Exponential - Azeem Azhar - E-Book

Exponential E-Book

Azeem Azhar

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Beschreibung

Die Technologie schreitet einerseits so schnell voran, dass der menschliche Verstand mit dieser Geschwindigkeit kaum Schritt halten kann. Andererseits geraten unsere Unternehmen, Arbeitsplätze und letztlich auch unsere Demokratien in Gefahr – zwischen diesen beiden Welten entsteht eine exponentielle Kluft. Der international führende Technologe Azeem Azhar zeigt, wie diese exponentielle Kluft zu einer neuen Vernetzung von Wirtschaft und Gesellschaft führt. Azhar hat die Welt der Unternehmen, der Arbeit, und von Big Tech gründlich erforscht. Mit seinem Buch vermittelt er faszinierende Einblicke in eine Zeit schwindelerregend schneller Veränderungen – und weist den Weg, wie wir darauf reagieren sollten.

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Azeem Azhar

Exponential

Wie wir mit der Geschwindigkeittechnologischer RevolutionenSchritt halten können

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

EXPONENTIAL: How Accelerating Technology Is Leaving Us Behind and What to Do About It

ISBN 978-1-84794-290-6

Copyright der Originalausgabe 2021:

Copyright © Azeem Azhar 2021

This translation of Exponential is published by arrangement with Azeem Azhar.

First published in the United Kingdom by Random House Business in 2021.

Copyright der deutschen Ausgabe 2022:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Rotkel. Die Textwerkstatt

Covergestaltung: Timo Boethelt

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Lektorat: Rotkel. Die Textwerkstatt

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-880-0

eISBN 978-3-86470-881-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenbuchverlage

www.instagram.com/plassen_buchverlage

Für Salman, Sophie und Jasmine unddie Exponential-View-Community

Inhalt

VorwortDer große Wandel

Kapitel 1Der Vorbote

Kapitel 2Das Exponentialzeitalter

Kapitel 3Die exponentielle Kluft

Kapitel 4Unternehmen ohne Grenzen

Kapitel 5Labour’s Loves Lost

Kapitel 6Die Welt hat Zacken

Kapitel 7Die neue Weltunordnung

Kapitel 8Exponentialbürger

FazitWohlstand und Gerechtigkeit

Danksagung

Endnoten

Weiterführende Literatur

VORWORT:Der große Wandel

Mein Haus liegt zwischen den Vierteln Cricklewood und Golders Green im Nordwesten Londons. Es ist ein Vorstadthaus in einer Vorstadtstraße, wie man es in Europa und den Vereinigten Staaten kennt. Und es ist relativ neu in der Landschaft. Schaut man sich eine Karte der Gegend aus dem Jahr 1920 an, so sieht man nur Ackerland. Das Grundstück meiner Doppelhaushälfte liegt mitten auf einem Feld. Dort, wo heute eine Zufahrtsstraße verläuft, ist ein Reitweg eingezeichnet, und ein paar Gatter und Hecken grenzen das ab, was heute mein Viertel ist. Ein paar Hundert Meter weiter nördlich befindet sich eine Schmiede.

Nur ein paar Jahre später hatte sich die Gegend verändert. Nehmen Sie eine Karte desselben Gebiets aus dem Jahr 1936 und Sie werden sehen, dass das Ackerland zu den Straßen geworden ist, durch die ich täglich gehe. Die Schmiede ist verschwunden und durch eine mechanische Werkstatt ersetzt worden. Die Backsteinhäuser aus der Zwischenkriegszeit stehen auf denselben Grundstücken wie heute, vielleicht ohne den einen oder anderen Glasanbau. Es ist eine bemerkenswerte Metamorphose, die das Entstehen eines erkennbar modernen Lebensstils widerspiegelt.

Noch in den 1880er-Jahren glich das Leben in London dem einer viel früheren Ära – Pferde verkehrten auf den Straßen und hinterließen dabei Misthaufen; die meisten Hausarbeiten wurden von Hand erledigt; ein Großteil der Bevölkerung lebte in überfüllten, jahrhundertealten Elendsvierteln. Doch ab den 1890er-Jahren und in vielen Fällen bis in die 1920er-Jahre hielten die Schlüsseltechnologien des 20. Jahrhunderts Einzug. Auf Bildern von Londons zentralen Straßen aus dem Jahr 1925 sind keine Pferde mehr zu sehen, an ihrer Stelle gibt es Autos und Busse. Ein Netz von Kabeln brachte den Strom von den Kohlekraftwerken in die Büros und Wohnungen. Telefonleitungen führten in viele Häuser und ermöglichten es den Menschen, mit entfernt lebenden Freunden zu sprechen.

Diese Veränderungen brachten ihrerseits soziale Umwälzungen mit sich. Mit der Entwicklung moderner Produktionssysteme entstanden auch Vollzeitarbeitsverträge mit Sozialleistungen; neue Verkehrsmittel brachten das Pendeln mit sich; die Elektrifizierung der Fabriken begünstigte den Aufstieg großer Unternehmen mit wiedererkennbaren Markennamen. Jemand aus den 1980er-Jahren, der in eine Zeitmaschine gestiegen wäre, um in die 1880er-Jahre zurückzukehren, hätte wenig Vertrautes gesehen. Wäre er nur in die 1930er-Jahre zurückgereist, hätte er viel mehr wiedererkannt.

Dieser zwei Jahrzehnte währende Wandel spiegelt die plötzlichen dramatischen Veränderungen wider, die die Technologie mit sich bringen kann. Seit den Tagen der Feuersteinäxte und hölzernen Grabstöcke ist der Mensch ein Technologe. Wir versuchen, uns das Leben leichter zu machen, und dazu entwickeln wir Werkzeuge – Technologien –, die uns helfen, unsere Ziele zu erreichen. Diese Technologien haben es den Menschen lange Zeit ermöglicht, die Welt um sie herum neu zu definieren. Sie ermöglichen es uns, Ackerbau zu betreiben und zu bauen, zu Lande, in der Luft und im Weltraum zu reisen, das Nomadenleben aufzugeben und in Dörfer und Städte zu ziehen.

Aber wie meine Vorgänger im heutigen Nordwesten Londons gelernt haben, können die von uns entwickelten Technologien die Gesellschaft in unerwartete Richtungen lenken. Wenn sich eine Technologie durchsetzt, kann sie enorme Auswirkungen haben, die sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens erstrecken: unsere Arbeitsplätze, die Kriege, die wir führen, die Art unserer Politik, sogar unsere Sitten und Gebräuche. Um ein Wort aus der Wirtschaftswissenschaft zu gebrauchen: Technologie ist nicht „exogen“ in Bezug auf andere Kräfte, die unser Leben bestimmen – sie verbindet sich mit politischen, kulturellen und sozialen Systemen, oft auf dramatische und unvorhergesehene Weise.

Die unvorhersehbare Art und Weise, in der sich die Technologie mit weiter reichenden Kräften verbindet – die sich manchmal langsam bewegen, manchmal aber auch schnelle und seismische Veränderungen verursachen –, macht ihre Analyse so schwierig. Die aufkommende Disziplin der Komplexitätswissenschaft versucht zu verstehen, wie die verschiedenen Elemente eines komplizierten Systems interagieren – wie zum Beispiel verschiedene Arten miteinander in Beziehung stehen und ein Ökosystem bilden. Die menschliche Gesellschaft ist das ultimative „komplexe System“; sie besteht aus unzähligen, ständig interagierenden Elementen – Individuen, Haushalte, Regierungen, Unternehmen, Überzeugungen, Technologien.

Der Komplexitätswissenschaft zufolge bedeuten die Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen, dass sich kleine Veränderungen in einem Bereich eines Systems auf das gesamte System auswirken können. Und diese Veränderungen können chaotisch, überraschend und tiefgreifend sein.1 Selbst wenn wir ein beträchtliches Maß an Wissen über die Bestandteile des Systems haben, ist es selten einfach, festzustellen, wo diese wellenartigen Auswirkungen enden könnten.2 Eine neue Technologie kann zunächst eine kleine soziale Veränderung bewirken, die sich dann aber zu einer Spirale mit großen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft entwickelt.

Wenn sich diese wellenartigen Auswirkungen – oder „Rückkopplungsschleifen“, wie es im Jargon der Komplexitätswissenschaft heißt – auszubreiten beginnen, können sie unangenehme Gefühle hervorrufen. Man braucht nur einen Blick auf die Zeitungsseiten der Jahrhundertwende zu werfen, um zu erkennen, dass plötzliche Veränderungen Ängste auslösen. Ein kurzer Blick auf die Artikel der New York Times von vor einem Jahrhundert zeigt, dass die Amerikaner Angst vor Aufzügen, dem Telefon, dem Fernsehen und vielem mehr hatten.3

Natürlich war die Nervosität im Aufzug selten das eigentliche Problem. Vielmehr wurden diese Innovationen zum Symbol für die Ängste der Menschen vor dem Tempo der Veränderungen. Wir wissen intuitiv, dass technologische Veränderungen selten auf einen Bereich beschränkt bleiben. Indem die Aufzüge die Möglichkeit schufen, immer höhere Gebäude zu bauen, revolutionierten sie die Gestaltung und Wirtschaft der Städte. Das Telefon erleichterte den Kontakt zwischen Menschen und veränderte die Art und Weise, wie Menschen mit Kollegen und Freunden interagierten, drastisch. Wenn sich eine Technologie erst einmal durchgesetzt hat, sind ihre Auswirkungen überall zu spüren.

Heute erleben wir eine weitere Phase des dramatischen Wandels. Das deutlichste Zeichen dafür ist die Art und Weise, wie die Menschen über Technologie sprechen. Das PR-Unternehmen Edelman führt jedes Jahr eine renommierte Umfrage zum Vertrauen in der Bevölkerung durch. Eine der Schlüsselfragen, die 30.000 Menschen in 20 Ländern gestellt wird, lautet, ob sie mit der Geschwindigkeit, mit der sich die Technologie entwickelt, einverstanden sind. Im Jahr 2020 waren mehr als 60 Prozent der Befragten der Meinung, dass das Tempo des Wandels zu hoch sei – eine Zahl, die seit mehreren Jahren schleichend ansteigt.4

Es ist verlockend, anzunehmen, dass die Menschen den technologischen und sozialen Wandel immer als zu schnell empfinden. So dachten sie schon vor einem Jahrhundert, und so denken sie auch heute. Die These dieses Buches ist jedoch, dass wir tatsächlich in einer Zeit ungewöhnlich schneller Veränderungen leben – und dass diese Veränderungen durch plötzliche technologische Fortschritte herbeigeführt werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wandeln sich die das Industriezeitalter bestimmenden Technologien. Unsere Gesellschaft wird durch etliche neue Innovationen vorangetrieben – Computer und künstliche Intelligenz, erneuerbarer Strom und Speicherung von Energie, Durchbrüche in der Biologie und der Fertigung.

Diese Innovationen verbessern sich auf eine Weise, die wir noch nicht ganz verstehen. Was sie einzigartig macht, ist die Tatsache, dass sie sich entwickeln: in einem exponentiellen Tempo, das mit jedem Monat schneller und schneller wird. Wie in früheren Zeiten des raschen technologischen Wandels sind ihre Auswirkungen in der gesamten Gesellschaft spürbar – sie führen nicht nur zu neuen Dienstleistungen und Produkten, sondern verändern auch die Beziehungen zwischen alten und neuen Unternehmen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Stadt und Land, Bürgern und dem Markt.

Komplexitätsforscher bezeichnen Momente radikaler Veränderungen innerhalb eines Systems als „Phasenübergang“.5 Wenn sich flüssiges Wasser in Dampf verwandelt, handelt es sich um dieselbe Chemikalie, doch ihr Verhalten ist radikal anders. Auch Gesellschaften können Phasenübergänge durchlaufen. Manche Momente fühlen sich abrupt, diskontinuierlich und weltverändernd an. Denken Sie an die Ankunft von Kolumbus in Amerika oder den Fall der Berliner Mauer.

Die rasante Umgestaltung unserer heutigen Gesellschaft ist genau so ein Moment. Es ist ein Phasenübergang erreicht, und wir erleben, wie sich unsere Systeme vor unseren Augen verändern. Wasser wird zu Dampf.

Der Wandel der Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt dieses Buches. Es ist ein Buch darüber, wie die neue Technologie Fahrt aufnimmt. Und es versucht zu erklären, welche Auswirkungen diese Beschleunigung auf unsere Politik, unsere Wirtschaft und unsere Lebensweise hat.

Aber es ist kein pessimistisches Buch. Es gibt nichts zwangsläufig Schädliches an den Technologien, die ich beschreiben werde. Die Elemente der Gesellschaft, die für uns am wichtigsten sind – unsere Unternehmen, Kulturen und Gesetze –, sind als Reaktion auf die Veränderungen entstanden, die frühere Technologien mit sich brachten. Eines der entscheidenden Merkmale der menschlichen Geschichte ist unsere Anpassungsfähigkeit. Wenn ein rascher technologischer Wandel eintritt, bringt er zunächst Aufruhr mit sich, dann passen sich die Menschen an, und schließlich lernen wir, uns zu behaupten.

Dennoch habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben, weil uns derzeit das Vokabular fehlt, um den technologischen Wandel zu verstehen. Wenn man die Nachrichten verfolgt oder die Blogs vom langjährigen Nabel der Technologie, dem Silicon Valley, liest, wird deutlich, dass unserer öffentlichen Diskussion über Technologie Grenzen gesetzt sind. Neue Technologien verändern die Welt, und dennoch gibt es überall Missverständnisse darüber, was diese Technologie ist, warum sie wichtig ist und wie wir darauf reagieren sollen.

Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptprobleme bei unserer Diskussion über Technologie – Probleme, die dieses Buch zu lösen versucht. Erstens gibt es eine falsche Vorstellung davon, wie der Mensch zur Technologie steht. Wir gehen oft davon aus, dass Technologie irgendwie unabhängig von der Menschheit ist – dass sie eine Kraft ist, die sich selbst ins Leben gerufen hat und nicht die Voreingenommenheiten und Machtstrukturen der Menschen widerspiegelt, die sie geschaffen haben. In dieser Darstellung ist die Technologie wertfrei – sie wird neutral gemacht –, und es sind die Nutzer der Technologie, die bestimmen, ob sie für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt wird.

Diese Ansicht ist besonders im Silicon Valley verbreitet. Im Jahr 2013 schrieb der Vorstandsvorsitzende von Google, Eric Schmidt: „Die zentrale Wahrheit der Technologiebranche – dass die Technologie neutral ist, der Mensch aber nicht – geht in dem ganzen Lärm regelmäßig unter.“6 Peter Diamandis, Ingenieur und Mediziner sowie Gründer der Singularity University, einem Unternehmen, das Technologiekurse anbietet, schrieb, dass der Computer zwar „eindeutig das größte Werkzeug zur Selbstermächtigung ist, das wir je gesehen haben, aber er ist trotzdem nur ein Werkzeug, und wie alle Werkzeuge ist er grundsätzlich neutral“.7

Das ist eine bequeme Vorstellung für diejenigen, die Technologie entwickeln. Wenn die Technologie neutral ist, können sich ihre Erfinder auf die Entwicklung ihrer Geräte konzentrieren. Wenn die Technologie irgendwelche heimtückischen Auswirkungen hat, ist die Gesellschaft – und nicht ihr Erfinder – schuld. Wenn die Technologie jedoch nicht neutral wäre – das heißt, wenn sie eine Form von Ideologie oder ein Machtsystem codiert hätte –, könnte das bedeuten, dass ihre Hersteller vorsichtiger sein müssen. Die Gesellschaft würde die Technologen und ihre Schöpfungen vielleicht sorgfältiger steuern oder regulieren. Und diese Regulierung könnte sich als lästig erweisen.

Leider ist die Sichtweise dieser Ingenieure auf Technologie eine Fiktion. Technologien sind nicht nur neutrale Werkzeuge, die von ihren Nutzern angewandt (oder falsch angewandt) werden. Sie sind Artefakte, die von Menschen geschaffen werden. Und diese Menschen lenken und gestalten ihre Erfindungen nach ihren eigenen Vorlieben. So wie es in einigen religiösen Texten heißt, der Mensch sei nach dem Bilde Gottes geschaffen, so sind auch die Werkzeuge nach dem Bilde der Menschen geschaffen, die sie entwerfen. Und das bedeutet, dass unsere Technologien oft die Machtsysteme nachbilden, die in der übrigen Gesellschaft bestehen. Unsere Telefone sind so konzipiert, dass sie in Männerhände und nicht in die von Frauen passen. Viele Medikamente sind bei Schwarzen und Asiaten weniger wirksam, weil die Pharmaindustrie ihre Behandlungsverfahren oft für weiße Patienten entwickelt. Wenn wir Technologie schaffen, können wir diese Machtsysteme langlebiger machen – indem wir sie in einer Infrastruktur verschlüsseln, die undurchschaubarer und weniger rechenschaftspflichtig ist als der Mensch selbst.

Daher wird in diesem Buch Technologie nicht als abstrakte Kraft analysiert, die vom Rest der Gesellschaft getrennt ist. Es betrachtet Technologie als etwas, das von Menschen geschaffen wird und menschliche Wünsche widerspiegelt, auch wenn sie die menschliche Gesellschaft auf radikale und unerwartete Weise verändern kann. In Exponential geht es ebenso sehr um die Art und Weise, wie die Technologie mit unseren Formen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Organisation interagiert, wie um die Technologie selbst.

Das zweite Problem mit der Art und Weise, wie wir über Technologie sprechen, ist noch heimtückischer. Viele Menschen außerhalb der Welt der Technologie bemühen sich weder darum, sie zu verstehen, noch die richtige Reaktion auf sie zu entwickeln. Politiker zeigen häufig eine grundlegende Unkenntnis selbst der grundlegendsten Funktionsweise der gängigen Technologien.8 Sie sind wie Menschen, die versuchen, ein Auto zu betanken, indem sie den Kofferraum mit Heu füllen. Im Brexit-Handelsabkommen, auf das sich das Vereinigte Königreich und die Europäische Union im Dezember 2020 geeinigt haben, wird der Netscape Communicator als ein „modernes E-Mail-Softwarepaket“ bezeichnet. Die Software gibt es seit 1997 nicht mehr.

Zugegebenermaßen ist es schwierig, neue Technologien zu verstehen. Es erfordert Kenntnisse über eine breite Palette neuer Innovationen. Und es erfordert auch ein Verständnis der bestehenden Regeln, Normen, Institutionen und Konventionen der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Eine wirksame Analyse der Technologie erfordert einen Spagat zwischen zwei Welten. Das erinnert an einen berühmten Vortrag des britischen Wissenschaftlers und Schriftstellers C. P. Snow aus dem Jahr 1959. Er befürchtete eine Aufspaltung des intellektuellen Lebens in die Bereiche Literatur und Wissenschaft, insbesondere im Kontext des öffentlichen Lebens in Großbritannien. Diese „zwei Kulturen“ überschnitten sich nicht, und wer die eine verstand, verstand selten die andere – es herrschte eine „Kluft des gegenseitigen Unverständnisses“, hervorgerufen durch eine „rückwärtsgewandte Intelligenz“, die aus kunstsinnigen Oxbridge-Absolventen bestand, die auf den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt herabblickten. Das hatte laut Snow katastrophale Auswirkungen: „Wenn sich diese beiden Sinne auseinanderentwickelt haben, wird keine Gesellschaft mehr in der Lage sein, mit Weisheit zu denken.“9

Heute ist die Kluft zwischen den beiden Kulturen größer als je zuvor. Nur ist sie jetzt am stärksten ausgeprägt zwischen Technologen – ob Softwareingenieure, Produktentwickler oder Führungskräfte aus dem Silicon Valley – und allen anderen. Die Kultur der Technologie entwickelt sich ständig in neue, gefährliche und unerwartete Richtungen. Die andere Kultur – die Welt der Geistes- und Sozialwissenschaften, die von den meisten Berichterstattern und politischen Entscheidungsträgern bewohnt wird – kann nicht mehr verfolgen, was geschieht. Solange es keinen Dialog zwischen den beiden Kulturen gibt, werden unsere führenden Denker auf beiden Seiten kaum die richtigen Lösungen anbieten können.

Dieses Buch ist mein Versuch, diese beiden Welten zusammenzubringen. Einerseits möchte ich Technologen helfen, ihre Bemühungen in einem breiteren sozialen Kontext zu sehen. Andererseits möchte ich Nichttechnologen helfen, ein besseres Verständnis für die Technologien zu entwickeln, die dieser Zeit des raschen sozialen Wandels zugrunde liegen.

Diese Mischung von Disziplinen passt gut zu mir. Ich bin ein Kind des Mikrochipzeitalters, geboren im Jahr nach der Markteinführung des ersten kommerziell hergestellten Computerprozessors, ein junger Erwachsener des Internetzeitalters, der das Web während seines Studiums entdeckte, und ein Profi aus der Technologiebranche, der seine erste Website – für die britische Zeitung Guardian – 1995 eingerichtet hat. Seit 1998 habe ich vier Technologieunternehmen gegründet und in mehr als 30 Start-ups investiert. Ich habe sogar den Dotcomhype um die Jahrtausendwende überlebt. Später leitete ich bei Reuters eine Innovationsgruppe, in der unsere Teams verrückte, manchmal auch brillante Produkte für Hedgefonds-Manager und indische Bauern gleichermaßen entwickelten. Mehrere Jahre lang arbeitete ich mit Risikokapitalgebern in Europa zusammen und unterstützte die ehrgeizigsten Technologiegründer, die wir finden konnten – und ich investiere immer noch aktiv in junge Technologieunternehmen. Als Start-up-Investor habe ich mit Hunderten von Technologiegründern in so unterschiedlichen Bereichen wie künstliche Intelligenz, fortgeschrittene Biologie, Nachhaltigkeit, Quantencomputer, Elektrofahrzeuge und Raumfahrt gesprochen.

Aber meine akademische Ausbildung liegt im Bereich der Sozialwissenschaften. An der Universität habe ich mich auf Politik, Philosophie und Wirtschaft konzentriert – obwohl ich ungewöhnlicherweise auch einen Programmierkurs mit einer Gruppe von Physikern belegt habe, die viel klüger waren als ich. Und während eines Großteils meiner beruflichen Laufbahn habe ich mich auf die Frage konzentriert, wie Technologie die Wirtschaft und die Gesellschaft verändert. In meiner Laufbahn als Journalist, zunächst beim Guardian und dann beim Economist, musste ich komplizierte Themen aus der Welt der Softwareentwicklung einem breiten Publikum erklären. Und ich habe mich besonders für die politischen Implikationen neuer Technologieformen interessiert. Eine Zeit lang war ich nicht geschäftsführendes Mitglied des Ofcom, der britischen Regulierungsbehörde, die sich mit der Telekommunikations-, Internet- und Medienindustrie im Vereinigten Königreich befasst. Im Jahr 2018 wurde ich Vorstandsmitglied des Ada Lovelace Institute, wo wir die ethischen Auswirkungen der Nutzung von Daten und künstlicher Intelligenz in der Gesellschaft beobachten.

In den letzten Jahren habe ich meine Versuche, den Spagat zwischen den „zwei Kulturen“ zu bewältigen, in Exponential View kanalisiert – einem Newsletter und Podcast, der sich mit den Auswirkungen neuer Technologien auf die Gesellschaft beschäftigt. Ich habe ihn gegründet, nachdem mein drittes Start-up, PeerIndex, von einem deutlich größeren Technologieunternehmen übernommen wurde. PeerIndex wandte Techniken des maschinellen Lernens (dazu später mehr) auf große Mengen öffentlicher Daten darüber an, was Menschen online tun. Wir hatten mit vielen ethischen Dilemmas zu kämpfen hinsichtlich der Frage, was mit diesen Daten geschehen sollte und was nicht. Nach der Übernahme meines Unternehmens hatte ich den geistigen Freiraum, solchen Themen in meinem Newsletter nachzugehen.

Exponential View hat bei den Menschen Anklang gefunden. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes hat die Seite fast 200.000 Abonnenten auf der ganzen Welt, darunter einige der weltweit bekanntesten Gründer, Investoren, politischen Entscheidungsträger und Wissenschaftler in mehr als 100 Ländern. Und sie hat es mir ermöglicht, mich eingehend mit den wichtigsten Fragen zu befassen, die durch neue Technologien aufgeworfen werden. In meiner gleichnamigen Podcast-Reihe habe ich über 100 Interviews mit Ingenieuren, Unternehmern, Politikern, Historikern, Wissenschaftlern und Konzernleitern geführt. Im Laufe von mehr als sechs Jahren habe ich im Rahmen meiner Recherchen Zehntausende von Büchern, Zeitungen und Zeitschriftenartikeln, Blogbeiträgen und Fachbeiträgen gelesen. Ich habe kürzlich geschätzt, dass ich in den letzten sechs Jahren mehr als 20 Millionen Wörter gelesen habe, um zu verstehen, was geschieht. (Zum Glück ist dieses Buch etwas kürzer.)

Die Schlussfolgerung, zu der mich all diese Nachforschungen geführt haben, ist trügerisch einfach. Im Kern hat die These von Exponential zwei Hauptstränge. Erstens werden neue Technologien in immer schnellerem Tempo erfunden und skaliert, während gleichzeitig der Preis dafür rapide sinkt. Würde man die Entwicklung dieser Technologien auf einem Diagramm darstellen, würde sie einer gekrümmten, also exponentiellen Linie folgen.

Zweitens verändern sich unsere Institutionen – von unseren politischen Normen über unsere wirtschaftlichen Organisationssysteme bis hin zur Art und Weise, wie wir Beziehungen knüpfen – langsamer. Würde man die Anpassung dieser Institutionen auf einem Diagramm darstellen, so würde sie einer geraden, schrittweise ansteigenden Linie folgen.

Das Ergebnis ist das, was ich die „exponentielle Kluft“ nenne: die Kluft zwischen neuen Formen der Technologie – zusammen mit den neuen Ansätzen für Wirtschaft, Arbeit, Politik und Zivilgesellschaft, die sie mit sich bringen – und den Unternehmen, Arbeitnehmern, der Politik und den gesellschaftlichen Normen insgesamt, die abgehängt werden.

Das wirft natürlich nur weitere Fragen auf. Welche Auswirkungen haben exponentielle Technologien in verschiedenen Bereichen – von der Arbeit über Konflikte bis hin zur Politik? Wie lange kann dieser exponentielle Wandel noch weitergehen – und wird er jemals aufhören? Und was können wir alle tun, als politische Entscheidungsträger, Wirtschaftsführer oder Bürger, um zu verhindern, dass die exponentielle Kluft unsere Gesellschaften aushöhlt?

Die Struktur dieses Buches versucht, meine Antworten so klar wie möglich zu machen. Im ersten Teil werde ich erklären, was Exponentialtechnologien sind und warum sie entstanden sind. Ich behaupte, dass unser Zeitalter durch das Aufkommen mehrerer neuer „Allzwecktechnologien“ geprägt ist, die sich jeweils exponentiell verbessern. Es ist eine Geschichte, die mit der Informatik beginnt, aber auch die Bereiche Energie, Biologie und Fertigung umfasst. Das Ausmaß dieses Wandels bedeutet, dass wir in ein völlig neues Zeitalter der menschlichen Gesellschaft und der wirtschaftlichen Organisation eingetreten sind – ich nenne es das „Exponentialzeitalter“.

Als Nächstes gehe ich auf die Auswirkungen ein, die das für die menschliche Gesellschaft im weiteren Sinne hat – das Entstehen der exponentiellen Kluft. Es gibt viele Gründe, warum von Menschen geschaffene Institutionen sich nur langsam anpassen: von den psychologischen Schwierigkeiten, die wir mit der Vorstellung von exponentiellem Wandel haben, bis hin zu den inhärenten Schwierigkeiten, eine große Organisation umzukrempeln. Sie alle tragen dazu bei, dass die Kluft zwischen der Technologie und unseren sozialen Einrichtungen immer größer wird.

Doch welche Auswirkungen hat die exponentielle Kluft in der Praxis? Und was können wir dagegen tun? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des restlichen Teiles dieses Buches. Ich werde Sie von Wirtschaft und Arbeit über Geopolitik in Bezug auf Handel und Konflikte bis hin zu den Beziehungen zwischen Bürgern und Gesellschaft im weiteren Sinne führen.

Zunächst werden wir untersuchen, was Exponentialtechnologien mit Unternehmen machen. Im Exponentialzeitalter neigen technologiegetriebene Unternehmen dazu, größer zu werden, als man es zuvor für möglich gehalten hat – und traditionelle Unternehmen werden abgehängt. Das führt zu „Winner takes all“-Märkten, auf denen einige wenige „Superstar“-Unternehmen dominieren, während ihre Konkurrenten in der Bedeutungslosigkeit versinken. Es entsteht eine exponentielle Kluft – zwischen unseren bestehenden Regeln für Marktmacht, Monopol, Wettbewerb und Steuern einerseits und den neuen riesigen Unternehmen, die die Märkte beherrschen, andererseits.

Ich werde auch aufzeigen, wie sich die Aussichten der Arbeitnehmer durch das Entstehen dieser Unternehmen verändern. Die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind immer im Fluss, aber jetzt verschieben sie sich schneller als je zuvor. Die Superstar-Unternehmen bevorzugen neue Arbeitsformen, die durch Gig-Plattformen entstehen und für die Arbeitnehmer problematisch sein können. Bestehende Gesetze und Beschäftigungspraktiken haben Schwierigkeiten, mit den sich verändernden Arbeitsnormen zurechtzukommen.

Zweitens werden wir uns mit dem Wandel der Geopolitik befassen und erörtern, wie exponentielle Technologien Handel, Konflikte und das globale Gleichgewicht der Kräfte neu ordnen. Hier sind zwei große Verschiebungen im Gange. Der erste ist eine Rückkehr zum Lokalen. Neue Innovationen verändern die Art und Weise, wie wir auf Rohstoffe zugreifen, Produkte herstellen und Energie erzeugen – in zunehmendem Maße werden wir in der Lage sein, alle drei Bereiche in unseren eigenen Regionen abzudecken. Gleichzeitig werden Städte aufgrund der zunehmenden Komplexität unserer Volkswirtschaften wichtiger denn je, was zu Spannungen zwischen regionalen und nationalen Regierungen führt. War die Geschichte des Industriezeitalters eine Geschichte der Globalisierung, so wird die Geschichte des Exponentialzeitalters eine Geschichte der Relokalisierung sein. Der zweite Punkt ist die Veränderung der Kriegsführung. Mit der Relokalisierung der Welt werden sich die Muster globaler Konflikte verändern. Nationen und andere Akteure werden in der Lage sein, sich neuer Konfrontationstaktiken zu bedienen, von Cyber-Bedrohungen bis hin zu Drohnen und Desinformation. Dadurch werden die Kosten für die Auslösung von Konflikten drastisch sinken, sodass diese viel häufiger auftreten werden. Es wird eine Kluft zwischen den neuen, hochtechnologischen Angriffsformen und der Fähigkeit der Gesellschaften, sich zu verteidigen, entstehen.

Drittens werden wir untersuchen, wie das exponentielle Zeitalter das Verhältnis zwischen Bürger und Gesellschaft neu gestaltet. Staatliche Unternehmen sind auf dem Vormarsch – und sie stellen unsere grundlegendsten Annahmen über die Rolle von Privatunternehmen infrage. Die Märkte breiten sich über immer größere Teile des öffentlichen Raumes und unseres Privatlebens aus. Unsere nationalen Gespräche werden zunehmend auf privaten Plattformen geführt; intime Details über unser Innerstes werden dank der aufkommenden Datenökonomie online gekauft und verkauft; und sogar die Art und Weise, wie wir Freunde treffen und Gemeinschaften bilden, ist zu einer Ware geworden. Da wir aber nach wie vor einer Vorstellung von der Rolle der Märkte aus dem Industriezeitalter verhaftet sind, verfügen wir noch nicht über das Instrumentarium, um zu verhindern, dass diese Veränderungen unsere wichtigsten Werte aushöhlen.

Mit anderen Worten: Ein exponentielles Gefälle stellt viele Elemente unserer Gesellschaft infrage. Aber das ist etwas, das wir angehen können. Deshalb werde ich am Ende des Buches die allgemeinen Grundsätze erläutern, die nötig sind, um sicherzustellen, dass wir im Zeitalter des exponentiellen Wandels gedeihen – von der Stärkung der Widerstandsfähigkeit unserer Institutionen gegenüber dem raschen Wandel bis hin zur Wiederbelebung der Kraft kollektiver Eigentumsrechte und Entscheidungsfindung. Dieses Buch ist, wie ich hoffe, ein ganzheitlicher Leitfaden dafür, wie die Technologie unsere Gesellschaft verändert – und was wir dagegen tun sollten.

Als ich dieses Buch schrieb, hat sich die Welt dramatisch verändert. Als ich mit meinen Recherchen begann, gab es so etwas wie Covid-19 noch nicht, und Lockdowns waren nur in Zombie-Apokalypse-Filmen zu sehen. Doch als ich etwa die Hälfte meines ersten Entwurfs verfasst hatte, begannen Länder auf der ganzen Welt, ihre Grenzen zu schließen und der Bevölkerung Hausarrest zu verordnen – alles, um zu verhindern, dass ein Virus in ihren Gesundheitssystemen und ihrer Wirtschaft verheerende Schäden anrichtet.

Auf der einen Seite fühlte sich die Pandemie ausgesprochen low-tech an. Lockdowns werden schon seit Jahrtausenden eingesetzt, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Quarantäne ist nichts Neues: Das Wort stammt aus der Zeit des Schwarzen Todes, als sich Seeleute 40 Tage lang isolieren mussten, bevor sie an Land gehen durften. Die Tatsache, dass die Weltwirtschaft durch ein Virus zu Fall gebracht wurde, erinnert uns daran, wie viele uralte Probleme die Technik noch nicht zu lösen vermag.

Aber die Pandemie hat auch einige der wichtigsten Punkte dieses Buches verdeutlicht. Die Ausbreitung des Virus hat gezeigt, dass ein exponentielles Wachstum schwer zu kontrollieren ist. Es schleicht sich an und explodiert dann – in einem Moment scheint alles in Ordnung zu sein, im nächsten steht das Gesundheitssystem kurz davor, von einer neuen Krankheit überrollt zu werden. Und die Menschen haben Schwierigkeiten, sich die Geschwindigkeit dieses Wandels vorzustellen, wie die gleichgültige Reaktion vieler Regierungen auf die Ausbreitung des Coronavirus, insbesondere in Europa und Amerika, zeigt.

Gleichzeitig zeigte die Pandemie die ganze Macht der jüngsten Erfindungen. In den meisten Industrieländern waren Lockdowns nur dank des weitverbreiteten Zugangs zu schnellem Internet möglich. Diejenigen von uns, die zu Hause eingeschlossen waren, verbrachten einen Großteil der Pandemie an ihren Telefonen. Und, was am bemerkenswertesten ist, innerhalb eines Jahres haben Wissenschaftler Dutzende neuer Impfstoffe entwickelt – die, wie wir noch sehen werden, durch neue Innovationen wie maschinelles Lernen ermöglicht wurden. In gewisser Weise hat die Exponentialtechnologie bei Covid-19 ihr Können unter Beweis gestellt.

Vor allem aber hat die Pandemie gezeigt, dass die Technologien des exponentiellen Zeitalters – ob Videoanrufe oder Social-Media-Plattformen – inzwischen in jeden Bereich unseres Lebens integriert sind. Und das wird sich nur noch weiter verstärken. In dem Maße, in dem sich der Wandel beschleunigt, wird die Interaktion zwischen Technologie und anderen Bereichen unseres Lebens – von der Demografie über die Staatsführung bis hin zur Wirtschaftspolitik – immer konstanter werden. Saubere Unterscheidungen zwischen dem Bereich der Technologie und dem Bereich der Politik beispielsweise werden nicht mehr hilfreich sein. Die Technik gestaltet die Politik um, und die Politik gestaltet die Technik. Jede konstruktive Analyse eines der beiden Bereiche erfordert eine Analyse beider Bereiche. Und für Politik könnte man auch Wirtschaft, Kultur oder Unternehmensstrategie einsetzen.

Aufgrund der ständigen Rückkopplung von Technologie, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist es schwierig, stabile Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Selbst als ich dieses Buch schrieb, veränderte sich der Inhalt ständig – kaum war ich mit einem Kapitel fertig, musste es aktualisiert werden, um neue Entwicklungen zu berücksichtigen. Das sind die Gefahren des Schreibens in einem Zeitalter des exponentiellen Wandels.

Ich hoffe jedoch, dass dieses Buch eine nützliche Einführung in die Entwicklung der neuen Technologien darstellt. Wir leben in einer Zeit, in der die Technologie besser, schneller und vielfältiger wird als je zuvor. Dieser Prozess untergräbt die Stabilität vieler der Normen und Institutionen, die unser Leben bestimmen. Und wir haben im Moment keine Straßenkarte, die uns hilft, die Zukunft zu erreichen, die wir uns wünschen.

Dieses Buch allein wird wahrscheinlich keine perfekte Karte bieten. Aber es kann helfen, das Gelände zu erkennen und uns die richtige Richtung zu weisen.

Azeem Azhar

London, April 2021

1

Der Vorbote

Bevor ich wusste, was Silicon Valley war, hatte ich einen Computer gesehen. Es war im Dezember 1979, und unser Nachbar hatte einen Computer-Bausatz mit nach Hause gebracht. Ich weiß noch, wie er das Gerät auf dem Wohnzimmerboden zusammenbaute und an einen Schwarz-Weiß-Fernseher anschloss. Nachdem mein Nachbar akribisch eine Reihe von Befehlen eingegeben hatte, verwandelte sich der Bildschirm in einen Wandteppich aus blockigen Pixeln.

Ich erfasste die Maschine mit dem ganzen Staunen eines Siebenjährigen. Bis dahin hatte ich Computer nur in Fernsehsendungen und Filmen gesehen. Hier war einer, den ich anfassen konnte. Aber noch bemerkenswerter finde ich heute, dass ein solches Gerät in den 1970er-Jahren sogar in einen kleinen Vorort von Lusaka in Sambia gelangt war. Die globale Lieferkette war noch ganz am Anfang, und Ferneinkaufen gab es so gut wie gar nicht – und doch waren die ersten Anzeichen der digitalen Revolution bereits sichtbar.

Der Bausatz zum Selbermachen weckte mein Interesse. Zwei Jahre später bekam ich meinen ersten eigenen Computer: einen Sinclair ZX81, den ich im Herbst 1981 kaufte, ein Jahr nachdem ich in eine kleine Stadt im Hinterland von London gezogen war. Der ZX81 steht immer noch in meinem Bücherregal zu Hause. Er hat die Grundfläche einer 7-Zoll-Schallplattenhülle und ist etwa so tief wie Zeige- und Mittelfinger. Im Vergleich zu den anderen elektronischen Geräten in den Wohnzimmern der frühen 1980er-Jahre – dem Röhrenfernseher oder dem großen Kassettendeck – war der ZX81 kompakt und leicht. Mit Daumen und Zeigefinger leicht zu bedienen. Die eingebaute Tastatur, schwergängig und straff, wenn man sie drückte, war nichts, worauf man schnell tippen konnte. Sie reagierte nur auf feste, nachdrückliche Pikse, wie man sie vielleicht gebraucht, um einen Freund zu ermahnen. Aber man konnte eine Menge aus diesem kleinen Kasten herausholen. Ich erinnere mich, wie ich darauf einfache Berechnungen programmierte, schlichte Formen zeichnete und primitive Spiele spielte.

Dieses Gerät, das in Tageszeitungen im ganzen Vereinigten Königreich beworben wurde, war ein Durchbruch. Für 69 Pfund erhielten wir einen voll funktionsfähigen Computer. Mit seiner einfachen Programmiersprache war er im Prinzip in der Lage, jedes noch so komplizierte Computerproblem zu lösen (auch wenn es vielleicht lange gedauert hat).1 Aber der ZX81 war nicht lange auf dem Markt. Innerhalb weniger Jahre war mein Computer mit seiner blockigen Schwarz-Weiß-Grafik, der klobigen Tastatur und der langsamen Verarbeitung nahezu veraltet. Nach sechs Jahren war meine Familie auf ein moderneres Gerät der britischen Firma Acorn Computers umgestiegen. Der Acorn BBC Master war ein beeindruckendes Gerät mit einer Tastatur in voller Größe und einem numerischen Tastenfeld. Seine Reihe orangefarbener Sonderfunktionstasten hätte auf einer Requisite in einer Weltraumoper der 1980er-Jahre nicht fehl am Platz gewirkt.

Wenn das Äußere schon anders aussah als beim ZX81, so hatte sich das Innere jedoch komplett verändert. Der BBC Master lief um ein Vielfaches schneller. Er hatte 128-mal so viel Speicherplatz. Er konnte bis zu 16 verschiedene Farben darstellen, obwohl er nur acht gleichzeitig anzeigen konnte. Sein winziger Lautsprecher konnte bis zu vier verschiedene Töne ausgeben, gerade genug für einfache Musikwiedergaben – ich erinnere mich, dass er sich durch Bachs Toccata und Fuge in d-Moll piepste. Die relative Ausgereiftheit des BBC Master ermöglichte leistungsfähige Anwendungen, darunter Tabellenkalkulationen (die ich nie benutzt habe) und Spiele (die ich gespielt habe).

Weitere sechs Jahre später, in den frühen 1990er-Jahren, rüstete ich erneut auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Computerindustrie eine Phase brutaler Konsolidierung hinter sich. Geräte wie der TRS-80, der Amiga 500, der Atari ST, der Osborne 1 und der Sharp MZ-80 kämpften um Marktanteile. Einige kleine Unternehmen hatten kurzzeitig Erfolg, mussten sich aber einer Handvoll aufstrebender neuer Technologiefirmen geschlagen geben.

Es waren Microsoft und Intel, die aus dem evolutionären Todeskampf der 1980er-Jahre als die Stärksten ihrer jeweiligen Spezies hervorgingen: das Betriebssystem und die zentrale Recheneinheit. Die nächsten Jahrzehnte verbrachten sie in einer symbiotischen Beziehung, wobei Intel mehr Rechenleistung lieferte und Microsoft diese Leistung nutzte, um bessere Software zu liefern. Jede Softwaregeneration forderte die Computer ein wenig mehr, sodass Intel gezwungen war, seinen nachfolgenden Prozessor zu verbessern. „Andy hat’s gegeben, Bill hat’s genommen“, hieß es in der Branche (Andy Grove war der CEO von Intel, Bill Gates ist der Gründer von Microsoft).

Im Alter von 19 Jahren hatte ich keine Ahnung von der Dynamik dieser Branche. Alles, was ich wusste, war, dass Computer immer schneller und besser wurden, und ich wollte einen ergattern. Studenten neigten dazu, sogenannte PC-Klone zu kaufen – billige Kisten, halbe Markenartikel, die den namengebenden IBM Personal Computer kopierten. Es handelte sich um Computer, die auf verschiedenen Komponenten basierten und dem PC-Standard entsprachen, das heißt, sie waren mit dem neuesten Betriebssystem von Microsoft ausgestattet – der Software, die es den Benutzern (und Programmierern) ermöglichte, die Hardware zu steuern.

Mein Klon, ein hässlicher Quader, verfügte über den neuesten Intel-Prozessor, einen 80486. Dieser Prozessor konnte elf Millionen Befehle pro Sekunde verarbeiten, wohl vier- bis fünfmal mehr als mein vorheriger Computer. Eine Taste auf dem Gehäuse mit der Aufschrift „Turbo“ konnte den Prozessor zwingen, etwa 20 Prozent schneller zu laufen. Wie bei einem Auto, bei dem der Fahrer seinen Fuß nicht vom Gaspedal nimmt, hatte die zusätzliche Geschwindigkeit jedoch einen Preis: häufige Abstürze.

Dieser Computer verfügte über vier Megabyte Speicher (oder RAM), eine 4.000-fache Verbesserung gegenüber dem ZX81. Die Grafik war atemberaubend, wenn auch nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Ich konnte 32.768 Farben auf den Bildschirm werfen, indem ich einen nicht ganz so modernen Grafikadapter verwendete, den ich an den Rechner anschloss. Diese Regenbogenpalette war beeindruckend, aber nicht naturgetreu – vor allem Blautöne wurden schlecht dargestellt. Wenn mein Budget 50 Pfund mehr betragen hätte, hätte ich vielleicht eine Grafikkarte gekauft, die 16 Millionen Farben darstellen konnte, so viele, dass das menschliche Auge einige der Farbtöne kaum unterscheiden konnte.

Die zehnjährige Reise vom ZX81 zum PC-Klon spiegelte eine Zeit des exponentiellen technologischen Wandels wider. Der Prozessor des PC-Klons war tausend Mal leistungsfähiger als der des ZX81, und der Computer von 1991 war millionenfach leistungsfähiger als der von 1981. Dieser Wandel war das Ergebnis des raschen Fortschritts in der aufstrebenden Computerindustrie, der in etwa einer Verdoppelung der Computergeschwindigkeit alle paar Jahre entsprach.

Um diesen Wandel zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie Computer funktionieren. Im 19. Jahrhundert machte sich der englische Mathematiker und Philosoph George Boole daran, die Logik als eine Reihe von Binärzahlen darzustellen. Diese binären Ziffern – bekannt als „Bits“ – können durch alles Mögliche dargestellt werden. Man könnte sie mechanisch durch die Positionen eines Hebels darstellen, eine nach oben und eine nach unten. Theoretisch könnte man Bits mit M&Ms darstellen – einige blau, einige rot. (Das ist sicherlich lecker, aber nicht praktisch.) Die Wissenschaftler einigten sich schließlich auf eins und null als die besten Binärzahlen, die man verwenden kann.

In den Anfängen der Informatik war es schwierig und umständlich, eine Maschine dazu zu bringen, boolesche Logik anzuwenden. So benötigte ein Computer – im Grunde jedes Gerät, das Operationen mit boolescher Logik ausführen konnte – Dutzende von klobigen mechanischen Teilen. Ein entscheidender Durchbruch gelang jedoch 1938, als Claude Shannon, damals Masterstudent am Massachusetts Institute of Technology, erkannte, dass elektronische Schaltkreise so gebaut werden konnten, dass sie die boolesche Logik nutzten – wobei „an“ und „aus“ für „eins“ und „null“ stehen. Das war eine bahnbrechende Entdeckung, die den Weg für Computer ebnete, die aus elektronischen Komponenten bestanden. Der erste programmierbare, elektronische Digitalcomputer wurde während des Zweiten Weltkriegs von einem Team alliierter Codeknacker, darunter Alan Turing, eingesetzt.

Zwei Jahre nach Kriegsende entwickelten Wissenschaftler in den Bell Labs den Transistor – eine Art Halbleiter, ein Material, das teilweise Strom leitet und teilweise nicht. Man konnte nützliche Schalter aus Halbleitern bauen. Diese wiederum konnten zum Bau von „Logikgattern“ verwendet werden – Geräte, die elementare logische Berechnungen durchführen konnten. Viele dieser Logikgatter konnten zu einem brauchbaren Computer zusammengebaut werden.

Das mag technisch klingen, aber die Auswirkungen waren einfach: Die neuen Transistoren waren kleiner und zuverlässiger als die Röhren, die in den ersten elektronischen Bauteilen verwendet wurden, und sie ebneten den Weg für anspruchsvollere Computer. Als Wissenschaftler im Dezember 1947 den ersten Transistor bauten, war er klobig und bestand aus einer Reihe großer Bauteile, darunter eine Büroklammer. Aber er funktionierte. Im Laufe der Jahre wurden die Transistoren immer weniger ad hoc und immer solider konstruiert.

Ab den 1940er-Jahren wurde das Ziel verfolgt, die Transistoren kleiner zu machen. Im Jahr 1960 entwickelte Robert Noyce von Fairchild Semiconductor den weltweit ersten „integrierten Schaltkreis“, der mehrere Transistoren in einem einzigen Bauteil vereinte. Diese Transistoren waren winzig und konnten weder von Menschen noch von Maschinen einzeln verarbeitet werden. Sie wurden in einem aufwendigen Verfahren hergestellt, das ein wenig an die chemische Fotografie erinnert, die sogenannte Fotolithografie. Ingenieure leuchteten mit ultraviolettem Licht durch eine Folie mit einem Schaltkreisentwurf, ähnlich wie bei einer Kinderschablone. Auf diese Weise wird ein Schaltkreis auf einen Siliziumwafer gedruckt, und der Vorgang kann auf einem einzigen Wafer mehrmals wiederholt werden – bis man mehrere Transistoren übereinander hat. Jeder Wafer kann mehrere identische Kopien von Schaltkreisen enthalten, die in einem Gitter angeordnet sind. Schneidet man eine Kopie ab, erhält man einen Silizium-„Chip“.

Einer der Ersten, der die Leistungsfähigkeit dieser Technologie erkannte, war Gordon Moore, ein Forscher, der für Noyce arbeitete. Fünf Jahre nach der Erfindung seines Chefs stellte Moore fest, dass sich die physische Fläche integrierter Schaltkreise jedes Jahr um etwa 50 Prozent verringerte, ohne dass die Zahl der Transistoren abnahm. Die bei der Fotolithografie verwendeten Filme – oder „Masken“ – wurden immer detaillierter, die Transistoren und Verbindungen kleiner und die Bauteile selbst komplizierter. Dadurch konnten die Kosten gesenkt und die Leistung konnte verbessert werden. Die neueren Chips mit ihren kleineren Bauteilen und ihrer dichteren Packung waren schneller als die älteren.

Moore sah sich diese Fortschritte an und stellte 1965 eine Hypothese auf. Er postulierte, dass diese Entwicklungen die effektive Geschwindigkeit eines Chips bei gleichen Kosten über einen bestimmten Zeitraum verdoppeln würden.2 Er legte sich schließlich auf die Schätzung fest, dass die Chips alle 18 bis 24 Monate bei gleichen Kosten doppelt so leistungsfähig werden würden. Moore war später Mitbegründer von Intel, dem größten Chiphersteller des 20. Jahrhunderts. Berühmter ist er aber wahrscheinlich für seine Theorie, die als „Moore’s Law“, das mooresche Gesetz, bekannt wurde.

Dieses „Gesetz“ ist leicht misszuverstehen, es ist nicht wie ein physikalisches Gesetz. Physikalische Gesetze, die auf zuverlässigen Beobachtungen beruhen, haben eine prädiktive Qualität. Die newtonschen Gesetze der Bewegung können durch das alltägliche menschliche Verhalten nicht widerlegt werden. Newton sagte uns, dass Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist – und das ist fast immer wahr.3 Es spielt keine Rolle, was Sie tun oder nicht tun, welche Tageszeit es ist oder ob Sie ein Gewinnziel erreichen wollen.

Das mooresche Gesetz hingegen ist nicht prädiktiv, sondern deskriptiv. Nachdem Moore sein Gesetz formuliert hatte, betrachtete die Computerindustrie – von den Chipherstellern bis zu den unzähligen Zulieferern, die sie unterstützten – es als ein Ziel. Und so wurde es zu einer „sozialen Tatsache“: nicht etwas, das der Technologie selbst innewohnt, sondern etwas, das sich die Computerindustrie herbeigewünscht hat. Die Materialhersteller, die Elektronikdesigner, die Laserhersteller – sie alle wollten, dass das mooresche Gesetz galt. Und das tat es dann auch.4

Doch das mooresche Gesetz wurde dadurch nicht weniger wirksam. Seit Moore es zum ersten Mal formuliert hat, ist es ein ziemlich guter Leitfaden für den Fortschritt der Computer. Die Chips bekamen mehr Transistoren. Und sie folgten einer Exponentialkurve: Zuerst wurden sie unmerklich schneller, und dann rasten sie mit einer Geschwindigkeit davon, die schwer zu begreifen ist.

Nehmen Sie die folgenden Diagramme. Das obere zeigt das Wachstum der Transistoren pro Mikrochip von 1971 bis 2017. Die Tatsache, dass dieses Schaubild bis 2005 stagniert, spiegelt die Kraft des exponentiellen Wachstums wider. Im zweiten Diagramm, das dieselben Daten auf einer logarithmischen Skala zeigt – eine Metrik, die einen exponentiellen Anstieg in eine gerade Linie umwandelt –, sehen wir, dass sich die Anzahl der Transistoren pro Chip zwischen 1971 und 2015 fast verzehnfacht hat.

Anzahl der Transistoren pro Mikroprozessor in Milliarden (lineare Skala)

Quelle: Our World in Data

Anzahl der Transistoren pro Mikroprozessor in Milliarden (logarithmische Skala)

Quelle: Our World in Data

Das Ausmaß dieses Wandels ist kaum vorstellbar, aber wir können versuchen, ihn zu begreifen, indem wir uns auf den Preis eines einzelnen Transistors konzentrieren. Im Jahr 1958 verkaufte Fairchild Semiconductor 100 Transistoren an IBM für 150 Dollar pro Stück.5 In den 1960er-Jahren war der Preis auf etwa acht Dollar pro Transistor gefallen. Bis 1972, dem Jahr meiner Geburt, waren die durchschnittlichen Kosten eines Transistors auf 15 Cent gesunken,6 und die Halbleiterindustrie produzierte zwischen 100 Milliarden und einer Billion Transistoren pro Jahr. Im Jahr 2014 produzierte die Menschheit 250 Milliarden Transistoren pro Jahr: Das ist das 25-Fache der Anzahl der Sterne in der Milchstraße. Jede Sekunde produzierten die „Fabs“ – die spezialisierten Fabriken, die Transistoren herstellen – acht Billionen Transistoren.7 Die Kosten für einen Transistor waren auf einige Milliardstel Dollar gesunken.

Warum ist das wichtig? Weil es dazu geführt hat, dass Computer in einem erstaunlichen Tempo verbessert werden konnten. Die Geschwindigkeit, mit der ein Computer Informationen verarbeiten kann, ist in etwa proportional zur Anzahl der Transistoren, aus denen seine Verarbeitungseinheit besteht. Je mehr Transistoren die Chips hatten, desto schneller wurden sie. Sehr viel schneller. Gleichzeitig wurden die Chips selbst immer billiger.

Dieser außergewöhnliche Preisverfall war der Auslöser für die Computerrevolution meiner Teenagerjahre und machte meinen BBC Master so viel besser als meinen ZX81. Und seitdem hat er unser aller Leben erneut verändert. Wenn Sie Ihr Smartphone in die Hand nehmen, halten Sie ein Gerät mit mehreren Chips und Milliarden von Transistoren in der Hand. Computer – einst auf den Bereich des Militärs oder der wissenschaftlichen Forschung beschränkt – sind alltäglich geworden. Denken Sie an den ersten elektronischen Computer, der 1945 in Bletchley Park die Algorithmen von Alan Turing zum Entschlüsseln von Codes ausführte. Ein Jahrzehnt später gab es weltweit immer noch nur 264 Computer, von denen viele Zehntausende von Dollar pro Monat kosteten, wenn man sie mieten wollte.8 Sechs Jahrzehnte später sind mehr als fünf Milliarden Computer im Einsatz – einschließlich Smartphones, den Supercomputern in unseren Taschen. Unsere Küchenschränke, Vorratskisten und Dachböden sind übersät mit Computern, die erst wenige Jahre alt und für jede moderne Anwendung bereits veraltet sind.

Das mooresche Gesetz ist das berühmteste Beispiel für die exponentielle Entwicklung der Digitaltechnik. Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts sind Computer unaufhaltsam schneller geworden und haben unzählige technologische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen mit sich gebracht. Ziel dieses Kapitels ist es, zu erklären, wie dieser Wandel zustande gekommen ist und warum er sich in absehbarer Zeit fortsetzen wird. Es soll auch als Einführung in die bestimmende Kraft unseres Zeitalters dienen: den Aufstieg der Exponentialtechnologien.

Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet exponentielles Wachstum einen Anstieg, der im Laufe der Zeit stetig zunimmt. Während ein linearer Prozess das ist, was mit Ihrem Lebensalter geschieht, das mit jeder Umdrehung der Erde um die Sonne um die vorhersehbare Zahl Eins steigt, ist ein exponentieller Prozess wie ein Sparkonto mit Zinsen. Der Betrag auf dem Konto wächst um einen festen Prozentsatz, sagen wir zwei Prozent pro Jahr. Aber die zwei Prozent des nächsten Jahres gelten nicht nur für Ihre ursprünglichen Ersparnisse, sondern für Ihre Ersparnisse plus die Zinsen des letzten Jahres. Ein solcher Zinseszins beginnt langsam – er ist sogar etwas langweilig. Aber irgendwann biegt die Kurve nach oben ab und startet durch. Von diesem Zeitpunkt an steigt der Wert in schwindelerregendem Tempo.

Zahlreiche natürliche Prozesse folgen einem exponentiellen Muster: die Anzahl der Bakterien in einer Petrischale oder die Ausbreitung eines Virus in einer Population zum Beispiel. Eine neuere Entwicklung ist jedoch das Aufkommen von Exponentialtechnologien. Ich definiere eine Exponentialtechnologie als eine Technologie, die sich bei annähernd gleichbleibenden Kosten über mehrere Jahrzehnte hinweg mit einer Rate von mehr als zehn Prozent pro Jahr verbessern kann. Ein mathematischer Purist würde natürlich argumentieren, dass selbst eine Veränderung von einem Prozent mit Zinseszins eine exponentielle Veränderung ist. Streng genommen ist sie das auch. Aber eine jährliche Veränderung von einem Prozent braucht sehr viel Zeit, um in Gang zu kommen. Bei einer jährlichen Zinseszinsrate von einem Prozent würde es 70 Jahre, also den größten Teil eines Lebens, dauern, bis sich eine Zahl verdoppelt.

Deshalb ist der Schwellenwert von zehn Prozent pro Jahr so wichtig. Eine zehnprozentige Verbesserung des Preises und der Leistung einer Technologie würde dazu führen, dass sie bei gleichem Preis alle zehn Jahre mehr als 2,5-mal leistungsfähiger wird. Umgekehrt würden die Kosten bei gleichbleibender Leistung um mehr als drei Fünftel sinken. Ein Jahrzehnt sind nur zwei herkömmliche Geschäftsplanungszyklen, also die Zeitspanne eines einzigen Arbeitsplatzes oder eines Teiles einer Karriere. Im Vereinigten Königreich oder in Frankreich entspricht es zwei Legislaturperioden, in Australien drei und in den USA zweieinhalb Amtszeiten des Präsidenten.

Der zweite Teil meiner Definition ist ebenfalls entscheidend. Damit eine Technologie exponentiell ist, sollte diese Veränderung über Jahrzehnte anhalten – und nicht nur ein kurzlebiger Trend sein. Eine Technologie, die ein paar Jahre lang mit mehr als zehn Prozent voranschreitet und dann stehen bleibt, wäre viel weniger transformativ als eine, die sich ständig weiterentwickelt. Aus diesem Grund ist der Dieselmotor keine exponentielle Technologie. In den Anfangsjahren wurden die Dieselmotoren schnell verbessert. Aber die Verbesserungen wurden irgendwann immer marginaler. Das Geschäft mit den Computerchips hingegen, das sich über fünf Jahrzehnte hinweg jährlich um etwa 50 Prozent verbessert hat, ist zweifellos eine solche Technologie.

Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihr Auto nach zehn Jahren austauschen. Und stellen Sie sich vor, dass sich die wichtigsten Eigenschaften des Autos – zum Beispiel die Höchstgeschwindigkeit oder die Kraftstoffeffizienz – jährlich um zehn Prozent verbessert hätten. Ihre neuen Räder könnten eine doppelt so hohe Kraftstoffeffizienz oder eine mehr als doppelt so hohe Höchstgeschwindigkeit haben. Normalerweise passiert das nicht. Aber bei vielen der in diesem Buch behandelten Technologien ist genau das der Fall. Tatsächlich verbessern sich einige dieser Technologien um 20 bis 50 Prozent (oder mehr) pro Jahr. Eine solche Innovationsrate bedeutet, dass Sie innerhalb eines Jahrzehnts bei gleichem Preis eine 6- bis 60-fache Steigerung der Leistungsfähigkeit erleben.

Dieses Phänomen hat zwei Seiten: den Preisverfall und die Zunahme des Potenzials. Wenn der Preis einer Technologie sinkt, taucht sie überall auf. Die Industrie kann es sich plötzlich leisten, Exponentialtechnologien in neuen Produkten zu bündeln. Der Mensch baute Chips zunächst in Spezialgeräte ein, die vom Militär und von Raumfahrtbehörden gekauft wurden, und dann in Minicomputer, die nur für die größten Unternehmen erschwinglich waren. Ein Jahrzehnt später folgten Desktop-Computer, und als die Chips immer billiger und kleiner wurden, wurden sie in Telefone eingebaut.

Zugleich explodiert die Leistungsfähigkeit der Technologie. Die Fähigkeiten eines typischen Smartphones – hochauflösende Farbvideos, High-Fidelity-Sound, schnelle Videospiele, Scanner, die Texte übertragen – waren noch vor wenigen Jahrzehnten für niemanden verfügbar, nicht einmal für die reichsten Länder. Wenn sich Technologien exponentiell entwickeln, führen sie zu immer billigeren Produkten, die in der Lage sind, wirklich neue Dinge zu tun.

Um diesen Prozess in Aktion zu sehen, lohnt sich ein Blick auf die Arbeit von Horace Dediu. Der Wirtschaftsanalytiker Dediu wurde bei Clayton Christensen ausgebildet, dem weltbekannten Harvard-Akademiker, der mit The Innovator’s Dilemma die Bibel vieler Technologieunternehmen im Silicon Valley geschrieben hat. Dediu hat sich dank seiner Forschungen zu Innovationsmustern selbst einen wohlverdienten Ruf erworben. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er mehr als 200 Jahre historischer Daten ausgewertet, um zu untersuchen, wie schnell sich Technologien in der amerikanischen Wirtschaft verbreitet haben.9 Er spannt den Bogen sehr weit und betrachtet sorgfältig eine breite Palette von Innovationen – Toiletten mit Wasserspülung, die Elektrifizierung des Druckes, die Ausbreitung von Straßen, Staubsauger, Diesellokomotiven, die Servolenkung von Autos, elektrische Lichtbogenöfen, Kunstfasern, Geldautomaten, Digitalkameras, soziale Medien und Tablet-PCs, um nur einige zu nennen. Für jede dieser Technologien hat er ermittelt, wie lange es dauerte, bis sie eine Marktdurchdringung von 75 Prozent in den USA erreicht hatte, was bedeutet, dass drei Viertel der Erwachsenen (oder Haushalte, falls zutreffend) Zugang zu ihr haben.

Auch wenn jedes Produkt anders ist, gibt es doch Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, wie sie sich verbreiten. Die Verbreitung der meisten Technologien folgt einer „logistischen Kurve“ oder S-Kurve. Zu Beginn wird eine Technologie nur langsam angenommen. Die ersten Anwender experimentieren damit, während die Hersteller herausfinden, was genau sie herstellen und wie sie den Preis gestalten sollen, und ihre Kapazitäten ausbauen. Irgendwann erreicht das Produkt einen Wendepunkt, und seine Verbreitung nimmt sehr schnell zu. Die ersten beiden Teile der Kurve sehen also wie eine klassische Exponentialkurve aus: zunächst langsam und langweilig, dann schnell und aufregend. Im Gegensatz zu einer reinen Exponentialkurve hat die S-Kurve jedoch eine Grenze. Schließlich gibt es nur eine bestimmte Anzahl von Autos oder Waschmaschinen, die eine Familie besitzen kann. Wenn der Markt gesättigt ist, nimmt die Akzeptanz ab: Es gibt immer weniger Familien, die keine Digitalkamera oder Mikrowelle besitzen, oder immer weniger Stahlhersteller, die nicht auf elektrische Lichtbogenöfen umgestellt haben. Der steile Teil des Diagramms beginnt abzuflachen. Mit anderen Worten, das Muster der Verbreitung sieht aus wie ein träges „S“.

Manchmal ist der Punkt der Marktsättigung weiter entfernt, als fast alle erwartet haben. Im Jahr 1974 sagte Bill Gates, dass er sich einen „Computer auf jedem Schreibtisch und in jedem Haus“ vorstellte. Zu dieser Zeit gab es weltweit weniger als 500.000 Computer jeglicher Art. Um die Jahrtausendwende überstieg die Zahl der Computer 500 Millionen – immer noch weniger als ein Gerät pro europäischem oder amerikanischem Haushalt. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte hatte eine typische westliche Familie ein halbes Dutzend Computer zu Hause – mit Smartphones, dem Familiencomputer, einem modernen Fernseher und einem intelligenten Lautsprecher wie Amazon Alexa. Ein Gadget-affiner Haushalt kann leicht eine zweistellige Zahl erreichen.

Im Allgemeinen ist das S-Kurven-Modell nach wie vor zutreffend. Wenn man es jedoch mit exponentiellen Technologien zu tun hat, kann das Tempo ihrer Beschleunigung auf dem „S“ frappierend sein. Der Prozess der Marktsättigung hat sich seit Jahrzehnten beschleunigt, und jeder Amerikaner, der das 20. Jahrhundert erlebt hat, wird diese zunehmende Geschwindigkeit des Wandels bemerkt haben. Jemand, der 1920 geboren wurde, wurde knapp 55 Jahre alt und erlebte wahrscheinlich die Mondlandung, aber möglicherweise nicht den Sturz Nixons. Mit wenigen Ausnahmen – Atombombe, Raumfahrt – ist die Technologie, die er kennengelernt hätte, ziemlich konstant geblieben: Autos, Telefone, Fernseher, Waschmaschinen, Elektrizität und Toiletten mit Wasserspülung.10 Einige Produkte, die relativ früh erfunden wurden, wie die Mikrowelle, die erstmals 1946 verkauft wurde, waren selbst in den 1970er-Jahren noch selten anzutreffen.11

Für jemanden, der im Zeitalter des mooreschen Gesetzes geboren wurde, ergibt sich ein anderes Bild. Produkte kommen viel schneller auf den Markt, und die von der digitalen Infrastruktur angetriebenen Technologien sind die schnellsten von allen. Es dauerte elf Jahre, bis die sozialen Medien sieben von zehn Amerikanern erreichten, und das zu einer Zeit, als die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen, die bei ihrer Einführung lebten, 77 Jahre überstieg. Die sozialen Medien brauchten also 14 Prozent einer Lebensspanne, um die Sättigung zu erreichen. Der Vergleichsmaßstab für die Elektrizität liegt bei 62 Prozent der durchschnittlichen Lebenszeit. Gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Einführung verbreiteten sich Smartphones 12,5-mal schneller als das ursprüngliche Telefon.

Das unten stehende Schaubild macht die Sache noch einfacher. Auf der rechten Seite sind die entscheidenden Technologien des frühen 20. Jahrhunderts zu sehen: das Telefon, die elektrische Energie und das Automobil. Jede von ihnen wurde um die Jahrhundertwende eingeführt und brauchte über 30 Jahre, um drei Viertel der amerikanischen Haushalte zu erreichen – zu einer Zeit, als die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 50 Jahren lag. Auf der linken Seite sehen Sie eine Handvoll der ersten exponentiellen Technologien unserer Zeit, die alle auf einer wachsenden Rechenleistung beruhen. Jede von ihnen hielt innerhalb von acht bis 15 Jahren Einzug in drei Viertel der amerikanischen Haushalte – zu einer Zeit, als die Lebenserwartung bei der Geburt bei über 75 Jahren lag. Und es ist nicht nur so, dass sich die Technologien der Gegenwart schneller verbreiten als die der Vergangenheit: Das Tempo, mit dem sie sich verbreiten, nimmt ständig zu.

Mit anderen Worten: Die Technologie – und insbesondere die digitale Technologie – verbreitet sich schneller als je zuvor. Und dieser Prozess wird immer schneller. Das Leben im Zeitalter des mooreschen Gesetzes ist gekennzeichnet durch die exponentielle Ausbreitung der Technologie.

Wenn diese Beschleunigung auch schon seit einem halben Jahrhundert im Gange ist, so ist sie doch erst in den letzten ein oder zwei Jahrzehnten deutlich geworden. Nehmen wir die sozialen Medien. Das erste webbasierte soziale Netzwerk der Welt war SixDegrees. Ich trat dem Netzwerk ein paar Tage nach seinem Start im Jahr 1997 bei. Friendster und LinkedIn, wo ich zu den ersten 1.000 Mitgliedern gehörte, erschienen beide 2003, MySpace später im selben Jahr. MySpace wuchs schnell und wurde zum Giganten dieser aufstrebenden Branche, der in der Spitze 115 Millionen Nutzer hatte. Aber es war Facebook, das zeigte, wie schnell digitale Technologien wachsen können. Nachdem Facebook im Februar 2004 an den Start gegangen war, wurde es zu einem der am schnellsten wachsenden Produkte in der Weltgeschichte und erreichte in nur 15 Monaten eine Million Nutzer. Mark Zuckerberg, der Gründer, gehört heute das beliebteste Produkt der Welt. Ende 2019 hatte Facebook 2,5 Milliarden Nutzer.

Anzahl der Jahre zwischen 10 und 75 Prozent Marktdurchdringung, Vereinigte Staaten

Quelle: Horace Dediu, Analyse von Exponential View

Heute jedoch wirkt die Geschwindigkeit des Wachstums von Facebook geradezu altmodisch. Nehmen wir Lime. Das im Januar 2017 in San Francisco gegründete Unternehmen platziert in den Städten markante grüne Elektroroller und -fahrräder. Mit einem Knopfdruck auf Ihrem Smartphone können Sie ein solches Fahrzeug minutenweise mieten. Obwohl das Geschäft von Lime viel komplizierter ist als das von Facebook – die Fahrräder benötigen GPS- und GSM-Verbindungen, Wiederaufladen, Wartung und Tracking – hat es nur sechs Monate gedauert, bis Lime eine Million Fahrten angeboten hat, und nur weitere sieben Monate, um auf zehn Millionen zu kommen.12 Möglich wurde das durch die Revolution in der Computertechnik: Die Preise waren so weit gesunken, dass Lime in jedes der Hunderttausenden von Fahrrädern, die sie betreiben, einen kleinen Computer und ein GSM-Funkmodul einbauen konnte.13

Das immer schnellere Wachstum der digitalen Technologien ist nicht auf die USA beschränkt. KakaoTalk ist das führende koreanische soziale Netzwerk, das Pendant zu WeChat oder WhatsApp. Im Januar 2016 beschloss das Unternehmen, eine Bank zu gründen. Innerhalb von zwei Wochen hatten zwei Millionen Koreaner – etwa vier Prozent des Landes – ein Konto eröffnet. Bis zum Sommer 2019 hatten mehr als 20 Prozent der Koreaner ein solches Konto eröffnet.14 Und sobald wir uns mit einem schnelllebigen Produkt des exponentiellen Zeitalters vertraut gemacht haben, taucht ein anderes auf. Nehmen Sie TikTok, ein soziales Netzwerk für lustige Videos. Es hat sich innerhalb weniger Monate von einem unbekannten Dienst zur meistgeladenen App der Welt entwickelt. Und mit diesem Wachstum kam ein beispielloser Strom von Verkäufen. ByteDance, die Muttergesellschaft von TikTok, meldete 2018 einen Umsatz von sieben Milliarden US-Dollar; zwei Jahre später hatte sich der Umsatz mehr als verfünffacht. Zum Vergleich: Nur fünf Jahre zuvor hatte Facebook denselben Meilenstein von sieben Milliarden US-Dollar Umsatz überschritten; in den folgenden zwei Jahren hatten sich seine Einnahmen lediglich verdreifacht.15

Diese zunehmende Geschwindigkeit ist das Erbe des mooreschen Gesetzes. Die Hardware, die der digitalen Technologie zugrunde liegt, eignet sich für eine kontinuierliche Steigerung der Leistung und eine kontinuierliche Senkung des Preises. Da sich die Chips exponentiell entwickeln – 50 Prozent oder mehr, und das über viele Jahre hinweg jedes Jahr –, ermöglichen sie den Zugang zu einer unvorstellbaren Rechenleistung für triviale Geldbeträge. Diese Hyperdeflation schafft immer noch größere Möglichkeiten: neue Produkte, die sich wiederum schneller in unseren Volkswirtschaften verbreiten können. Insgesamt handelt es sich um einen Prozess der ständigen Beschleunigung.

In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts bemerkten einige Technologen die Verlangsamung des mooreschen Gesetzes. Das war vielleicht nicht überraschend. Technologien neigen nicht dazu, sich unbegrenzt exponentiell zu verbessern. Autos sind heute nicht viel schneller als am Ende des Zweiten Weltkriegs. Moderne Passagierflugzeuge trudeln mit etwa 800 Kilometern pro Stunde dahin – nicht viel schneller als die 753 Kilometer pro Stunde, die die ersten Passagierjets in den 1950er-Jahren schafften.

Und es spricht einiges dafür, dass unser derzeitiger Ansatz beim Chipdesign an die Grenzen des Machbaren stößt. Die Wissenschaftler haben immer kompliziertere Verfahren entwickelt, um Moores Vorhersagen zu erfüllen. Da die Transistoren immer kleiner werden, sind immer präzisere Maschinen zu ihrer Herstellung erforderlich: Die heutigen Halbleiterfabriken hängen von einer außerordentlich ausgefeilten Lasertechnologie ab, wobei die modernsten Laser pro Stück mehr als 100 Millionen Dollar kosten. Gleichzeitig stellt jede noch so kleine Veränderung der atmosphärischen Bedingungen in den Fabriken eine existenzielle Bedrohung für die mikroskopisch kleinen Transistoren dar: Ein einziges Staubkorn kann die Siliziumscheiben zerstören. Deshalb sind die Räume, in denen die Chips hergestellt werden, heute die ruhigsten der Welt und mit Heerscharen von Antivibrationsdämpfern ausgestattet. Sie sind auch die saubersten. Die Luft in diesen Räumen, die manchmal fast 19.000 Quadratmeter groß sind, wird oft 600-mal pro Stunde gefiltert. (Zum Vergleich: Die Luft im Operationssaal eines Krankenhauses muss nur 15-mal pro Stunde gereinigt werden.)

Das ist gemeint, wenn wir sagen, dass das mooresche Gesetz eher eine soziale Tatsache als ein starres Gesetz ist: Die Halbleiterindustrie war wild entschlossen, es zu erfüllen. Einige Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass der Forschungsaufwand, der erforderlich ist, um das mooresche Gesetz aufrechtzuerhalten, zwischen 1971 und 2018 um das 18-Fache gestiegen ist. Die Kosten für den Bau von Halbleiterfabriken sind jährlich um etwa 13 Prozent gestiegen – der Bau der jüngsten Fabrik kostete 15 Milliarden Dollar oder mehr.16

Doch trotz der Bemühungen der Industrie verlangsamte sich Ende der 2010er-Jahre das Wachstum der Transistoren pro Chip. Wie verschwitzte Pendler an einem heißen Tag, Wange an Achsel, irritierten sich diese submikroskopischen Schaltkreise gegenseitig. Jeder winzige Transistor erzeugt Wärme, die auf benachbarte Schaltkreise übergreifen und diese unzuverlässig machen kann – ein Problem, das die Chipingenieure immer schwerer in den Griff bekommen. Hinzu kommt, dass moderne Transistoren so klein sind – nur wenige Atome breit –, dass sie schon bald für das gespenstische Verhalten der Quantenphysik anfällig sein könnten. In diesem Maßstab sind die Teilchen so klein, dass sie sich wie Wellen verhalten, das heißt, sie können physikalische Barrieren durchdringen und taumelnd an Orte gelangen, an denen sie nicht sein sollten. Das mooresche Gesetz wird von quantenbetrunkenen Elektronen ausgehebelt.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich das Wachstum der Rechenleistung verlangsamen wird. Die Computerrevolution zeigt keine Anzeichen einer Verlangsamung. Ray Kurzweil, einer der weltweit führenden Technologieforscher, stellt eine Theorie der technologischen Entwicklung auf, die zu erklären versucht, warum das so ist. Seiner Meinung nach neigt die Technologie dazu, sich immer schneller zu entwickeln – gemäß dem, was er das „Gesetz der sich beschleunigenden Erträge“ nennt. Das Herzstück von Kurzweils Modell ist eine positive Rückkopplungsschleife. Gute Computerchips ermöglichen es uns, mehr Daten zu verarbeiten, die uns helfen zu lernen, wie wir bessere Computerchips herstellen können. Mit diesen neuen Chips können wir dann noch bessere Chips bauen und so weiter. Nach Kurzweils Ansicht beschleunigt sich dieser Prozess ständig: Die Erträge jeder Technologiegeneration überlagern sich mit denen der vorangegangenen Generation und verstärken sich sogar gegenseitig.17

Der entscheidende Teil von Kurzweils Theorie bezieht sich jedoch nicht auf eine einzelne Technologie, wie das Auto oder den Mikrochip. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenspiel verschiedener Technologien. Kurzweils bedeutende Erkenntnis ist, dass der exponentielle Fortschritt der Technologie in Wirklichkeit nicht aus der geradlinigen Entwicklung einzelner Erfindungen oder sogar einzelner Wirtschaftszweige besteht. Vielmehr beruht die Illusion einer kontinuierlichen exponentiellen technologischen Entwicklung auf Dutzenden verschiedener Technologien, die sich gemeinsam entwickeln und ständig interagieren.

Denken Sie an die S-Kurven in den Daten von Horace Dediu. Wenn eine Technologie erschaffen wird, folgen ihre Entwicklung und Verbreitung einem flachen Verlauf. Das spricht für einen langsamen, aber bedeutsamen Fortschritt. Irgendwann jedoch nimmt die Entwicklung der Technologie an Fahrt auf. Es folgt eine rasche Ausbreitung, bis der Fortschritt irgendwann zum Stillstand kommt. Unsere einst nahezu vertikale Kurve flacht wieder zu einer horizontalen ab.