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Die Menge an verfügbaren Therapien in der Psychiatrie wird immer größer. Gleichzeitig erhöht sich auch die Komplexität der klinischen Entscheidungssituationen. Damit Therapeuten in der Lage sind, die wissenschaftliche Evidenz, die unterschiedlichen Behandlungsverfahren zugrunde liegt, beurteilen zu können, sind methodische Kenntnisse unerlässlich. Dieses praxisorientierte Werk führt in die kritische Beurteilung von Studien, Reviews und Leitlinien ein. Anhand typischer Beispiele aus der psychiatrischen Literatur wird gezeigt, wie eine Beurteilung der Qualität und Anwendbarkeit therapiebezogenen psychiatrischen Wissens möglich ist.
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Seitenzahl: 322
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Die Menge an verfügbaren Therapien in der Psychiatrie wird immer größer. Gleichzeitig erhöht sich auch die Komplexität der klinischen Entscheidungssituationen. Damit Therapeuten in der Lage sind, die wissenschaftliche Evidenz, die unterschiedlichen Behandlungsverfahren zugrunde liegt, beurteilen zu können, sind methodische Kenntnisse unerlässlich. Dieses praxisorientierte Werk führt in die kritische Beurteilung von Studien, Reviews und Leitlinien ein. Anhand typischer Beispiele aus der psychiatrischen Literatur wird gezeigt, wie eine Beurteilung der Qualität und Anwendbarkeit therapiebezogenen psychiatrischen Wissens möglich ist.
Dr. Dr. Stefan Weinmann arbeitet als Arzt und Gesundheitswissenschaftler in der Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm im Bezirkskrankenhaus Günzburg.
Konzepte und Methoden der Klinischen Psychiatrie
Herausgegeben von Wolfgang Gaebel Franz Müller-Spahn
Stefan Weinmann
Evidenzbasierte Psychiatrie
Methoden und Anwendung
Verlag W. Kohlhammer
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Der Verfasser hat größte Mühe darauf verwandt, dass die Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen dem jeweiligen Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entsprechen.
Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie vçllig auszuschließen sind, übernimmt der Verlag für derartige Angaben keine Gewähr.
Jeder Anwender ist daher dringend aufgefordert, alle Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Verantwortung des Benutzers.
1. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © 2007 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-018855-6
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pdf:
978-3-17-026609-4
epub:
978-3-17-027324-5
mobi:
978-3-17-027325-2
Vorwort
1 Allgemeine Grundlagen und Prinzipien einer Evidenzbasierten Psychiatrie
1.1 Einleitung
1.2 Zum Begriff der Evidenz in der Psychiatrie
1.3 Veränderung des Evidenzverständnisses in der Psychiatrie
1.4 Erkenntnistheorie, Evidenzbasierte Medizin und Psychiatrie
2 Evidenzrecherche
2.1 Nutzung der wissenschaftlichen Literatur
2.2 Problemformulierung: Klinische Fragestellung
2.3 Quellen der Evidenz
2.4 Outcomes (Zielparameter)
3 Evidenzbewertung
3.1 Studientypen
3.2 Strukturierte Bewertung von randomisierten kontrollierten Studien (RCTs)
3.3 Checkliste zur Beurteilung einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT)
3.4 Besonderheiten der statistischen Auswertung und Hypothesenprüfung
3.5 Interpretation der Ergebnisse
4 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse
4.1 Systematische Reviews und Meta-Analysen
4.2 Patientenpräferenzen
4.3 Gesundheitsökonomische Evidenz
5 Evidenz aus qualitativen Studien
6 Evidenzbasierte Pharmakotherapie
6.1 Aspekte des Studiendesigns
6.2 Drug Class-Effekte
6.3 Publikationsbias und selektive Darstellung der Ergebnisse
6.4 Kombinationstherapien
7 Evidenzbasierte Psychotherapie
7.1 Einleitung
7.2 Kriterien zur Beurteilung einer Psychotherapie-Studie
8 Evidenzbasierte Soziotherapie und Gesundheitsversorgung
9 Evidenzbasierte Versorgungsleitlinien
9.1 Bedeutung von Leitlinien
9.2 Patientengruppen, Behandlungsoptionen und Outcomes
9.3 Evidenzrecherche und -bewertung und Verknüpfung mit den Empfehlungen
9.4 Einbezug von Werten und Präferenzen
9.5 Anwendbarkeit
9.6 Interessenskonflikte und Begutachtung
9.7 Leitlinien-Bewertungsinstrumente
10 Grenzen und Chancen einer Evidenzbasierten Psychiatrie
Literatur
Glossar
Stichwortverzeichnis
Seit einigen Jahren ist der Begriff der Evidenzbasierten Medizin (EBM) in aller Munde. Er steht für eine wissenschaftlich fundierte Medizin, die sich der methodischen Grundlagen der Informationsgewinnung bewusst ist. Auch in der Psychiatrie spielt die Evidenzbasierung eine immer wichtigere Rolle. In den neueren Psychiatrie-Lehrbüchern werden die grundlegenden Aussagen zunehmend mit Evidenz-Leveln versehen, die zeigen sollen, ob systematische Übersichtsarbeiten, randomisierte Studien oder andere Studien zum jeweiligen Thema vorliegen. Eine der Konsequenzen hieraus ist, dass evidenzbasierte Interventionen, für die es ausreichend Daten aus der wissenschaftlichen Literatur gibt, wonach sie relevante Ergebnisparameter bei der jeweiligen Patientengruppe verbessern, besonders empfohlen werden.
Für den deutschsprachigen Raum liegen jedoch kaum Arbeiten vor, die die methodischen Grundlagen der Evidenzbasierten Medizin speziell für die Psychiatrie darlegen. Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu füllen. Entscheidender als die Klassifikation wissenschaftlicher Studien ist deren systematische Qualitätsbewertung. In diesem Buch geht es daher in erster Linie um die Methodik der kritischen Beurteilung verfügbarer Evidenz in der Psychiatrie, nicht um die zusammenfassende Darstellung wirksamer Therapieverfahren. Anhand von Beispielen wird gezeigt, worauf bei der Evidenzrecherche, bei der Bewertung der Studien und deren Interpretation geachtet werden sollte. Damit sollen sowohl klinisch Arbeitenden in der Psychiatrie als auch in der Forschung Tätigen Kenntnisse und Fertigkeiten an die Hand gegeben werden, die eine unabhängige Beurteilung therapeutischer Optionen auf der Basis der publizierten Literatur erleichtern.
Für wertvolle Hinweise und Diskussionen danke ich insbesondere Frau Hilda Bastian, Herrn Professor Thomas Becker, Herrn Professor Wolfgang Gaebel, Herrn Professor Paul Glasziou, Herrn Markus Kösters, Herrn Privatdozent Stefan Lange, Herrn Professor Stefan Priebe und Frau Beate Zschorlich.
Günzburg, im Herbst 2006
Stefan Weinmann
Evidenzbasierte Psychiatrie zu betreiben bedeutet, sich der Grundlagen für klinische Entscheidungen in der Psychiatrie und ihrer methodischen Beschränkungen bewusst zu sein und die hochwertigste gegenwärtig verfügbare Evidenz zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren für konkrete Fragestellungen zu nutzen. Eine Evidenzbasierte Psychiatrie ist eine Psychiatrie der nachvollziehbaren und transparenten Entscheidungen. In jedem Fall werden die Präferenzen der Patienten miteinbezogen und zunehmend auch die Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen in Rechnung gestellt. Eine Evidenzbasierte Psychiatrie legt ihre Informationsgrundlagen offen und macht sie einer Diskussion zugänglich. Evidenzbasiert zu behandeln bedeutet nicht, lediglich randomisierte kontrollierte Studien oder Meta-Analysen zu verwenden.
Die Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurden in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt, um Therapeuten bei klinischen Entscheidungssituationen in der Medizin in der Auswahl und Durchführung von Interventionen zu unterstützen. Die Basis bildete eine Methodenlehre aus den frühen 60er Jahren, die als klinische Epidemiologie bezeichnet wird (Feinstein 1985). Die EBM hat den Anspruch, dem Kliniker die zum Zeitpunkt der Behandlung beste wissenschaftliche Grundlage für ärztliche Entscheidungen zur Verfügung zu stellen (Haynes et al. 1996). Sie ist jedoch keine Methode zur Durchführung klinischer Forschung.
Die Grundfertigkeiten, um für eine klinische Fragestellung eine evidenzbasierte Lösung zu finden, können in vier Bereiche eingeteilt werden:
Präzise Definition der Fragestellung oder des Problems,
Planung und Durchführung einer effizienten Literatursuche, um die beste verfügbare Evidenz aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu identifizieren,
Kritische Beurteilung der gefundenen Evidenz,
Berücksichtigung der Evidenz – und Abschätzung der Auswirkung ihrer Anwendung – im Kontext der konkreten Situation des Patienten, dessen Präferenzen und der verfügbaren Ressourcen.
Diese Fertigkeiten in ihren Grundzügen zu erlernen, ist vergleichsweise einfach. Die kontinuierliche effiziente und kritische Beurteilung der verfügbaren Evidenz während der praktischen Arbeit erfordert jedoch mitunter intensives und zeitaufwändiges Studium. Nicht alle Therapeuten sind daran interessiert, breite klinisch-epidemiologische Fertigkeiten zu erwerben, da in ihren Augen eine gute psychiatrische Versorgung auch ohne diese Kenntnisse möglich ist. An der Berechtigung und Erfordernis, die Forschungsliteratur systematisch in der Auswahl und Durchführung psychiatrischer Therapien zu berücksichtigen, wird heute allerdings kaum mehr gezweifelt.
Eine Alternative zur kontinuierlichen Bewertung von Primärstudien während der klinischen Arbeit ist die Nutzung sekundärer Evidenzquellen, in denen die Originalliteratur von anderen verlässlich bewertet wurde (evidenzbasierte Ressourcen). In diesen Zusammenfassungen werden die ausgewählten Studien einem methodischen Filter unterworfen, der einen minimalen Qualitätsstandard gewährleisten soll. Auch für diese Strategie der Nutzung empirischer Erkenntnisse sind jedoch Grundfertigkeiten der Evidenzbasierten Medizin unverzichtbar. Denn erstens ist die Fähigkeit, medizinische Originalliteratur und die Qualität evidenzbasierter Ressourcen zu beurteilen, ein Teil des Anspruchs der Patienten auf optimale Therapie. Zweitens werden Ärzte zunehmend mit Strategien konfrontiert, die Veränderungen des therapeutischen Handelns zum Ziel haben. Diese können die Implementation von Leitlinien in einer Klinik, Maßnahmen zur Verringerung der Medikamentenausgaben oder pharmazeutische Werbung für neue Arzneimittel sein. Nur wenn Grundfertigkeiten der Interpretation der medizinischen Literatur vorhanden sind, kann beurteilt werden, ob diese Strategien mit der besten verfügbaren Evidenz im Einklang sind. Drittens ist abzusehen, dass für eine erfolgreiche medizinische Karriere künftig nicht nur gebietsbezogenes Fachwissen, sondern auch methodische Kenntnisse entscheidend sein werden. Wenn auch nicht in voller Ausprägung, ist es doch möglich, dass ein Teil eines pessimistischen Szenarios wahr werden könnte: dass es bald zwei Arten von Ärzten geben wird – solche, die Leitlinien erstellen, und andere, die Leitlinien anwenden. Die entscheidende Möglichkeit, mitgestalten zu können, besteht im Erwerb von Grundfertigkeiten in Evidenzbasierter Medizin.
Jede empirische Beobachtung einer Beziehung zwischen verschiedenen Ereignissen ist eine mögliche Form von Evidenz. Unstrukturierte Beobachtungen individueller klinischer Verläufe nach einer medizinischen Intervention, physiologische Experimente als auch multizentrische randomisierte Studien sind Quellen der Evidenz. Unsystematische klinische Beobachtungen sind jedoch besonders stark mit den Unzulänglichkeiten menschlicher Informationsverarbeitung behaftet. Nicht-randomisierte Studien ohne verblindete Zielgrößenerhebung bringen Interpretationsprobleme mit sich, da beispielsweise die Abgrenzung zum natürlichen Krankheitsverlauf, zu Placeboeffekten und zu den Auswirkungen von Begleitbehandlungen schwierig ist. Auch die Erwartungen der Therapeuten und der Patienten und das Ausmaß sozialer Erwünschtheit im Verhalten und in den Berichten der Patienten sind schwer von der eigentlichen Wirkung der Intervention abzugrenzen. Diese und weitere Arten von Bias im Sinne von Verzerrungen werden durch methodisch ausgefeilte Studiendesigns abgeschwächt oder vermieden. Daher kann eine Hierarchie der Stärke der Evidenz auf der Basis der methodischen Qualität entwickelt werden, welche insbesondere das Ausmaß des Risikos von Verzerrungen berücksichtigt (Tab. 1.1) (Guyatt & Rennie 2002). Diese Hierarchie ist nicht absolut. Wenn Behandlungseffekte sehr deutlich, groß und konsistent sind, können große Beobachtungsstudien überzeugendere Evidenz liefern als kleinere randomisierte kontrollierte Studien (RCTs). Es gibt jedoch viele Beispiele für Beobachtungsstudien mit vielversprechenden Ergebnissen, denen größere RCTs widersprochen haben. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte Debriefing. Debriefing ist eine psychosoziale Intervention für Einzelpersonen oder Gruppen, welches zum Ziel hat, diejenigen, die mit außergewöhnlichen Situationen oder Traumata konfrontiert wurden, emotional zu entlasten. Einige frühe Studien erbrachten positive Ergebnisse (Robinson et al. 1993; Shapiro et al. 1990), methodische hochwertige RCTs zeigten jedoch die bestenfalls fehlende oder sogar schädliche Wirkung dieser Intervention (Bisson et al. 1997; Wessely et al. 2000; van Emmerick et al. 2002). Daher sollten derartige nicht-experimentelle Studien immer vorsichtig interpretiert werden, wenn RCTs vorliegen oder möglich sind.
Bei der sogenannten n=1-randomisierten Studie wird ein Patient in verschiedene Paare von Behandlungs- und Kontrollperioden randomisiert. Mindestens drei Perioden sollten durchlaufen werden. Der Patient erhält zunächst eine Prüf- oder Kontrollintervention und im Anschluss daran die alternative Therapie. Die Reihenfolge, in der der Patient die Interventionen erhält, wird randomisiert. Patient und Arzt sind gegenüber der Therapie verblindet. Die RCT wird solange fortgeführt, bis Arzt und Patient sich über die Wirkungen und unerwünschten Wirkungen der Prüfintervention einig sind. Da es sich um eine individuelle Studie handelt, kann sie, wenn sie überhaupt machbar ist, sehr starke bis definitive Evidenz für die Wirksamkeit eine Therapie bei einem konkreten Patienten liefern. N=1-RCTs sind jedoch nicht sinnvoll, wenn eine Therapie eine Heilung herbeiführt, wenn Effekte einer Therapie über längere Zeit anhalten, auch ohne dass die Intervention fortgeführt wird, oder wenn ein selten auftretendes Ereignis durch die Therapie verhindert werden soll.
In der Psychiatrie spielen sie keine große Rolle, da der Leidensdruck durch die Symptome oft sehr groß ist, und die Zeit und Zustimmung des Patienten für eine Individualstudie oft nicht vorhanden sind. Daher sollen n=1-RCTs hier nicht besprochen werden.
Von „patientenrelevanten Ergebnisparametern“ spricht man dann, wenn der Patient eine für ihn wichtige Veränderung verspürt, oder eine für ihn wichtige Veränderung eintritt, die nicht zu bemerken ist. So sind z. B. Surrogatparameter wie Laborwerte meist nicht direkt patientenrelevant, wenn sie nicht konsistent mit der Mortalität oder Morbidität der Patienten verknüpft sind.
Tab. 1.1: Eine Hierarchie der Stärke der Evidenz für therapeutische Interventionen (modifiziert nach Guyatt & Rennie (Hrsg.) (2002) User‘s Guide to the Medical Literature. A Manual for Evidence-Based Medicine. Chicago, The American Medical Association Medical Press, S. 7)
Der Begriff der „Evidenz“, welcher der oben angeführten Hierarchie zugrunde liegt, hat sich in der Psychiatrie im Lauf der Zeit gewandelt. Das Verständnis von Evidenz war und ist kulturellen und sozialen Veränderungen, neuen Entwicklungen in der Psychiatrie und dem Wandel des ärztlich-professionellen Berufsbildes unterworfen. So war im 19. Jahrhundert, als die grundlegenden wissenschaftlichen Begriffe der Psychiatrie geschaffen wurden, die psychiatrische Forschung insbesondere mit dem Verständnis psychischer Erkrankung beschäftigt. Die Erforschung somatischer Ursachen psychischer Erkrankungen war der Hauptansatzpunkt, um nach erfolgreichen Therapien zu suchen. Evidenz, auch klinische Evidenz, wurde aus dem Versuch abgeleitet, psychische Erkrankung (insbesondere schwere psychische Störung) wissenschaftlich zu verstehen (Schmiedebach 2002).
In den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend deutlich, dass es kein einheitliches oder zwingendes Konzept von psychischer Erkrankung gibt. Behandlungsverfahren wurden ohne grundlegende Kenntnisse von der Natur psychischer Erkrankung entwickelt und angewendet. So wurden die Prototypen der Antidepressiva und Antipsychotika in ihrer Wirkung auf psychische Störungen per Zufall entdeckt, ohne dass bis heute eindeutige Krankheitsmodelle und medikamentöse Wirkmechanismen verfügbar wären. Die klinische Evidenz generierte sich zunehmend aus klinischen Studien und wurde enger, aber methodisch ausgefeilter.
Wie Schmiedebach 2002 betont, können in der Psychiatriegeschichte drei verschiedene Typen von Evidenz unterschieden werden. Sie haben sich nicht schrittweise abgelöst im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung von der impressionistischen Einzelbeobachtung bis hin zu methodisch höheren und damit stärker legitimierten Formen von Evidenz. Die verschiedenen Arten der Evidenz waren zur selben Zeit vorhanden, und ihre Verwendung ging jeweils mit unterschiedlichen Arten des Verständnisses von psychischer Erkrankung einher. Die drei Evidenz-Typen sind: 1. Evidenz aus sozialen, religiösen, kulturellen und politischen Überzeugungen und Weltanschauungen zu einer bestimmten Zeit; 2. Evidenz aus der wissenschaftlichen Forschung zur Ätiologie und Pathogenese psychischer Erkrankungen, die therapeutisch genutzt werden sollte; und 3. Evidenz aus methodisch hochwertigen Therapiestudien, für die keine Vorstellungen zur Natur psychischer Erkrankungen notwendig sind und wenig soziale oder kulturelle Aspekte berücksichtigt werden müssen.
Die Besonderheit dieser dritten Form von Evidenz ist die Transparenz ihrer Methoden und die Verwendung von Ergebnissen und Prinzipien aus der erkenntnistheoretischen Forschung.
Die Grundlagen und Paradigmen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die in der Medizin Anwendung finden, stammen aus den Naturwissenschaften. Ihre Prinzipien wurden in der Renaissance und der Epoche der Aufklärung erarbeitet. Von außerordentlicher Bedeutung ist die Idee des Experimentes, einer kontrollierten Beobachtung der Vorgänge in der Natur. Was ein Experiment ausmacht, wurde systematisch als erstes von Bacon (u. a. im Novum Organon aus dem Jahre 1620) beschrieben. Das Experiment als Methode der Aneignung von Wissen stellte einen enormen Fortschritt gegenüber dem Autoritätswissen privilegierter Personen und Institutionen dar. Es bedeutete Zugänglichkeit für alle, Demokratisierung des Wissens und, zumindest potentiell, die Möglichkeit der Wiederholung und damit Verifizierung oder Falsifizierung.
Experimente sind kontrollierte Interventionen („Fragen an die Natur“). Wichtige Prinzipien sind (nach Bolton 2002):
Kausalität
: A verursacht B. Dieses Axiom ist das grundlegende Prinzip, das Vorhersagen ermöglicht.
Kontrolle von Bedingungsfaktoren
: Um eine kausale Beziehung zwischen A und B festzustellen, müssen andere mögliche Einflüsse auf die Kausalkette A-B (die ‚Umstände‘, die konfundierenden Faktoren: C
i
) kontrolliert werden. Hierzu muss die Wirkung von C
i
auf B ohne A und von A auf B ohne C
i
beobachtet werden (Mill 1843).
Wahrscheinlichkeit
: Insbesondere bei den Humanwissenschaften, der Medizin und der Psychologie sind selten universale Verallgemeinerungen möglich. Vielmehr können auf der Basis von Experimenten häufig lediglich Aussagen wie ‚B folgt auf A in einem bestimmten Anteil von Fällen‘ gemacht werden. Es müssen also Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, mit denen B auf A folgt. Hierbei werden die bisherigen Beobachtungen und die Häufigkeit des Eintretens von Ereignissen berücksichtigt. Außerdem werden Bedingungsfaktoren, die die Auftretenswahrscheinlichkeit modulieren, miteinbezogen. Die zugrundeliegende Methodik ist die Berechnung der statistischen Wahrscheinlichkeit. Um eine allgemeine Aussage treffen zu können (d. h. um ausreichend
statistische Power
zu haben), müssen daher ausreichende Gruppengrößen in den Experimenten vorhanden sein.
Die Methoden der Statistik müssen an die besonderen Bedürfnisse der Evaluation von Behandlungsverfahren beim Menschen angepasst werden. Patientenpräferenzen, Studienabbrüche, Suggestibilität oder Interesse-geleitetes Erkennen sind Beispiele für Besonderheiten bei Experimenten mit Menschen, die eine weitere Verfeinerung der Studiendesigns und der Auswertungsmethodik erforderlich machen.
Wenn die erkenntnistheoretischen Prinzipien auf medizinische Interventionen beim Menschen angewendet werden, gelangt man zur randomisierten kontrollierten Studie (randomisedcontrolledtrial, RCT). Die objektive und replizierbare Messung von Zuständen vor und nach einer Intervention ist am ehesten mit einer RCT möglich. Mit einer RCT kann die ‚aktive Komponente‘ einer Intervention am genauesten herausgeschält werden. Diesem Ziel dienen die Gestaltung der Experimental- und Kontrollgruppen, die Randomisierung, die Verblindung der Teilnehmer und Auswerter und andere Komponenten. RCTs sind daher unverzichtbar im Sinne eines Goldstandards, wenn neue Interventionen beurteilt und in der Praxis angewendet werden. Gleichwohl basieren sie auf grundlegenden philosophischen und kulturellen Annahmen und Ansichten über die Funktionen und Vorgänge in der menschlichen Natur.
Insbesondere in der Psychiatrie verschließen sich viele Meinungen und therapeutische Interventionen einer von der Naturwissenschaft entlehnten kausalen Betrachtung. Jeder Mensch ist in seiner jeweiligen Biographie und im Verständnis seiner selbst einzigartig. Wie ein Mensch sein geistiges Sein begreift, und welche Bedeutung er ihm zumisst, beeinflusst sein Verhalten und seine psychischen Funktionen. Die Erforschung der Bedeutung, die jede geistige Aktivität begleitet, und der Ausdruck des Geistigen in der Gesellschaft sind die Domäne der Geisteswissenschaften. Ihre Methoden sind nicht notwendigerweise mit denen der Naturwissenschaften kompatibel. Gelegentlich wird von der hermeneutischen Methode gesprochen, wenn es um eine Abgrenzung zur Naturwissenschaft geht. Die Polaritäten können exemplarisch in den Begriffen Bedeutung und Kausalitätbzw.Verstehen und Erklären benannt werden. Eine Bedeutung ist etwas Konstruiertes, Individuelles, der Prozess des Verstehens ist subjektiv und erfordert, im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Beobachten, Empathie. Die Psychiatrie erfordert die Anwendung von Methoden beider Disziplinen – im klinischen Alltag als auch in der systematischen Gewinnung von Erkenntnissen.
Eine moderne Evidenzbasierte Psychiatrie integriert die verschiedenen Herangehensweisen. In kaum einem klinischen Fach spielen Patientenpräferenzen, die Mitarbeit der Patienten, Interaktionsfaktoren und psychosoziale Einflüsse eine so große Rolle wie in der Psychiatrie. In vielen Bereichen psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung ist ein multidisziplinäres Vorgehen nicht wegzudenken. Häufig werden Behandlungsverfahren kombiniert angewendet, ohne dass die wichtigsten Einzelaspekte dieser Kombinationen annähernd erforscht sind. Settingfaktoren im Sinne von Umgebungs-, Interaktions- und psychosozialen Einflüssen auf die Wirksamkeit einzelner Interventionen sind in der Psychiatrie von großer Bedeutung, so dass eine allzu schematische Anwendung von Evidenzstufen ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Fachgebietes nicht sinnvoll ist. Diese Besonderheiten der Psychiatrie stellen jedoch die Prinzipien der Evidenzbewertung nicht infrage, sondern sind innerhalb des Konzeptes zu berücksichtigen.
In den folgenden Kapiteln soll diesen Spezifika der verschiedenen Arten von Evidenz in der Psychiatrie Rechnung getragen werden. Die Darstellungen der Evidenzrecherche und -bewertung in den Kapiteln 2 und 3 beziehen sich vor allem auf definierte therapeutische Interventionen. Im Kapitel 4 „Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse“ werden zudem systematische Reviews und Meta-Analysen, Patientenpräferenzen und der Einbezug gesundheitsökonomischer Evidenz diskutiert. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Formen qualitativer Evidenz, woran sich eine Darstellung der Besonderheiten der drei wesentlichen Bereiche psychiatrischer Versorgung und Behandlung (Pharmakotherapie, Psychotherapie und Soziotherapie) anschließt. Nach einem Abschnitt über evidenzbasierte Versorgungsleitlinien wird auf Kritik an der Evidenzbasierten Medizin eingegangen und ein Ausblick auf künftige Entwicklungen gegeben.
Die Suche nach medizinischen Informationen konzentrierte sich traditionellerweise auf medizinische, psychologische und andere Lehrbücher. Während des Studiums ist der angehende Arzt oder Therapeut insbesondere damit beschäftigt, die normale menschliche Physiologie bzw. Psychologie und die pathophysiologischen Vorgänge, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, zu verstehen. In der Psychiatrie lag der Hauptschwerpunkt der Ausbildung auf der Klassifikation unterschiedlicher psychischer Erkrankungen und der Klassifizierung störungsspezifischer Therapien, insbesondere der medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungen. Mit dem Beginn der praktischen Arbeit in einer psychiatrischen Einrichtung verschieben sich die Interessen bzw. die Erfordernisse und damit auch die Art der Fragen an die medizinische Literatur. Es interessiert weniger die genaue Einordnung eines psychischen Problems, das ein bestimmter Patient beklagt, in ein ätiologisches oder pathogenetisches Krankheitskonzept oder eine entsprechende Klassifikation, sondern die Verlässlichkeit und Aussagekraft bestimmter Klassifikationskriterien für das vorliegende Krankheitssyndrom. Es interessiert weniger die allgemeine Prognose einer psychischen Erkrankung wie „der“ Panikstörung, sondern die individuelle Prognose beispielsweise eines 50-jährigen männlichen, unverheirateten und arbeitslosen Patienten mit Panikstörung, begleitender Depression und episodischem Alkoholmissbrauch. Es interessiert weniger die Menge an verfügbaren Behandlungsstrategien insgesamt für ein psychisches Problem, sondern die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen einer bestimmten Strategie im Vergleich zu einer verfügbaren alternativen Strategie.
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