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Jan Assmann

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Beschreibung

Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten ist eine der wirkmächtigsten Erzählungen der Menschheit. Sie steht für die Befreiung aus Sklaverei, aber auch für die Erfindung des Glaubens an den einen Gott. Jan Assmann verfolgt die Spuren der Exodus-Erzählung zurück bis ins Alte Ägypten und nach vorne bis ins 20. Jahrhundert. Er entfaltet eine neue Theorie des Monotheismus und zeigt, warum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten auch die Gründungserzählung der modernen Welt ist.

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JAN ASSMANN

EXODUS

Die Revolution der Alten Welt

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Das Buch Exodus enthält Schlüsselszenen der Heilsgeschichte, die in Judentum, Christentum und Islam, aber auch in Kunst und Literatur eine vielfältige Wirkung entfaltet haben: von der Fron der Israeliten in Ägypten über die Offenbarung Gottes in einem brennenden Dornbusch, die zehn Plagen, die Stiftung des Passa-Festes und den Durchzug durchs Schilfmeer bis zum Empfang der Zehn Gebote und den Tanz ums Goldene Kalb. Wann sind diese Geschichten entstanden? Welche ägyptischen und altorientalischen Parallelen oder Wurzeln haben sie, und was an ihnen ist radikal anders und neu? Wer hat diese Erzählungen schließlich zusammen mit verschiedenen Gesetzestexten zu dem Buch Exodus, dem Gründungsdokument einer neuen Religion, verbunden? Jan Assmann geht diesen Fragen auf dem neuesten archäologischen und bibelwissenschaftlichen Forschungsstand nach. Er präzisiert seine viel diskutierte Monotheismus-Theorie und erklärt die revolutionären, weltgeschichtlichen Folgen des Auszugs aus Ägypten.

Über den Autor

Jan Assmann ist Professor em. für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren, etwa in Los Angeles, Wien, Paris, Jerusalem, Oxford und Chicago, belegen sein internationales Renommee. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2016), dem Balzan Preis (mit Aleida Assmann, 2017) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Aleida Assmann, 2018). Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Das kulturelle Gedächtnis» (8. Aufl. 2018), «Tod und Jenseits im Alten Ägypten» (2. Aufl. 2010) sowie zuletzt «Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne» (2018).

 

 

 

 

Incipit exire qui incipit amare.Augustinus

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

ERSTER TEILALLGEMEINE GRUNDLAGEN

ERSTES KAPITELTHEMA UND AUFBAU DES BUCHES EXODUS

1. Erster Teil: Auszug (Kapitel 1–15)

Namensoffenbarung

Machtoffenbarung

2. Zweiter Teil: Sinai – Erwählung, Bund und Gesetz (Kapitel 15–24)

Der Gang zum Sinai

Bundesoffenbarung

3. Dritter Teil: Gottesnähe (Kapitel 25–40)

Offenbarung des Zeltheiligtums

Wesensoffenbarung: Bruch und Versöhnung

Der Bau des Zeltheiligtums

Der Abschluss der Offenbarung: Gottes permanente Gegenwart

ZWEITES KAPITELDER HISTORISCHE HINTERGRUND – EREIGNIS UND ERINNERUNG

1. Erinnerungen

Die Hyksos

Amarna

Ḫabiru/‘Apiru

Wanderungsbewegungen, Seevölker

Gottesstaat

2. Erfahrungen

Der Kristallisationspunkt: Eine wundersame Errettung aus höchster Gefahr

Die «Loslösung der Nordstämme»: die erste Stunde der Erinnerung?

Die Neugründung Israels: die große Stunde der Erinnerung

DRITTES KAPITELTEXTGESCHICHTE UND SINNGESCHICHTE

1. Fortschreibung als «Sinnpflege»: die Schichtung des biblischen Textes

2. Vom Mythos zum Kanon und zurück

3. Die «mosaischen Unterscheidungen» und der «Monotheismus der Treue»

ZWEITER TEILDER AUSZUG

VIERTES KAPITELDIE LEIDEN DER ISRAELITEN UND DIE GEBURT DES RETTERS

1. Die ägyptische Fron

2. Die Geburt des Kindes

3. Moses Kindheit und Erziehung

FÜNFTES KAPITELNAMENSOFFENBARUNG: MOSE AM BRENNENDEN DORNBUSCH

1. Moses Berufung

2. Erhörung, Verheißung, Berufung

Exkurs I: Die Dornbusch-Szene in Schönbergs Oper

Moses und Aron

3. Ich bin der ich bin

SECHSTES KAPITELZEICHEN UND WUNDER – GOTTES MACHTOFFENBARUNG

1. Die ägyptischen Plagen

2. Die ägyptisch-hellenistische Überlieferung

3. Die Einsetzung des Pessach-Fests und die Pessach-Haggada

Exkurs II: Moses Dankgesang und Händels Oratorium Israel in Egypt

DRITTER TEILDER BUND

SIEBTES KAPITELDIE BERUFUNG DES VOLKES

1. Heiliges Volk und portatives Vaterland

2. Tora als Gedächtnis

3. Die Entwicklung der Bundesidee: Brautschaft und Sohnschaft als Bilder des Bundes

ACHTES KAPITELVERTRAG UND GESETZ

1. Die Dekonstruktion des Königtums: Vertrag und Gesetz als Verfassung des Gottesvolks

2. Die Zehn Gebote

3. Bundesbuch und Bundesschluss

Exkurs III: Die «Exkarnation» und Theologisierung des Rechts

Exkurs IV: Der Dekalog und die ägyptischen Normen des Totengerichts

NEUNTES KAPITELWIDERSTAND – MOSE UND DAS GEWALTSAME GESCHICK DER PROPHETEN

1. Die Szenen des Murrens

2. Der Mord an Mose?

3. Das gewaltsame Geschick der Propheten

ZEHNTES KAPITELKULTSTIFTUNG – DIE INSTITUTION VON GOTTESNÄHE

1. JHWHs Einwohnung inmitten seines Volkes

2. Das Goldene Kalb: die Ur-Sünde des Bundesbruchs

Exkurs V: Das Goldene Kalb in Schönbergs Oper Moses und Aron

3. Ein «Buch vom Tempel»?

SCHLUSS

1. Narrative, historische und performative Wahrheit

2. Offenbarung

3. Aus Ägypten

4. Exodus als politischer Mythos

5. Exodus und Monotheismus

ANHANG

ANMERKUNGEN

ZITIERTE LITERATUR

BILDNACHWEIS

REGISTER

1. Personen

2. Sachen und Orte

3. Hebräische Begriffe

4. Bibelstellen

VORWORT

Der Monotheismus der Treue ist alles andere als eine marginale, verdeckte Traditionslinie, die es ans Licht zu heben gilt. Im Gegenteil bewegen wir uns mit der Semantik des Bundes, der Treue und des Glaubens im Zentrum der drei abrahamitischen Religionen. Und doch wird heute das Problem gerade der monotheistischen Religionen auf die Wahrheitsfrage reduziert. «Während die Religionen miteinander hadern», schrieb Sigmund Freud, «welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, sind wir der Meinung, daß der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf.»[1] Das war vernichtend gemeint und hat den bundestheologischen Kern des biblischen Monotheismus doch kaum berührt. Die Wahrheitsfrage soll hier nicht vernachlässigt werden und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion halte ich nach wie vor für eine entscheidende Kategorie, die erst mit dem Monotheismus – aber nicht nur dem biblischen – aufgekommen ist. Das eigentliche und ursprüngliche Element des biblischen Monotheismus aber sehe ich im Gedanken des Bundes, dessen Stiftung den Höhepunkt der Exodus-Erzählung darstellt. Um in diesen Bund einzuziehen, musste aus Ägypten ausgezogen werden.

Die antagonistische Spannung zwischen Ägypten und Israel, wie sie die Erzählung vom Auszug aus Ägypten darstellt, hat mich schon lange beschäftigt und war bereits das Thema von Moses der Ägypter. Im vorliegenden Buch möchte ich zu den Quellen zurückgehen, das heißt zum biblischen Buch Exodus, und es auf seine in die Länge der Zeit ausstrahlenden Grundideen hin befragen. Mein Zugang ist naturgemäß nicht der des philologisch und theologisch arbeitenden Alttestamentlers, sondern des kulturwissenschaftlich arbeitenden Ägyptologen, und mein methodischer Ansatz ist der einer «Sinngeschichte».[2] Ich verstehe den in der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten entfalteten Monotheismus der Treue bzw. die Bundestheologie als eine Sinnformation, die mit den frühen Propheten anhebt, im Deuteronomium und der deuteronomistischen Tradition ihre kanonische Form gewinnt und durch alle Wandlungen hindurch bis heute lebendig ist.

Der Begriff «Sinngeschichte» lässt sich in zwei Richtungen entfalten: Sinn «hat» Geschichte und Sinn «macht» Geschichte. In der ersten Richtung geht es um die allmähliche Herausbildung und die Wandlungen einer semantischen Formation in ihrer historischen und gesellschaftlichen Einbettung, ihre Entwicklungsstufen und entscheidenden Wendepunkte sowie die Texte und Zeugnisse, in denen sie Ausdruck gefunden hat. In der anderen geht es um die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Texte und Zeugnisse. Der Auszug aus Ägypten ist in beiden Richtungen ein hervorragendes Beispiel, zum einen, was die Entwicklung dieser Überlieferung im Laufe von drei bis vier Jahrhunderten zu dem zentralen semantischen Paradigma des frühen Judentums betrifft, und zum anderen hinsichtlich der einzigartigen Wirkungsgeschichte dieses Paradigmas in den darauf aufbauenden Religionen Christentum und Islam, die zu einer grundlegenden Umgestaltung der Welt geführt haben.

Die betroffene Fachwissenschaft, die alttestamentliche Theologie, ist der Frage nach Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der alttestamentlichen Texte seit Jahrhunderten mit großer Intensität nachgegangen. In der einen Richtung ging es um eine diachrone Analyse der überlieferten Textgestalt, die zu einer ebenso differenzierten wie umstrittenen Scheidung von Quellen, Dokumenten, Kompositionsschichten und Redaktionsstufen führte, in der anderen Richtung um eine Auslegungsgeschichte in jüdischer und christlicher Sicht. Diese im engeren Sinne fachphilologische Perspektive kann und will ich mir in diesem Buch nicht zu eigen machen. Sie geht erstens weit über das hinaus, was ein Fachfremder leisten und in einem einigermaßen handlichen Buch unterbringen kann, und läuft zweitens immer wieder Gefahr, das eigentliche Thema der Sinngeschichte über den Einzelfragen der diachronen Textkritik aus dem Auge zu verlieren. Außerdem möchte ich gleich eingangs betonen, dass mein Thema nicht «der alttestamentliche Monotheismus» oder die «Theologie des Alten Testaments» ist, sondern der Auszug aus Ägypten und seine Folgen. Die alttestamentlichen Konzeptionen von Gott und Mensch, Israel und Judentum gehen natürlich weit über das hinaus, was im 2. Buch Mose narrativ und normativ entfaltet wird, auch wenn dies bis heute den Kern der Sache bildet.[3]

Die Position, von der aus ich es in diesem Buch unternehme, die so unendlich oft erzählte, kommentierte, gedeutete und gestaltete Exodus-Tradition in «sinngeschichtlicher» Hinsicht zu behandeln, ist die der teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmend, weil auch das protestantische Christentum, aus dem ich komme, in der Tradition des Exodus-Mythos steht, teilnehmend aber auch als Deutscher, als Nachgeborener der schwersten Katastrophen und Verbrechen meines Landes, der die Exodus-Erzählung – womit nicht nur das Buch Exodus, sondern der gesamte Erzählungsbogen von Auszug über Bundesschluss und Wüstenwanderung bis zum Einzug ins Gelobte Land gemeint ist – nicht lesen kann, ohne sich der vielfältigen Resonanzen bewusst zu werden, die diese Geschichte in ihm auslöst. Beobachtend, weil die Ägyptologie einen signifikanten Standpunkt sowohl inner- als auch außerhalb dieser Tradition vermittelt. Schließlich ist es ja Ägypten und nicht etwa Assyrien, Babylonien, das Hethiterreich oder irgendein anderes Reich der damaligen Welt, aus dem die Kinder Israels ausgezogen sind. In der Tat repräsentiert das Alte Ägypten die Welt, aus der Israel ausgezogen ist, in beispielhafter, idealtypischer Weise.

Von Ägypten aus lassen sich zwei ganz verschiedene Blicke auf die Hebräische Bibel werfen. Der eine sieht vor allem die Kontinuitäten und Parallelen, zwischen ägyptischen Hymnen und biblischen Psalmen, ägyptischen Liebesliedern und dem Hohelied Salomonis, ägyptischen und biblischen Opferbräuchen, Tabus und Reinheitsvorstellungen, ägyptischen und biblischen Vorstellungen vom (Gottes-)Königtum und vieles andere mehr, und sieht Israel eingebettet in die Kulturen der Alten Welt; der andere achtet vor allem auf die Diskontinuitäten, Antithesen, Verwerfungen und sieht in Israel vor allem das Neue, das sich den Ordnungen der Alten Welt als etwas radikal Anderes entgegenstellt und damit den Grund zu der Welt legt, in der wir heute leben. Während ich in den ersten fünfundzwanzig Jahren meiner ägyptologischen Existenz die Bibel ganz im Banne des erstgenannten Zugangs gelesen habe, ist mir seitdem vor allem der andere, diskontinuierliche, antagonistische, revolutionäre Aspekt der altisraelitischen und vor allem frühjüdischen Religion und damit auch die symbolische Bedeutung des Auszugs aus Ägypten aufgegangen.

Dieses Buch will weder eine Nacherzählung noch ein Kommentar sein, obwohl es naturgemäß nicht darum herumkommt, beide Formen des Umgangs mit der biblischen Exodus-Überlieferung zu praktizieren. Worum es mir aber vor allem zu tun ist, ist eine «resonante Lektüre», eine notwendigerweise recht subjektive Lektüre der biblischen Texte, in der möglichst viel von dem anklingt, was mir aus meinen ägyptologischen und allgemein kulturellen Interessen und geschichtlichen Erfahrungen vertraut geworden ist. Vor bald fünfundzwanzig Jahren war ich einmal als Ägyptologe von Familie Stroumsa in Jerusalem zu einem Seder eingeladen. Meine Freunde fanden es sinnvoll, sich die Leiden der Kinder Israels im ägyptischen Sklavenhaus einmal aus professioneller Perspektive vergegenwärtigen zu lassen. Diese unvergessliche Nacht endloser Lieder und Erzählungen gilt mir als Ermutigung auch für dieses Vorhaben.

«Benutzung nur unter Aufsicht und Anleitung» steht auf einem Schild, an dem ich oft vorbeikomme. Es bezieht sich auf den «Hochseilgarten» des hiesigen Sportgeländes. An so einen Hochseilgarten fühlte ich mich bei der Beschäftigung mit dem Alten Testament erinnert. Aber zum Glück fehlte es nicht an Aufsicht und Anleitung. Michaela Bauks, Ronald Hendel, Bernd Janowski, Othmar Keel, Daniel Krochmalnik, Bernhard Lang und Konrad Schmid haben die Rohfassung des Manuskripts gelesen und zahlreiche Korrekturen, Ergänzungen und Literaturhinweise beigesteuert, denen, wo ich ihnen gefolgt bin, im Einzelnen gedacht wird. Danken möchte ich auch dem Berliner Theologen Rolf Schieder sowie Thierry Chervel, dem Herausgeber des Internet-Organs «Der Perlentaucher», und seinem Assistenten David Assmann. Rolf Schieder hat in seinem Buch Sind Religionen gefährlich? (2008) die wohl schärfste Kritik publiziert, die Moses der Ägypter erfahren hat, und sich dann auf eine ungemein fruchtbare Weise mit einer Reihe eingeladener Gesprächspartner und mir auf eine Debatte eingelassen, die im Internet-Organ «Der Perlentaucher», betreut von Thierry Chervel und meinem Sohn David ein Forum erhielt. Im Lauf dieser Debatte habe ich sehr viel gelernt und meine Positionen erheblich präzisieren können.[4] In diesem Zusammenhang gebührt ein besonderer Dank dem Wiener Fundamentaltheologen Jan-Heiner Tück, der mich zweimal nach Wien eingeladen hat, meine Thesen im erweiterten Kreis zu diskutieren.

Ihnen allen sei hier von ganzem Herzen Dank gesagt, ebenso wie Ulrich Nolte, der das Buch als Lektor aufmerksam und ideenreich betreut und zusammen mit Maximilian Eberhard und Matthias Golbeck die Abbildungen ausgewählt hat. Das Manuskript gewann seine Endgestalt in Weimar, im Rahmen eines viermonatigen Stipendiums am «Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie», eine fachliche Ausrichtung, die auf den ersten Blick weitab zu liegen scheint vom Thema «Exodus». Das engere Thema jedoch, um das sich im Winter 2013/14 zehn Fellows in Weimar versammelten, hätte einschlägiger nicht sein können: «Memorization: The Construction of Pasts». In der Tat geht es bei der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten ja um die Konstruktion einer Vergangenheit, die sich eine Gruppe, ein Volk zuschreibt, um auf dieser Grundlage nach vollständigem Zusammenbruch einen neuen Anfang zu wagen und eine neue Identität zu gewinnen. Die Weimarer Diskussionen um Gedächtnis, Geschichte, Medien und Konstruktivität sind meinem Projekt sehr zugute gekommen. Den beiden Direktoren Bernhard Siegert und Lorenz Engell bin ich für die Einladung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kollegs für tatkräftige Hilfe dankbar.

Den Bibelzitaten liegt die Übersetzung der Elberfelder Bibel zugrunde. Der Gottesname JHWH wird nicht als «der HERR», sondern als Tetragramm wiedergegeben. Der Zeilenumbruch folgt meist kürzeren semantisch-syntaktischen Einheiten, nicht der masoretischen Verseinteilung, um den geformten, wenn auch nicht im engeren Sinne poetischen Stil der Erzählung anzudeuten. Hebräische Begriffe und Phrasen werden nicht in Quadratschrift wiedergegeben, sondern in einer Transliteration, die den Richtlinien der Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft (ZAW) und des WiBiLex folgt. Für diese Transliteration bin ich Michaela Bauks und Lilli Ohliger zu großem Dank verpflichtet. Die wissenschaftliche Umschrift soll auch den der hebräischen Schrift Unkundigen einen Eindruck von der Lautgestalt vermitteln und zugleich für Kundige in Quadratschrift rückübersetzbar sein.

Konstanz, im Juli 2014

Jan Assmann

Der Auszug aus Ägypten bleibtunser Ausgangspunkt.

Sigmund Freud[1]

Am Anfang war der Glaube:Der Glaube an einen Gott.

Heinrich August Winkler[2]

Der Urknall der Modernisierung vollzogsich mit dem […] Auszug aus derWelt der polytheistischen Kulturen.

Aleida Assmann[3]

EINLEITUNG

Das Buch Exodus enthält die wahrscheinlich grandioseste und folgenreichste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählt haben. Sein Thema ist eine Wende in der Geschichte der Menschheit, die sich nur mit den großen Evolutionsstufen auf dem Wege zum heutigen Menschen wie Schrifterfindung und Staatenbildung vergleichen lässt: Das ist die Wende vom Polytheismus zum Monotheismus, ein evolutionärer Einschnitt ersten Ranges, zumindest für die jüdisch-christlich-islamische Welt. Auch wenn sich diese Wende erst mit der Christianisierung und Islamisierung der Alten Welt wirklich revolutionierend durchgesetzt hat, ist es doch die im Buch Exodus erzählte Geschichte, die ihren Gründungsmythos darstellt. So gesehen handelt es sich hier nicht nur um den Gründungsmythos Israels, sondern des Monotheismus und damit eines zentralen Elements der modernen Welt. Der Historiker Gottfried Schramm sieht im Auszug aus Ägypten die erste von «Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte».[4]

Die Wirkungsgeschichte des Buches Exodus zu schreiben, ist daher ein Ding der Unmöglichkeit: Seine Wirkungen sind uferlos, seine Ausstrahlung ist unermesslich. Ich möchte daher eher der Frage nachgehen, worin diese einmalige Wirkungskraft besteht und die mythischen Kerne freilegen, aus denen sich seine Strahlkraft speist. Mythen tendieren dazu, immer wieder und immer neu erzählt zu werden. Sie haben eine lebensgründende und lebenserschließende Kraft und werfen Licht auf Situationen und Erfahrungen, die sie mit Sinn und Orientierung erfüllen. Mythen sind narrative Kerne, deren vielförmige Ausgestaltung Gesellschaften, Gruppen und auch einzelnen Individuen dazu verhilft, eine Identität auszubilden, das heißt, zu wissen, wer sie sind und wohin sie gehören, und komplexe Situationen und Lebenskrisen zu bewältigen. Im Licht des Osiris-Mythos zum Beispiel haben die Ägypter den Tod kulturell verarbeitet und im Licht des Ödipus-Mythos (was immer auch seine ursprüngliche Bedeutung sein mag) hat Sigmund Freud die Neurosen seiner Patienten verstanden und behandelt.

Das Buch Exodus widmet sich den beiden wichtigsten Fragen, die die Menschen von jeher beschäftigen: der Frage nach Gottesnähe und der Frage, wer «wir» sind. Die beiden Fragen gewinnen im Licht des Exodus-Mythos eine ganz spezifische Form und hängen unauflöslich zusammen, denn wer «wir» sind, bestimmt sich danach, was Gott mit «uns» vorhat. In dieser Form scheinen sich die Ägypter diese Fragen nie gestellt zu haben. Sie haben sich als «Menschen» verstanden, nichts Besonderes, zusammen mit allen anderen Lebewesen inklusive Gottheiten im Zuge der Weltentstehung aus Gott hervorgegangen, der seinerseits nichts Besonderes mit ihnen vorhat, sondern nichts anderes anstrebt als die aus ihm hervorgegangene Welt in Gang zu halten, wobei ihn die «Menschen» mit ihren Riten unterstützen können. Die Geschichte erschien ihnen nicht als ein Projekt, das sich in Verheißungen und Erfüllungen entfaltet, sondern eher als ein Prozess, der durch kulturelle Formung mit den mythischen Ur-Mustern in Einklang gehalten und dadurch vor Veränderungen bewahrt werden muss. Der Exodus-Mythos dagegen erzählt von den Kindern Israels, die Gott aus ägyptischer Knechtschaft befreit und aus den Völkern erwählt, um mit ihnen zusammen das Projekt einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Ein größerer Unterschied lässt sich kaum denken. Der ägyptische Mythos erzählt von der Welt und ihrer Gründung, der biblische Exodus-Mythos dagegen erzählt von etwas ganz Neuem und dessen Gründung innerhalb der längst entstandenen, vorgegebenen Welt. Das weltverändernd Neue entsteht im Licht dieses Mythos auf zweierlei Weise: durch Revolution und Revelation, Umsturz und Offenbarung. Um Israel zu befreien, hat Gott die ägyptische Unterdrückung gewaltsam zerschlagen, und um es zum Gottesvolk zu erwählen und mit ihm den Bund einer neuen Religion zu schließen, hat er sich ihm offenbart und ihm seinen Willen kundgetan.

Allerdings müssen wir genau unterscheiden zwischen der Exodus-Erzählung und dem Buch Exodus. Die Exodus-Erzählung geht weit über das hinaus, wovon das Buch Exodus handelt, denn ohne das Motiv des Gelobten Landes ergibt die Erzählung keinen vollständigen Sinn. Vom Auszug aus Ägypten kann man nur erzählen von dem Ort aus, der dem Auszug als Ziel vor Augen gestellt war. Es ist eine Geschichte, die sich die Angekommenen erzählen, nicht die Aufgebrochenen. Es geht um die Vergewisserung des Neuen und nicht um die bloße Emanzipation vom Alten. So gehören die Motive des Aufbruchs und des Gelobten Landes schon in dem ursprünglichen Mythos zusammen, der sich dann später literarisch im 2. bis 5. Buch Mose sowie im Buch Josua entfaltet hat. Schon die Tora, die diesem «Ur-Pentateuch» das Buch Genesis voranstellt und dafür das Buch Josua mit der Ankunft im Gelobten Land abtrennt, verkürzte die Exodus-Erzählung auf die Biographie des Mose, mit dessen Tod sie endet. Die Exodus-Erzählung kreist um die drei Ur-Motive des Auszugs, des Bundes und des Gelobten Landes. Das sind die mythischen Kerne, aus denen der Bericht vom Auszug Israels aus Ägypten seine wirklichkeitserschließende Kraft bezieht und immer wieder erzählt wird. Das Buch Exodus beschränkt sich dagegen auf die Motive Auszug und Bundesschluss und endet anstelle des Einzugs der Israeliten ins Gelobte Land mit dem Einzug Gottes in die Wohngemeinschaft mit seinem Volk.

Dementsprechend gliedert sich das Buch Exodus in drei Teile. Der erste Teil, Kapitel 1–15, erzählt die Geschichte der Befreiungaus ägyptischer Unterdrückung, der zweite, Kapitel 16–24, die Geschichte der Bindung an den Bund der neuen Religion, den Gott seinem auserwählten Volk anbietet. Dabei werden die ägyptische Unterdrückung und die befreiende Religion hebräisch mit demselben Wort bezeichnet: ’avodāh, «Dienst». Menschendienst bedeutet Unterdrückung, Gottesdienst bedeutet Freiheit. Offenbarung aber ist das Generalthema des Buches, das beide Teile bestimmt. In den Kapiteln 25–40 folgt der dritte Teil, der hier, im Rahmen des Buches, an die Stelle des Gelobten Landes tritt im Sinne des Ziels, um dessentwillen die Kinder Israels aus Ägypten ausgezogen sind.[5] In diesem abschließenden, umfangreichsten Teil des Buches, der aber in seiner wirkungsgeschichtlichen Ausstrahlung weit hinter den ersten beiden Teilen – Befreiung und Bindung – zurücksteht, geht es um die Einrichtung von Tempel (das Zeltheiligtum), Priesterschaft und Kult, also die Institutionalisierung des Bundes in Form einer neuen Religion. Man nimmt allgemein an, dass dieser dritte Teil einen Zusatz der Priesterschrift darstellt, die gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. die Bücher Genesis und Exodus zu einem umfassenden Geschichtswerk vereinigt hat.

Die Exodus-Erzählung findet sich auch außerhalb des Buches Exodus in verschiedenen – allerdings überraschend wenigen – Texten der Bibel angedeutet. Dazu gehören neben kurzen Anspielungen bei einigen Propheten vor allem eine Handvoll Psalmen, aus denen hervorgeht, dass das Erzählen der Heilstaten Gottes im nachexilischen Kult des Zweiten Tempels einen liturgischen Ort hatte. Hier werden nun zwei Punkte ganz deutlich: Es handelt sich bei diesem Erzählen um Akte der Erinnerung, um die Weitergabe vergangener Geschehnisse, die nicht in Vergessenheit geraten sollen, an künftige Geschlechter, und es kommt hier zu den drei mythischen Kernmotiven Auszug, Bund und Gelobtes Land noch ein viertes dazu: die Sünden der Väter, um derentwillen sie nach dem Bundesschluss am Sinai vierzig Jahre in der Wüste umherirren mussten, bevor ihre Nachkommen das Gelobte Land erreichten. Heilsgeschichte und Unheilsgeschichte gehören zusammen, die Heilsgeschichte wird erinnert in den Nachwehen der Unheilsgeschichte. Die große Liturgie, die in den zusammengehörenden Psalmen 105–107 rezitiert wird, beginnt mit der Rekapitulation der Erzväter- und Josephsgeschichte mit der Verheißung des Gelobten Landes (105,7–24) und erzählt dann den Auszug mit den ägyptischen Plagen. Psalm 106 fährt fort mit dem Meerwunder und den verschiedenen Fällen, in denen sich die murrenden Israeliten auf ihrer Wüstenwanderung an Gott versündigt haben, bis hin zu der schwersten Sünde: der Annahme kanaanäischer Bräuche im Gelobten Land, woraufhin Gott sie aus dem Land vertrieben und unter die Völker verstreut hat. Psalm 107 ist dann das Danklied der Heimgekehrten, «die Er aus den Ländern zusammengebracht hat, von Osten und Westen, von Norden und Süden». (107,3)

Es geht also bei der Exodus-Erzählung um eine dreifache Abgrenzung: von Ägypten als dem Inbegriff des alten, unbedingt und für immer hinter sich zu lassenden Systems, von den Kanaanitern, den Bewohnern des Gelobten Landes, als den Vertretern einer falschen, frevelhaften Religion, und von den «Vätern», das heißt der eigenen sündhaften Vergangenheit. Wenn man der besonderen Resonanz nachgeht, die den Kernmotiven der Exodus-Überlieferung in der Geschichte zugewachsen ist, dann ist es gerade der Impuls, sich von den «Sünden der Väter» zugleich zu distanzieren und für sie Verantwortung zu übernehmen, der im gegenwärtigen Deutschland eine ganz eigene Bedeutung gewonnen hat.

Natürlich hat man sich den Exodus-Mythos auch schon lange vorher erzählt – die Anspielungen bei Hosea, Amos und Micha, die im 8. Jahrhundert v. Chr. wirkten, stellen das außer Frage –, aber seine große Stunde, die Epoche seiner literarischen Ausgestaltung und seiner kultischen Verankerung kam erst im 6. Jahrhundert v. Chr., in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft und vor allem danach, als es darum ging, «Israel» im Sinne einer ethnischen und religiösen Identität neu zu erfinden und auf die Grundlage einer politischen, sozialen und kultischen Verfassung zu stellen. Die Gruppe, die vor dieser Aufgabe stand, hat sich mithilfe der Exodus-Erzählung ein Gedächtnis gemacht, das sie als Gruppe definiert und sowohl in der Tiefe der Zeit verankern als auch in alle Zukunft zusammenhalten soll. Das ist nicht einfach Geschichtsschreibung, sondern das Bekenntnis zu einer Identität, einer normativen kollektiven Selbstdefinition im Medium von Erzählung und Erinnerung. Das Buch Exodus kodifiziert in den beiden Formen der Erzählung und der Gesetzgebung, der Narrative und der Normative, die eine alles wendende, wahrhaft epochemachende Offenbarung, in der Gott – für die Juden ein für alle Mal, für die Christen und Muslime erstmals – aus seiner Verborgenheit und Unbegreiflichkeit herausgetreten ist und seinem auserwählten Volk seinen Willen kundgetan und damit ein vollkommen neues Welt-, Gottes- und Zeitverhältnis begründet hat.

Die Exodus-und-Sinai-Offenbarung ist das Modell aller späteren Offenbarungen, die Grundlegung einer neuen Religionsform, die auf den beiden Elementen der Offenbarung und des Bundes beruht und die daher «Offenbarungsreligion» genannt werden kann, im Unterschied zu den «natürlichen» Religionen, die ohne ein derartiges Gründungsereignis seit unvordenklichen Zeiten historisch gewachsen sind. Wenn Michael Walzer die Exodus-Überlieferung in ihrer politischen Dimension als die Matrix aller Revolutionen gelesen hat,[6] so möchte ich sie in diesem Buch in ihrer religiösen Dimension als die Matrix aller Offenbarungen deuten.

«Exodus» ist aber nicht nur ein biblisches Buch, sondern auch ein Symbol, das für jede Form eines radikalen Hinter-sich-Lassens und Aufbruchs zu etwas Neuem, ganz Anderen stehen kann. Wenn Augustinus in seinem Kommentar zu Psalm 64 (65) sagt incipit exire qui incipit amare, «Der fängt an, auszuziehen, der anfängt, zu lieben», dann denkt er an den Auszug aus der civitas terrena, der Welt der weltlichen Dinge und Geschäfte, in die civitas Dei, das Reich Gottes, das keine Sache der körperlichen Fortbewegung, sondern eines inneren Aufbruchs ist: exeunteum pedes sunt affectus cordis, «die Füße der Auswandernden sind die Empfindungen des Herzens». «Ägypten» steht dann für die weltliche Welt, in der die Frommen als Fremdlinge leben und Unterdrückung erleiden, wie etwa in der Arie einer Bachkantate zum Zweiten Advent (BWV 70), an dem man der Wiederkehr Christi am Weltende gedenkt: «Wann kömmt der Tag an dem wir ziehen aus dem Ägypten dieser Welt?» (Textdichter Salomon Franck). Auch wenn Kant die Aufklärung als den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» definiert, verwendet er das Symbol des Exodus.[7]

Wenn von einer Wende menschheitsgeschichtlichen Umfangs die Rede ist, drängt sich der Begriff der «Achsenzeit» auf. Auf diesen Begriff hat der Philosoph Karl Jaspers Beobachtungen gebracht, die bis ins späte 18. Jahrhundert, auf den Iranisten Anquetil-Duperron, den Entdecker des Zend-Avesta, zurückgehen.[8] Dieser hatte gesehen, dass sich dem Zoroastrismus vergleichbare Bewegungen in verschiedenen Teilen der Alten Welt, von China bis Griechenland, ungefähr gleichzeitig abspielten und von einer «grande revolution du genre humain» gesprochen.[9] Auch die biblische Wende zum Monotheismus wurde von Anfang an in diesen Zusammenhang gestellt und fällt ja in der Tat vom Auftreten der frühen Propheten im 8. Jahrhundert (Jesaja, Hosea, Amos, Micha) bis zum Abschluss der Tora im 4./3. Jahrhundert genau in das von Jaspers als «Achsenzeit» bezeichnete Zeitfenster 500 v. Chr. +/– 300 Jahre. Auf die kürzeste Formel gebracht, lässt sich die Achsenzeit als die Entdeckung der Transzendenz charakterisieren. Im Licht neuer, entweder durch Offenbarung oder methodisches Denken gefundener absoluter Wahrheiten unterziehen in dieser Zeit große Persönlichkeiten (Konfuzius, Lao-tse, Meng-tse, Buddha, Zarathustra, Jesaja usw., Parmenides, Xenophanes, Anaximander usw.) die traditionellen Institutionen und Konzepte einer radikalen Kritik.[10] Die Wende, von der die Exodus-Erzählung handelt, wäre dann nur eines von vielen Symptomen einer globalen Entwicklung, in der die Menschheit als Ganzes, wie Jaspers sagt, einen Sprung macht.

Ich halte Jaspers’ Achsenzeit-Theorie für einen der großen Wissenschaftsmythen des 20. Jahrhunderts, vergleichbar Freuds Lehre vom Ödipus-Komplex, die vieles sichtbar machen und große Zusammenhänge aufdecken, aber andererseits in ihrer Tendenz der vereinerleienden Kategorisierung viel zu weit gehen und wichtige Differenzierungen einebnen.[11] Der Begriff der Achsenzeit bezieht sich auf Kulturen und Weltbilder, die zwischen Immanenz, dem Diesseitigen, Bedingten, Kontingenten, und Transzendenz, dem Absoluten, Unbedingten, unterscheiden und eine kritische Distanz zur Welt des Gegebenen entwickeln. Das ist jedoch weniger eine Frage der «Zeit» als des Vorhandenseins medialer Bedingungen, um geistige Durchbrüche fest- und späteren Epochen zugänglich zu erhalten. Dazu gehört nicht nur der Gebrauch der Schrift, sondern darüber hinausgehend die Verfahren der Kanonisierung und Kommentierung («Sinnpflege»). Einmal festgehalten, vermögen sich Ideen nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum zu verbreiten. Dass es in persischer Zeit Einflüsse des Zoroastrismus und der vorsokratischen Philosophen auf den universalistischen Monotheismus gegeben hat, der sich im Gefolge der großen Exilspropheten Deutero-Jesaja und Ezechiel in Jerusalem entwickelte, scheint auch mir evident. Die Exodus-Erzählung mit ihrem «Monotheismus der Treue» ist aber ein Phänomen sui generis, das es in seiner Besonderheit zu würdigen gilt und das nicht vorschnell mit dem Kürzel «Achsenzeit» in eine globale Entwicklung eingeebnet werden darf. Unbestreitbar ist allerdings, dass diese Erzählung den Grund legt zu einer Wende, die in allen Punkten der Charakteristik der Achsenzeit entspricht. Diese Wende vollzieht sich mit der Ausdeutung des Gottesbundes zum «Reich Gottes» und des Auszugs aus Ägypten zum Auszug der Seele aus «dieser Welt», der civitas terrena, in den Gottesstaat. Erst damit ist jene Relativierung des Diesseits bzw. des Gegebenen im Licht absoluter, transzendenter Wahrheit erreicht, auf die sich der Begriff der Achsenzeit bezieht.

ERSTER TEIL

ALLGEMEINE GRUNDLAGEN

Incomprehensibilis voluit comprehendi – derUnbegreifliche wollte sich begreiflich machen.

Papst Leo der Große[1]

Das christliche Bekenntnis geht davon aus, dassder unbegreifliche Gott aus der Verborgenheitherausgetreten ist und sich in der Geschichteein für alle Mal geoffenbart hat.

Jan-Heiner Tück[2]

ERSTES KAPITEL

THEMA UND AUFBAU DES BUCHES EXODUS

Die folgende Übersicht über den Inhalt des Buches Exodus überspringt viele Einzelheiten, auf die dann in den einzelnen Kapiteln näher eingegangen wird. Sie will einerseits die Gliederung des biblischen Buches deutlich machen und andererseits auf gewisse «Urszenen» hinweisen, die in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte eine besondere Rolle spielen.

1. Erster Teil: Auszug (Kapitel 1–15)

Der erste Teil des Buches beginnt mit einer Exposition, bevor dann mit Kapitel 3 das Offenbarungsgeschehen einsetzt. Die Exposition ist ihrerseits zweigeteilt. Der erste Abschnitt (Kapitel 1) ist den Leiden der Israeliten, der zweite (Kapitel 2) der Geburt und Erziehung des Mose, des künftigen Retters, gewidmet. Die Leiden der Kinder Israels unter der ägyptischen Unterdrückung werden in schwärzesten Farben geschildert, die das Bild der altägyptischen Kultur für immer im abendländischen und islamischen Gedächtnis als Inbegriff menschenverachtender Unterdrückung eingegraben haben. Gerade als die Unterdrückung mit Pharaos Befehl, die männlichen Kinder der Hebräer in den Nil zu werfen, genozidale Ausmaße annimmt, wird einem hebräischen Paar ein Kind geboren, das der Verfolgung entgeht und von einer ägyptischen Prinzessin aus dem Wasser geborgen wird. Es erhält von ihr den Namen «Mose» und wächst als ihr eigenes Kind am Hof auf. Mose, zum Mann herangewachsen, wird Zeuge der grausamen Behandlung eines Hebräers, erschlägt den Aufseher und flieht ins Ausland, nach Midian. In Midian, das wir uns im Norden der Arabischen Halbinsel, östlich des Golfs von Akaba, vorzustellen haben, heiratet Mose die Tochter eines Priesters und hütet dessen Schafe.

Schon in dieser Exposition treten einige Punkte von größter wirkungs- und rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung hervor, auf die ich im vierten Kapitel, im ersten Abschnitt, näher eingehen werde. Das betrifft die unheimliche Nähe der ägyptischen Unterdrückung zum späteren Schicksal der Juden, insbesondere in der NS-Zeit, und die Vorwegnahme antisemitischer Klischees wie der «nationalen Überfremdung» («Die Hebräer werden zahlreicher als wir») und der «Fünften Kolonne» («Im Fall eines Krieges könnten sie sich mit unseren Feinden verbünden»). Im zweiten Teil der Exposition, der von Geburt, Rettung und Flucht des Mose erzählt, ist es die ausgesparte Kindheitsgeschichte als Prinz am pharaonischen Hof und als Eingeweihter in die ägyptischen Mysterien, die seit der Antike die Phantasie beschäftigt.

Nach dieser zweigeteilten Exposition ist der Boden bereitet für das große Thema des Buches Exodus: Offenbarung. Dass die Götter den Menschen ihren Willen kundtun, in Vorzeichen, Träumen und Orakeln, ist nichts Neues und findet sich in verschiedenen Formen in allen Religionen. Diese Form von fortlaufender Offenbarung gehört zu der Welt, wie sie ist, und erfordert von den Menschen vor allem eines: Aufmerksamkeit. Sie müssen Techniken der Beobachtung und Deutung entwickeln, um mit den Göttern in Verbindung zu bleiben. Keine dieser Offenbarungen und Willenskundgebungen Gottes oder der Götter hat aber einen ein für alle Mal gründenden und bindenden Ereignischarakter, wie er der Exodus-Offenbarung zukommt. Die Offenbarung, von der im Exodus-Buch erzählt wird, gehört nicht zu der Welt, wie sie ist, sondern greift von Grund auf verwandelnd in sie ein. Sie geschieht nicht immer wieder in verschiedenen Formen als ein begleitendes Element des Weltprozesses, sondern ein für alle Mal. Was sie von den Menschen fordert, ist vor allem Erinnerung. Diese Offenbarung darf auf keinen Fall in Vergessenheit geraten, sie muss in ihrer weltverändernden, ein Neues begründenden Bedeutung für immer frisch im Gedächtnis gehalten werden. Das Buch Exodus erzählt nicht nur von dieser Offenbarung, sondern stiftet zugleich ihr unauslöschliches Gedächtnis. Es handelt sich um eine Erzählung, die dazu bestimmt ist, nie wieder vergessen zu werden, und alle, die sie lesen und hören, lebensbestimmend zu ergreifen, ganz im Sinne einer «frohen Botschaft», wie denn überhaupt das Neue Testament ganz im Banne der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Buches Exodus steht und eine entscheidende Phase seiner «Lebensgeschichte» darstellt.

Die große Offenbarung, von der das Buch Exodus handelt, vollzieht sich in sechs Schritten:

1. Kap. 3–6

Namensoffenbarung (Vorspiel): JHWH offenbart sich Mose in seinem wahren Namen und tut ihm seine Absichten kund. Der erste Schritt besteht in einer intimen Form der Offenbarung, die nur Mose zum Adressaten und keine weiteren Zeugen hat.

2. Kap. 7–15

Machtoffenbarung: JHWH offenbart in zehn Plagen und dem rettenden «Meerwunder» Pharao und den Ägyptern seine überragende Macht. Dieser zweite Schritt der Offenbarung ist im Gegensatz zum ersten von kosmischen Dimensionen und hat Pharao zum Adressaten und Ägypter und Israeliten zu Zeugen.

3. Kap. 19–24

Bundesoffenbarung: JHWH offenbart sich seinem auserwählten Volk als der Befreier aus ägyptischer Knechtschaft und gibt ihm die Gesetze als Grundlage und Bedingung des Bundes, den er ihm anbietet. Das Volk ist Adressat und Zeuge dieses dritten, entscheidenden Schrittes der Offenbarung.

4. Kap. 25–31

Offenbarung des Zeltheiligtums als Modell und Beschreibung. Hier ist wiederum Mose der einzige Adressat der Offenbarung, die im Inneren einer Wolke auf dem Sinai, also in höchster Abgeschiedenheit, geschieht.

5. Kap. 33–34

Wesensoffenbarung: JHWH offenbart sich zuletzt noch einmal nur Mose, als dieser ihn nach der Krise mit dem Goldenen Kalb zu besänftigen vermochte, wodurch sich Moses Aussehen so verändert, dass er von da an mit seinen Leuten nur noch mit verhülltem Kopf kommunizieren konnte.

6. Kap. 35–40

Institutionalisierte Gottesnähe: Nach dem Bau des Zeltheiligtums lässt sich JHWH in Gestalt seiner «Herrlichkeit» (kāvôd) in einer Wolke darauf und darin nieder, um «inmitten seines Volkes zu wohnen». Dieser krönende Abschluss des Offenbarungsprozesses ist aber selbst nicht mehr als Offenbarung zu verstehen, weil er eine ständige Gegenwart stiftet.

Namensoffenbarung

Der erste Schritt der Offenbarung ist zweigeteilt. Der erste Teil (Kap. 3–4,17) erzählt in vier Abschnitten die eigentliche Offenbarung, wie sie Mose am brennenden Dornbusch widerfährt. Auf diesen weit in die Wirkungsgeschichte ausstrahlenden Kern der Erzählung werde ich im fünften Kapitel eingehen. Der zweite Teil (Kap. 4,18–6) behandelt Moses Versuche, diese Offenbarung seinen Landsleuten und vor allem Pharao zu vermitteln.

1. Als Mose eines Tages mit seinen Schafen über das Weideland hinaus in die Nähe des «Gottesbergs», des Horeb, gerät, sieht er einen Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt. Von diesem Zeichen angezogen tritt er näher und wird Zeuge einer Offenbarung, in der Gott als Stimme aus dem brennenden Dornbusch hörbar wird und sich ihm in feierlicher Selbstvorstellung als Gott seiner Väter Abraham, Isaak und Jakob zu erkennen gibt. Mose aber verlangt einen Namen und erhält die berühmte, rätselhafte Formel «Ich bin der ich bin» (’æhjæh ’ašær ’æhjæh) zur Antwort, die auf den Namen JHWH anspielt. (3,1–14)

2. Gott eröffnet Mose seinen Plan, Israel aus der ägyptischen Knechtschaft zu befreien und in das Land voll Milch und Honig zu führen, das er den Erzvätern verheißen hat. Mose soll als sein Gesandter den Hebräern die frohe Kunde bringen und Pharao bitten, sie für drei Tage in die Wüste ziehen zu lassen, damit sie dem Gott, der ihnen erschienen ist, opfern können. Gott weiß aber, dass Pharao sich dieser Bitte verweigern und ihm dadurch Gelegenheit geben wird, mit starker Hand und großen Wundertaten die Freilassung seines Volkes zu erzwingen. (3,15–22)

3. Mose aber zweifelt an seiner eigenen Glaubwürdigkeit und wird von Gott mit drei Zauberkunststücken ausgestattet, die ihn als Gottes Beauftragten ausweisen sollen (die Verwandlung von Stöcken in Schlangen, von Wasser in Blut und von gesunder in aussätzige Haut). (4,1–9)

4. Als Mose sich weiterhin sträubt und auf seine «schwere Zunge» verweist, versichert Gott ihn seines Beistands und stellt ihm seinen Bruder Aaron als Sprecher zur Seite, der für Mose zum Volk und zu Pharao reden soll, wie Mose für Gott zu Aaron redet. (4, 10–17)

Die Erzählung von Moses Aufbruch nach und Ankunft in Ägypten ist auf eigenartige Weise von neuen Aufträgen und Auftritten Gottes durchschossen, in denen deutlich wird, dass von nun an Gott die Geschehnisse begleitet, ohne dass jede seiner Interventionen wieder von einer Epiphanie und feierlichen Selbstvorstellung eingeleitet werden müsste. Er hat sich offenbart und ist jetzt «da», so wie er es mit der Formel (’æhjæh ’ašær ’æhjæh), «Ich werde da sein als der ich da sein werde» angekündigt hatte. Mose verabschiedet sich von seinem Schwiegervater Jithro, und Gott schärft ihm noch einmal ein, was er Pharao sagen soll. Hier fällt dann das schicksalsschwere Wort «Israel ist mein erstgeborener Sohn». Wenn Pharao ihn nicht ziehen lässt, wird Gott Pharaos erstgeborenen Sohn töten. (4,18–23) Auf der Reise widerfährt Mose ein rätselhafter Zwischenfall: Gott will ihn töten, und Zippora rettet ihn, indem sie eilig ihren Sohn beschneidet – die Spur einer archaischen Legende, die wohl über die Assoziation mit der Tötung der Erstgeburt hier eingeschoben ist (4,24–26). Wieder meldet sich Gott zu Wort und schickt Aaron auf den Weg zu Mose. Der Rest ist sehr schnell und lapidar erzählt. Mose weiht Aaron ein, dieser vermittelt den versammelten Ältesten Gottes Botschaft «und Mose tat die Zeichen vor dem Volk. Und das Volk glaubte». (4,27–31)

Eigentlich könnte die Erzählung nun mit Moses und Aarons Auftritt vor Pharao und ihren Zauberkunststücken weitergehen, aber erst kommt es zu einem retardierenden Einschub, der noch einmal zwei volle Kapitel (5 und 6) in Anspruch nimmt. Tatsächlich erscheinen die beiden bei Hofe und tragen Gottes Forderung vor: «Lass mein Volk ziehen, dass es mir ein Fest halte in der Wüste.» Pharao aber weiß nichts von diesem Gott, fordert keine Beglaubigungswunder und weist sie schroff ab. Statt weiterer Verhandlungen verschärft er ihre Arbeitsbedingungen, indem er die Lieferung von Häcksel streicht, womit sie ihre Ziegel magern müssen. So müssen sie nun selbst im ganzen Lande ausschwärmen, um sich das Stroh für ihre Ziegel zu suchen. Da verliert dann auch das Volk das Vertrauen in Moses Auftrag. Mose verzagt und wendet sich noch einmal an Gott, der ihm beteuert, dass er Pharao schon «mit starker Hand» zwingen werde. (5, 1–6, 1)

Dieser Einschub nimmt einerseits den eigentlichen Auftritt der Brüder vorweg, die ihre Zauberkunststücke vorführen und damit den Zyklus der Zeichen und Wunder einleiten, mit denen Gott die Freilassung Israels erzwingt, und dupliziert andererseits die Leidensgeschichte der Israeliten, indem er deren einleitend geschilderte Versklavung noch einmal im Sinne einer Strafmaßnahme steigert. Er könnte hier (6,1) zu Ende sein, aber Gott setzt noch einmal mit einer feierlichen Selbstvorstellung ein, die seine Offenbarung im Dornbusch dupliziert. «Ich bin JHWH», heißt es nun, «und bin erschienen Abraham, Isaak und Jakob als El Schaddai, aber mit meinem Namen JHWH habe ich mich ihnen nicht offenbart.» Dann erinnert Gott noch einmal an den Bund, den er mit den Vätern geschlossen hat, und an seine Verheißung, ihnen das Land Kanaan zu geben. Er erklärt, dass er das Leid der Israeliten gesehen und beschlossen hat, die Israeliten zu befreien «mit ausgestrecktem Arm und durch große Gerichte», damit sie sein Volk seien und er ihr Gott. Sehr viel deutlicher noch als in der Dornbuschszene werden hier die Motive des Bundes und der Verheißung herausgestellt. Dadurch tritt auch der Charakter dieser Offenbarung als einer «frohen Botschaft» noch viel stärker hervor, mit der Mose ausgeschickt wird. Umso enttäuschender ist die Reaktion der Israeliten, die «nicht auf ihn hörten vor Kleinmut und harter Arbeit». Wieder wendet sich Mose an Gott, der ihn und Aaron nochmals ans Volk und zu Pharao abordnet.

Am Ende des 6. Kapitels nimmt unser Text den Faden dort wieder auf, wo er ihn in Vers 12 fallen gelassen hatte. Dort hatte Mose noch einmal das Problem seiner ungelenken Zunge vorgebracht, das Gott doch längst mit Aaron gelöst hatte. Hier wiederholt er es zum dritten Mal (6,30), und Gott beruhigt ihn wieder mit der ausdrücklichen Bestellung Aarons zu Moses Sprachrohr vor Pharao (7,1–2, vgl. 4,16). Noch einmal weiht Gott Mose in seinen Plan ein, das Herz Pharaos zu verhärten, um ihn durch möglichst viele «Zeichen und Wunder» zur Freilassung seines Volkes zwingen zu können. Die vielen Wiederholungen zeigen, dass wir es hier mit einem vielfach überschriebenen Text zu tun haben. Auf die Textgeschichte werde ich im dritten Kapitel eingehen.

Machtoffenbarung

Zum zweiten, immer grandioser und schreckensreicher ausgreifenden Schritt der Offenbarung kommt es, als Mose und Aaron vor Pharao treten und ihre Forderung wiederholen. Diesen sich über acht Kapitel hinziehenden Abschnitt der Erzählung versteht man nur, wenn man ihn als Offenbarung begreift. In der Tradition wird er unter dem Begriff der «magnalia Dei», der großen Heilstaten Gottes, zusammengefasst, der die Aspekte der Offenbarung und der Rettung verbindet. Ebendiese Aspekte bestimmen auch den christlichen, auf dem Exodus-Geschehen aufbauenden Begriff der Offenbarung. Auf narrativer Ebene, als Funktion im Rahmen der Erzählung, haben die Plagen wenig Sinn: Warum tritt die Erzählung viele Seiten lang auf der Stelle, wo doch eine einzige furchtbare Plage, die Pest etwa, genügt hätte, um Ägypten zu strafen und Israel zu retten? Es geht aber in erster Linie darum, Gottes überragende Macht in möglichst umfassender Form offenbar werden zu lassen. So sagt Gott selbst zu Pharao: «Denn ich hätte schon meine Hand ausstrecken und dich und dein Volk mit Pest schlagen können, dass du von der Erde vertilgt würdest, aber dazu habe ich dich erhalten, dass meine Kraft an dir erscheine und mein Name verkündigt werde in allen Landen.» (9,15f.)

Als Mose und Aaron sich vor Pharao mit dem Schlangenwunder ausweisen, ruft Pharao seine Weisen und Zauberer, die dasselbe Wunder vollbringen, allerdings unterliegen, weil Aarons Stab als Schlange die ihren auffrisst. Trotzdem bleibt Pharao hart. So schickt Gott Mose am nächsten Morgen zu Pharao, als dieser ans Wasser tritt. Damit eskaliert der Zauberwettkampf ins Kosmische, weil Mose sein Blutwunder am Nil ausführt und damit den ganzen Nil und alles Trinkwasser in Ägypten in Blut verwandelt. So gerät das zweite Zauberkunststück zur ersten der zehn «Plagen», mit denen Gott Pharao und Ägypten schlägt, um die Freilassung Israels, seines «erstgeborenen Sohnes», zu erzwingen.

Die neun durch sprachliche Formeln wie «am Morgen» und «stell dich auf» in Dreiergruppen gegliederten Plagen lassen eine gewisse Ordnung erkennen. Die ersten drei Plagen stehen noch im Zeichen des Zauberwettkampfs, den Aaron mit seinem Stab bestreitet. «Nil» und «Frösche» gehören zusammen, und so wie das Nilwasser Frösche bringt der Staub (der trockene Nilschlamm) Stechmücken hervor. Die zweite Dreiergruppe ist durch das Thema «Krankheit» verbunden. Die Ungeziefer der vierten Plage sind offenbar gefährlicher als die nur lästigen Stechmücken und bedrohen zusammen mit Viehpest und Blattern der fünften und sechsten Plage die Körper von Tieren und Menschen. Die dritte Dreiergruppe ist durch den kosmisch-meteorologischen Charakter der Plagen verbunden. Das ist bei Nr. 7, Hagel, und bei Nr. 9, Finsternis, evident und ergibt sich für Nr. 8, Heuschrecken, aus ihrer Verbindung mit dem Ostwind, der sie bringt, und dem Westwind, der sie wieder vertreibt. Die drei Plagen sind auch dadurch miteinander verbunden, dass Pharao sie als besonders unerträglich empfindet und zunächst jeweils nachgibt, um sich erst nach eingetretener Erleichterung wieder zu verhärten. Das war vorher nur nach der zweiten (Frösche) und der vierten Plage (Ungeziefer) der Fall.

Die zehnte Plage, die Tötung der Erstgeburt, wird sehr ausführlich angekündigt (Kap. 11) und in einer vollkommen anderen Form dargestellt: Sie wird nicht wie die anderen neun in der Form der Erzählung berichtet, sondern als Gründungslegende in die Vorschrift für die Feier des Pessach- und Mazzenfests eingebettet, das zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten eingesetzt wird. Als Pessach wird die Nacht des Aufbruchs begangen, als Mazzōt die anschließende Woche, in der die Israeliten, die in der Eile des Aufbruchs keine Zeit mehr fanden, den Brotteig mit Hefe zu säuern, ungesäuertes Brot aßen (Ex 12,15–20; 13,6–7; vgl. Ex 23,25; Lev 23,5–6). Hier tritt nun der Zusammenhang von Offenbarung und Erinnerung besonders deutlich hervor: «Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag (zikkārôn) halten und ihn feiern als ein Fest für JHWH, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung.» (12,14)

Die Nacht des Auszugs, in der die Israeliten zum Aufbruch gerüstet in ihren Häusern sitzen und das Opferlamm verzehren, mit dessen Blut sie ihre Türpfosten bestrichen haben, um verschont zu werden, während draußen JHWH durch Ägypten geht und alle Erstgeburt erschlägt, diese Nacht bildet die Urszene des Pessachfestes, die bis heute im Judentum in der Seder-Nacht nachgespielt wird und auch dem christlichen Osterfest als Subtext zugrunde liegt. Die eigentliche Plage, die Tötung der Erstgeburt, wird dann nach 28 Versen, die der Einrichtung des Pessach- und Mazzen-Fests gewidmet sind, in zwei Versen erzählt; zwei weitere widmen sich der Reaktion Pharaos, der endlich die Israeliten mit all ihrer Habe freilässt. Zu dieser Habe gehört auch Gold- und Silbergeschmeide, das sie sich vor ihrem Aufbruch noch von den Ägyptern schenken lassen (Ex 11,2f.; 12,35f.): ein wichtiges Motiv, das bereits Abraham (Gen 15,14) und Mose (Ex 3,21f.) angekündigt wird. Aus diesem Gold wird später das Goldene Kalb gegossen werden, aber auch beim Bau des Tabernakels wird es eine Rolle spielen.

Der Rest des 13. Kapitels ist dem Auszug der Israeliten gewidmet, die Gott in einer Rauchsäule bei Tag und einer Feuersäule bei Nacht durch die Wüste im Osten führt. Im 14. Kapitel wird dann das größte aller Zeichen und Wunder, der Höhepunkt des zweiten Offenbarungsakts erzählt: der Durchzug durch den jam sûf, das «Schilfmeer», worunter in nachbiblischer Zeit meist das Rote Meer verstanden wurde. Wieder ergreift Gott das Wort und eröffnet Mose seinen Plan, Pharao zu verleiten, den Israeliten mit seinem ganzen Heer nachzusetzen, um ihn dann mit einem letzten Schlag zu vernichten. Als die Ägypter in Sichtweite des am Ufer lagernden Volkes gekommen sind und die Israeliten in Panik geraten, befiehlt Gott Mose, seinen Stab über das Meer auszustrecken, das sich teilt und das Volk trockenen Fußes hindurchziehen lässt. Über den nachsetzenden Ägyptern aber schlagen die Wogen wieder zusammen, «so dass nicht einer von ihnen übrigblieb» (14,28).

Mose und die geretteten Israeliten stimmen daraufhin in 19 Versen ein Danklied an: «Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.» Miriam, Moses Schwester, und alle Frauen stimmen mit Pauken im Reigentanz ein (20–21). Mirjams Paukenlied wird aufgrund seiner altertümlichen Form und Sprache zu den ältesten Stücken hebräischer Poesie gerechnet. Wenn man es nicht für bewusst archaisierend halten will, dann ist es jedenfalls älter als die Erzählung, in die es eingebettet ist, und kann als die früheste Bezeugung des Exodus-Mythos gelten, die möglicherweise bis mindestens ins 10. oder 9. Jahrhundert und damit vor Hosea und Amos zurückgeht, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts auf den Mythos Bezug nehmen.

Plagen, Pessach und Meerwunder bilden den zweiten Akt des Offenbarungsgeschehens, in dem Gott sich – zwar nicht in seiner leibhaftigen Gestalt, aber in den Auswirkungen seiner überwältigenden Macht und Größe – vor aller Augen zeigt. Auf das Sehen kommt es an: «So sah Israel die mächtige Hand, mit der JHWH an den Ägyptern gehandelt hatte.» (14, 31) Die Heilstaten Gottes haben für die Ägypter den Charakter von «schweren Strafen» (šefāṭîm gedolîm), für die Israeliten aber den von «Zeichen und Wundern» (’otot ûmôfetîm) und bauen sich in ihrer akkumulierenden Wucht zu einem ungemein wirkmächtigen Vorstellungsbild, gewissermaßen einer inneren Hieroglyphe auf, die mit der immer wiederkehrenden Formel «mit starker Hand und ausgestrecktem Arm» (bejād ḥazāqāh ûbizrôa‘ neṭûjāh: Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 11,2; 26,8; Ps 136,12; Ez 20,33) beschworen wird und an das Piktogramm Pharaos beim Erschlagen der Feinde erinnert.[3] Auf die «Heilstaten Gottes», einen in die Wirkungsgeschichte besonders weit ausstrahlenden Höhepunkt der Erzählung, gehe ich im sechsten Kapitel ein.

2. Zweiter Teil: Sinai – Erwählung, Bund und Gesetz (Kapitel 15–24)

Der Gang zum Sinai

Moses Danklied zieht einen dicken Schlussstrich unter den ersten Teil des Buches Exodus, der den eigentlichen Auszug des Volkes aus Ägypten erzählt. Der zweite und der dritte Teil sind dem Einzug in etwas Neues gewidmet, das aber noch nicht das «Gelobte Land», die endgültige Erfüllung der Abraham, Jakob und Mose zuteil gewordenen Verheißung darstellt. Das Neue ist vielmehr zunächst der auf Gesetze gegründete Gottesbund und dann die kultisch institutionalisierte Gottesnähe, die Symbiose mit Gott, der «in der Mitte seines Volkes» Wohnung nimmt. Diese Teile lassen sich etwas kürzer zusammenfassen als der erste. Die Kapitel 15, Verse 22–27 sowie 16–18 erzählen fünf Ereignisse auf dem Weg der Israeliten vom «Schilfmeer» bis zum Sinai. Die ersten drei haben mit dem Problem der Versorgung des Volkes in der Wüste zu tun. In Mara haben sie Durst und finden kein trinkbares Wasser vor. «Da murrte das Volk wider Mose und sprach: was sollen wir trinken?» (15,24) Mose ruft zu Gott, und der zeigt ihm ein Stück Holz, das er ins Wasser werfen und es dadurch in Süßwasser verwandeln kann. Weiter wird erwähnt, dass Gott hier dem Volk Gesetz und Recht (ḥoq ûmišpāṭ) gab, was ja eigentlich erst später am Sinai im Rahmen der «Sinai-Perikope» (Ex 19–Num 10, im engeren Sinne Ex 19–24) geschieht. In diesem Zusammenhang gibt Gott auch seine Zusage, seinem Volk ein Arzt zu sein (’ănî rofkhā), der es vor allen den Ägyptern zugefügten Krankheiten verschont, wenn es seine Gebote (miṣwôt) und Gesetze (ḥuqqîm) hält. Darin kann man die Spur einer alternativen, vermutlich älteren Version des Auszugsmythos erkennen, die die «Sinai-Perikope» nicht kennt.

In der Wüste Sin fehlt es an Nahrung, das Volk sehnt sich nach den «Fleischtöpfen Ägyptens» und «murrt» wiederum gegen Mose und Aaron. Da lässt Gott Brot in Gestalt des rätselhaften Manna in der Steppe entstehen und gibt genaue Anweisungen, wie und wann es einzusammeln und zu verzehren sei. Am sechsten Tag soll es die doppelte Ration geben, weil am Sabbat – der ja eigentlich erst mit der Offenbarung des Dekalogs am Sinai gestiftet wird – nicht gesammelt werden darf. Zum Abendessen bringt Gott die ersehnte Fleischnahrung durch Wachteln, die das Lager bedeckten.

Die dritte Krise ereignet sich in Refidim, wo es kein Wasser gibt. Zum dritten Mal «murrt» das Volk und ist drauf und dran, Mose zu steinigen. Da befiehlt Gott Mose, mit seinem Stock an den Felsen zu schlagen, sodass Wasser in Fülle herausfließt. Im Buch Numeri, das diese Meutereien der Israeliten zur Zehnzahl ergänzt, kommt auch diese Episode noch einmal vor und wird ganz anders beleuchtet und bewertet.

Die vierte Krise ereignet sich, als das Volk in Refidim von Amalek angegriffen wird (17,8–16). Auch sie wird im Stil der Wunderzeichen bewältigt, die den Auszug der Israeliten seit dem Schlangenwunder vor Pharao begleitet und ermöglicht haben. Während die Israeliten unter Josua gegen Amalek kämpfen, steht Mose mit Aaron und Hur auf dem Hügel und reckt seine Arme in den Himmel. Sobald er sie sinken lässt, gewinnt Amalek die Oberhand. Schließlich setzen Aaron und Hur Mose auf einen Stein und stützen seine Arme zu beiden Seiten. Auf diese Weise wird Amalek schließlich besiegt. Gott befiehlt Mose, zum Gedächtnis in ein Buch zu schreiben, dass Amaleks Andenken ausgelöscht werden solle. Mose aber verewigt den Vorfall durch den Bau eines Altars, nennt ihn «Gott ist mein Feldzeichen» und spricht: «JHWH führt Krieg gegen Amalek von Kind zu Kindeskind!» Auf diese Weise ist Amalek bis zum heutigen Tag als Inbegriff des Erzfeindes Israels und Gegenstand ewigen Vergessens im Gedächtnis geblieben.

Die fünfte Episode ist friedlicher Natur und greift das Thema der Rechtsprechung wieder auf. Jithro, Moses Schwiegervater, kommt zu Besuch, erfährt durch Mose von den Wundertaten, die Gott zur Rettung seines Volkes vollbracht hat, und bekennt, dass JHWH «größer ist als alle Götter» (18,1–12). Am nächsten Tag wird er Zeuge, wie Mose von früh bis spät damit beschäftigt ist, die Streitfälle im Volk zu schlichten und es die «Satzungen» (ḥuqqîm) und «Weisungen» (tôrot) Gottes zu lehren. Das ist nicht zu schaffen, und so schlägt er vor, das Volk in Tausend-, Hundert-, Fünfzig- und Zehnerschaften zu gliedern und über jede Gruppe einen redlichen Mann zu setzen, der die kleinen und mittleren Fälle richten kann. Mose soll nur die schweren Fälle vor Gott bringen und im Übrigen das Volk in den Satzungen und Weisungen Gottes unterrichten. So geschieht es, und Jithro zieht wieder heim (18,13–27). Auch hier wird also das Gesetz schon vorausgesetzt, das doch erst in der folgenden «Sinai-Perikope», dem dritten Akt der Offenbarung, verkündet wird. Das alles weist darauf hin, dass diese «Sinai-Perikope» einen späteren Einschub darstellt, um Gesetz und Verfassung Israels zu einem Teil, ja zur Krönung des Offenbarungsgeschehens zu machen, das mit der Szene am brennenden Dornbusch begann und sich in den «Zeichen und Wundern» in Ägypten fortsetzte. Auch in der älteren Fassung gingen Recht und Gesetz von Gott aus, aber sie waren Teil dieser den Auszug begleitenden Reden zwischen Gott und Mose, in denen sich Gottes «Da-Sein» erweist und bewährt, und bildeten keinen eigenen grandiosen Offenbarungsakt. Das ist erst das Werk derjenigen Kompositionsstufe, die die Erzählungen vom Exodus und von der Sinai-Gesetzgebung zu einem fortlaufenden, sich steigernden Offenbarungsgeschehen vereinigt hat und in der man wohl das Werk der Priesterschrift erkennen darf.

Bundesoffenbarung

Als «Sinai-Perikope» wird die Erzählung vom Aufenthalt des Volkes am Sinai zum Empfang der Gesetze bezeichnet, die sich von Exodus 19 bis Numeri 10 erstreckt, wobei die Kapitel Exodus 25–40, die ich als dritten Teil des Buches verstehe, zusammengehören und einen priesterschriftlichen Zusatz zum Buch *Exodus bilden (der Asterisk deutet an, dass es sich hier um eine rekonstruierte Urgestalt handelt). Kapitel 19–24 bilden den dritten Akt und Höhepunkt des Offenbarungsgeschehens. Sie rahmen die Verkündung des Gesetzes in den vier Kapiteln 20–23 ein, mit der ein anderes Sprachregister in den Vordergrund tritt, das man als «präskriptiv» im Gegensatz zu «deskriptiv», oder «normativ» im Gegensatz zu «narrativ» bezeichnen kann. Hier wird nicht erzählt und beschrieben wie in den vorhergehenden Kapiteln, sondern befohlen, geboten, verboten, gewarnt, gedroht, versprochen und verheißen. Das sind Sprechakte ganz anderer Art. Sie beziehen sich nicht auf eine Wirklichkeit, deren Existenz außerhalb der Sprechakte vorausgesetzt wird, sondern schaffen im Akt ihrer Verkündung und Verschriftung eine Wirklichkeit, die unter gegebenen Rahmenbedingungen, hier mit dem Akt des Bundesschlusses, verbindlich in Kraft tritt. Solche «performativen» Sprechakte gibt es auch auf der Ebene menschlichen Redens. Jeder Mensch hat unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, durch performative Aussagen Verhältnisse zu schaffen, die für ihn und andere verbindliche Wirklichkeit werden, etwa durch das Ja-Wort in der Kirche, das Geständnis oder den Urteilsspruch im Gerichtssaal, die Absolution im Beichtstuhl, das Versprechen vor Zeugen.

Eine ganz andere, unendlich umfassendere und verbindlichere Wirklichkeit aber wird geschaffen, wenn ein Gott in dieser Form das Wort ergreift, und zwar der Gott, JHWH, der einzige, auch wenn er diese Gebote und Verbote nicht als der Schöpfer ausspricht, der mit seinem Wort die ganze Welt erschaffen hat, sondern als der Befreier aus Ägypten, der mit den Befreiten einen Bund schließt.[4] Die Befreiung aus Ägypten ist die Rahmenbedingung, unter der diese normative Rede performative Kraft gewinnt. Was das für die Wirkungsgeschichte des Buches Exodus bedeutet, liegt auf der Hand: Der Bund ist die Rahmenbedingung, unter der dieses Buch verbindliche Geltung hat. Das gilt für die Bibel insgesamt, sowohl für die hebräische als auch für die christliche, aber für das Buch Exodus in besonderem Maße, weil es diese Rahmenbedingungen nicht einfach voraussetzt wie die meisten anderen Bücher der Heiligen Schrift, sondern ihr Zustandekommen erzählt und ihre Geltung explizit verkündet und kodifiziert.

Diese Allianz zwischen Buch und Bund bildet das, was wir seitdem unter «Offenbarungsreligion» verstehen. Ein Kanon heiliger Schriften bildet das Fundament dieser Religionen, und diese Religionen bilden den Rahmen für die «Lebendigkeit» der heiligen Schriften.[5] Die Wirkungsgeschichte eines heiligen Buches ist also von ganz anderer Art als die eines profanen Werks wie etwa der homerischen Epen oder der shakespeareschen Dramen. Auch sie «leben», wenn man so will, im Rahmen einer Gesellschaft, die ihnen den Rang von Klassikern zuspricht, aber dieser Rahmen wird nicht explizit gestiftet, sondern bestimmt sich nach den Gesetzen der Kunst, an denen das Buch Exodus scheitern würde. So großartig und über alle Maßen lebenskräftig dieses Buch auch im Rahmen seiner religiösen Geltung erscheint, ist es doch alles andere als ein literarisches Meisterwerk, das man sich aus einem Guss vorstellt, sondern gleicht eher einem zugleich collagierten und übermalten Gemälde.

Performative Texte gibt es natürlich auch in anderen, vermutlich in allen Religionen. Mit ihrer Verlautbarung unter genau festgelegten und peinlich beobachteten Rahmenbedingungen wird Fluch oder Segen ausgesprochen, Regen herbeigerufen, ein Geist beschworen, ein Kranker geheilt usw. Nur in Offenbarungsreligionen aber wird in performativer Gottesrede der Grund zu einer Gemeinschaft und ihrer umfassenden Lebensordnung gelegt. Das Buch Exodus ist das erste Beispiel einer solchen umfassenden Grundlegung. Es setzt das Buch Genesis mit der Weltschöpfung voraus, weil es innerhalb der geschaffenen Welt die Erschaffung von etwas Neuem und Besonderen, des Gottesbundes und Gottesvolks, erzählt, und bildet dann seinerseits die Voraussetzung für alle weitere Geschichte im Rahmen der hier gestifteten Wirklichkeit.

Doch zurück zur Erzählung. Nach der Verkündung der beiden Gesetzeskorpora, dem Dekalog und dem «Bundesbuch», wird der Bund feierlich besiegelt (Kap. 24). Gott beordert eine Gruppe von Delegierten, bestehend aus Mose, Aaron, Nadab, Abihu und siebzig Ältesten, zu sich auf den Berg, denn ein rechtskräftiger Bundesschluss erfordert Zeugen, eine gewisse repräsentative Öffentlichkeit, aber nur Mose soll nahe, das heißt in Hörweite, hinzutreten. Vorher teilt Mose dem Volk alle auf dem Berg empfangenen Rechtsvorschriften mit, und das Volk stimmt zu. Dann vollzieht Mose ein feierliches Opfer, besprengt das Volk mit der Hälfte des Opferbluts und spricht: «Das ist das Blut des Bundes, den JHWH mit euch geschlossen hat aufgrund aller dieser Worte (= verbindlichen Bestimmungen).» Jesus wird diese Formel zitieren und überbieten bei der Einsetzung des Abendmahls: «Dies ist das Blut des neuen Bundes.» Noch einmal verliest Mose das «Bundesbuch» und noch einmal stimmt das Volk zu.

So bevollmächtigt steigen Mose und die von JHWH bestimmten Delegierten auf den Berg «und sahen den Gott Israels». Beschrieben wird von dieser Vision allerdings nur die Fläche unter JHWHs Füßen «wie Lapislazuli und wie der klare Himmel». Mit dieser Offenbarung besiegelt Gott seine Zustimmung zu dem Bund. «Und als sie Gott geschaut hatten, aßen und tranken sie.» Damit ist die Zeremonie des Bundesschlusses zu Ende. Aber Mose muss noch einmal auf den Berg, um die Tafeln in Empfang zu nehmen. Eine Wolke bedeckt den Berg, in der die Herrlichkeit (kāvôd) JHWHs vor den Israeliten wie ein verzehrendes Feuer anzusehen ist. Sechs Tage muss Mose warten, am siebten ergeht aus der Wolke der Ruf. Mose geht mitten hinein in die Feuerwolke und verbleibt in ihr vierzig Tage und Nächte. Damit endet der erste Teil der Sinai-Perikope.

3. Dritter Teil: Gottesnähe (Kapitel 25–40)

Offenbarung des Zeltheiligtums