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Studien zu Literatur und Theorie
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Doerte Bischoff, Miriam N. Reinhard, Claudia Röser, Sebastian Schirrmeister (Hrsg.)
Exil Lektüren
Studien zu Literatur und Theorie
Doerte Bischoff, Miriam N. Reinhard, Claudia Röser, Sebastian Schirrmeister (Hrsg.)
Exil Lektüren
Studien zu Literatur und Theorie
Beiträge zum StudientagExil und Literaturder Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur am 6. Juli 2012
Neofelis Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Neofelis Verlag UG (haftungsbeschränkt), Berlin
www.neofelis-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Marija Skara
E-Book-Format: epub, Version 2.0
ISBN: 978-3-943414-30-1
Inhalt
Doerte Bischoff, Miriam N. Reinhard, Claudia Röser, Sebastian Schirrmeister
Exil und Literatur. Vorwort
I. Heimat und Exil
Katharina Hänßler
Exil und Ironie. Poetologische Verhandlungen von Heimatkonzepten in ausgewählten Gedichten Heinrich Heines
Sophie Bornscheuer
Heimat als Lücke. Referenzloses Heimweh in Mascha Kalékos Emigranten-Monolog
Caroline Schwarz
Zwischen Selbstverständlichkeit und Selbstbestimmung.
Konstruierte Heimat bei Jenny Aloni und Hilde Domin
II. Exil und Judentum
Sonja Dickow
Jüdische Exiltraditionen in der Lyrik von Nelly Sachs
Sandra Narloch
Transnationale Perspektiven bei Lion Feuchtwanger.
Zur Josephus-Trilogie: Judentum, Nationalismus und die Idee des Weltbürgertums
Rachel Rau
Zwischen Singularität und Universalität.
Paradoxe Aspekte jüdischen Exils in Heinrich Heines Jehuda ben Halevy
III. Verwerfungen, Entgrenzungen, Übersetzungen
Eleonore Schmitt
Europa jenseits der Nationalstaaten.
Der Flüchtling bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben
Carla Swiderski
Über das „Quallenschwein“.
Mensch/Tier-Konstellationen in Oskar Maria Grafs Exilroman Die Flucht ins Mittelmäßige
Anne Benteler
Walter Benjamins Begriff der Übersetzung.
Eine neue Perspektive auf Exilliteratur
Die Autorinnen
Exil und Literatur
Vorwort
Dass das historische Exil von 1933 bis 1945 einen zentralen Platz im kulturellen Gedächtnis beanspruchen sollte, ist seit den späten 1960er Jahren ein zentrales Anliegen der sich damals formierenden Exilforschung, die von Anfang an einen starken Akzent auf literarische Reflexionen des Exils setzte. Am Beginn des 21. Jahrhunderts, an dem es kaum noch Zeitzeugen des Nationalsozialismus und des durch ihn erzwungenen Exils gibt, stellt sich die Frage nach den Foren und Formen eines solchen Erinnerns mit neuer Dringlichkeit. Sollen die in Archiven gesammelten historischen Dokumente und Zeugnisse zum Sprechen gebracht werden, müssen sie immer auch mit aktuellen Debatten und Kontexten vermittelt werden. Um Texten der ‚klassischen‘ Exilliteratur einen Platz in den Lebens- und Lesewelten einer jüngeren Generation zu geben, muss es einer zeitgemäßen Exilforschung darum gehen, diese zu erkunden und einzubeziehen.
Tatsächlich haben sich die Bedingungen der Rezeption von Exil und Exilliteratur seit den Anfängen der (germanistischen) Exilforschung stark verändert. Prozesse der Globalisierung und vielfältige Migrationen prägen heutige Lebenswirklichkeiten ebenso wie Tendenzen der Gegenwartsliteratur, die zunehmend auf programmatische Weise transnational, transkulturell und translingual ist. Dies verändert auch die Perspektive auf historische Texte, die kulturelle Entortungen und Grenzgänge verhandeln.
In den vergangenen Jahren haben neue kulturwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen die im Horizont der historischen Exilepoche seit 1933 entstandenen Texte auf veränderte Weise in den Blick gerückt. Besonders theoretische Impulse des Postkolonialismus und der Inter- bzw. Transkulturellen Literaturwissenschaft, des ‚Translational Turn‘, aber auch der ‚Animal Studies‘, die Fragen nach Gruppenzugehörigkeit und Gemeinschaft, nach Territorialität, Sprachlichkeit und Übersetzung neu problematisiert haben, erweisen sich aktuell für die Untersuchung von Exiltexten als produktiv. Zugleich bilden diese Ansätze methodisch eine Brücke, den Exilbegriff weiter zu fassen und ‚klassische‘ Exiltexte mit Textzeugnissen anderer historischer Exile bzw. mit unterschiedlichen kulturellen Exilnarrativen (z.B. in jüdischer Tradition) zusammenzudenken und nicht zuletzt Korrespondenzen und intertextuellen Bezügen zur Gegenwartsliteratur nachzugehen.
Der vorliegende Band versammelt die Ergebnisse eines Studientags, den die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur am 6. Juli 2012 in der Bibliothek für Exilliteratur im Carl von Ossietzky-Lesesaal der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg ausgerichtet hat. Im Sommersemester 2012 hatten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsstelle insgesamt sechs Seminare und Vorlesungen zu verschiedenen Exilthemen angeboten, die auf je unterschiedliche Weise neue Akzente in der Exil(literatur)forschung reflektierten.1 Die Studierendenkonferenz ermöglichte BA- wie MA-Studierenden aus den verschiedenen Seminaren, ihre Projekte und Arbeiten in Kurzvorträgen vorzustellen und zu diskutieren, wobei sich zahlreiche übergreifende Aspekte und Fragestellungen ergaben.
Durch die vorgeschlagenen Themen wurde eine systematische Aufteilung der Vorträge in drei Sektionen nahegelegt: Diese widmen sich I. Konstruktionen von Heimat und Heimatentzug in Exiltexten, II. der Frage, wie sich gerade in Texten jüdischer Exilautoren (seit Heinrich Heine) Reflexionen historisch-biografischer Exilerfahrung mit Figuren und Narrativen des Exils in jüdischer Tradition verschränken. III. wurden Problematisierungen nationalstaatlicher Gemeinschaftsentwürfe und Mensch-Tier-Konstellationen in Exiltexten untersucht; außerdem wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Übersetzungstheorie von Walter Benjamin, die hierarchisierenden Konzepten einer Ursprungs- oder Muttersprache mit Skepsis begegnet, in besonderer Weise für die Arbeit mit Exilliteratur fruchtbar gemacht werden kann.
Wenngleich die Auswahl der behandelten literarischen Texte (von Lion Feuchtwanger, Nelly Sachs, Oskar Maria Graf, Hilde Domin, Mascha Kaléko, Jenny Aloni) einen deutlichen Schwerpunkt auf Autorinnen und Autoren erkennen lässt, die als Zeitzeugen des Exils 1933−45 gelten können, so weist doch der Befund, dass viele dieser Texte erst deutlich nach 1945 entstanden sind, darauf hin, dass hier weniger die Frage nach einer möglichst authentischen Abbildung und unmittelbaren Reflexion von Exilerlebnissen als vielmehr deren Literarisierung im Horizont diverser (inter-)textueller Bezüge und Aspekte des Nach-Lebens und Erinnerns des Exils im Vordergrund stehen. Eine deutliche Ausweitung der Perspektive traditioneller Exilforschung ist in den Beiträgen zu erkennen, die Heinrich Heines Dichtung ausdrücklich als Exilliteratur behandeln. Darüber hinaus werden diverse Bezüge zu theoretischen Texten, wie sie sich in den Beiträgen über die Figur des Flüchtlings bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben sowie über Benjamins Begriff der Übersetzung bereits in den Titeln artikulieren, vielfältig aufgeworfen und diskutiert.
Die Beiträge greifen zentrale Aspekte der gegenwärtigen Forschungsdiskussion auf und machen sich deren Fragestellungen zu eigen. Zugleich entwickeln die Aufsätze eigene Perspektiven, die z. T. in Abschlussarbeiten weiter ausgeführt wurden. So dokumentiert der vorliegende Band mit dem Studientag nicht nur das Bemühen der im Kontext der Berendsohn-Forschungsstelle Lehrenden, Exilthemen auf ansprechende Weise zum Thema universitärer Lehre zu machen, sondern vor allem das Engagement und die Bereitschaft der Studierenden, diese Impulse aufzugreifen und auf vielfältige und originelle Weise weiterzudenken.
Wir freuen uns deshalb, dass wir die überarbeiteten Beiträge nun in Aufsatzform veröffentlichen können. Wir danken den Autorinnen und allen, die an der Organisation des Studientages und der Erstellung dieses Bandes mitgewirkt haben.
Hamburg, September 2013
Doerte Bischoff, Miriam N. Reinhard, Claudia Röser und Sebastian Schirrmeister
Anmerkungen
1 Für einen detaillierteren Überblick über die angebotenen Veranstaltungen vgl. http://www1.slm.uni-hamburg.de/de/forschen/arbstzentren/exilforschung/01_forschungsstelle/08_lehre.html.
I. Heimat und Exil
Exil und Ironie
Poetologische Verhandlungen von Heimatkonzepten in ausgewählten Gedichten Heinrich Heines
Katharina Hänßler
„Von Ironie bei Heine sprechen“ hieße „vor jedem literarisch beschlagenen Publikum Eulen nach Athen tragen“1, bemerkte einst der Heine-Forscher Wolfgang Preisendanz. Bei Dirk von Petersdorff ist sogar die Rede davon, dass „die Ironie […] jene Größe [sei], die Heines Werk Einheit gibt“2. Mit Sicherheit ist die Ironie grundlegend für die so charakteristische Sprechweise Heines, die es möglich macht, die Gesamtheit der von ihm verfassten Texte als ein Werk zu fassen, so sehr dieses auch in verschiedene Textsorten auseinanderfallen mag. Die ironische Sprechweise ist jedoch insbesondere in denjenigen Texten Heines, die im Exil entstanden, mehr als ein bloßes Stilmittel, kein rhetorisches Charakteristikum um seiner selbst willen. Denn die ironische Sprechweise, so lautet die These, die im Folgenden diskutiert werden soll, ist in besonderem Maß dazu geeignet, die innere Widersprüchlichkeit der Exilperspektive literarisch zu verhandeln.
Unterziehen wir, um uns diesem Zusammenhang zu nähern, zunächst die widersprüchlichen Phänomene der Exilerfahrung einer genaueren Betrachtung. Sie alle beziehen sich auf den Begriff der Heimat: Als Ursprung aber auch als Bleibe, sowohl topographisch als eben auch kulturell verstanden ist sie der vertraute Nahort, das Eigene. Ohne die Heimat lässt sich das Exil nicht denken, schließlich definiert es sich durch die Verbannung des Subjekts aus ihr in die Fremde, die Distanz zu ihr aus der Fremde heraus. So ergibt sich die Exilperspektive als der paradoxe Blick auf das Eigene von außen. Lässt sich dieser Blick rein topographisch noch einfach konzeptualisieren, wird es deutlich schwieriger, dies auf die kulturelle Dimension von Heimat bezogen zu denken. Durch die Sozialisation in einer Umgebung prägt die Heimat das Subjekt, wird ihm durch diese Ein-Prägung selbst zu eigen: Das Subjekt ist Teil der Heimat und diese wird dadurch selbst ein Teil von ihm. Das Exil als Zustand der – von Eigenheiten oder Zuständen der Heimat selbst bedingten – Trennung von der Heimat spannt, oder auch: bricht dieses Verhältnis. Der Widerspruch ergibt sich dabei daraus, dass die Heimat in der Exilperspektive Eigenes und Anderes zugleich ist: Anderes im Blick nach außen, Eigenes im Blick nach innen. Vor dem Gang ins Exil war Heimat sowohl Teil des Subjekts als auch der Standpunkt, von dem aus es die Welt erfasste. Als Ausgangspunkt der Erkenntnis versperrte sie sich dem Erkanntwerden selbst. Im Exil erscheint sie nun in einem inneren, höchst paradoxen Spannungsverhältnis zugleich als äußeres Objekt. Erst dieser Bruch lässt eine Betrachtung zu, die dem Subjekt nun auch explizit verdeutlicht, welche Eigenschaften der Heimat diese zu seinem Eigenen machen. Das Eigene, so könnte man sagen, kann nur retrospektiv erkannt werden: dann, wenn es bereits zum Anderen geworden ist. Hinweise auf dieses Paradoxon finden sich auch in den Texten Heinrich Heines. So liest man in der Vorrede zu Salon I: „Es ist eine eigene Sache mit dem Patriotismus, mit der wirklichen Vaterlandsliebe. Man kann sein Vaterland lieben, und achtzig Jahre dabey alt werden, und es nie gewußt haben; aber man muss dann auch zu Hause geblieben seyn“; und weiter: „So beginnt die deutsche Vaterlandsliebe erst an der deutschen Grenze, vornehmlich aber beim Anblick deutschen Unglücks in der Fremde.“3 In den Englischen Fragmenten heißt es: „Kaum verlor ich den Anblick der deutschen Küste, so erwachte in mir eine kuriose Nachliebe für jene teutonischen Schlafmützen- und Perückenwälder, die ich eben noch mit Unmuth verlassen, und als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.“4
Das Subjekt flieht ins Exil – und aus dem Riss, der sich zur alten Heimat auftut, sprießt ein zuvor ungekannter und zwischen Innen und Außen nur schwer zu verortender, reflektierter Patriotismus, der dem blinden Patriotismus der Daheimgebliebenen entgegensteht. Die Exilerfahrung ist nur in Abhängigkeit von einem Heimatbegriff denkbar, stellt diesen jedoch im gleichen Zuge grundlegend in Frage. Als Konsequenz davon werden dem Exilanten auch auf dem Heimatbegriff basierende Konzepte wie Vaterlandsliebe, Patriotismus und Nationalheldentum fragwürdig. Der Blick von außen bringt sie in ein Spannungsverhältnis, in welchem er ihre Konstruiertheit aufzeigt, ohne jedoch die Begriffe dabei aufzuheben. Immerzu stellt in diesem Sinne die Heine’sche Exillyrik das Konzept von Heimat und verwandten Begriffen in Frage. Dieser Zweifelhaftigkeit der verwendeten Begriffe entspringt die ironische Sprechweise. Die Exilperspektive ist uneigentlich, da sie das Eigene erst als bereits zum Anderen Gewordenes, die Heimat erst in ihrer Verfremdung erkennt. Analog dazu wird auch die Ironie als Form der uneigentlichen Rede verstanden, die das Gegenteil des Gesagten im Gesagten selbst enthält. Die Ironie als dialektische Sprechweise scheint somit geradezu prädestiniert zur literarischen Verarbeitung der Exilerfahrung, welcher die sie bedingenden Grundkategorien fragwürdig geworden sind. Zu den literarischen Möglichkeiten, welche die ironische Sprechweise eröffnet, schreibt Rolf Schnell mit Blick auf Heine: „Ironie ist eine Negationsfigur. Ihr Reiz macht ihre Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit aus. Ihr negatorischer Charakter eröffnet Spielräume, deren sie als poetische Figur bedarf.“5 In diesen Spielräumen können die inneren und dabei doch im höchsten Maße realen Widersprüche des Exils und mit ihm verbundener Begriffe bewegt und verhandelt werden. Ursula Lehmann beschreibt in ihrer Betrachtung der Heine’schen Ironie die literarische Ironie an sich wie folgt:
Die Definition für die literarische Ironie wird relativ eindeutig verwandt: eine Redeweise, die bestimmt ist durch eine Differenz zwischen Aussage und Meinung, wobei das besondere Interesse der Frage gilt, inwieweit diese voneinander abweichen und ob dezidierte Rückschlüsse von der Aussageform auf den Aussageinhalt zulässig sind.6
Die Analyse zweier Exilgedichte aus der Feder Heinrich Heines soll im Folgenden aufzeigen, wie und mit welcher Funktion eine ironische Behandlung der Exilthematik literarisch realisiert werden kann. Die hierfür ausgewählten Gedichte, Jetzt wohin? und Anno 1839, exemplifizieren auf jeweils ganz unterschiedliche Weise eine ironische Verarbeitung der Exilerfahrung. Während Jetzt wohin? angesichts der Vertreibung aus der ursprünglichen Heimat nach Möglichkeiten fragt, diese durch eine neue Wahlheimat zu ersetzen, werden in Anno 1839 die ambivalenten Gefühle des lyrischen Ich bezüglich seiner verlassenen Heimat Deutschland einerseits und der Exilstätte Frankreich andererseits ironisch kontrastiert. Gemeinsam ist den Gedichten, dass sie gegen Ende eine Wendung ins Romantische nehmen. Die Interpretation der Schlussstrophen wird daher jeweils zunächst ausgespart, in einer vergleichenden Betrachtung sollen sie an späterer Stelle Aufschluss über das Verhältnis von Heine’scher und romantischer Ironie geben. Diese Bezugnahme scheint vor dem Hintergrund, dass sich bei Heine trotz aller Distanz eine „Affinität zur romantischen Geisteshaltung doch nicht […] verhehlen“7 lässt und sein Werk auch als „Bindeglied zwischen Romantik […] und dem […] Prozeß der Herausbildung der Moderne“8 gesehen wird, unausweichlich.
Die zweite Hälfte des 1851 veröffentlichten Romanzero enthält das Gedicht Jetzt wohin?.9 Die titelgebende Frage ist es, auf die das aus Deutschland exilierte lyrische Ich eine Antwort sucht. Gleich in der ersten Strophe werden die inneren Widersprüche in Bezug auf die alte Heimat dargelegt.
Jetzt wohin? Der dumme Fuß
Will mich gern nach Deutschland tragen;
Doch es schüttelt klug das Haupt
Mein Verstand und scheint zu sagen:
[…]
Der „dumme Fuß“ möchte sofort nach Deutschland zurückkehren, wird vom aus dem „Haupt“ sprechenden Verstand aber eines Besseren belehrt. Der im Singular genannte „Fuß“ und das „Haupt“ als anatomisch weitestmöglich entgegengesetzte Körperteile spiegeln in ihrer Funktion als personifizierte Metonymien den Konflikt innerhalb der Seele: unreflektierter, sensualistischer Trieb auf der einen, kalte Vernunft auf der anderen Seite. Gleich Teufelchen und Engelchen streiten sie um den Einfluss auf die zu fällende Entscheidung des lyrischen Ich. An dieses wendet sich in der zweiten Strophe mit Du-Anrede der Verstand und legt ihm die Gründe dar, die gegen eine Rückkehr nach Deutschland sprechen:
Zwar beendigt ist der Krieg,
Doch die Kriegsgerichte blieben,
Und es heißt, du habest einst
Viel Erschießliches geschrieben.
Auch nach dem Krieg, wobei hier auf die gescheiterte Revolution von 1848 angespielt wird, muss das lyrische Ich aufgrund seiner Veröffentlichungen dort den Tod fürchten. Trotz veränderter politischer Lage bleiben die Rechtsstrukturen als hinreichende Bedingung zum Exil bestehen.
Das ist wahr, unangenehm
Wär’ mir das Erschossen-werden;
Bin kein Held, es fehlen mir
Die pathetischen Gebärden.
Der Wunsch zur Rückkehr, der sich auf die Frage „Jetzt wohin?“ im ersten Vers augenblicklich einstellt, wird vom Blick auf die realen, äußeren Zustände sogleich zunichte gemacht. Das leuchtet auch dem lyrischen Ich ein. Der Tod wäre ihm, so stellt es in ironischer Untertreibung fest, „unangenehm“, das Konzept des Heldentums weist es zurück, indem es dieses in ironischer Konnotationsverschiebung dekonstruiert. Deutlich wird bei dieser Charakterisierung auf das selbstkonstruierende Moment des Helden verwiesen: In der betont leidenschaftlichen Geste zielt er auf Außenwirkung ab, gleich einem Schauspieler versucht er, ein gewünschtes Bild im Auge des Betrachters zu erzeugen. Man wird nicht aus innerer Verbundenheit zum Vaterland zum Helden – an dieser würde es dem lyrischen Ich ja nicht mangeln, wie sein unterdrückter Wunsch zur Rückkehr zeigt –, sondern aus dem Wunsch nach der Konstruktion gewünschter Außenwirkung. Ohne Scham noch Reue kann das lyrische Ich diese Form der Heimatverbundenheit von sich weisen. In den Strophen vier bis sieben werden andere Länder als Alternativen ins Auge gefasst und nacheinander verworfen.
Gern würd’ ich nach England geh’n,
Wären dort nicht Kohlendämpfe
Und Engländer – schon ihr Duft
Giebt Erbrechen mir und Krämpfe.
Zur Ablehnung führt dabei stets die Entblößung kultureller Konzepte, die mit diesen Ländern konnotiert werden; dies geschieht durch das Begehen von Fehlern in der Wiederaufführung der Konzepte. Diese Fehler fungieren zugleich als Ironiesignale, kennzeichnen die Rede also als uneigentlich und verleihen dem Text bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik einen nicht zu vernachlässigenden Witz. Zuerst wendet sich der Blick nach England, doch stören dort die „Kohlendämpfe“ als Hinweis auf die in Folge der Industrialisierung verpestete Luft. Dies kann auch als Metapher für die Entmenschlichung durch die Technisierung gelesen werden, deren Spitzenreiter England damals war. Man könnte hier also eine klare Absage an eine gesellschaftliche Entwicklung vermuten, durch welche die Fabriken den Menschen das lebensnotwendige Atmen erschweren, würde das Gedicht nicht in sofortigem Anschluss den Körpergeruch der Engländer als zumindest ebenso schlimm schildern. Der Industrialisierungskritik folgt eine literarisch durch ein Zeugma10 realisierte ironische Parallelisierung der Fabrikschornsteine mit den Menschen selbst. So scheinen sich die Probleme in Bezug auf England schließlich als subjektive Störung auf die Nase des lyrischen Ichs zurückführen zu lassen. Allerdings erlaubt in ihrer Uneigentlichkeit die Ironie auch hier keine endgültige Festlegung. So eröffnet sich in dieser Strophe ein Spannungsfeld zwischen objektiver Gesellschaftskritik und subjektivem Ästhetizismus.
Der Möglichkeit, „nach Amerika zu segeln“, widmen sich daraufhin gleich zwei Strophen des betrachteten Gedichtes.
Manchmal kommt mir in den Sinn
Nach Amerika zu segeln,
Nach dem großen Freyheitsstall,
Der bewohnt von Gleichheits-Flegeln –
Doch es ängstet mich ein Land,
Wo die Menschen Tabak käuen,
Wo sie ohne König kegeln,
Wo sie ohne Spucknapf speyen.
Ironisch werden hierbei die Revolutionsideale von Freiheit und Gleichheit subvertiert. Amerika erscheint als „Freiheitsstall / Der bewohnt von Gleichheitsflegeln“. Die Antinomie „Freiheitsstall“ weist auf die Unzulänglichkeit eines negativen Freiheitsbegriffes, sprich der bloßen Abwesenheit von Zwang hin. Auch unreflektierte Lobpreisung der Gleichheit als genuin wertvoll wird durch die abwertende Charakterisierung der amerikanischen Bürger als „Gleichheitsflegel“ kritisiert. Obgleich der Begriff „Gleichheit“ oft mit Bezug auf humanistische Konzepte wie eine unveräußerliche Würde und universelle Menschenrechte verwendet wurde, zeigt sich, dass diese Werte dem Gleichheitsbegriff durchaus nicht immanent sind. Gleichheit kann auch im Negativen bestehen: im Unkultivierten, Flegelhaften. Diese Form der Gleichheit erzeugt keine auf wünschenswerte Weise freie Gesellschaft, wie die daran anschließende Strophe nochmals verdeutlicht: In dieser wird ein Ordnung stiftender König vermisst. Dieser Wunsch erscheint aber zugleich höchst ironisch, denn der König fehle nur zum „[K]egeln“, zum Spiel also, und wird syntaktisch parallelisiert mit dem „Spucknapf“ im folgenden Vers. Eine weitere Spannung ergibt sich zwischen dem auf Inhaltsebene beschriebenen Chaos und der formalen Ordnung der Sprachebene, welche durch den Parallelismus auf der Satzebene und die Alliterationen König / kegeln und Spucknapf / spucken auf der Wortebene eine stark geordnete Strukturierung aufweist. Zuletzt wird Russland als mögliche neue Wahlheimat verhandelt, im Vergleich zu den vorhergegangenen Überlegungen aber eher lapidar abgetan.
Rußland, dieses schöne Reich
könnte mir vielleicht behagen,
doch im Winter könnte ich
dort die Knute nicht ertragen.
Es sei zwar ein „schöne[s] Reich“ und könnte „behagen“, doch die Knute im Winter, wohl ein Verweis auf das berüchtigt raue Klima, sei zu hart. Hier stellen sich beim Leser schließlich Zweifel daran ein, ob das lyrische Ich wirklich darum bemüht ist, eine neue Heimat für sich zu erschließen. Überhaupt scheint die Möglichkeit, Heimat aus eigenem Entschluss zu wählen, fragwürdig zu werden. Das Konzept der Heimat beinhaltet schließlich immer ein irrationales Moment, ein Gefühl der apriorischen und unerschütterlichen Zugehörigkeit. So sehr das Heimatkonzept in der Exilperspektive auch ins Wanken gerät: sich gänzlich davon zu lösen, scheint trotzdem nicht einfach zu sein. So schließt nach der Strophe zu Russland auch die Betrachtung der möglichen neuen Wahlheimaten und der Blick wendet sich ab von weltlichen Grenzen in Richtung Himmel.
Auch Anno 183911, das zweite der hier untersuchten Gedichte, verhandelt Konzepte verschiedener Nationen. Allerdings geschieht dies ganz anders als in Jetzt wohin?: Nicht nacheinander und für sich, sondern in direkter Gegenüberstellung vergleicht das lyrische Ich seine deutsche Heimat mit dem Pariser Exil.
O, Deutschland, meine ferne Liebe,
Gedenk’ ich deiner, wein’ ich fast!
Das muntre Frankreich scheint mir trübe,
Das leichte Volk wird mir zur Last.
Nur der Verstand, so kalt und trocken,
Herrscht in dem witzigen Paris –
O, Narrheitsglöcklein, Glaubensglocken,
Wie klingelt ihr daheim so süß!