wie man es sich gemeinsam auf einem Sofa gemütlich macht oder aneinander­gekuschelt einschläft. Sie hatte noch nie in ihrem Leben ein Sofa gesehen, und Greyhoundtrainer kuscheln nicht.

Ich nahm sie zu mir, fütterte sie und hielt sie warm. Ich werde sie füttern und für sie sorgen bis zu dem Tag, an dem eine von uns stirbt. Für einen abgewrackten alten menschlichen Athleten mit gestörtem Sozialverhalten würde ich das kaum tun, oder? Und ihr auch nicht, wenn ihr nicht gerade Heilige seid, oder direkte Verwandte, oder sehr viel besser im Lösen menschlicher Probleme als ich.

Übrigens, von ihrer Warte aus betrachtet bin ich gar nicht so ein Abstieg, wie man vielleicht denken könnte. Aufgezogen wurde sie in einem kalten Betonzwinger ohne jeden Hauch von persönlicher Zuwendung. In dieser Hinsicht hat sie es doch ganz gut bei mir: Sie ist nicht einsam, denn sie hat mich rund um die Uhr. Wenn sie mich nicht mögen würde, könnte sie einfach gehen – sie ist nicht angekettet.

Als sie zu mir kam, stand sie gewöhnlich mit dem Schwanz zwischen den Beinen da, zitterte und vermied jeden Blickkontakt. Sie zuckte zusammen, wenn jemand versuchte, sie zu berühren. Inzwischen lässt sie sich von Fremden beklopfen und steckt ihre Nase in meine Hand, wenn sie bemerkt und gestreichelt werden will. Wir beide mussten nicht mal zur Paartherapie, nichts von all dem Scheiß, den man mit ­einem menschlichen Partner durchmacht. Nein. Elektra gewöhnte sich einfach an, mir zu vertrauen, und Vertrauen macht sie glücklicher. Niemals könnte man so etwas Einfaches für ­einen Menschen tun. Ich glaube, die Leute sind zu kompliziert, um sich mit ­etwas Einfachem wie Glücklichsein zufriedenzugeben. Darum spreche ich lieber mit Elektra als mit sonst ­jemandem auf der Welt.

Wir sammelten ungefähr sieben Pfund ein, und als der Berufsverkehr vorbei war, zogen wir westwärts, um uns für die abendlichen Ausgehscharen bereitzuhalten. Wenn die Leute dann irgendwann zu besoffen und übergriffig werden, pilgern wir zur Notunterkunft, falls wir dafür genug Kleingeld übrig haben, oder wir suchen uns ein halbwegs sicheres Plätzchen, um unsere Häupter zur Ruhe zu betten. Manchmal drehen wir auch noch eine Runde und klappern die Wohlfahrtsläden ab, um zu sehen, ob ich in den Tüten vor der Tür was finde, das mir passt.

Zunächst jedoch brauchte ich was vom algerischen Roten – bloß ein Schlückchen, um mich von den Beleidigungen zu erholen und den Abend ein bisschen zu erwärmen. Danach wanderte ich die St. Martins Lane entlang zum Trafalgar Square. Wenn man dort keinen Platz auf einer Bank findet, kann man sich immer auf die Stufen setzen. Ich mag den Trafalgar Square. Es gibt Unmengen von Touristen, denen man zuhören kann, und irgendwer bringt dich immer zum Lachen, indem er in den Springbrunnen hüpft oder von einem der Bronzelöwen fällt.

Und genau da lief mir der Teufel über den Weg, auch bekannt als Gram Attwood, der in diesem Moment aus der National Portrait Gallery kam. Er mit seinen kühlen blauen Augen und seinem fiesen kleinen Lächeln. Seinerzeit hielt ich es noch nicht für fies, ich fand es unheimlich süß. Ich fand ihn süß. Und das war er auch – jedenfalls für einen Dieb und Mörder.

Kapitel 2

Ich verfolge den Teufel und seine Trulla

Ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er war mit einer Frau unterwegs, na klar. Sie war ein paar Jahre älter, na klar. Keine Schönheit, aber gut gebaut und sorgfältig gekleidet. Na klar. Und klar war er charmant und aufmerksam. Na klar, na klar, na klar.

Ich konnte seine Seife riechen, sein Shampoo und seine Feuchtigkeitscreme, sein gereinigtes und gebügeltes Hemd. So sauber, so frisch und so unmenschlich. Wie nah ich ihm auch immer kam, ich konnte nie seinen Körper riechen. Der Teufel hat keinen Geruch. Vielleicht hätte mich das gleich stutzig ­machen sollen.

Ich stand eine Sekunde wie erstarrt und fragte mich unwillkürlich, ob Elektra wohl imstande war, Gram Attwoods Witterung wahrzunehmen. Vielleicht ist das bei Hunden eine übernatürliche Fähigkeit – vielleicht können sie anhand des Geruchs unterscheiden zwischen normaler Bosheit und dem Teufel persönlich. Aber sie stand bloß geduldig da und wartete darauf, dass ich weiterging. Hunde sind unschuldige Geschöpfe, die keine Ahnung vom wahrhaft Bösen haben, also bemerken sie den Teufel vielleicht gar nicht, selbst wenn sie ihn sehen.

Gram Attwood spazierte ohne den kleinsten Funken des Wiedererkennens über den Trafalgar Square in Richtung Haymarket. Seine rechte Hand führte leicht den Ellenbogen seiner Begleiterin. Seine Berührung war vertraulich, intim, die Berührung des Besitzers. Womöglich hatte er etwas bezahlt. Er war bestimmt gesellschaftlich aufgestiegen, seit ich ihn gekannt hatte. Als ich ihn kannte, hatte ich alles bezahlt – sogar den Preis für seine Freiheit.

»Komm«, sagte ich zu Elektra, und wir folgten dem Teufel.

Vor einem Theater trennte die Frau sich von ihm. Sie küsste ihn auf den Mund, lachte und verweilte noch einen Augenblick. Sein Lächeln war ein Kunstwerk. Ich bin ja so aufrichtig interessiert an dir, sagte das Lächeln. Du faszinierst mich. Wenn du mich gut genug behandelst, könnte ich dich vielleicht lieben.

Als ich dieses Lächeln zum letzten Mal sah, saß ich auf der Anklagebank, und ich hatte ihn sehr gut behandelt. Ich tat genau das, was er von mir wollte. Wobei, eigentlich ging es mehr um das, was ich nicht tat. Mit dem, was ich nicht sagte, könnte man leicht hundert Bücher füllen. Als mir schließlich klar wurde, dass er mich nie besuchen kommen würde, dass er mich ganz entspannt da drinnen verrotten ließ, da lernte ich, was Hass in Wahrheit ist. Hass ist Liebe mit Maden, die ihr bei lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen fressen. Er ist umgestülpte Liebe, das Innerste nach außen gekehrt, so dass Eingeweide und Weichteile offen daliegen, leichte Beute für die Maden und sauren Regen.

Das hab ich im Gefängnis gelernt. Hübsch, oder?

Sie verpassten mir Tabletten – drei Stück pro Tag –, um den Hass zu bekämpfen. Schicht um Schicht begruben sie ihn unter Lagen aus Mull, der den Schall dämpfte und zwischen meinen Augen und der Welt hing.

Danach passte ich mich besser an. Tag für Tag verstrich die Zeit, ohne in meinem Gedächtnis Fußabdrücke zu hinterlassen. Es war einfach nur Zeit, und ich saß sie ab, wie man es eben tun muss. Aber meine Persönlichkeit wurde aufgefressen, genau wie meine Erinnerung.

Dann war es vorbei. Ich verließ das Gefängnis, und es gab keine Tabletten mehr. Ich war frei. Frei, wieder zu hassen. Frei, wieder Schmerz zu spüren. Eines Morgens wachte ich auf, und der Mull, der zwischen mir und den Bildern und Geräuschen hing, war weggeweht. Alles tat meinen Augen weh, meinen ­Ohren und meiner Haut. Bilder und Geräusche wurden zu Stichen und Wunden. Hätte ich Geld gehabt, ich wäre bestimmt zum Junkie geworden, denn man sagt, dass Junkies stundenlang gar keinen Schmerz fühlen. Aber ich hatte kein Geld, meine Mutter war tot, und mein Haus war verkauft ­worden.

Als Erstes tat ich das, was man eben so tut, um zur Normalität zurückzufinden. Ich bemühte mich, einen Job zu kriegen, damit ich was Passables zum Wohnen mieten könnte. Aber dann musste ich feststellen, dass ich abgestürzt war und mich am Boden eines gähnenden Abgrunds namens Schulden befand. Ich hatte Gram Attwood Vollmacht erteilt, mein Haus zu verkaufen und davon die Verfahrenskosten zu begleichen – was ziemlich genau dasselbe ist, wie dem König der Diebe den Schlüssel zu deiner Schatztruhe zu geben und zu sagen: »Nur zu, mein ­Bester, bedien dich ruhig.«

Da stand ich also, mit weniger als nichts. Trotzdem versuchte ich, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen und aufs Neue eine anständige Person zu werden. Ich versuchte es wirklich. Das Problem war nur, dass ich keine anständige Person mehr war und dass jeder das sehen konnte. Oder vielleicht konnten sie es auch riechen, so wie ich es kann, an jedem Tag meines Lebens.

Es ist bekannt, wie schwer es ist, einen Job zu finden, wenn man aktenkundig vorbestraft ist und bloß ein Wohnheim als ­Adresse hat. Aber wusstet ihr, dass man auch nicht zum Arzt kann oder zum Zahnarzt? Wenn es schlimm genug steht, kann man zur Notfallambulanz gehen, die sind im Ernstfall verpflichtet, einen zu behandeln. Aber das kannst du nicht bringen, wenn dir einfach nur dein Prozac oder Propaphenin ausgegangen ist.

Sie besorgen dir eine Behelfsunterkunft in einer Vorstadtpension, meilenweit weg von Sozial- und Arbeitsamt. Du hast kein Geld für den Bus, also brauchst du Stunden, um zu Fuß hinzulaufen, nur um festzustellen, dass das zuständige Büro geschlossen ist. Oder dass sie sich irgendeinen neuen Grund ausgedacht haben, warum gerade du keinen Anspruch auf Unterstützung hast. Also darfst du den ganzen Weg zurück­latschen. Die Pension ist eine stinkende Bruchbude, und es gibt kein Schloss an der Badezimmertür. Die anderen Bewohner sind besoffen, verrückt oder auf Drogen, oder sie schleppen sich mit einem ganzen Cocktail von Problemen ab, denen du auf keinen Fall auf einem finsteren Flur begegnen möchtest, draußen vor der Tür zu einem versifften Bad. Und schon gar nicht drinnen.

Wenn du es keine Sekunde länger aushalten kannst, gehst du, und damit machst du dich »freiwillig obdachlos«. Und wisst ihr was? Es ist eine Erlösung. Du bist ganz unten angekommen. Es gibt kein weiteres Fallen. Du kannst endlich aufhören, krampfhaft um den Wiedereintritt in die Gesellschaft zu kämpfen, und dich ganz aufs Überleben konzentrieren.

Du kannst aufhören zu hoffen, dass eins deiner Vorstellungsgespräche Erfolg zeitigt. Du kannst aufhören zu hoffen, dass du einer besseren Unterkunft für würdig befunden wirst. Du kannst aufhören zu hoffen, Punkt.

Hoffnung ist die große Blenderin. Sie flüstert dir ins Ohr und hält dich in der Tretmühle. Sie gaukelt dir vor, wenn du brav alles tust, was man dir sagt – alle Formulare ausfüllst, zu allen Terminen erscheinst –, dann schaffst du es eines Tages, aus deinem Loch zu kriechen und ein normales Leben zu ­führen.

Wenn du die Hoffnung fahren lässt, bist du frei. Du musst dich nicht mehr bemühen, einen sauberen und respektablen Eindruck zu machen. Du brauchst kein Dach überm Kopf mehr, keinen gedeckten Tisch. Alles wird wesentlich einfacher ohne Dach und Tisch. Niemand schert sich darum, ob du verrückt bist. Es ist der Kampf ums Normalsein, der dich wahnsinnig macht. Hör auf zu kämpfen, sage ich, hör auf zu hoffen und lerne überleben. Gib die Hoffnung auf und leg dir einen Hund zu. Das ist die einzige Selbsthilfelektion, die ich euch geben kann.

Aber wenn es dich gerade innerlich in Stücke reißt, weil du deinen teuflischen Exliebsten mit einer anderen Frau gesehen hast, dann brauchst du ein wenig Hilfe aus einer verlässlichen Quelle. Meine kam aus einer Flasche. Die allerdings war schon wieder gefährlich leer. Ich musste eine Entscheidung treffen. Sollte ich mir neuen Wein besorgen gehen oder Gram Attwood folgen?

»Also?«, fragte ich Elektra. Sie wandte den Kopf und schien Gram Attwood zu beobachten, wie er in Richtung Piccadilly davonging. Vielleicht kann sie den Teufel ja doch wittern.

»Wie du meinst«, sagte ich, und wir folgten ihm.

Er spazierte dicht am Kantstein entlang, und ich begriff, dass er nach einem Taxi Ausschau hielt. Er erspähte eins, trat auf die Fahrbahn und winkte es heran. Der Fahrer ignorierte all die anderen ausgestreckten Arme und hielt direkt vor ihm. Der Teufel war schon immer ein verfluchter Glückspilz. Ich hastete näher und hörte ihn sagen: »Harrison Mews.« Jetzt stand ich so dicht hinter ihm, dass er nicht umhinkonnte, mich zu bemerken. Er runzelte die Stirn und drehte sich um.

Ich sagte: »Haben Sie mal ’n bisschen Kleingeld für mich?«

»Verpiss dich«, sagte er.

»Mein Hund hat Hunger.«

Er lachte nur und stieg in sein Taxi.

Als der Wagen losfuhr, blickte er gleichgültig in meine Richtung. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht zeigte sich keine Spur des Erkennens. Nicht der allerkleinste Schimmer. Entweder hatte ich mich vollkommen verändert, oder er hatte mich aus seinem Gedächtnis gelöscht – komplett ausradiert.

»Ich habe aufgehört zu existieren«, erklärte ich Elektra, als sein Taxi verschwand. »Ich bin nicht mal mehr ein Gespenst, das ihn heimsuchen könnte.« Sie sah mich mit ihren wunderschönen goldgefleckten Augen an, die mir erzählten, dass ich der Mittelpunkt ihres Universums war.

»Danke«, sagte ich und kniete mich hin, um sie auf die Stirn zu küssen und ihre Ohren zu kraulen.

»Such dir ’n Zimmer«, sagte Joss hinter mir. »Such dir ’n Kerl und such dir ’n Leben.« Joss und Georgie waren auf dem Weg zu St. Martins-in-the-Fields, wo es Essen und Betten gab.

»Schaff dir den Köter vom Hals«, meinte Georgie, »dann wird’s viel leichter, ’n Schlafplatz zu finden. Keiner will sein Zimmer mit einem verflohten Furzbeutel teilen.«

»Er spricht von dir.« Joss hält sich für einen Witzbold.

Wir verzogen uns vom Bürgersteig in einen Hauseingang. Die Jungs mussten ihre Flaschen leeren, bevor sie in die Notunterkunft gingen, also nahmen wir alle einen schnellen Schluck und rauchten eine dazu. Joss hielt aus dem Augenwinkel Ausschau nach Bullen.

»Weiß einer von euch zufällig, wo die Harrison Mews ist?«

»Kensal Rise«, sagte Georgie, einfach weil er von Geburt an unfähig ist, ›ich weiß es nicht‹ zu sagen. Er ist Experte für jedes verdammte Thema auf der ganzen Welt.

»Toni im Asyl hat ’n Stadtplan«, bemerkte Joss. »Komm mit uns.«

Aber das wollte ich nicht. Ich wollte vor dem Theater auf Gram Attwoods neue Frau warten. Vielleicht konnte ich sie warnen. Vielleicht konnte ich ihr in ihren dürren Arsch treten. Vielleicht konnte ich ihre schicken Schuhe klauen und gegen ein Schinkenbrot und eine Flasche Wein eintauschen.

»Was gibt’s denn in der Harrison Mews?«, fragte Joss misstrauisch. »Sind da Freikirchler?« Er tritt ständig neuen Sekten bei, denn am Anfang füttern sie ihn immer und geben ihm Geld. Nach ’ner Weile kennen sie ihn dann und zeigen ihm die kalte Schulter. Wie jeder, der bei Verstand ist.

»Was Persönliches«, sagte ich.

»Leute, die draußen schlafen, haben nichts Persönliches«, erklärte Joss.

»Ich hab meinen Stolz«, versetzte Georgie, und wir lachten alle drei los. Ich wünschte mir, wir könnten immer zusammenbleiben.

Aber natürlich ist Georgie eine Nervensäge und Joss ist paranoid, und beide stinken, und keiner von ihnen kann Elektra leiden. Außerdem gibt niemand Geld, wenn drei von uns zusammen rumhängen, dafür rücken einem die Bullen wesentlich schneller auf die Pelle. Einzeln sind wir bloß Jammergestalten, im Rudel sind wir eine Bedrohung.

Ich pilgerte am Piccadilly Circus vorbei und kaufte ein paar Liter Roten. Dann kehrte ich zurück und ließ mich vor dem Theater nieder, um Elektra mit Hundekeksen zu füttern und ihr etwas Wasser zu geben. In einer Wolke aus rosa Tüll und Flügeln kam eine Braut mit ihrem kreischenden Gefolge vorbei. Die Braut blieb stehen und gab mir einen Fünfpfundschein. »Soll Glück bringen«, sagte sie und erschauerte.

»Ihre Freundlichkeit wird Sie vor einem Schicksal wie meinem bewahren.« Die Leute lieben diesen Karmascheiß, wenn sie angeschickert sind. Auch die Brautjungfern rückten was raus, und plötzlich hatte ich mehr als genug für ein Bett und ein Essen.

Wie gewöhnlich, wenn ich es nicht mehr brauchte, wurden die Leute auf einmal verschwenderisch mit ihrem Kleingeld. Elektra zeigte sich von ihrer besten Seite – sanftäugig und würdevoll – und quittierte jede Gabe mit einem freundlichen Kopfneigen.

»Du bis viel besser mit mich als da«, sagte ich. »Ich meine, du bis viel besser damit als ich. Du bist mein Glücksbringer, mein Malistan, nein, Talisman, mein Omelett, mein Amulett.« Und ich nahm noch einen kleinen Trunk, um das zu feiern.

Dann, ohne dass ich es mitbekam, war auf einmal die Zeit rum, und die Leute strömten aus dem Theater. Sie kamen viel zu schnell raus, trampelten über mich und Elektra hinweg, quasselten, quasselten und quasselten. Da war kein Platz zum Ausweichen, keine Luft zum Atmen. Elektra fing an zu zittern.

»Hey, passt doch auf! Vorsicht mit dem Hund.«

Ein Mann erwiderte: »Sie ist betrunken.«

»Mein Hund ist nicht betrunken«, sagte ich, weil es wahr war und weil er kein Recht hatte, sie zu beleidigen – er mit seinem vor Pomade ganz glitschigen Haar und seinen auf Hochglanz polierten Fingernägeln. Was verstand er schon von einem Hund, der seit heute früh um sechs zu Fuß halb London durchquert hatte?

»Sie’s mein Omelett. Sie’s wertmal so viel zehn wie ihr.«

»Schreien Sie uns nicht an«, sagte seine Frau. »Wir verstehen Sie nicht.« Und sie gingen weg. Ich wollte gerade hinterher, um das zu klären, aber da sah ich sie, Gram Attwoods neue Frau, und mir fiel wieder ein, warum ich überhaupt vor dem Theater saß.

»Sie!«, rief ich. »Hey, Sie, ich rede mit Ihnen.«

Sie war mit einer Freundin zusammen, und in ihrer Seidenkluft, goldbehängt, passten sie ganz prima zusammen, quasseln, quasseln, quasseln und nichts merken.

»Hörn Sie marne Weinung – meiden Sie Am Grattwood. Er’s gefährlich.«

»Entschuldigung«, sagte sie höflich und versuchte mit ihrer Freundin, mir auszuweichen.

»Sie schein ’ne nette Frau zu sein. Hörn Sie zu! Gram is gefährlich. Er singt Brie um alles.«

»Was pöbelt sie da? Hat sie eben Graham gesagt? Was weiß sie denn von ihm?«

»Was weiß ich denn nicht über ihn?« Ich versuchte sie am Weglaufen zu hindern, indem ich rückwärts vor ihr herging. »Sehn Sie mich an. Sein Werk. Nehmen Sie sich in Acht!« Leider kam es raus wie »Nemesis Nacht«, also wiederholte ich es, bis ich es richtig hinbekam: »Nehmen Sie sich in Acht, nehmen Sie sich in Acht, nehmen Sie sich in Acht.«

»Sie machen den Leuten Angst«, mahnte ein Mann. Er arbeitete für das Theater. Ich wusste das, weil er eine Ansteckplakette trug, darauf stand Eventmanager für Besuchersicherheit/Foyer.

»Sie sollte Angst haben«, gab ich zurück. »Aber nicht vor mir. Nehmen Sie sich in Acht vor Gram Attwood!«

Vielleicht hätte ich weniger trinken sollen, bevor ich eine so wichtige Nachricht überbrachte. Wie sollte sie mich ernst nehmen, wenn sie nichts hörte als »Nemesis Nacht vergrämt fett«? Denn so klang es. Sogar für meine Ohren.

Warum sollte sie auf mich hören, sie, die nach Rive Gauche und Trüffelöl duftete, während ich nach Dreckfüßen und Londoner Gullys roch?

Kapitel 3

Ich werde von einem Hund beraten

Elektra und ich waren allein in der Jermyn Street. Wir hockten im Eingang einer Buchhandlung, und sie sah hundeelend aus. Ich versuchte mich auf knochenlosen Beinen aufzurappeln, aber ich plumpste sofort wieder hin.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Das sagst du immer.«

»Du bist ein Hund. Du kannst nicht sprechen.«

»Das sagst du auch immer.«

»Wenn du schon sprichst, dann sag doch was Nettes.«

»Wie denn? Mir ist kalt, ich habe Hunger und bin müde, und das ist alles deine Schuld.«

»Die Schuldnummer.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte eine menschliche Stimme. »Sie murmeln die ganze Zeit vor sich hin. Sind Sie verletzt? Krank? Ich bin Melanie Jones von den Fliegenden Helfern beim Ökumenischen Dienst.«

»Fliegende – was?« Der Boden schwankte zwar ein bisschen, sah aber sonst ziemlich stabil aus. »Ich hab nur mit meinem Hund gesprochen.« Ich zog meine Mäntel um mich zusammen und machte einen halbherzigen Versuch, meine Würde zu wahren.

»Er ist ein schöner Hund.«

»Sie.«

Elektra schnaubte. »Warum halten mich bloß alle für einen Kerl?«

»Also ich finde, du bist sehr weiblich.« Ich streichelte ihre Wange.

»Danke«, sagte Jelly Moans oder wie sie hieß, »wenn auch nicht ganz angemessen. Ich bin hier, weil wir die Meldung eines Anwohners erhalten haben, dass Sie offenbar Hilfe benötigen.«

»Oha, jetzt bist du geliefert«, sagte Elektra, und ich musste ihr zustimmen. Anwohner melden nur, dass man Hilfe braucht, wenn sie extrem genervt sind. Und die Hilfe, die sie im Sinn haben, beinhaltet meist einen kleinen Abstecher in die Klapse. Ohne Hund, wohlgemerkt.

Rasch setzte ich mich kerzengerade und verkündete: »Ich kann tatsächlich Hilfe gebrauchen. Ich hab versucht, jemanden zu finden, der mir erklärt, wie ich zur Harrison Mews komme. Vielleicht hat man mich missverstanden und gedacht, ich versuche zu betteln. Die Leute verstehen mich nicht immer, seit ich mein kleines zerebrales Missgeschick hatte.«

»Schlaganfall, ja? Also mir wurde gesagt, Sie grölen hier rum und sind rattentütendicht.« Smelly Jones war wohl weniger zartbesaitet, als sie aussah.

»Ich hab mir bloß einen Kleinen genehmigt.« Eine Flasche, genauer gesagt – aber es ist unklug, Fliegenden Helfern mit Mengenangaben zu kommen. Es wäre auch unklug, auf stocknüchtern zu plädieren, wenn man nach algerischem Fusel stinkt und aufstehunfähig im Eingang einer Buchhandlung rumsumpft. »Mir war kalt«, fuhr ich fort, »aber vielleicht sollte ich heutzutage lieber gar nichts mehr trinken. Schon der kleinste Schluck scheint meinen Gleichgewichtssinn und mein Sprechvermögen zu beeinträchtigen.«

»Wenn bei Ihrem Schlaganfall dieselben Hirnzentren betroffen waren, sollten Sie wirklich aufhören.«

»Und dabei empfehlen die Ärzte doch moderaten Rotweingenuss, um Schlaganfällen vorzubeugen.«

»Oh, bit-te«, seufzte Elektra.

»Schön«, sagte Moany, »ich geb Ihnen mal ein Faltblatt über Alkoholmissbrauch mit. Davon abgesehen: Haben Sie einen Schlafplatz für heute Nacht und genug Geld, um ihn zu bezahlen? Oder soll ich eine Aufnahme ins Krankenhaus und ein Gutachten arrangieren?«

»Es gibt ein prima Frauendreibettzimmer im St. Christopher’s Inn in Euston«, ich sprach jedes Wort extra deutlich aus. »Und mein Penngeld hab ich auch zusammen. Mir geht es bestens, danke der Nachfrage.«

»Im St. Christopher’s haben sie was gegen mich«, wandte Elektra ein.

»Ach was, Unsinn«, sagte ich und durchsuchte alle meine Taschen. Ein Wunder: Ich hatte tatsächlich Geld. Ich hatte es nicht weggeworfen, und niemand hatte mich ausgeraubt.

»Im St. Christopher’s sind Hunde gar nicht gestattet.« Elektra kann manchmal ein dermaßen stures Luder sein.

»Aber da gehen wir jetzt hin, also finde dich damit ab.«

»Entschuldigung?« Lemony klang säuerlich. »Haben Sie mich etwa gerade Luder genannt?«

»Ganz sicher nicht.« Ich rappelte mich äußerst behutsam hoch. Wenn man sich langsam genug bewegt, fällt man nicht so leicht um und verrät sich damit. »Mein Bein ist ganz steif, das alte Luder, vielleicht haben Sie mich darüber fluchen hören.« Ich beugte mich vor, nahm Elektras Gesicht zwischen meine Hände, sagte: »Still jetzt«, und küsste sie auf die Nase.

»Sie lieben diesen Hund wirklich«, bemerkte Wallaby Jo.

»Ich könnte ohne Elektra nicht leben.« Ich packte ihr Halsband und wir gingen ganz vorsichtig los.

»Warten Sie!«

»Was?«

»Ich dachte, Sie wollen zur Harrison Mews?«

»Wo ist das?«

»South Kensington, nicht weit vom Wissenschaftsmuseum.«

»Haben Sie ein Auto?«, fragte ich. »Sie könnten uns mit­nehmen.«

»Fordere dein Glück nicht heraus«, sagte Elektra. »Wenn du im geschlossenen Raum einmal ausatmest, weist sie dich ein.«

»Sollten Sie nicht zum St. Christopher’s Inn, bevor da die Tür abgeschlossen wird? Gehen Sie doch lieber morgen früh zur Harrison Mews.«

»Genau, genau, schlau die Frau«, sagte ich. »Gute Nacht, und noch mal danke, dass Sie extra vorbeigeschaut haben. Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen.«

Ich ging ganz langsam und auf einer kerzengeraden Linie davon. Mein Kopf fühlte sich unförmig an, aber von außen konnte man das bestimmt nicht sehen. Elektra wusste natürlich Bescheid, schließlich wurde sie mir von Feen gesandt, weiß alles und sieht alles. Aber zur Abwechslung hielt sie den Mund. Normalerweise ist sie die perfekte Gefährtin, nur manchmal wird sie spitzfindig. Ich wünschte, sie würde das lassen. Unvernünftig bin ich eigentlich nur, wenn ich unter unerträglichem Stress stehe. In so einer Lage sind Kritteleien von der besten Freundin wirklich das Letzte, was man braucht. Und wenn eine Begegnung mit dem Teufel vor der ­National Portrait Gallery nicht in die Kategorie unerträglicher Stress fällt, wüsste ich nicht, was sonst.

Algerischer Roter ist gut gegen alles, was mich plagt, es sei denn, das, was mich plagt, ist algerischer Roter.

Wir wanderten nordwärts Richtung Euston, bis ich sicher war, dass wir uns außerhalb des Luftraums der Fliegenden Helfer befanden. Dann schwenkte ich nach links. Elektra sprach nicht mehr mit mir, aber sie humpelte.

Ich blieb stehen und setzte mich. Sie legte sich hin, bettete ihren Kopf in meinen Schoß und schlief augenblicklich ein. Sie ist ein Hund – sie schläft, wenn sie erschöpft ist. Macht einfach die Augen zu und ist weg. Ich wünschte, ich wäre ein Hund.

Kapitel 4

Gequält von Joss, Bier und Eifersucht

Manchmal schlafe ich aber auch wie ein Hund. Und manchmal schlafe ich draußen besser als drinnen. Statt erst mühselig die Bettpfosten in die Schuhe zu stellen und sich sorgsam auf sein Geld zu legen, damit einem keiner was stehlen kann, rollt man sich einfach in einem Hauseingang zusammen. Du denkst, du gönnst deinen geplagten Füßen zwanzig Minuten Pause, und das Nächste, was du mitkriegst, ist Tageslicht und dass dir jemand auf die Schulter tippt und dir ­einen Pappbecher mit heißem, süßem Kaffee in die Hand drückt. Ein ganz normaler Typ auf dem Weg zur Arbeit schenkte mir seinen Kaffee und ging weiter, bevor ich danke sagen konnte. Manchmal sind Leute so reizend, dass ich heulen könnte.

Wir wanderten westwärts zum Hyde Park, wo ich die öffentliche Toilette benutzen und Elektra das Gras unter ihren Pfoten fühlen konnte. Sie liebt das. Sie trank aus dem See, stromerte zwischen den Bäumen herum und las die Nachrichten, die andere Hunde hinterlassen hatten. Ein Spaziergang im Park ist für sie wie für mich eine druckfrische Zeitung.

In einem Papierkorb entdeckte ich ein beinahe unberührtes Päckchen Käsesandwiches und teilte sie mir mit Elektra. Es war ein strahlender Morgen – spendierter Kaffee, kostenlose Stullen und kaum Kopfweh. Ich hatte Schlimmeres erwartet. Ich hatte Schlimmeres verdient.

Ich trug sechsundzwanzig Pfund und siebenundvierzig Pence mit mir herum, verteilt auf alle möglichen Taschen. Alleine im Park hatte ich Gelegenheit, es zu zählen und das meiste davon direkt am Körper zu verstecken. Griffbereit blieb nur, was ich brauchte, um in den nächsten Stunden über die Runden zu kommen. Ich versprach mir und Elektra, dass ich bis zum Nachmittag keinen algerischen Roten kaufen würde.

Ich wollte nach South Kensington, und South Kensington gehört nicht zu meinem Revier. Meine Gegend ist das West End, wo alle Touristen hingehen. Es ist trubelig, vollgemüllt, und es gibt jede Menge rund um die Uhr geöffnete Burgerläden – ein Stadtteil der unbegrenzten Möglichkeiten. Um nach South Kensington zu kommen, muss man die Viertel Belgravia und Knightsbridge umgehen, denn da wohnen die ganzen feinen Pinkel, und feine Pinkel wollen mich und Elektra nicht vor ihren millionenschweren Hütten sehen. Und sie geben auch nichts auf die Annehmlichkeiten, die das Leben erst möglich machen, wie Tag-und-Nacht-Supermärkte und öffentliche ­Toiletten.

Es war ein schöner grauer Tag für die von uns, die draußen leben – keine Sonne, kein Wind, kein Regen. Leute, die sich auf knallheiße Sonnentage freuen, sollten sich klarmachen, dass das für unsereins fast so schlimm ist wie Schnee, wir können nämlich beidem nicht entrinnen.

Jetzt aber stellte sich das Problem der Harrison Mews. Ich konnte da nicht einfach rumhängen. Es handelte sich um ein kopfsteingepflastertes kleines Bühnenbild von Sackgasse mit schnuckeligen Reihenhäuschen, die Fassaden berankt mit Blauregen und blühender Clematis.

»Wir sind angeschissen«, erklärte ich Elektra. »Die haben hier nicht mal Mülltonnen, hinter denen man sich verstecken kann. Die Leute hier sind ja so exquisit – ich wette, es dauert keine fünf Minuten, bis irgendwer ein Dienstmädchen rausschickt, um zu überprüfen, was wir hier wollen.«

Elektra starrte erstaunt einen kleinen Steinlöwen an, den Mr. und Mrs. Exquisit von Harrison Mews vor einem Häuschen mit gelber Tür auf der Kante einer Pferdetränke platziert hatten. Mews, das sind die Gässchen der ehemaligen Stallungen. Es gibt nichts Rustikaleres als eine Mews mitten im Herzen Londons.

Gram Attwood ist gestern Abend hierher gefahren, dachte ich. Vielleicht schläft er jetzt in einem dieser Häuschen. Liegt ausgestreckt auf dem Rücken, suhlt sich breit in der Mitte ihres Betts, so wie früher in Acton, als er unter meiner Daunendecke schlief. Er lag immer so da, Kehle und Brust entblößt, Bauch und Genitalien ungeschützt. Offenbar hat er von mir nie eine Attacke befürchtet. Nein, der Teufel fürchtet keine Attacken.

Ich schlafe nie mehr auf dem Rücken, und ich kenne niemanden mehr, der das tut. Jeder, den ich kenne, krümmt sich wie ein Gürteltier schützend über seine Weichteile und ­Besitztümer.

Im Song heißt es: »When you got nothin’ you got nothin’ to lose – wenn du nichts hast, hast du nichts zu verlieren«, aber das hat ein Typ geschrieben, der das Prinzip nicht versteht. Es gibt immer etwas zu verteidigen, und seien es nur deine Weichteile oder dein Recht darauf, keinen Schmerz zu empfinden.

Gram Attwood hingegen kann ohne Angst schlafen. Macht euch das bitte klar, bevor ihr mir Vorträge über Redlichkeit haltet. Er hat Reiche und Arme bestohlen und mich dann beschwatzt, die Schuld auf mich zu nehmen. Warum? Weil, wie er mir versicherte, ich keine Vorstrafen hatte und folglich nicht ins Gefängnis kommen würde. Ich war eine respektable Vierzigjährige, bis dato ein unbescholtener Charakter, mit einem Eigenheim und einer kranken Mutter, die Pflege brauchte. Ja, ich war Hausbesitzerin, und Angestellte einer Bausparkasse. Ich hatte eine Vertrauensposition inne, und genau das wurde mir zum Verhängnis – ich hatte so viele Erwartungen enttäuscht. Ich war noch viel schlimmer als ein Dieb: Ich war eine schlechte Frau. Es gibt nichts Schändlicheres. Also wurde ich selbstredend ins Gefängnis gesteckt – wie ihm von vorn­herein klar gewesen sein muss.

Doch Gram Attwood kann auf dem Rücken schlafen, ohne seine Weichteile zu schützen.

Sogar seine Geschichte von der Vorstrafe erwies sich im Nachhinein als dreckige Lüge. Dabei hatte er echte Tränen geweint, als er mir erzählte, wie ihn eine jugendliche Unbedachtheit in den Knast gebracht hatte. Als er mich anflehte, mich seiner zu erbarmen.

Der Teufel weint salzige Tränen und kann angstfrei auf dem Rücken pennen.

In den letzten vier Jahren hatte er keine Falte und kein graues Haar bekommen. Er war offenbar gehätschelt worden. Wie viele Frauen, fragte ich mich, haben ihm Kleidung und Schuhe gekauft, ihm das Bett frisch bezogen und frische Handtücher bereitgelegt? Haben sie ihm Kaffee und Champagner serviert, so wie ich? Wissen sie auch, dass er keine Pilze mag?

Elektra winselte leise. Meine Hand war in ihren Nacken verkrampft – eine geballte Faust. Ich ließ sie los und spürte meine Finger schmerzen.

»Ich brauch was zu trinken«, sagte ich.

Elektra leckte rasch über meinen Daumen – so behutsam, dass ich die Botschaft fast nicht mitbekam. Ich ­blickte in diese großen Topasaugen, die mir sagten: »Du hast es versprochen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Aber was soll ich mit dieser Wut machen?«

»Was meckerst du schon wieder?«, fragte Joss. »Ständig bist du am Rummeckern. Die Leute halten dich schon für völlig bekloppt.«

»Was machst du denn hier?«

»Du hast uns doch davon erzählt. Ich wollt mir das mal ansehen. Du sollst ’n guten Schnapp nicht einfach für dich behalten. Wir sind doch Kumpels, oder?«

»Und wo ist Georgie?«

»Kensal Rise. Er denkt, du bist da. Wir haben gewettet. Egal, vergiss ihn.« Joss trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Offenbar hatten sie sich gestern Abend gestritten. Georgie macht ihn wahnsinnig, aber ohne ihn ist er aufgeschmissen.

»Fette Beute?« Joss spähte in die kleine Mews, sah die niedlichen, makellos gepflegten Reihenhäuschen. Dann betrachtete er die grandiosen viktorianischen Fassaden der Harrison Road. »Was steckt dahinter?«, fragte er. »Was suchen wir hier?«

»Ich weiß, was ich hier suche«, sagte ich, »dich hab ich nicht eingeladen.«

»Richtig, hast du nicht.« Seine Züge verfinsterten sich misstrauisch. Er ging ein paar Schritte in die Mews hinein und starrte durch seine strähnigen langen Haare auf die Pflastersteine.

Ihr würdet nie denken, dass er erst vierundzwanzig ist  – mit den Haaren und dem Bart sieht er aus wie fünfzig.

»Hier gibt’s also keine neue Mission, sagst du? Tja, wär auch ’n schräger Platz für ’ne Mission. Was dann? Schmeißt hier jemand Zeug raus, das man verscherbeln kann?« Plötzlich schnellte er herum und hielt sein Gesicht ganz dicht vor meins. Ich roch Cornflakes und sein erstes Bier. »Warum lässt du uns außen vor?«, zischte er. »So was gehört sich nicht unter Kameraden.«

Elektra winselte. Ich machte einen Schritt rückwärts. »So ist das nicht. Ich hab nur gestern Abend einen alten ... ich hab jemanden gesehen, den ich mal kannte.«

»Einen Reichen? Von früher? Siehste, ich hab ja immer gesagt, du bist keine von uns. Du kommst aus besseren Kreisen, du. Ich hab’s Georgie gleich gesagt, ich sag, eines Tages geht sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Dann hängt sie bei ihren reichen Freunden ab und vergisst uns alle.«

»Hör auf zu brüllen«, sagte ich. »Sonst ruft noch jemand die Bullen.«

»Kameraden halten zusammen«, knurrte er. Und ich musste an eine Geschichte denken, die mir jemand erzählt hatte. Joss war früher bei den Leergutsammlern gewesen und hatte einen anderen Obdachlosen übel zusammengeschlagen, weil er sein Territorium bedroht glaubte. Das war, bevor er Georgie begegnet und etwas zur Ruhe gekommen war. Aber paranoid war er immer noch – das sah ich deutlich.

»Magst du ’n Kaffee?«, fragte ich. »Ich geb einen aus.« Ich musste später wiederkommen, allein. Joss machte mich zu auffällig und verdächtig.

»Was ist denn nun mit deinem alten Freund?«

»Ich glaube nicht, dass jemand, der hier wohnt, ein Wiedersehen mit mir möchte. Ich hätte gar nicht herkommen sollen.«

»Ich will keinen Kaffee«, sagte er. »Aber ich könnt ’ne Dose Special Brew vernichten.«

Ich sah Elektra an. »Tut mir leid«, sagte ich. »Dafür kann ich jetzt nichts.«

Mit unbeirrbarem Instinkt startete er durch zum nächsten Getränkemarkt. Er ging schnell. Ich schleppte meinen Rucksack und meine Schlafrolle und folgte ihm langsamer. So konnte ich mich umdrehen und noch mal einen Blick in die Mews werfen, und da sah ich die Frau von gestern Abend aus dem Haus mit der gelben Tür kommen. Sie spähte prüfend in ihre Handtasche – eine echte Louis-Dingsbums-Handtasche –, dann eilte sie zur Ecke Harrison Road. Dort hielt jemand, den ich nicht sehen konnte, in einem sexy knallroten deutschen Auto, ließ sie einsteigen und fuhr los.

Es ist ihr Haus, dachte ich. Natürlich ist es ihr Haus. Ich hatte exakt genau so in meine Handtasche geguckt, wenn ich morgens zur Arbeit aufbrach, um mich zu vergewissern, dass ich die Schlüssel dabeihatte. Als ich noch eine Handtasche hatte, und ein Haus und einen Job. Und wie sie hatte auch ich immer noch einen Blick hoch zum Schlafzimmerfenster geworfen, wo Gram in der ­Mitte meines Bettes weiterschlief.

Ich könnte eine Zeitung mit Alkohol tränken, sie anzünden und durch den Briefschlitz in der gelben Tür stopfen. Wenn Gram dann hustend und würgend vom Qualm aus dem Haus getaumelt kam, könnte ich ihm auflauern und einen Gullydeckel über den Schädel ziehen.

»Scheiße, willst du jetzt was trinken oder nicht?«, brüllte Joss. Elektra ging noch langsamer und machte ein bedrücktes Gesicht. Sie weiß, was ich denke.

»Ich bin stinkwütend«, erklärte ich ihr leise. »Denn wenn der Teufel mich nicht so in die Scheiße geritten hätte, wäre meine Mutter noch am Leben.«

Elektra starrte mich mit kummervollen Augen an, und ich wusste, ich hatte ihr Mitgefühl.

»Hast du Geld?« Joss blieb so plötzlich stehen, dass ich fast in ihn hineinlief.

»Nicht viel«, sagte ich. Man darf ihm nie sagen, wie viel man hat, sonst hat man ihn am Hals und wird ihn nicht los, bis alles ausgegeben ist. In diesem Punkt besitzt er durchaus Ähnlichkeit mit Gram Attwood.

Wir warfen zusammen und kauften ein Sixpack Special Brew. Es ist ja kein algerischer Roter, dachte ich, also breche ich mein Versprechen nicht direkt. Bier ist durstlöschender als Wein, aber es bläht einen fürchterlich auf. Und dann stellt sich die Frage, wo hinpinkeln, das ist das andere Problem bei Bier. Joss kann das in der Unterführung erledigen, ich nicht. Welche Getränke man verträgt und wo man pinkeln kann, das gehört zu den Kenntnissen, die ich mir auf die harte Tour angeeignet habe. Deswegen bleibe ich auch lieber in meinem Revier. In South Kensington bin ich aufgeschmissen.

Als ich endlich an der U-Bahn-Station Gloucester Road ein öffentliches Klo fand, war ich fast am Platzen. Ich hasse den Pipigestank, trotzdem blieb ich endlos drin. Ich hoffte, dass Joss das Warten sattbekam und sich trollte. Immerhin hatte ich das Örtchen ganz für mich, denn jede Frau, die reinkam, warf einen Blick auf mich und war sofort wieder draußen. Der dreckfleckige Spiegel zeigte mir warum: Unter ­etlichen Schichten Kleidung, mit meiner Schlafrolle und meinem Rucksack wirke ich unförmig. Ein buckliger grober Klotz. Mein Gesicht ist bläulich-violett vor geplatzten Äderchen und vom Wetter. Das angegraute Haar, das nach allen Seiten aus meinem Wollhut quillt, ist ein wüster krauser Filz. Bis vor vier Jahren ging ich alle fünf bis sechs Wochen zum Frisör. Für mein Erscheinen vor Gericht ließ ich mir Stufen schneiden und helle und dunkle Strähnchen machen – als könnte mich retten, dass ich gut aussah. Aber Frauen geraten immer dann in die größten Schwierigkeiten, wenn sie am besten aussehen. Ich begegnete Gram Attwood, als ich am allerbesten aussah. Diese Art von Scherereien bleibt mir heutzutage garantiert erspart.

Ich konnte nicht anders. Ich flennte wie ein Kleinkind. Das passiert mir oft, wenn ich blöd genug bin, einen verstohlenen Blick in einen Spiegel zu werfen.

»Hunde werden doch auch nicht hässlich vom Altern«, heulte ich Elektra vor. »Warum dann ich? Weil ich mich um dich besser kümmere als um mich?«

»Zieh mich da nicht mit rein«, sagte sie. Ihre Bernsteinaugen sind schöner als die jedes Supermodels. Sie stand auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten auf dem Waschbeckenrand, und ich gab ihr aus dem laufenden Wasserhahn zu trinken. Warum kriegen Greyhounds keine Tränensäcke?

»Das machen die reinen Gedanken«, sagte sie. »Ich kenne keinen Hass, keine Wut, nur Liebe.«

»Ach, halt die Schnauze«, sagte ich, und wir schritten hinaus in den steingrauen Nachmittag.

Da stand Joss mit einem Mann, der ihn umkreiste wie ein Geier und zischte: »Ich sollte dir deine hässlichen scheiß Zähne in den Hals treten. Das ist nicht dein Platz, du Kinderficker.«

»Komm doch, trau dich!«, brüllte Joss. »Wen nennst du Kinderficker, Arschloch?«

Beide fuhren blind ihr krankes Programm ab. Das ist das, was bestimmte Typen im Knast lernen, und es soll dem Gegner sagen: Ich kann mehr Schmerz wegstecken und mehr austeilen als du, weil ich noch wahnsinniger bin als du.

Der Anblick von zwei Obdachlosen, die einander wegen ­eines schmalen Streifens vom Gehweg einzuschüchtern suchen, zog mich so runter, dass ich die Gloucester Road verließ und versuchte, zur Harrison Mews zurückzufinden. Schaffte ich das? Man könnte meinen, ich wär im Raum-Zeit-Kontinuum verloren gegangen. Ich konnte nicht mal die Harrison Road finden, ganz zu schweigen von dieser verdammten Mews.

»Ich bin doch gar nicht so ...«

»Was? Durchgeknallt und fertig?«, versetzte Elektra. »Mach dir nichts vor.«

»Na, dann finde du