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This volume is devoted to the internationally recognized scientific method of evidence-based nursing (EBN). This is a method that stands at the interface between nursing practice and nursing science and thus represents a central area of competence for university-trained nurses. The volume will enable students to transfer scientific findings methodically into the field of nursing, by presenting the individual steps of the method and providing practical procedural instructions in the form of practical examples. The use of learning and reflection tasks makes it easier to understand the importance of the EBN method.
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Seitenzahl: 302
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Bachelor Pflegestudium
Hrsg. von Christa Büker und Julia Lademann
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Die Autorin, der Autor
Prof. Dr. Änne-Dörte Latteck, Professorin für Pflegewissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld.
Prof. Dr. Norbert Seidl, Professor für Pflegewissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034286-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-034287-3
epub: ISBN 978-3-17-034288-0
1 Evidence-basierte Pflege – eine Einführung
Praxisbeispiel
1.1 Entstehung und Begriffsbestimmung von evidence-basierter Pflegepraxis
1.1.1 Gesetzliche Grundlagen für eine evidence-basierte Pflegepraxis
1.1.2 Die historische Entwicklung der evidence-basierten Pflege
1.1.3 Drei Konzepte des Evidence-based Nursing
1.1.4 Begriffsbestimmung EBN
1.1.5 Der Begriff Evidence
1.2 Ziel des Konzepts Evidence-based Nursing
1.3 Bedeutung evidence-basierten Pflegehandelns für ein professionelles Pflegehandeln
1.3.1 Beschreibung von professionellem Handeln
1.3.2 Das EBN-Konzept und der Pflegeprozess
1.3.3 Die Wirkung von evidence-basierter Pflege auf den Prozess der Professionalisierung
1.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konzepten Research Utilization und EBN
1.4.1 Research Utilization
1.4.2 Research Utilization und EBN
1.5 Die Wirksamkeit von evidence-basierter Pflege
1.5.1 Verbesserung von Ergebnissen für Pflegebedürftige
1.5.2 Wirksamkeit von Forschungsergebnissen und Theorie-Praxis-Transfer
1.5.3 EBN als komplexe Intervention
1.5.4 Implementierung von EBN
1.6 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
2 Pflegerische Entscheidungen
Praxisbeispiel
2.1 Wissensformen für pflegerisches Fachwissen
2.2 Pflegerische Entscheidungen als Problemlösung
2.3 Vier Komponenten der pflegerischen Entscheidung im EBN-Konzept
2.3.1 Interne Evidence: Expertise der Pflegenden und Ziele, Vorstellungen, Präferenzen der Pflegebedürftigen
2.3.2 Externe Evidence
2.3.3 Ökonomische Anreize und Vorschriften
2.4 Das Arbeitsbündnis zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen
2.5 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
3 Einführung in die Inhalte des EBN-Konzeptes
Praxisbeispiel
3.1 Die sechs Phasen des EBN-Konzeptes
3.1.1 Klärung der Aufgabenstellung
3.1.2 Formulierung einer präzisen Fragestellung
3.1.3 Literaturrecherche
3.1.4 Kritische Beurteilung der Studien
3.1.5 Veränderung der Pflegepraxis
3.1.6 Evaluation
3.1.7 EBN-Konzept mit Vorphase und Ergebnisverbreitung
3.2 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
4 Auftragsklärung in der Begegnung
Praxisbeispiel
4.1 Auftraggeber
4.2 Bedeutung der Auftragsklärung
4.3 Auftragsklärung mit dem Pflegebedürftigen als Aufbau interner Evidence
4.3.1 Informationsasymmetrie
4.3.2 Angstasymmetrie
4.4 Caring als Grundlage zur Auftragsklärung in der Begegnung
4.5 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
5 Problemformulierung
Praxisbeispiel
5.1 Identifikation von pflegerelevanten Problemen
5.2 Vom PIKE-Schema zur Fragestellung
5.3 Problemlage und Ableitung der Fragestellung
5.4 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
6 Literaturrecherche
Praxisbeispiel
6.1 Von der Fragestellung zur Recherchematrix
6.1.1 Wissensquellen
6.1.2 Auffinden bester verfügbarer externer Evidence
6.2 Die Bedeutung und Nutzung von Datenbanken für professionelles Pflegehandeln
6.2.1 Wissenschaftliche Zeitschriften zu Evidence-based Nursing
6.2.2 Relevante Datenbanken für die Recherche externer Evidence
6.3 Literaturrecherche
6.4 Schritte der Literaturrecherche in Fachdatenbanken
6.4.1 Festlegung des Rechercheprinzips
6.4.2 Operationalisierung der Fragestellung
6.4.3 Identifikation von Suchbegriffen und Schlagworten
6.4.4 Festlegung der Datenbanken
6.4.5 Entwicklung der Suchstrategie
6.4.6 Durchführung der Literaturrecherche
6.4.7 Dokumentation wesentlicher Schritte und Erkenntnisse
6.5 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
7 Literaturauswertung und kritische Beurteilung von Studien
Praxisbeispiel
7.1 Kritische Beurteilung von Studien
7.2 Evidencehierarchie
7.3 Quantitativer Forschungsansatz
7.4 Qualitativer Forschungsansatz
7.5 Qualitative Forschungsdesigns
7.5.1 Phänomenologie
7.5.2 Grounded Theory
7.5.3 Ethnografie
7.5.4 Objektive Hermeneutik
7.5.5 Weitere Designs
7.6 Quantitative Forschungsdesigns
7.6.1 Randomisierte kontrollierte Studie
7.6.2 Kontrollierte klinische Studie
7.6.3 Kohortenstudie
7.6.4 Fall-Kontroll-Studie
7.6.5 Querschnitt- und Längsschnittstudie
7.6.6 Vorher-Nachher-Studie
7.6.7 Systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen
7.6.8 Leitlinien
7.6.9 Diagnostikstudien
7.7 Methoden der Datenerhebung
7.7.1 Interview
7.7.2 Beobachtung
7.7.3 Inhalts- und Dokumentenanalyse
7.7.4 Fragebogen
7.8 Beurteilung von qualitativen und quantitativen Studien
7.8.1 Beurteilung qualitativer Studien
7.8.2 Beurteilung von Interventionsstudien
7.8.3 Beurteilung einer systematischen Übersichtsarbeit oder Meta-Analyse
7.8.4 Beurteilung einer Diagnostikstudie
7.9 Studien nach ihrer Evidence einordnen
7.10 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
8 Implementierung und Adaption
Praxisbeispiel
8.1 Die pflegerische Entscheidung
8.2 Veränderung der Pflegepraxis
8.3 Implementierung von evidence-basiertem Pflegehandeln in die Praxis
8.4 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
9 Evaluation und Wirkung
Praxisbeispiel
9.1 Beurteilung der Wirksamkeit
9.2 Von den Erwartungen zur Beurteilung der Wirksamkeit
9.2.1 Das Ergebnis ist wie erwartet bzw. ist nicht wie erwartet eingetreten
9.2.2 Das Ergebnis ist wie erwartet, aber es entspricht nicht mehr den Bedarfen des Pflegebedürftigen
9.2.3 Das Ergebnis ist wie erwartet, aber es gibt aktuellere Studien, die eine andere Intervention präferieren
9.2.4 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität
9.3 Fazit
Literatur
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10 Möglichkeiten, Probleme und Grenzen evidence-basierten Pflegehandelns
Praxisbeispiel
10.1 Vom Einzelfall zur statistischen Wahrscheinlichkeit
10.2 Kritische Auseinandersetzung mit der EBN-Methode
10.2.1 Mangelnde Quantität und Qualität von Forschungsergebnissen
10.2.2 Reflexion des mit der EBN-Methode transportierten Wissenschaftsverständnisses
10.3 Fazit
Literatur
Zum Weiterlesen
Register
Ziel dieses ersten Kapitels ist es, ein allgemeines Bild des Konzepts »Evidence-based Nursing« zu vermitteln. Es steht an der Nahtstelle zwischen Pflegepraxis und Pflegewissenschaft und hat zum Ziel, die Wünsche und Bedürfnisse von Pflegebedürftigen, wissenschaftliche Erkenntnisse und das Erfahrungswissen von Pflegenden zugunsten einer wissenschaftsbasierten pflegerischen Handlungsweise zusammenzubringen.
Zunächst wird die wissenschaftliche Herkunft und Entstehung des Konzepts beschrieben. Diese ist abgeleitet aus der Methode Evidence-based Medicine (EBM) und wurde primär von Pflegewissenschaftler*innen auf die Pflege übertragen, modifiziert und erweitert. Im nächsten Abschnitt wird das mit Evidence-based Nursing verbundene Ziel dargelegt. Dies ist stark mit der Bedeutung verbunden, die das Konzept für die Gesundheitsversorgung, für den einzelnen Pflegebedürftigen oder das Pflegesystem, die handelnden Pflegekräfte und den Pflegeberuf einnimmt. Anschließend wird die potenzielle Bedeutung des Konzepts für ein zukünftiges professionelles Pflegehandeln thematisiert. Abschließend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener wissenschaftlicher Konzepte und Methoden zur Integration von Forschungswissen in pflegerisches Handeln vorgestellt. Dies soll einer Einordnung des Konzepts in den Kanon der bestehenden Konzepte ermöglichen.
Sie haben als Studierende Ihren zweiten mehrwöchigen praktischen Einsatz auf einer internistischen Station in einem Krankenhaus der Maximalversorgung. Hier werden Patient*innen mit einer koronaren Herzkrankheit behandelt. Zahlreiche Patient*innen erlitten einen Herzinfarkt, wurden kurzzeitig auf einer Intermediate Care Station betreut und wurden adäquat therapiert sowie pflegerisch versorgt.
Eines Morgens sind Sie für die Körperpflege eines Ihrer Patienten, Herrn Friedhelm Storck*, zuständig. Der Patient ist 63 Jahre alt, hatte vor fünf Tagen erstmalig einen mittelgroßen Hinterwandinfarkt. Sie unterstützen ihn bei der Körperpflege und zugleich unterhalten sie sich. Zunächst erzählt Herr Storck von seinen vernichtenden Schmerzen am frühen Morgen des Infarktereignisses. Im Gesprächsverlauf äußert er, dass ihm die Sauerstoffgabe über die Nasensonde sehr guttut und er den Eindruck hat, ihm werde das Atmen erleichtert. Er erzählt, bei der Visite habe der behandelnde Arzt gesagt, dass die Sauerstoffgabe beendet werden könnte. Nun fragt er, was Sie empfehlen. Sie haben dazu eher ein Gefühl, können aber noch nicht fachlich fundiert antworten, denn im Rahmen Ihres Studiums war das noch kein Thema. Sie wenden sich mit der Frage von Herrn Storck an Ihre Praxisanleiterin. Sie verweist auf verschiedene Positionen innerhalb des Pflegeteams. Es kommt zur Diskussion darüber, ob Herr Storck nach wissenschaftlichen Erkenntnissen von dem Sauerstoff profitiert oder ob er eher an einen Gewinn für seine Atmung glaubt. Man beschließt, dem Thema gründlich nachzugehen, und bittet eine Pflegewissenschaftlerin aus dem Haus um eine wissenschaftsbasierte Beantwortung der Frage. Die Pflegewissenschaftlerin kommt zu Ihnen auf Station und unterhält sich mit Herrn Storck. Sie befragt ihn zu seinen Bedürfnissen und Wünschen hinsichtlich der Atmung. Dann verlässt sie die Station mit den Worten: »Ich gehe mal recherchieren.« Nach wenigen Stunden informiert sie die Station dahingehend, dass in der aktuellen kardiologischen Leitlinie die Sauerstoffgabe nicht mehr empfohlen wird. Gemäß einer Meta-Analyse mit zahlreichen randomisierten Studien kann der Sauerstoff sogar schädigende Wirkung haben. Die Antwort beeindruckt Sie und Sie fragen die Pflegewissenschaftlerin, wie sie zu ihrer Antwort gekommen ist. Sie erzählt Ihnen, dass sie eine Stabsstelle zur Förderung der evidence-basierten Pflege bekleidet. Dieses Wort haben Sie schon mehrfach an der Hochschule gehört. Nun ist Ihr Interesse geweckt.
Zugleich erklärt sich Ihre Praxisanleiterin bereit, mit Herrn Storck über die Erkenntnisse zu sprechen. Beide vereinbaren, den Sauerstoff zeitweise auszustellen und nach ein paar Minuten die Atmungssituation bei Herrn Storck zu evaluieren.
*fiktiver Name
Evidence-based Nursing ist gesetzlich gefordert
Pflege und auch alle anderen Gesundheitsfachberufe müssen als Leistungsanbieter im Gesundheitssystem die Wirksamkeit ihres professionellen Handelns wissenschaftlich belegen. Dies müssen sie seit mehreren Jahren und zukünftig vermehrt.
Zudem unterliegen die Anforderungen an die Pflege einem steten gesellschaftlichen Wandel. Er ist assoziiert mit soziodemografischen Veränderungen wie der »Überalterung« und der Zunahme von chronischen Erkrankungen sowie von Multimorbidität. Dies geht mit einem erhöhten und veränderten Bedarf an pflegerischen Unterstützungsleistungen für Menschen mit einer Pflegebedürftigkeit einher. Zugleich befindet sich Pflege in einem Spannungsfeld mit weiteren Herausforderungen wie der Knappheit von Ressourcen, der Halbwertzeit von Wissen von ca. vier bis fünf Jahren oder dem Fachkräftemangel. Alles zusammen erfordert, neue Entwicklungen in das Berufsfeld aufzunehmen, um es kontinuierlich weiter zu entwickeln (Huckle 2008).
Mit der Etablierung von Pflegewissenschaft gehen Entwicklungen im Beruf einher. Sie basieren oftmals auf der Entwicklung und Einführung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und wissenschaftsbasierten Konzepten im Handlungsfeld der Pflege. Die Implementierung pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse in das Handlungsfeld der Pflege und damit in die »Praxis« erfolgt in zahlreichen Ländern mithilfe des Konzepts einer evidence-basierten Pflege. Es wird international zur Lösung von pflegerischen Problemen eingesetzt (Huckle 2008).
Die Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen und damit die Anforderungen an die Pflege finden über die Pflegewissenschaft hinaus auch ihren Niederschlag in aktuellen Gesetzgebungen.
Das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) in § 12 Abs. 1 Satz 1 und auch das Elfte Sozialgesetzbuch (SGB XI) in § 4 Abs. 3 fordern eine »wirksame und wirtschaftliche Pflege«. In § 135a (1) SGB V steht: »Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden.« Die Sozialgesetzgebung verpflichtet demnach die professionell Pflegenden dazu, Forschungsergebnisse in die Praxis zu übertragen, sie anzuwenden und ihre Wirksamkeit zu evaluieren (Thiel et al. 2001, S. 268). Hierfür sind einschlägige wissenschaftliche Konzepte und auch pflegerische Kompetenzen nötig.
Die seit 2003 noch gültigen Berufsgesetze für die drei Pflegeberufe und in ihrer Nachfolge das im Juli 2017 verabschiedete Pflegeberufegesetz schreiben als Ausbildungsziel für die hochschulische Pflegeausbildung einen Kompetenzerwerb zur »Steuerung und Gestaltung hochkomplexer Pflegeprozesse auf der Grundlage wissenschaftsbasierter oder wissenschaftsorientierter Entscheidungen« (Bundesgesetzblatt 07.2017; § 37 Abs. 3) vor. Der Gesetzgeber verbindet bereits mit der hochschulischen Ausbildung Kompetenzen, die zu einer wissenschaftsbasierten Handlungsweise in der Pflege führen sollen. Auf diese Weise sind hochschulisch ausgebildete Pflegende zu einem wissenschaftsbasierten Handeln zunächst verpflichtet als auch zuvor zu befähigen.
Die aufgeführten Gesetzgebungen formulieren die Notwendigkeit einer wissenschafts- und damit forschungsbasierten Praxis. Sie greifen gezielt systematisches – wissenschaftliches Wissen auf und verbinden damit eine Verbesserung der Versorgung von Pflegebedürftigen. Denn das Ziel der gesetzlichen Regelungen besteht darin, forschungsbasiertes Wissen und damit Forschungsergebnisse zu nutzen, um positive Pflegeergebnisse für die Empfänger von Pflege zu erzielen (Breimaier 2017). Auf Grundlage wissenschaftsbasierter Erkenntnisse pflegerisch zu Handeln ist entsprechend der Gesetzgebung ein Auftrag, den die Gesellschaft an die Angehörigen der Pflegeberufe richtet. In diesem Sinne ist Pflege für ein »State of the Art« ihrer Leistungen verantwortlich (Kleibel & Smoliner 2012, S. 27).
Pflege als Handlungswissenschaft zielt auf eine bestmögliche Versorgung von Personen oder Systemen, die pflegerischer Unterstützung bedürfen. Zentrale Fragen sind dabei, ob eine pflegerische Maßnahme einen Nutzen hat, eine positive Wirkung entfaltet, welchen Nutzen sie aufweist oder ob sie gar einer pflegebedürftigen Person schadet (Meyer & Köpke 2012, S. 38). Pflegerische Maßnahmen sollten im Normalfall wissenschaftlich als wirksam belegt sein. An dieser Nahtstelle knüpft das Konzept der evidence-basierten Pflege an. Es zielt darauf, forschungsbasiertes Wissen für die Pflegepraxis nutzbar zu machen und die Handlungsoptionen für Pflegende zu erweitern sowie die pflegerischen Maßnahmen hinsichtlich ihres Wertes zu evaluieren (Thiel et al. 2001, S. 270).
Das Konzept evidence-basierter Pflege kann methodisch einen essenziellen Beitrag zur Lösung des Theorie-Praxis-Transfers leisten, weil es einen Weg zur Vereinbarkeit von forschungsbasierter Praxis in einer Zeit offeriert, die sowohl von Informationsflut und Wirtschaftlichkeit als auch von Zeitnot professionell Pflegender gekennzeichnet ist (Panfil 2005, S. 457). Mit der Konzeptumsetzung in die Praxis ist die allgemeine Erwartung verbunden, neues wissenschaftliches Wissen zu verbreiten und damit verbesserte Patient*innenergebnisse und eine hohe Betreuungsqualität zu erreichen (Smoliner et al. 2008, S. 288). In diesem Sinne ist die Forderung nach einer evidence-basierten Handlungsweise in der Pflege eine Möglichkeit, den verschiedenen aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen (z. B. nach Effizienz) zu begegnen (Hahn et al. 2012, S. 65). Die Diskussion über die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis (Research Utilization) existiert, seit es Pflegewissenschaft gibt, d. h. seit mehreren Jahrzehnten. Dank des Konzeptes Evidence-based Nursing gibt es nun ein methodisch geordnetes Vorgehen mit einem populären Begriff (Mayer 2004, S. 70). Es stellt einen Paradigmenwechsel dar, etablierte traditionelle pflegerische Entscheidungen für das weite pflegerische Handlungsfeld zugunsten wissenschaftsbasierten Handelns abzulösen (Galgon 2006, S. 286).
EBN – eine Erfolgsgeschichte
Seit 1999 wird im deutschsprachigen Raum das Konzept von Evidence-based Practice (EbP) oder Evidence-based Nursing (EBN) beschrieben. Es gilt in der modernen Pflegepraxis als grundlegend und wird in der Wissenschaft vielschichtig diskutiert (Thiel et al. 2001, S. 268; Köpke et al. 2013, S. 163). Es ist damit ein relativ junges und zugleich sehr erfolgreiches Konzept, das sowohl inhaltlich als auch zeitlich und international eine beachtliche Entwicklung genommen hat (Gross 2004, S. 196; Panfil 2005, S. 457). Beispielsweise wurden bereits in den drei Jahren von 2000–2003 über 850 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema Evidence-based Nursing im angelsächsischen Raum publiziert. Sie beinhalten primär eine Beschreibung des Konzepts und seines potenziellen Wertes für die klinische Praxis sowie die Strategien für eine Implementierung in die Praxis (Hallas & Melnyk 2003). Estabrooks (1998) spricht von »evidence-based movement«, die sich in der Pflege- und den Gesundheitsberufen generell zu einer Wachstumsbranche entwickelte.
Das Konzept der evidence-basierten Pflege beruht sowohl auf der Übernahme des Konzeptes Evidence-based Medicine des kanadischen Epidemiologen David Sackett als auch auf der Übernahme aus der englischsprachigen pflegewissenschaftlichen Literatur in die deutsche Pflegelandschaft. Dies wird nachstehend näher erläutert.
Bereits in den 1970er-Jahren wurden, ausgehend von der Wissenschaft, Initiativen zur Verbesserung der Patient*innenversorgung und zur Fokussierung auf Forschungsergebnisse für die pflegerische und ärztliche Praxis durchgeführt. Dies führte zu einer signifikant besseren Nutzung von Forschungsergebnissen in der Praxis. Im Lauf des nachfolgenden Jahrzehnts wurde die Sichtbarkeit und Finanzierung für pflegerische und ärztliche Ausbildung, Forschung und die Verbindung zu besseren Patient*innenergebnissen aufgezeigt sowie weiterentwickelt. Einen Meilenstein zur Entwicklung von Evidence-based Medicine lieferte der Epidemiologe Archie Cochrane von der Oxford University, indem er eine Hierarchie wissenschaftlichen Wissens aufstelle. Darin haben beispielsweise randomisierte kontrollierte Studien eine höhere wissenschaftliche Qualität als Einzelfallstudien. Er begründete zugleich die Cochrane-Bewegung (heute Cochrane Collaborative). Das übergeordnete Ziel bestand darin, den klinisch Tätigen eine bessere Entscheidungsfindung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse – u. a. zusammengefasst in wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten – zu ermöglichen (Zimmermann 2017). Cochrane vertrat die Ansicht, dass Gesundheitsleistungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Beweise, nicht anhand des klinischen Eindrucks bewertet werden sollten. Darüber hinaus argumentierte er, dass bestimmte Formen von Studien (z. B. randomisierte kontrollierte Studien) geeigneter seien als andere, um eine effektive Maßnahme wissenschaftlich zu begründen. Cochranes innovative Ideen, die Forschung zu bestimmten Themen zusammenzubringen, zu synthetisieren und für die klinische Praxis verfügbar zu machen, prägten maßgeblich die Entstehung von Evidence-based Medicine. In Cochrane Collaboration Centers arbeiten heutzutage weltweit Wissenschaftler*innen und Angehörige des Gesundheitsversorgungssystems an der Erstellung und Verbreitung aktuellen Wissens, vorzugsweise in systematischen Übersichtsarbeiten (Panfil & Wurster 2005).
Mitte der 1990er-Jahre entwickelte Sackett mit Kollegen an der McMaster University in der Faculty of Health Sciences in Hamilton, Kanada, unter Nutzung von Kenntnissen aus der Epidemiologie und Biostatistik sowie unter Einbezug der genannten systematischen Bewertung von Studien das Konzept von Evidence-based Medicine (EbM) (Panfil 2005, S. 457). Es wurde als praxisorientierte klinische Lernstrategie für Studierende konzipiert (Galgon 2006, S. 285). Als solches ist es ein pädagogisches Konzept, dessen Grundlage das lebenslange Lernen bildet. Sackett und Kolleg*innen ging es damals u. a. darum, aussagekräftige Therapievergleiche tätigen zu können, folgenschwere Trugschlüsse in der Patient*innenversorgung zu vermeiden und unabhängig von Meinungsbildner*innen und eingefahrenen Routinen den Patient*innen eine bestmögliche Behandlung anzubieten (Meyer et al. 2014, S. 196). Das Konzept überwand den damaligen Theorie-Praxis-Konflikt in der Medizin. Es führt die produzierten wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Anwendung dieses Wissens durch Ärzt*innen in der Versorgung von Patient*innen zusammen. Im Vordergrund steht das zentrale Ziel, die Versorgungsqualität zu verbessern (Gross 2004, S. 197).
Sackett und Kollegen beschreiben Evidence-based Medicine als Problemlösungsprozess in mehreren Schritten (Thiel et al. 2001, S. 268). Sie definieren:
»Evidence-based Medicine is the conscientious, explicit and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence-based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research« (Sackett et al. 1996, S. 71).
Kanadische und angelsächsische Pflegewissenschaftler*innen, vornehmlich von der McMaster University in Kanada und der University of York in England, erkannten das Potenzial des Konzepts und übertrugen die Inhalte von Evidence-based Medicine auf die Pflege und passten es an die Bedingungen der Pflege – beispielsweise mit dem Einbezug der Wünsche und Bedürfnisse von Patient*innen – an (Gross 2004, S. 197). 1997 wurde an der University of York das erste europäische Zentrum für Evidence-based Nursing gegründet und 1998 erschien im ersten Jahrgang das Journal »Evidence-based Nursing«. Im deutschsprachigen Raum haben Behrens und Langer sehr erfolgreich das Konzept von Evidence-based Nursing and Caring eingeführt. Dazu gehören sowohl wegweisende Buchpublikationen als auch 1998 die Gründung des German Center for Evidence-based Nursing »sapere aude« an der Universität Halle-Wittenberg (Panfil 2005, S. 458). Es war das erste Zentrum auf europäischem Festland, nachdem ausgehend vom Vereinigten Königreich bereits in Australien und den USA Netzwerke und Zentren gegründet worden waren (Behrens 2012, S. 87). Zentrale Aufgaben der nationalen Zentren sind die gezielte Förderung der Aus- und Weiterbildung von EBN-Nachwuchs, die Förderung eines professionellen Umfeldes für eine evidence-basierte Praxis in allen Handlungsfeldern und die Zusammenarbeit mit anderen Zentren in anderen Ländern sowie von anderen Disziplinen.
Auch der Publikations- und Weiterbildungsmarkt zu dem Konzept des Evidence-based Nursing and Caring hat stark an Dynamik gewonnen und das Konzept selbst wird im Rahmen des Theorie-Praxis-Transfers überwiegend positiv in den pflegewissenschaftlichen Publikationen bewertet (Panfil 2005, S. 463).
Evidence-based Practice
Die ursprüngliche Definition von Evidence-based Medicine wurde auch von zahlreichen anderen Gesundheitsprofessionen als das Konzept der Evidence-based Practice weiterentwickelt und für den originären Gegenstandsbereich der jeweiligen Disziplin adaptiert. Die Bezeichnung »Evidence-based« im Kontext von Medizin, Pflege, anderen Gesundheitsfachberufen oder dem Gesundheitssystem sowie der Entscheidungsfindung hielt erfolgreich Einzug in die jeweiligen Disziplinen. Insbesondere der allgemeine Begriff der evidence-basierten Praxis kann dahingehend als Querschnittbegriff verstanden werden, wonach die Praxis der jeweiligen Disziplinen in den Handlungswissenschaften auf validen wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Die konzeptionellen Grundlagen, das zentrale Ziel und die leitende Fragestellung sind dabei nahezu identisch. Letztere lautet »Was ist zu tun – was ist vielleicht auch zu unterlassen?« (Meyer 2015, S. 12). Die Antworten auf diese Frage beschäftigen gleichermaßen die professionell Handelnden in Pflege, Medizin und weiteren Gesundheitsfachberufen (Meyer 2015, S. 12). Es ist eine charakteristische und zugleich essenzielle Frage für alle Praxisdisziplinen bzw. Handlungswissenschaften (Schnittger et al. 2012, S. 140). In der täglichen Praxis arbeiten Pflegende, Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und andere Gesundheitsfachberufe gemeinsam mit den Pflegebedürftigen oder Patient*innen. Insbesondere das Zusammenwirken mehrerer Disziplinen in der Versorgung von Pflegebedürftigen oder Patient*innen kann auf der Basis wissenschaftsbasierter Erkenntnisse und Entscheidungsfindung als Evidence-based Practice verstanden werden (Gross 2002). Sackett et al. (1999) beschreiben für eine evidence-basierte Praxis fünf essenzielle Schritte: 1.) Informationsbedarf in beantwortbare Fragen übersetzen; 2.) möglichst effizientes Aufspüren der besten Evidence zur Beantwortung dieser Fragen; 3.) kritische Bewertung der Evidence hinsichtlich ihrer Validität und Nützlichkeit; 4.) die Ergebnisse dieser Bewertung in die klinische Praxis umsetzen und 5.) die eigene Leistung evaluieren.
Gerade die Entwicklung der evidence-basierten Medizin hat für einen »Quantensprung« in den Entscheidungsprozessen in der Gesundheitsversorgung gesorgt. EbM war und ist ein essenzieller Fortschrittsgenerator in der Medizin (Berchthold et al. 2005). In der Folge hat sich auch die gesetzliche Krankenversicherung daran orientiert. So gilt bis heute der wissenschaftliche Standard zur Bestimmung des allgemein anerkannten Erkenntnisstandes in den Disziplinen als Handlungsgrundlage (Roters 2012).
Begriffsbestimmung mit vier Merkmalen
In der pflegewissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Begriffe für das Konzept der evidence-basierten Pflegepraxis verwendet. Es finden die Bezeichnungen Evidence-based Care (EBC), Evidence-based Practice (EBP) und Evidence-based Nursing (EBN) sowie Evidence-based Nursing and Caring Verwendung (Smoliner et al. 2008, S. 288). Dabei werden die Begriffe EBN und EBP meist synonym verwendet. Die einzelnen Begriffsbeschreibungen stimmen darin überein, dass mit dem Konzept ein Entscheidungs- und Problemlösungsprozess assoziiert und die Komponente von Forschung für die klinische Entscheidungsfindung formuliert ist. Scott und McSherry (2008) haben 13 Begriffsbestimmungen in wissenschaftlichen Publikationen von EBN und EBP anhand der inhaltlichen Merkmale, Schlüsselelemente und Hauptaussagen miteinander verglichen. Dabei stellten sie fest, dass elf Schlüsselelemente identisch waren. Alle Definitionen beinhalteten das derzeit beste Wissen aus der Forschung als Wert für die Praxis im Rahmen klinischer Entscheidungsfindungen. Die Konzepte unterscheiden sich dahingehend, dass EBN den Einbezug der Patient*innen in der Umsetzung stärker fokussiert. Sie kommen zu dem Ergebnis:
»EBN could be defined as ›an ongoing process by which evidence, nursing theory and the practitioners‹ clinical expertise are critically evaluated and considered, in conjunction with patient involvement to provide delivery of optimum nursing care for the individual« (Scott & McSherry 2008).
Eine von allen getragene Definition von Evidence-based Nursing gibt es nicht und ist im wissenschaftlichen Diskurs auch nicht erforderlich (Kleibel & Smoliner 2012, S. 27).
EBN als Konzept mit drei einzelnen Konzepten
Das EBN-Konzept setzt sich aus drei Teilkonzepten zusammen, die mit dem gleichen Begriff beschrieben werden, verschiedene Schwerpunkte beinhalten und gemeinsam das EBN-Konzept bilden (Panfil 2005, S. 458). Die drei einzelnen Konzepte sind in Anlehnung an Panfil (2005):
a) Zusammenwirken der »Akteure«
b) Pädagogisches Konzept
c) Externe Evidence.
Das Zusammenwirken der beteiligten Akteure bezieht sich auf die klinische Entscheidungsfindung. Es bezeichnet die Beteiligung der betroffenen Pflegeempfänger*innen oder ihrer Angehörigen, der verschiedenen beteiligten Berufsgruppen als auch der Pflegenden. Zudem beinhaltet das Teilkonzept die Integration von auf Forschung beruhender Evidence – diese wird als externe Evidence verstanden ( Kap. 2.3) – und den Einbezug der klinischen Expertise – dies wird als interne Evidence verstanden ( Kap. 2.3) – und den Wünschen und Bedarfen der Pflegeempfänger*innen zu ihrer individuellen Gesundheitsversorgung (Panfil 2005).
Beispielsweise kann es sein, dass eine Bewohnerin einer Langzeitpflegeeinrichtung in der Nacht gestürzt ist. Die Pflegeperson führt mit der Betroffenen ein Gespräch über die vermuteten Ursachen, die aktuellen Probleme und die Dinge, die der Bewohnerin nach dem Sturz wichtig sind. Die Bewohnerin berichtet, dass sie gestürzt ist, weil sie sehr schnell zur Toilette musste und auf dem Weg dorthin über ihre Füße gestolpert ist. Nun hat sie Angst, erneut zu stürzen. Die Pflegende sucht nun nach Ursachen und Lösungen und recherchiert dazu in den Datenbanken. Eine Ursache könnte das neu verordnete Schleifendiuretikum sein, was erstmalig am Abend zuvor verabreicht wurde. Eine weitere Ursache könnte das verordnete Schlafmittel für die Nacht sein. Die Pflegende trifft eine Auswahl geeigneter Maßnahmen und bespricht diese mit den beteiligten Akteur*innen, z. B. der Hausärztin. Nach einer Besprechung der Medikamente durch die beiden Berufsgruppen wird mit der Bewohnerin die vereinbarte Maßnahme besprochen, die Bewohnerin wird beraten und die Maßnahme wird mit Zustimmung umgesetzt. Die Pflegende prüft im Verlauf, ob die Ergebnisse den Erwartungen entsprechen.
Das zweite Konzept beschreibt pädagogische Inhalte, die auf ein lebenslanges Lernen zielen. Das Teilkonzept fußt auf der Methode des problembasierten Lernens. Hier ist der Bezug zur Entwicklung des EbM-Konzeptes durch Sackett und Kollegen erkennbar ( Kap. 1.2), das ursprünglich für die Ausbildung von Studierenden entwickelt wurde und das das klinisch Tätigsein mit dem Lernen zur Problemlösung miteinander verbindet. Ausgangspunkt ist idealtypischerweise ein konkreter Fall oder eine Praxissituation. Fünf aufeinander aufbauende Arbeitsschritte umfasst das Konzept: 1.) Frage, 2.) Literaturrecherche, 3.) Kritische Bewertung der Evidence, 4.) Entscheidung über passende Interventionen, Anwendung und 5.) Evaluation (Panfil 2005; Brinker-Meyendriesch 2003). Das Lernen innerhalb des pädagogischen Konzepts entspricht der beruflichen Handlungslogik und verknüpft die Fallarbeit mit beruflichen Situationen. In der Folge können Arbeitsroutinen überdacht, Handlungspläne entworfen und Lösungsoptionen identifiziert werden (Schneider 2008). Auf diese Weise können den Lernenden bedeutsame Erkenntnismöglichkeiten geschaffen werden, können Forschungsergebnisse problemorientiert in die Praxis transferiert werden, schließlich können praktisches und theoretisches Wissen miteinander verknüpft werden (Schneider 2008).
Dieses Teilkonzept gilt als das am häufigsten verwendete (Panfil 2005; Schneider 2008). Externe Evidence wird im Sinne der »wissenschaftlichen Belegbarkeit« von Interventionen durch Forschungsarbeiten verwendet. Wissenschaftlich belegtes Wissen findet sich beispielsweise in Expertenstandards, Leitlinien oder systematischen Übersichtsarbeiten, wie sie die Cochrane Library zur Verfügung stellt. Grundlage der externen Evidence bilden Forschungsarbeiten. Diese werden mit verschiedenen Methoden auf ihre wissenschaftliche Aussagekraft und auf ihre mögliche Übertragung auf den Einzelfall bewertet ( Kap. 2.3) (Panfil 2005).
Die überwiegende Kritik von Pflegewissenschaftler*innen bezieht sich auf ein ausschließliches Verständnis von EBN als Nutzung externer Evidence. Wird das EBN-Gesamtkonzept lediglich auf das Teilkonzept der externen Evidence reduziert und werden zentrale Aspekte wie der Einbezug der Präferenzen der Pflegeempfänger*innen ausgeblendet, wird dies der Methode nicht gerecht (Schneider 2008).
engere und weitere Begriffsbestimmung
Die internationale Literatur diskutiert einerseits einen eher engen, andererseits einen eher weitgefassten Ansatz von evidence-basierter Pflege. Unter dem engeren Ansatz wird eine nahezu alleinige Anwendung von Forschungsergebnissen – zumeist aus der Forschung mit einem quantitativen Ansatz – in der Praxis verstanden (Smoliner 2011, S. 225; Kleibel & Smoliner 2012, S. 27).
Abgesehen von zahlreichen Begriffsbestimmungen, die jeweils die Definition von Sackett et al. erweiterten (z. B. French 1999 mit dem Einbezug des impliziten Wissens der Praktiker*innen), hat sich die von der Pflegewissenschaftlerin Alba DiCenso von der McMaster University aus dem Jahr 1998 als international tragfähig durchgesetzt (Meyer 2015, S. 12).
Eine auf dem Konzept des Evidence-based Nursing beruhende Pflegepraxis (Evidence-based Practice) ist definiert durch das Zusammenwirken
• des derzeit besten Wissens aus der Forschung (research evidence) zur Beantwortung einer klinischen Fragestellung,
• der Präferenz der Patient*innen (patient preference),
• der persönlichen klinischen Erfahrung der Pflegenden (clinical expertise) und
• den gegebenen Ressourcen und Rahmenbedingungen im Sinne systembedingter Faktoren (environmental factors) in der Gesundheitsversorgung (DiCenso et al. 2005 in Meyer & Köpke 2012, S. 37).
Evidence-basierte Pflege wird als Prozess verstanden, in dem Pflegende eine klinische Entscheidung treffen. Explizit ist in dieser Begriffsbestimmung die klinische Entscheidungsfindung in einer konkreten Entscheidungssituation integriert. Sie betont die Bedeutung des Austauschens und Verstehens zwischen professionell Pflegenden und dem individuellen Pflegebedürftigen über seine Bedarfe sowie die gemeinsam zu bearbeitenden gesundheitlichen Probleme unter Berücksichtigung der Wertvorstellungen des Betroffenen (Thiel et al. 2001, S. 269; DiCenso et al. 2006, S. 4). Eindeutig ist in der Begriffsbestimmung eine Patient*innenorientierung enthalten, d. h. die individuelle Perspektive der Pflegebedürftigen auf ihre Gesundheit, ihre Gesundheitsbedingungen, Handlungsoptionen, persönlichen Werte und Erfahrungen, ihre Bedürfnisse und familialen Ressourcen bestimmen zentral die Entscheidungsfindung (DiCenso et al. 2006, S. 4; Smoliner 2011, S. 225).
Mit der hier aufgeführten Begriffsbestimmung ist der breitere Ansatz gemeint. Dieser betont die »research evidence« als eines von insgesamt vier Merkmalen evidence-basierter Pflege. Hintergrund der vier Merkmale sind die Erkenntnisse über die verschiedenen Quellen pflegerischen Wissens (z. B. persönliches Wissen aus beruflicher Erfahrung, intuitives Wissen, ethisches Wissen) und die Grundlagen pflegerischer Handlungsentscheidungen. Eine gute pflegerische Entscheidung und Maßnahmenauswahl basiert nicht ausschließlich auf Forschungsergebnissen, sondern integriert das erfahrungsgebundene und kontextbezogene Wissen der Pflegenden und das Wissen sowie die Wünsche und Bedürfnisse der zu Pflegenden Person (Smoliner 2011, S. 225). So können verschiedene Arten des Wissens genutzt werden. Ein Vorteil des breiten Ansatzes von evidence-basierter Pflege liegt in einer höheren Akzeptanz durch die Handelnden in der Pflegepraxis. Hierbei ist nicht ausschließlich »research evidence« entscheidend, sondern sie hat gleichberechtigt Anteil am Kanon aller vier Merkmale (Kleibel & Smoliner 2012, S. 27). Das verwendete Begriffsverständnis und damit die einbezogenen Wissensquellen haben Auswirkungen auf die einzelnen Umsetzungsschritte im Konzept von Evidence-based Practice (ebd.).
Im Vergleich der Begriffsbestimmungen von Sackett und DiCenso werden als Gemeinsamkeit der Einbezug der wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich der Verbesserung der Patient*innenversorgung einerseits und andererseits der Einbezug klinischer Erfahrung der Pflegenden und der Patient*innenpräferenzen als Unterscheidungsmerkmal erkennbar. Mit der Evidencebasierung von Entscheidungen und Handlungen wird in jedem Fall der Aspekt relevant, was als wissenschaftliches Wissen gelten kann und wie es zu bewerten ist.
Behrens und Langer (2016, S. 25) entwickelten eine Kurzdefinition: »Evidence-based Nursing ist die Nutzung der derzeit besten wissenschaftlich belegten Erfahrungen Dritter im individuellen Arbeitsbündnis zwischen einzigartigen Pflegebedürftigen oder einzigartigem Pflegesystem und professionell Pflegenden«. Sie betonen ganz deutlich das Arbeitsbündnis zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen oder dem Pflegesystem und die Integration von wissenschaftlich belegtem Wissen in dieses Arbeitsbündnis.
Begriffsbestimmungen entwickeln sich weiter
Die Klärung der Begriffsbestimmungen ist ein stets voranschreitender Prozess. Für dieses Buch wird der Begriff Evidence-based Nursing verwendet, wie ihn DiCenso bestimmt und Behrens und Langer knapp definiert haben. Zusammengefasst ist EBN sowohl ein Konzept für lebenslanges Lernen für Einzelne, Teams und Organisationen (Schlömer 2000, S. 49) als auch eine praxisorientierte Methode, um in mehreren Schritten eine klinische Entscheidungsfindung herbeizuführen. Das Konzept evidence-basierter Pflege stellt mit mehreren Arbeitsschritten eine Methodik und damit ein Hilfsmittel dar, um zum Gelingen einer professionellen Pflege beizutragen.
Evidence versus Evidenz
Zu Beginn der Entwicklung des EBN-Konzeptes wurde der Begriff evidence mit Evidenz übersetzt. Dies führte zu Verwirrungen, weil das Wort Evidenz im deutschen Sprachgebrauch bedeutet, dass etwas keiner weiteren Prüfung bedarf und die Tatsachen auf der Hand liegen (Schlömer 2000). Der Begriff Evidenz in der deutschen Schreibweise wird zugleich verwendet, wenn es sich um die Erfahrungen einer subjektiv begründeten Gewissheit handelt (Panke-Kochinke 2012, S. 6). Er leitet sich aus dem Lateinischen von evidentia ab und bedeutet so viel wie »offenkundig« oder bezeichnet etwas, das nicht weiter hinterfragt werden muss (Galgon 2006).
Der Begriff Evidence bedeutet direkt übersetzt Beweis oder Nachweis (Galgon 2006) und auch im englischen Sprachgebrauch existieren mehrere Bedeutungen für das Wort Evidence (Gross 2004, S. 197). In der englischen Schreibweise bezeichnet er den von Medizin und Pflege übernommenen Begriff für einen externen Wirksamkeitsnachweis aus Studien (Panke-Kochinke 2012, S. 6). Er meint die Orientierung am besten wissenschaftlichen Beweis (Meyer et al. 2014, S. 195). Die Übersetzung »beweisbasierte Pflege« trifft am ehesten die Bezeichnung EBN (Galgon 2006). Gemeint ist im Kern: Welche wissenschaftlich belastbaren, methodisch angemessenen Informationen gibt es, um den Nutzen und den Schaden konkreter Behandlungsverfahren bewerten zu können?
Der Wortstamm »Evidence« bezieht sich auf etwas Relatives; die derzeit aktuell gültige Evidence ist damit gemeint. Die Bezugsgröße ist somit der jeweils aktuelle Forschungsstand, der immer variabel ist, weil er sich durch neue Studien stets weiterentwickelt. Mit dem Zugewinn neuer Erkenntnisse kann eine vorherige Evidence eine komplette Neueinschätzung erfahren (Wingenfeld 2004, S. 79). Das sich fortlaufend weiterentwickelnde Forschungswissen erfordert eine ständige Überprüfung dessen, was als evident bekannt ist. Deshalb wird sich pflegerisches Handeln nur schwer auf die stärkste Evidence gründen lassen (Panfil & Wurster 2001).
Die Übersetzung von Evidence in Evidenz ist somit aus aktueller Perspektive eher ein missglückter Übersetzungsversuch.
Die Verbesserung der Patient*innenversorgung ist das Ziel.
Das primäre Ziel von EBN besteht darin, den Pflegenden die derzeit besten wissenschaftlich belegten Handlungsoptionen aufzuzeigen und ihnen diese als Grundlage für die wirksamste Handlungsweise zur Verfügung zu stellen (Panfil & Wurster 2001, S. 33). Professionell Pflegende sind den Pflegebedürftigen verpflichtet, ihnen eine hochwertige Pflege auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zukommen zu lassen.
Mit evidence-basierten Pflegemaßnahmen kann die Berufsgruppe der Pflegenden ihre Leistungen gegenüber den Kostenträgern legitimieren (Huckle 2008, S. 9).
Patient*innenrechte und -erwartungen
Die Pflegebedürftigen haben ein Anrecht auf eine bestmögliche pflegerische Versorgung. Sie erwarten eine professionelle Versorgung und damit eine Pflege, die auch ihre Sicherheit berücksichtigt (Panfil 2012, S. 83). Zudem vertrauen sie auf eine Pflege mit Expertise (Meyer 2015, S. 13). Eine bestmögliche pflegerische Versorgung gelingt besser auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Einbezug der Werte und Bedürfnisse der Pflegebedürftigen als beispielsweise ausschließlich auf der Grundlage von tradierten Handlungen, die mitunter mit der Aussage »Das haben wir immer schon so gemacht« begründet werden. Pflegerische Handlungen sind zwar traditionell mit lobenswerten Intentionen verbunden, jedoch haben sie nicht per se einen positiven Effekt, sondern können trotz guter Absicht negative Effekte verursachen (Schlömer 2000, S. 47). Vor diesem Hintergrund benennt Meyer (2015, S. 13) das Konzept EBN als alternativlos, wenn es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse methodisch geordnet in Entscheidungen einzubeziehen und wesentliche von weniger aussagekräftigen wissenschaftlichen Beweisen zu trennen. Insbesondere aus ethischen Gründen ist es unzulässig, veraltete und wirkungslose Pflegehandlungen durchzuführen oder gar den Pflegeempfängern zu schaden (Panfil 2012, S. 83).
effizienter Ressourceneinsatz
Ein weiteres Ziel von evidence-basierter Pflege besteht darin, dass die vorhandenen Ressourcen und Strukturen in den Handlungsfeldern von Pflege optimal im Sinne der Pflegeempfänger*innen genutzt werden (Huckle 2008, S. 9). So können die wirklich wirksamen Interventionen den Vorrang vor Pflegemaßnahmen mit unklarer Wirkung erhalten. Ebenso können beispielsweise wirkungslose oder schädigende pflegerische Interventionen begründet unterlassen werden. Insbesondere in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen sollten nur noch jene Maßnahmen durchgeführt werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich gut belegt ist (Panfil 2012, S. 83).
Zusammengefasst soll EBN dazu beitragen, pflegerische Entscheidungen und Handlungen und in der Folge die klinische Versorgung von individuellen Pflegeempfänger*innen hinsichtlich einer positiven Beeinflussung von patient*innenrelevanten Ergebnissen zu verbessern.
Sehr häufig ist von Pflegenden in der Praxis zu hören und auch in Publikationen zu lesen, dass professionelles Handeln durch pflegewissenschaftlich entwickelte Methoden, Konzepte und Instrumente gefördert werden kann. Dazu gehören beispielsweise die Anwendung des Pflegeprozesses, der Nationalen Expertenstandards oder auch der Einsatz verschiedener Assessmentinstrumente. Das folgende Kapitel geht der Frage nach, inwieweit das Konzept evidence-basierter Pflege professionelles Pflegehandeln befördern kann.
Das EBN-Konzept hat sich weltweit als zentrales Konzept für die Professionalisierung der Pflege entwickelt (DiCenso et al. 2006).
Professionelles Handeln vereint systematische Wissensbestände und hermeneutisches Fallverstehen.
Unter Professionalisierung wird der Prozess der Verberuflichung von Tätigkeiten verstanden. Dies beinhaltet eine zunehmende Verwissenschaftlichung und Systematisierung von Wissen. Mit der hochschulischen Ausbildung von Pflegenden und der Entwicklung einer wissenschaftlichen Infrastruktur sowie veränderter gesetzlicher Vorgaben erweitern sich einerseits die Aufgabenbereiche von Pflegenden. Andererseits wurden Innovationen in Gang gesetzt (Friesacher 2009).
Es gibt verschiedene Professionstheorien und -verständnisse. Ältere professionstheoretische Ansätze betonen einzelne professionstypische Merkmale (z. B. das Vorhandensein eines Handlungsmonopols, einer Berufsethik, einer langen theoretischen Ausbildung), die bis hin zum Status einer Profession möglichst erfüllt sein müssen. Zugleich vernachlässigen sie den Aspekt des professionellen Handelns. Angemessener sind dagegen Professionskonzepte, die auf den Gegenstand, in der Pflege also auf die Pflegeempfänger*innen gerichtet sind (Friesacher 2009). In diesem Buch wird das professionelle Handeln als Bezugsgröße für die Professionalisierung zugrunde gelegt. Der professionssoziologische Ansatz von Oevermann mit einer interaktionistischen Position ist die Basis für die weiterführenden Überlegungen (Thiel et al. 2001, S. 270). Dieser Ansatz wurde 1995 von Weidner (2011) auf die Pflege übertragen.
Oevermann geht von zwei im Gegensatz zueinander stehenden Prinzipien aus. Zum einen gibt es die wissenschaftliche Kompetenz professionellen Handelns. Sie beinhaltet die systematischen Wissensbestände, das Verstehen von Theorien und Verfahren zu deren Konstruktion sowie die Theorieanwendung (Thiel et al. 2001, S. 270). Zum anderen gibt es die hermeneutische Kompetenz, die das Verstehen eines individuellen Falles/Pflegebedürftigen in dessen Sprache bezeichnet. Hier müssen die jeweiligen Pflegeempfänger*innen von den professionell Pflegenden in ihrer individuellen Erscheinungsform, ihrer Betroffenheit und in ihrer Biografie verstanden werden. Professionelles Handeln bezeichnet demnach ein durch wissenschaftliche Ausbildung erworbenes Spezialwissen und ein berufliches Erfahrungswissen zugleich. Beide Prinzipien sind in der Praxis einer professionellen Pflege untrennbar miteinander verbunden. Beide Prinzipien sind gleichermaßen konstituierend nötig, um professionelle pflegerische Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu begründen (ebd.). Dieser Logik folgend sind aufgrund der fallimmanenten Besonderheiten Pflegemaßnahmen nicht standardisierbar (ebd.).
EBN kann theoretisch professionelles Handeln fördern
Entsprechend der Begriffsbestimmung von EBN in diesem Kapitel bedient das EBN-Konzept sowohl die professionellen Prinzipien systematischer Wissensbestände als auch des hermeneutischen Fallverstehens. Es knüpft vor dem Hintergrund der vier Wesensmerkmale an beide Prinzipien an. Es ist das