Eyes of the Reaper - Sandra Stoppel - E-Book

Eyes of the Reaper E-Book

Sandra Stoppel

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Beschreibung

Die Menschen haben viele Namen für sie. Jeder Einzelne ist in Furcht getränkt. Zola glaubte ihre Bestimmung sei es in einer nie endenden Schlacht gegen die Göttin des Lebens anzutreten. Einen Kampf, den sie als Todesgöttin nie gewinnen wird. Doch als sie in diesem Leben auf die Erde zurückkehrt, ist nichts mehr wie es war. Zwischen Magie und Technik versucht Zola die neuen Spielregeln zu verstehen, doch schon bald gerät sie in die Fänge einer Regierung, die alle übernatürlichen Wesen auszumerzen versucht. Neben Elfen und Werwölfen wird sie in Ketten gelegt und ins Nefarius-Institut gebracht, wo sie zu einer willenlosen Waffe gemacht werden soll. Doch sie ahnen nicht, dass ihre Macht alles Leben dieser Welt auslöschen könnte. Einzig mit einem Flüstern. Als das Institut von Rebellen eingenommen wird, sehen diese lediglich ein stummes Mädchen. Sie erkennen nicht, dass sie mit ihrem Schicksal feilschen, als sie Zolas Ketten aufbrechen. Wird die Todesgöttin die Rebellen unterstützen und Frieden in ihrer Menschlichkeit finden oder wird sie die Welt, die ihre Macht verachtet, zermalmen und auf ihrem Staub tanzen?

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Buch

Zola glaubte ihre Bestimmung sei es in einer nie endenden Schlacht gegen die Göttin des Lebens anzutreten. Einen Kampf, den sie als Todesgöttin nie gewinnen wird. Doch als sie in diesem Leben auf die Erde zurückkehrt, ist nichts mehr wie es war.

Zwischen Magie und Technik versucht Zola die neuen Spielregeln zu verstehen, doch schon bald gerät sie in die Fänge einer Regierung, die alle übernatürlichen Wesen auszumerzen versucht. Neben Elfen und Werwölfen wird sie in Ketten gelegt und ins Nefarius-Institut gebracht, wo sie zu einer willenlosen Waffe gemacht werden soll.

Doch sie ahnen nicht, dass ihre Macht alles Leben dieser Welt auslöschen könnte. Einzig mit einem Flüstern.

Als das Institut von Rebellen eingenommen wird, sehen diese lediglich ein stummes Mädchen. Sie erkennen nicht, dass sie mit ihrem Schicksal feilschen, als sie Zolas Ketten aufbrechen. Wird die Todesgöttin die Rebellen unterstützen und Frieden in ihrer Menschlichkeit finden oder wird sie die Welt, die ihre Macht verachtet, zermalmen und auf ihrem Staub tanzen?

Autorin

Sandra Stoppel wurde 1999 in Dortmund geboren und bevor sie wusste, was Ikigai bedeutet, hat sie ihren Lebenssinn schon gefunden. Seit frühester Kindheit schreibt sie von fantastischen Abenteuern. Mit ihrem Debütroman "Eyes of the Reaper" beschreitet sie mit Zola die Reise einer stummen Göttin, die entdeckt, was Menschlichkeit bedeutet.

Neben dem Schreiben füllt Sandra Stoppel ihr Leben mit dem Entdecken fremder Welten, sowohl zwischen Buchdeckeln, als auch in der Light-Version, nämlich dem echten Leben.

Schweigen ist Stille, aber nie Leere.

Es ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit.

Es ist Rhythmus, wie ein gesunder Herzschlag.

Es ist das Fundament allen Denkens und damit das, auf dem jedwedes Schöpferische von Wert beruht.

(Yehudi Menuhin)

Anmerkung der Autorin:

Trotz der Ansiedlung dieses Buches im Fantasy und Science-Fiction Genre weist die Autorin explizit auf die Thematisierung von physischer Gewalt, Rassismus und Diskriminierung, sowie dem Versterben von Menschen und Tieren hin. Die Autorin bemühte sich um einen sensiblen Umgang mit diesen Inhalten, möchte die Leserinnen und Leser dennoch darum bitten, vorsichtig zu sein, falls diese Themen als triggernd empfunden werden.

It doesn´t matter if you´re the happiest person

Or an unfortunate weeper

A powerful beast

Or a terrifying creature

We are all equal in the eyes of the reaper

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHSZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

TEIL II

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIßIG

KAPITEL EINUNDDREIßIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIßIG

KAPITEL DREIUNDDREIßIG

KAPITEL VIERUNDDREIßIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIßIG

TEIL III

KAPITEL SECHSUNDDREIßIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIßIG

KAPITEL ACHTUNDDREIßIG

KAPITEL NEUNUNDDREIßIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

KAPITEL ACHTUNDVIERZIG

KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFZIG

KAPITEL EINUNDFÜNFZIG

KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG

KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG

KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG

PROLOG

Es gibt eine einzelne Hürde zu überwinden, denkt man an den Tod. Es ist nicht der Tod selbst, sondern die Unvorstellbarkeit des Endes. Das Ende des Selbst. Die Unvollkommenheit des eigenen Lebens zu akzeptieren und sich an die Vorstellung heranzuwagen, dass dieser Imperfektionismus nur allzu schnell unter einem namenlosen Grabstein verschwindet.

Vergraben und Vergessen.

Und dann beginnt man den Tod zu personifizieren. Ein Gesicht, weniger beängstigend, weniger überirdisch. Ein Sensenmann mit silbern schimmernder Klinge in einen schwarzen Umhang gehüllt erscheint greifbar, als könne man diesen heroisch herausfordern und über sein Schicksal selbst bestimmen. Als könne man siegen.

Die letzten Momente, die die Sinneszellen erfassen und in Form winziger elektrischer Impulse weiterleiten, erlebt man alleine. Selbst, wenn sich eine bekannte Seele erbarmen und neben dem Sterbebett Platz nehmen und die eigene zittrige Hand drücken sollte, die Dunkelheit begrüßt man alleine. Die Liebe, die in der Wärme eben dieser Finger steckt, spürt man ebenso wenig, wie ein Unfallopfer die Splitter der berstenden Frontscheibe seines kollidierten Fahrzeugs spürt.

Natürlich würde man sich bemühen, die letzten Momente seines Lebens besonders angenehm zu gestalten.

Doch wo zieht man die zeitliche Grenze?

Zwei Minuten vor dem Einstellen aller Lebensfunktionen.

Drei Stunden zum Versammeln aller Angehöriger.

Beim Verlassen des Hauses, bevor man sich in das Auto setzt.

Während man seine aufgeschürften Knie betrachtet, nachdem man vom Fahrrad gefallen ist, trotz der Mahnung der Eltern.

Wann beginnt man diese Momente zu schätzen, damit sich der Tod nicht einsam anfühlt?

Ein Sensenmann wird sich nicht durch einen krächzenden Raben ankündigen. Keine Banshee wird erscheinen, damit das Testament rechtzeitig geändert werden kann.

Nein, der Tod kommt, bevor man der Überlegung nachgeht das ungeliebte Enkelkind aus dem Vermächtnis zu streichen.

Und seine Gestalt wird nichts sein und trotzdem alles Existierende umfassen.

Die Hysterie wäre kaum vorstellbar, dass sich diese metaphysische Kraft, der alle biologischen Funktionen durch degenerierte Ermüdung oder klassischer Selektion zu einem bestimmten Zeitpunkt erliegen, als ein schimmernder Kupferball manifestiert.

Oder magmatisches Gestein am Rande eines Vulkans.

Oder die doppelt verspiegelte Glasfront eines internationalen Konzerns.

Oder das Plüschtier aus Baumwolle, welches unschuldig an die Brust eines kleinen Mädchens gedrückt wird.

Alles, was Materie ist, ist Tod.

Dabei ist jeder Organismus von einer wesentlich schlimmeren Seuche betroffen. Sie nennt sich das Sterben. Der Tod ist nicht schlimm. Nicht böse. Wie kann etwas böse sein, das so einzigartig natürlich ist?

Ein Stern verglüht.

Magma erkaltet.

Lebewesen sterben.

Es ist obszön. Feingliedrige Tentakel eines Parasites, der Stück für Stück, Zelle für Zelle, den Körper infiltriert, um dann zu dem Geist zu gelangen, der sich zu dem Zeitpunkt mit den Themen Hoffnung und Willensstärke auseinandersetzt. Das Sterben kann sich zurückziehen, verharren, warten, um dann die altbekannten Wege einzuschlagen. Niemand überlebt das Sterben.

Man sollte seine Gedanken nicht damit beschweren sich zu fragen wann es einen einholt.

Sondern wie.

Noch bevor man stirbt, beinhaltet das Leben einen ironischen Zufall. Eine Satire der Weltgeschichte. Die Menschen sind inzwischen zu einer wesentlich perfideren Seuche ausgereift. Und immer noch können sie nicht aufhören. Man stirbt, weil man sterben muss. Man wird geboren, weil die Menschen sich dazu entscheiden.

Sie wurde geboren.

Immer wieder.

Ich habe sie erschaffen. Sie ist mein Werk. Eine vollkommene Darstellung meiner Brillanz.

Sie ist mein Anker.

Immer wieder nehme ich weltliche Formen an, wenn eine menschliche Frau sie zur Welt bringt. Wenn sich diese einzigartigen Augen das erste Mal öffnen. Diese beschränkten Menschen achten nicht darauf, doch mein Scharfsinn erlaubt es mir, dieses Fünkchen Erkenntnis in den Augen des Neugeborenen zu beobachten.

Überraschung. Frust. Widerwillen. Eine Nanosekunde, bevor sich ihr Geist in den unvollständigen Hirnwindungen des menschlichen Säuglings verliert.

Das ist immer schade, doch nach einigen Lebensjahren wird sie sich wieder an ihre Bestimmung erinnern.

Kühles, abweisendes Metall spiegelt ihre Geburt wider. Kaum Kratzer sind auf den Oberflächen des Empfangsraumes zu erkennen. Das Personal ist ebenso schlicht und makellos gekleidet.

Dunkelgraue, fein gearbeitete Uniformen verschwimmen mit der Lackierung der stählernen Schränke an der Hinterseite des Raumes.

Insgesamt ist dieser Raum kalt und dunkel. Dieser Teil des Landes ist insgesamt kalt und dunkel. Dieses Volk, was sich Basilei nennt, ist kalt und dunkel. Schwarze Strähnen fallen der medizinischen Fachkraft in die Stirn, während sie eine Apparatur neben der gebärenden Frau bedient. Diese Frau ist keine Basilei. Sie gehört nicht in den Norden dieser Erde, dort wo das Volk konkurrenzlos aufgrund seiner kognitiven Genialität herausragt. Stumpf schiebt sich die Fachkraft dieses Stück stark pigmentierter Hornhaut zurück. Ihre ausdruckslosen Augen reflektieren die Werte des Monitors. Genial, aber ausdruckslos. Das ist der Norden mit seinen wahnhaft stählernen Glaskollossen, die der unerfahrenste Drache zu einem See aus Silber schmelzen könnte. In deren Scheibe sich die Sonne nie lange spiegelt oder die Gesichter der Bewohner wärmt. Verstecken und verharren hinter einer wunderartigen, beinahe transparenten Mauer aus Graphen. Die Zwerge verfluchen diesen modernen Baustoff. Stärker als jeder Bodenschatz, welches sie aus ihren Untertageminen schürften. Besonders schielen die kleinwüchsigen Metallurgen auf die transparente Schönheit des hauchdünnen Materials. Im richtigen Licht der seltenen Sonne flimmerte das von den Basilei modifizierte Graphen reiner als jeder Diamant. Die Zwerge sind dieser Tage nicht mehr in den Gebirgen des Nordens zu finden. Dieses steifnackige Volk ließ sich nicht durch die kaltblütige Obrigkeit kontrollieren.

Alle Bewohner der nördlichen Hemisphäre werden von der Regierung mithilfe eines multisensorischen Armreifens überwacht.

Man nennt sie liebevoll Ignomina. Der Verlust des guten Namens.

Mittels Ignomina schwangen sich die Basilei zu den Herrschern der neuen Welt empor. Ungeachtet jeder Verluste.

Die junge Frau, deren Schenkel nass vom Schweiß glänzen, kam aus einem Sektor nahe der Meere. Dort wo die Sonne der Erde am nächsten zu sein scheint.

Sie wandelte ständig in ihren erbarmungslosen Strahlen, während ihre Füße hart geworden waren von den ausgedörrten Grashalmen. Ihre Fingerspitzen, die sich nun verzweifelt in starres Metall bohren, erinnern sich an die raue Rinde der Bäume, an die wächsernen Blüten der Wasserblumen, die mit ihren mächtigen Stielen die wertvolle Flüssigkeit aus den tiefen Schichten unterhalb des von der Hitze aufgesprengten Lehmbodens befördern. Kräftige Schultern, die sich nun krampfend in das Polster pressen, tragen gewöhnlich prallvoll gefüllte Weidenkörbe. Sonst treibt ihr das Dreschen der Ähren den Schweiß zwischen die Brüste. Sie war eine einfache Solari-Frau. Braun gebrannt von der Sonne. Eine stolze Frau, denn ihr Volk stützte ihr Leben auf eine Unabhängigkeitserklärung. Jede Arbeit, die ihre Knochen schändet und ihr vorzeitig Falten in die Stirn kerbt, ist ihre Bestimmung. Sie ist glücklich. Ihr Volk ist glücklich. Es sorgt für sich selbst. Die Solari nutzen als einzige Technologie photovoltaische Anlagen.

Erstaunlich. Die Basilei würden es als primitiv, rückständig bezeichnen. Doch diese verstanden das Prinzip nicht.

Unabhängigkeit in allen Belangen. Der Schmied des eigenen Glücks statt ein von der Regierung inszeniertes Leben mit Berücksichtigung der Daten des Ignominas. Skripte, die das Ideal des eigenen Lebens vorausrechnen. Risiken minimieren.

Auch diese Frau war verpflichtet auf die Genehmigung ihres Antrages auf Fortpflanzung zu warten. Diese Art der Bürokratie war eine der Bedingungen zur Unabhängigkeit der Solari.

Populationskontrolle. Freier Wille sollte sich nicht unbegrenzt verbreiten können. Die Folgen wären wahrscheinlich katastrophal.

An diese Kleinigkeit dachte diese Frau nicht. Ihre Sinne konzentrierten sich auf die Muskulatur ihres Uterus, auf die Umklammerung der Metallschienen, die ihre Unterarme stabilisieren sollten. Auf das beständige Tönen des Monitors neben ihren Kopf. Der einzige Gedanke, der in ihrem kahl rasierten Schädel erahnt werden konnte, war der erwartungsvolle erste Schrei ihres Nachwuchses.

So unwissend.

So hoffnungsvoll.

Der Schrei kam. Er verfing sich zwischen den getäfelten grauen Wänden. Ein kurzer heller Aufschrei. Kein Schrei eines Neugeborenen, verwirrt und unartikuliert. Es war eine Entladung von feiner Macht. Weisheit. Ein Ausdruck wiederholter Ungerechtigkeit. Eine ungehörte Anklage an den Schöpfer.

Ich genoss diesen Klang.

Er galt allein mir.

Der kleine menschliche Körper ist mein Opus. Mein Bravourstück.

Es war nur rechtens, dass dieser erste Schrei der letzte Moment der biologischen Erzeugerin war.

Es war der letzte Moment jeder einzelnen Seele in diesem Raum.

Die medizinische Fachkraft hatte noch die Arme um den sich windenden, schmalen Körper gelegt. Ihre Körperwärme würde dem Neugeborenen nicht mehr lange reichen. Doch es würde sich jemand um sie kümmern. So war es immer.

Etwas Schreckliches war passiert. Und doch war sie mein Wunder. Eine tadellose Urgewalt.

In dieser Welt, in der die Basilei vorherrschten, in der Wissenschaft Magie ausschloss, hatte man vergessen, was Gottheiten waren.

Das letzte Mal, als man eine Göttin verschmähte, wurde die Welt zerstört.

Ich wunderte mich, was dieses Mal passieren würde.

Ihre silbrigen Augen erfassten den schimmernden Kupferball, welcher in diesem schmucklosen Raum fehlplatziert anmutete. Eine tragische Müdigkeit erfasste mich, bodenlos, sodass sogar ich mich neben die Frau legen und meinen letzten Moment erleben wollte.

Ausgeschlossen natürlich, aber diese Wirkung hatte sie auf mich.

Auf jedes Wesen, das in dieser Galaxie existierte. Sie erfüllte jeden mit der Sehnsucht nach dem Ende, denn sie war die Herrscherin des Jenseits. Der Säugling schloss die Augen und ich spürte, wie sich ihre Gedanken an die zerebralen unausgereiften Windungen ihres organischen Gehirns anpassten.

In ein paar Jahren würde sie sich wieder ihrer volle Kraft erinnern.

Ich hoffte, bis dahin würde SIE sie nicht finden.

Die zwei Urgewalten, die in einvernehmlicher Konkurrenz zueinander existierten. Der Tod und das Leben. Verankert in der Welt des Irdischen durch ihre Kinder. Die Herrscher ihrer Reiche.

Meines Reiches.

Mein Kind hatte nun erneut die Welt aus neuen Augen erspäht.

Das Kind des Lebens würde nicht lange warten.

Die Ewigkeit konstatierte einen immerwährenden Wandel. Und nur aus dem Tod kann neues Leben hervorgehen.

EINS

Die junge Frau stand mit dem Rücken zur Klippe und starrte einer Gestalt aus Granit entgegen. Das Gesicht des Gargoyles war mit Quarzsand zu flachen Formen der Verzweiflung geschmirgelt worden. Schatten unter dem Efeu, welches in das magmatische Gestein seine Krallen schlug, verdunkelten die Züge. Gargoyles sollten Spiegelbilder von Dämonen sein, aufgestellt zum Schutz des Heiligen vor dem Teufel. Die Frau drehte ihren Kopf und ging einige Schritte auf die Statue zu. Es schien, als würde diese Kreatur noch weiter in sich zusammenfallen. Schützend hatte es die Flügel eng um seinen kantigen Körper geschmiegt. Es war eine düstere Kunst das Leid eines Wesens dermaßen präzise einfangen zu können. Sie wandte sich ab und schritt den Weg zu einem halbrunden Turm entlang. Die Seiten des Kiesweges schmückten weitere unselige steinerne Kreaturen, die ihr Gesicht von dem Weg abwandten und ihre Fratzen in krallenbesetzten Klauen vergruben.

Denkmäler. Erinnerungen. Warnungen.

Jede Statue erinnerte die Wesen dieser Welt an das, was sie tief in ihrem Innern sein sollten. Grässliche Ausgeburten des Bösen. Es war paradox, wie die Menschen so etwas schufen, um die übernatürlichen Wesen abzuschrecken, um sie zu unterdrücken, aber ihr eigener Blick nicht allzu lange darauf verharren wollte.

Wen sollte dies an das wahre Wesen erinnern?

Schmale Finger strichen über den schuppigen Schwanz eines kleinen Dämons, der sich auf einem Basaltsockel zusammenkrümmte. Vermutlich war es der raue Wind, der das Zittern des schmächtigen Körpers verursachte. Die Frau war gesegnet gewesen. Bei den Solari. Sie lebten in Harmonie zu den Wesen und ihr Verstand weigerte sich, zu begreifen, dass diejenigen, die Magie ausüben konnten, diejenigen, die durch Magie geformt wurden, weniger wert sein sollten als Menschen. Resigniert schloss sie ihre Lider, als lebhafte Bilder vor ihren inneren Augen vorbeizogen.

Durchscheinend, gleich des dünnen Frostes eines stillen Sees und doch so kräftig, um einen Menschen tragen zu können.

Feenflügeln reflektierten den Sonnenschein, leuchteten im richtigen Winkel wie frischer Raureif auf den Wiesen. Wie zerstobenes Eis.

Sie folgte den Bewegungen ihrer Flügel, unlängst in ihrem glanzvollen Bann gefangen. Ihr Lachen war pure Verlockung. Ihr Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, dass diese Wesen niederer Natur waren. Bei den Wölfen war es mühelos etwas Bestialisches, Gefährliches zu erkennen.

Wenn die Sonne näher zur Erde stand und die Luft kaum ihre Runden drehte, kündigten grobschlächtige Füße donnernden Schrittes ihr Kommen an. Die Bergtrolle, die um Asyl unter den großblättrigen Schattengewächsen baten, amüsierten sich nimmermüde über die Zuwendung der winzigen Sylphen. Mit ihren spitzen Ohren und den kaum zu verstehenden Akzent, waren sie damit beschäftigt, die Trolle von Einwüchsen der Schuppenflechte zu befreien. Emsig kratzten sie mit ihren kleinen, aber scharfen Fingern zwischen den schartigen Kanten der Trollhaut. Und sie beschwerten sich stets über jegliche Ungerechtigkeit des Lebens, sodass die Bergtrolle mit klingelnden Ohren zu Beginn des Herbstes wieder in ihr felsiges Hochgebirge verschwanden.

Wenn die Sonne sich dem Horizont entgegen neigte, um mit einem wagemutigen Sprung einer durchdringenden Finsternis Platz zu machen, versammelten sich die Solari im Zentrum ihrer Siedlung. Dort nahmen sie um ihr Zentralfeuer Platz. Ein filigran gearbeiteter Ball aus Kupfer, welcher auf einem hüfthohen Sockel ruhte, markierte das Ende eines solarischen Tages. Der Mond erhob sich und mit ihm intensivierte sich ein warmes Glühen, welches von der geschliffenen Oberfläche des Kupferballs, des Haelikos, ausging. Ein Strahl weißen Lichts, den die Sylphen schufen, umschloss die rötliche Beschaffenheit des Metalls und ließ es wie den Sonnenuntergang einer unlängst zerstörten Welt schimmern. Lange lehnten die Menschen den Wesen ihre Schulter entgegen, bis die winzige Sonne karmesinrot verglühte. Für die Dauer sondierten die Sylphen penibel ihre Flügel nach Verschmutzungen und beseitigten diese umgehend, während die Wölfe im nahenden Silber des zunehmenden Mondes ihre Pfoten dem Himmel entgegen streckten. Ihr Schnarchen vibrierte in der Luft. Menschen spitzten die Ohren, um nach den raren Liedern der Nereiden zu lauschen. Die anmutigen Meernymphen neigten dazu sich im seichten Ufer des nahen Gewässers zu rekeln und die Solari aus blassen Augen in ihrem zarten Antlitz zu beobachten, statt mit ihnen zu interagieren. Doch in manchen Nächten drangen ihre Stimmen bis in das Innere der Siedlung vor, hallte von den behauenen Steinen ihrer Behausungen zurück und vermischte sich in mystischer Weise mit den Erzählungen der Schamanin der Solari.

Bis diese innehielt, um ebenso den sanft traurigen Gesängen zu lauschen. In der Sprache des Meeres, welches ihr Geheimnis in den schäumenden Kronen verborgen hielt.

Ein solcher Frieden war nicht realistisch.

Und es brach der Morgen an, der ihnen vorherbestimmt war.

Zola erinnerte sich. Ein gewöhnlicher Tag, an dem sie an ihrem Nussbaum gelehnt da saß. Der Baum und ihre Schlafstätte befanden sich auf einer Anhöhe, von der sie die kleine Siedlung überblicken konnte. Das Glühen des Haelikos warf seinen rötlichen Schatten vom hellen Sandstein zurück. Ein unausgesprochenes Reglement hielt sie davon ab zu den Solari hinabzusteigen und den heldenhaften Geschichten über Ruin und Wiederaufbau zu lauschen. Als sich windender Säugling übergab man sie einer verwitweten, aber jungen Solari- Frau. Damals genügte ein Blick auf das schwarzhaarige Mädchen und die Solari bewegten sich fort von ihr. War es der Ausdruck in ihren Augen, fragte sie sich, sobald sie fragen konnte, oder das Fehlen eines Ausdruckes? Es war unerheblich, wie sie die Wasserschale in ihren Händen wendete, anstelle ihrer Augen verfolgten weiße Wirbel ihre Bewegungen. Bis auf ihre Iris war alles an ihr dunkel. Sie ließ die Waschschüssel sinken, fügte Seife in das klare Wasser hinein und bemühte sich die Dunkelheit von ihren Händen, ihren Unterarmen, aus ihren Augen zu waschen. Tonlos weinend schrubbte sie ihren Körper bis zur Wundheit, bis ihre Mutter sie an ihrem Oberarm hochriss und in ein derbes Handtuch wickelte. Sie erinnerte sich daran, dass sie mit ihr schimpfte. Dass sie das Kind ausschimpfte, welches nicht sprechen konnte. Nicht erklären konnte, dass es sich verstoßen fühlte, dass sie nicht zu den Solari passte. Dass sie nicht mal zu ihrer eigenen Mutter zu passen schien. Denn ihre Haut war dunkler als die des Sonnenvolkes.

Früh bemerkte sie die Ähnlichkeit des Gefühls in den Augen der Solari und des Ausdrucks von Menschen, die sich ängstigten.

Sie nahm ihnen die Entscheidung ab.

Es war kein schlechter Platz, nicht wirklich. Ein paar Dornen waren abgefallen, da die Wolpertinger ihr Geweih am Baum rieben und stachen in ihre unterschlagenen Beine. Wenn sie nicht kaute, verstand sie mit Mühe, worüber die Wesen und Menschen grade lachten. Manchmal sahen sie betrübt aus. Zu diesen Zeiten erreichten ihre Stimmen ihren Hügel nicht, denn betrübte Menschen neigten dazu leise zu sprechen. Sie stellte sich eine Krise vor: Hunger, weil die Dürre zu lange angehalten hatte. Furcht, weil die Bergtrolle einen Tag nervös mit ihren mächtigen Beinen gescharrt hatten. Hoffnungslosigkeit, weil sie trotz ihrer Unabhängigkeit der Gnade der Regierung ausgeliefert waren. Zola kannte Krisen.

Das Mädchen blinzelte. Die Ahnung von Bildern aus vergessenen Zeitaltern warf Schatten auf ihr Sichtfeld. Vermischte sich mit dem dämmrigen Licht der untergehenden Sonne zu einer trügerischen Erinnerung. Bilder von Städten, deren Namen in Vergessenheit geraten waren. Von Ereignissen, die Geschichtsbücher füllten, waren in dieser Welt keiner Legende wert. Keine Schamanin trug die vergessenen Zeitalter an die jüngere Generation weiter. Keine Schamanin würde in Zolas Augen blicken und die alte Wahrheit erkennen. Die Wahrheit von Katastrophen.

Das Erdbeben um Shaanxi. Ein Tsunami, nach einem Seebeben an der Küste Portugals. Der Ausbruch von Toba. Der schwarze Tod in Europa. Die Hungersnot in Irland. Die Überschwemmung des Jangste- Flusses.

Die Wahrheit, dass Katastrophen dazu neigten, sich zu wiederholen.

Ein scharfes Stechen in ihrem Fuß ließ das Mädchen blinzeln.

Die Erinnerungen an die Nöte der früheren Menschen verloren sich in ihrem neunjährigen Gehirn. Stattdessen wanderte ihre Hand entlang ihres Knies zu dem staubigen Boden und entfernte den holzigen Stachel von ihrem Knöchel. Eine feuchte Nase stupste gegen ihre schmalen Finger und schnüffelte hastig an dem ominösen biologischen Abfallprodukt, ehe Zola es in einem weiten Bogen von sich warf. Das Wolpertingerweibchen folgte dem Dorn interessiert, der nach einer kurzen Flugstrecke, eine Armeslänge entfernt, auf der Erde auftraf. Das Mädchen Zola wusste noch nichts vom Tod der Menschen. Sie war bisher verschont geblieben vor dem bitteren Gefühl des Verlustes. Die Bitterkeit des Verlustes ihrer Mutter, stellte sich nie ein. Lediglich Schuld. Schuld, dass sie nicht um den Verlust einer Frau trauerte, die sie ernährt hatte. In ihren Augen spiegelte sich die matte Glut der Fackel in ihrer Nähe.

Ein lauer Wind wirbelte Aschepartikel auf und trug sie zu den Solari. Sie stützte das Kinn auf ihre Knöchel. Die Hände hatte sie auf den angezogenen Knien gefaltet. Sie spitzte die Ohren, ihre Atemzüge waren flach, bemühte sich die Erzählungen der Sylphe einzufangen. Diese in ihrem Kopf zu Geschichten zu formen.

Doch weder die anatomisch winzigen Stimmbänder noch ihr heller Dialekt trugen zum Verständnis bei. In ihrer Brust breitete sich ein dumpfes, zerrendes Gefühl aus. Seufzend wandte sie ihre Augen ab und beobachte das Wolpertingerweibchen, wie es versuchte, den Dorn vorsichtig zwischen ihre Schneidezähne zu schieben. Kurzum die gelblichen Zähne waren zu groß und der Stachel zu klein, aber es lenkte Zola ab.

Mit dem letzten Schimmer der Kupferkugel hatten die Dorfbewohner den Weg zu ihren Hütten gefunden. Zola indes blieb unter dem Nussbaum liegen, bis die Morgenröte entflammte und ihre Augen beim Erwachen ein gleißendes Meer aus weißen Uniformen erfassten. Sie kniff die Augen wieder zusammen.

Die Katastrophe der Solari.

Stumpf und dennoch in allen Ohrmuscheln widerhallend, las ein Uniformierter einen Erlass vor. Seine Stimme verstärkt durch das Sprachsystem an seinem polierten Schutzhelm:

"Sektor sechs. Sechshunderteinunddreißig Wesen.

Achthundertachtundfünfzig Menschen. Stamm Solari. Es besteht die Administration sechshunderteinunddreißig Wesen zu denunzieren. Dieser Administration wurde vor sechsundzwanzig Sonnen nicht Folge geleistet. Einheit dreizehn übernimmt die Exekution der Wesen. Dienlich zum Schutz der menschlichen Rasse. Widerständige und ethisch fehlgeleitete Individuen der menschlichen Rasse werden ebenfalls exekutiert. Dienlich zum Erhalt der Menschheit. Administration der Regierung nach Schutzgesetz der menschlichen Rasse. Ende" Das Mädchen blinzelte. Ein drückendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie erhob sich, wobei sich ein Dorn durch die Haut an ihrem Handballen schob. Gedankenverloren zog sie ihn raus.

Die Wolpertinger drängten sich eigentümlicherweise immer näher an das Kind, anstatt in ihrem Bau Sicherheit zu suchen. Die glatten Stumpen ihrer Geweihe stießen gegen ihre Schulter, gegen ihren Rücken, ihre Rippen. Das Mädchen nahm es nicht wahr, denn ihr Blick fixierte die Uniformierten, die das glatte Holz in den steinernen Torbögen der Häuser zertrümmerten. Die deren Bewohner über die scharfkantigen Überreste auf die Straße zerrten.

Sie spürte das Zittern nicht, welches ihren schmächtigen Körper erfasste. Beachtete nicht, dass sie nicht fähig war, sich zu bewegen.

Ihre feinen Ohren zuckten, als sie die fremdartigen Schreie verarbeiteten. Der erste Schuss übertönte ihren eigenen hellen Aufschrei. Ein Ton, den ihr menschlicher Körper bis zu diesem Zeitpunkt in sich verschlossen hielt. In dem Moment, als das Mädchen realisierte, dass Angst in ihren Eingeweiden kalt siedete und sie erstarren ließ, sah sie es.

Die Fee.

Wunderschön.

Tot.

Die Flügel bedeckten grotesk den feingliedrigen Korpus. Feine Amaranthknospen zierten die Bögen der transparenten Haut. Das Mädchen unter dem Nussbaum musterte die aufgerissenen, matten Augen dieses Wesens. Sie waren von hellen, durchscheinenden Wimpern umrahmt. Im Sonnenlicht würden sie weiß erscheinen.

Weiß und rein wie die Seele, deren Partikel um die leblose Hülle in den Himmel stoben. Das Mädchen schloss die Augen. Die Wolpertinger lagen in einem unnatürlichen Kreis um die zarte Gestalt des Kindes herum. Die Augen starr. Leblos. Keine trügerischen Märchen. Es waren ihre Erinnerungen.

Die Erkenntnis war zerreißend, überwältigend, unvermeidbar tragisch.

Zola öffnete die Augen und erhob sich. Bedächtig näherte sie sich der Leiche. Ließ die Szenerie des Grauens ungeachtet an ihr vorüberziehen. Weitere Schüsse fielen. In dem wenigen grünen Gras, nebst der hellen Steinmauern, erwuchsen Mohnblüten.

Winzige scharlachrote Tropfen ließen die Blumen in dem Sand, an den Hauswänden, an den Uniformen wachsen. Und immer mehr reflektierende, bunte Partikel stoben in die Luft. Umkreisten die menschlichen Körper, die ihre Lebensfunktionen eingestellt hatten.

Zola nahm jeden dieser Partikel in sich auf. Nahm jede Seele. Sie schmiegten sich in einem einzigartigen Farbglanz um die Gestalt eines Lebewesens. Erstrahlten in den unterschiedlichsten Nuancen.

Sie war die metaphysische Inkarnation aller emotionaler Ausdrücke des lebendigen Individuums. Es gab kein Gut. Es gab kein Böse.

Kein Weiß und kein Schwarz. Es gab eine ganze Galaxie in komprimierter Form.

Während die Wesen und die Menschen gegen die Uniformierten zu bestehen versuchten, wandelte Zola zwischen ihnen und fokussierte das, was außer ihr niemand wahrnahm. Sanft bettete sie die glänzenden Funken in ihre ureigenen Kraft ein, bewahrte sie dort sicher auf, bis sie sie ins Jenseits überführen würde. Dort würden die Seelen fortan existieren, bis sie wieder ein Teil des Weltenbaumes wurden. Als ihre Finger das letzte Teilchen nahezu liebevoll übergeleitet hatte, holte Zola die Müdigkeit ein, die sie immer zum Zeitpunkt der Erkenntnis verspürte. Die Erkenntnis, das Leben und Tod immer noch konkurrierten. Das eine neue Runde des Spiels eingeläutet worden war. Dass sie der Anker des Todes war. Ergänzt um die Erkenntnis, dass die Basilei die Solari ausgelöscht hatten. Menschliche Augen reagierten empfindlich auf den roten Farbton. Die Morgenröte akzentuierte die Mohnblüten.

ZWEI

Angstschweiß war ein perfider Geruch. Kalt und klebrig drängten sich die Leiber der Kinder zusammen. Schnelle keuchende Atemzüge waren das einzige Geräusch in dem finsteren Hangar des Luftschiffes. Nach kurzer Zeit schon wurde es stickig und der kalte Schweiß erwärmte sich mit der Körpertemperatur. Die Kinder waren erschöpft. Kein Einziges weinte. Die Jüngsten waren nicht in der Lage die Größe des Geschehenen zu begreifen. Die Ältesten schmiedeten bereits kaltblütige Racheakte. Es waren insgesamt sechsundfünfzig Kinder. Alle Wesen. Wesen ohne anatomische Auffälligkeiten. Den Wölfen hatten sie Schnallen um den Hals gelegt. Den Feen hatten sie die noch nicht vollständig entwickelten Flügel explantiert. Zola stand weit hinten in dem Hangar. Sie war beinahe kompromisslos in die Flugmaschine gestiegen. Die anderen musterten sie argwöhnisch. Sie statuierten sie als Verräterin. Als Spionin der Regierung. Merkwürdig. Auch sie trug nun einen dieser glänzenden Armreifen, wie alle anderen. Sie kannte diese Technologie nicht. Sie musste länger als angenommen nicht mehr in dieser Welt gewesen sein. Der angewiderte Blick der kindlichen Augen bestätigte ihr ungutes Gefühl.

Sie krümmte die Beine, um sich auf dem Boden niederzulassen, doch das Knurren eines Werwolfes hielt sie ab. Seine offene Verachtung verschreckte das Mädchen. Sie atmete tief durch. Nun war es wichtig, sich von ihrem organischen Körper zu distanzieren.

Sie war keine neun Jahre alt. Nicht der zierlichste Körper dieser Welt würde SIE davon abhalten sie zu finden. Und sie zu zerstören.

Bedächtig schloss sie die Augen. Sie musste ihr nächstes Vorgehen planen. Sollte sie SIE als Erstes finden? Oder sich verstecken?

Resignation erfasste sie. Suchen oder Verstecken. Ihre Entscheidung war unerheblich. SIE würde immer ihren Kampf einfordern. Den Kampf gegen das Ungeheuer. Eine Turbulenz ließ die schmächtigen Körper schwanken. Eine Sylphe echauffierte sich in der schmalen Box, in die man sie gesperrt hatte. Aus einer der dunklen Ecken klang ein Winseln. Zola bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Das letzte Mal auf der Erde hatte SIE sie in Irland aufgetrieben. Wo war sie jetzt? Europa? Afrika? Akzeptabel wäre auch Amerika. Nach Asien zog es SIE nie. Die Naturkatastrophen und weiten menschenlosen Regionen langweilten SIE. Basilei und Solari, das waren Begriffe für die aktuell existierenden Völker, vermutete sie. Doch aus welcher Sprache leitete es sich ab? Griechenland? Afrika? Sie riss die Augen auf, als sie ein gewaltiges Gefühl überrollte. Als wäre sie farbenblind gewesen.

In der alten Welt fand man keine Wolpertinger. Keine Bergtrolle. Keine murrenden Sylphen. Keine Magie. Sie ließ ihren Blick vom Werwolf neben ihr, zu der feingliedrigen Sylphe in dem Käfig, zu einem Jungen mit spitz zulaufenden Ohren wandern. Sie zog die Innenhaut ihrer Wange zwischen die Zähne und senkte den Blick.

War das, das Produkt der Evolution? Oder Magie?

In gewisser Weise ergänzte Magie schon immer die Materie der Welt. Mit einem Finger massierte sie ihre Schläfe und ignorierte sowohl den missfallenden Blick des Wolfes als auch das Stechen in ihrem organischen Herzen. Sie war anders gewesen: Die Magie.

Schwerer zugänglich für besonders veranlagte Menschen. Ein Bruchteil der Bevölkerung, die sich mit diesen Kraftfeldern das Leben erleichterte. Hexen. Schamanen. Zauberer. Zigeuner.

Schwindler. Wenn es zu einer Ballung an magischen Energieträger gekommen war, ob Mensch oder Objekt, entstanden Wunder.

Doch es gab keine fliegenden Winzlinge, keine grölenden Riesen, keine ausgewachsenen Lykanthropen. Was war im letzten Kampf geschehen, was diese Erde derart verändert hat? Deprimierend war die Dunkelheit. Ohne Eindrücke der äußeren Welt fühlte sich Zola verloren. Sie ist erwacht, nur um zu erkennen, dass sie nichts über diese neue Welt wusste. Würde es IHR genauso ergehen? Blind in eine Welt hineinzustolpern, die sich so offensichtlich verändert hatte. Würde SIE sich auch an die neuen Spielregeln anpassen müssen oder hat sie das Schachbrett nach ihren Vorstellungen konzipiert?

Auf ihrer Zunge rollte ein entnervtes Brummen, doch sie unterbrach es. Sofort sah sie die altbekannte Angst der Umstehenden, sie roch ihre Nervosität und spürte die Anspannung ihrer Körper. Beinahe hatte sie auch das vergessen: Die Resonanz ihrer Stimme riss an der Wirklichkeit. Verwirbelte die reale Materie.

Verzerrte die Dimensionen. Die definierten Grenzen schwankten und somit auch die Grenze der körperlichen und seelischen Dimension. Es steigerte sich von der leichten Vibration der Seele zu ihrer Zerreißung. Flüstern war schmerzhaft. Lachen war Folter.

Ein Wort Zerstörung. Sie musste konzentriert bleiben. Ihre Kraft würde stärker werden und damit auch die Auswirkungen ihrer Stimme. Früher, in Irland, hatte man sie als Banshee bezeichnet. Es klang schön in ihren Ohren. Sie hielt die Lippen fest aufeinander gepresst. Stumm lehnte sie ihre Stirn an das kalte Metall und lauschte dem Atem der Wesen in ihrem Rücken. Ihre Anwesenheit hatte Pest, Hungersnöte, Erderwärmung gebracht. Sie spürte einen Impuls ihres organischen Hormonhaushaltes. Die Erschütterung des Mädchens ob der grauenhaften neuen Erinnerungen in ihren jungen Synapsen. Tief vergraben, kaum wahrnehmbar, pochte ein perfide Regung hinter ihren Rippen. Zola erstickte dieses Gefühl mit scharfschneidender Willenskraft.

Schuld. Schwach.

Sie verdrängte diese Gefühle. Distanzierte sich von den Hormonen, die in ihrem Blutkreislauf zirkulierten und konzentrierte sich auf ihre Situation.

Fakt ist: Eine ihr unbekannte Regierung hatte ein ihr bisher unbekanntes, anscheinend bisher unabhängiges, Volk ausgelöscht und verschleppte nun dessen Kinder.

Fakt ist: Sie befand sich in einer Welt, in der Magie vollständig expressiert und wohl von den intelligenten Lebewesen akzeptiert ist.

Fakt ist: Sie hat die Kraft von eintausendzweihundertsechsundachtzig Seelen in sich.

Frage: Wann würde SIE sie finden?

Es sollte nicht zu lange dauern. Diese Welt war gut vernetzt, wie sie mit einem Blick auf den Armreif vermutete. Mit feinen, aber mechanischen Lettern stand ein Wort in das Metall graviert: Ignomina. Und eine Nummer, die wohl in Zukunft ihren Namen ersetzen sollte. 1-56

Zola registrierte, dass die Gefühle des kleinen Mädchens immer noch in ihr brodelten, das könnte zu einem Problem werden.

Sorgsam darauf achtend den Blicken der Kinder auszuweichen, drehte sie sich um und betrachtete erneut die Körper. Diese Wesen waren wichtig für die Regierung. Sie schien für die Uniformierten eine von ihnen zu sein. Eine der Elfen fixierte sie und stieß ein Wort aus, das sie nur als Beleidigung auffassen konnte.

Primitiv. Dieses Wesen würde noch den richtigen Umgangston finden, wenn meine Kraft vollständig entfaltet war.

Mit leerem Blick wandte sie sich ab und starrte der Wand entgegen, bis das Luftschiff mit einem sanften Ruck andockte und die Rampe des Hangars geöffnet wurde. Licht blendete kurz ihre empfindliche Netzhaut und schon jetzt erkannte sie, dass dieser Ort weit, weit entfernt war von der Sonne.

DREI

Moos. Das musste es sein. Sie spürte das weiche grüne Gewächs zwischen ihren Fingern. Sonnenlicht flutete durch ein Dach aus faustgroß gezackten Blättern. Die unzähligen dünnen Äste, die diese stützten, leuchteten violett. Sie drehte den Kopf. Eine honigfarbene Haarlocke kitzelte ihre Nase. Mit einer Hand entfernte sie die Strähne von ihrer Nasenspitze. Eine Waldlichtung.

Grün überzogene Findlinge hüteten über ihre Gestalt am Waldboden. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie morsches Holz und sprießende Knospen wahr. Wildblumen hatten sich in ihrer Nähe ein weitläufiges Revier erkämpft. Sie drückte gegen das Moos.

Ein bezauberndes Lächeln erschien auf ihrem hellen Gesicht. Feine Grübchen zierten ihre Wangen. Bernsteinfarbene Augen wurden von dichten, dunklen Wimpern umrahmt. Ihr Blick folgte einem Monarchfalter. In der Ferne hörte sie einen Bach. Ruhig setzte sie sich auf. Die Locken fielen über ihren nackten Rücken, während ihre Hände immer noch das Moos streichelten. Es war wunderschön.

Elegant erhob sie sich aus ihrem weichen Bett und wanderte in Richtung des Baches davon. Ihre Beine waren lang, ihr Bauch flach, zierliche Sommersprossen bedeckten an genau den richtigen Stellen den ansonsten makellosen Körper. Ihre Brüste hüpften leicht mit jedem Schritt. Sie spürte die Waldtiere. Nahm ihre Energie in ihren gegrabenen Bauten wahr und hoch oben im Geäst der Laubbäume.

Spürte die fliehende Gestalt der Rehe. Mit ein wenig Konzentration lenkte sie einen Eichelhäher auf ihren Weg und ließ ihn sein Lied singen. Als sie die erste Sylphe erblickte, blieb sie erstaunt stehen.

Mit harschen Worten fuhr die Sylphe die bildhaft schöne Frau an, die nackt durch ihren Garten gewatet war, doch nach einem Blick in die goldenen Augen ließ diese sich auf ihrer Schulter nieder und befühlte verliebt ihr Schlüsselbein. Was für eine pure Energie von diesem kleinen Bündel ausging. Sie spürte die Kraft der Sylphe pulsieren. Und nun nahm sie auch die leuchtenden Kraftstränge der Magie wahr. Wie sie sich immer neu formten, einen Teppich aus Energie um sie herum webten.

Kyrilla lächelte verzückt.

Wie leicht würde es jetzt für sie sein. Summend zupfte sie an einer schillernden Kraftlinie, die zu ihrer Schulter führte. Die Sylphe erzitterte. Erstaunt rieb Kyrilla die Energie zwischen ihren langen Fingern. Schrill kreischte die Sylphe auf und stürzte entlang ihres Armes auf den erdigen Boden. Neugierig beugte sich die Frau über den vibrierenden Körper. Ihre Augen glänzten, als sie die Kraftlinie zwischen ihren Händen zerriss. Die Sylphe schrie nicht.

Nur das Leben wich aus den winzigen Lapislazuli Augen. Die Frau spürte einen leichten Schmerz in ihrer Brust. Sie wusste, ohne hinzusehen, dass die energetischen Lebenslinien in ihrer Gestalt mündeten. Entzückt über die Magie, setzte sie ihren Weg fort. Im Hintergrund stürzten winzige Wesen aus den Büschen. Sie hörte ihre Klagelieder noch, als sie den Bach erreichte. Begeistert betrachtete sie ihre Figur. Sie würde sich wahrhaftig als schön bezeichnen. Mit bedächtigen Bewegungen fuhr sie ihren Bauch entlang, über ihre Schlüsselbeine zu ihren Wangenknochen. Wenn Schönheit in dieser bizarren magischen Welt genau so viel bedeutete, wie in ihrem vorherigen Leben, würde sie es leicht haben, eine Stimme zu erhalten. Erstaunt beobachtete sie, wie eine golden schimmernde Schlange ihre filigranen Flügel aneinanderlegte. Das energetische Band, das zu diesem Wesen führte, war ebenfalls durchsetzt von einem Schimmern, den sie nur zauberhaft nennen konnte. Mit ihrem gekrümmten kleinen Finger zupfte sie an diesem Band und beobachtete wie die Schlange sich erhob und sich einen Weg zu ihr bahnte. Zum Teil durch die Luft segelnd, zum Teil den schleifenden Körper hinterherziehend, wand sich schließlich ihre glatte Gestalt an ihrem Bein entlang zu ihrem Hals hinauf. Den Kopf auf ihrem Busen gebetet und ihren schlanken Körper um ihren Nacken drapiert, verharrte sie. Kyrilla erhob sich, nachdem sie an ihrer Erscheinung nichts zu bemängeln fand. Sie würde ihren Weg aus diesem Wald finden. Sie würde ein Bündnis mit den Menschen schließen. Menschen liebten sie. Jedes Lebewesen liebte sie. Bedächtig tätschelte sie den Kopf des Kriechtiers. Bronzene Schuppen kühlten angenehm ihren Hals. Sie würde SIE finden. Und sie würde besiegen, was ihren Lebewesen den Tod brachte. Diesen Parasiten. Sie würde ihn zerstampfen, bevor er Leid über diese wunderbare Welt bringen konnte. Die Augen der Schlange waren auf den Weg vor ihnen gerichtet und so sah niemand, wie sich die Augen der Frau verdunkelten. Hass verzog ihr Porträt zu einer unliebsamen Maske.

VIER

Sie war noch wesentlich weiter entfernt, als sie angenommen hatte. Die Sonne. Unzählige spiegelnde Flächen reflektierten die beinahe gräulich wirkenden Lichtstrahlen. Das, was sie sah, erinnerte sie an ein Labyrinth. Ein mächtiges Labyrinth aus Glas. Der Zeppelin schwebte beinahe statisch in der Luft. Der Ankerkonus des Korpus des Luftschiffes dockte an einem Gitter, welches in eine raue Felswand geschlagen war. Die Rampe aus demselben Gitter schabte über den Rand der Klippe. Steinchen lösten sich unter dem Druck und nach wenigen Kontakten mit der Felswand, verschwanden sie in eine uneinsehbare Tiefe. Das rhythmische Rauschen von Wellen ertönte aus der Dunkelheit unterhalb der Rampe. Bellend erklang der Befehl zum Verlassen der schützenden Schatten. Schmale Füße schlurften ängstlich über den ausgefahrenen Steg. Unter ihren Körper brachen sich die Wellen an den Klippen. Nun schneller hasteten die Füße über die letzten Meter, wo der Stahl des Gitters in das schroffe Geröll der Felskante überging. In ihren glänzenden Augen spiegelten sich die Verzweigungen der glatten Konstruktionen aus Eisen und geschmolzenem Sand, sobald sie sich von dem tosenden Gewässer abwandten. Dumpf hallte das Beben der Plattform wider, als das Luftschiff die Bindung löste und sich in die Tiefe gleiten ließ. Zola beobachtete noch, wie es sich der kantigen Felswand stetig näherte, ehe ein Uniformierter sie an ihrem Ellbogen zu der Gruppe zurück zerrte. Diese Umgebung konnte ihrer Heimat nicht fremder sein.

Heimat?

Dunkles Gras säumte die Fläche, die von den gläsernen Quadraten nicht eingenommen wurde. Die grünen Halme waren mit bloßem Auge an ihren zwei Händen abzuzählen. Präsenter waren die oberirdischen Tunnel, die zwischen zwei gigantischen Quadraten Verbindungen schafften. Die Fassaden waren aus dunkel reflektierenden Spiegeln konstruiert. Die Säulen als stützende Elemente gefertigt aus anthrazitfarbenem Stahl. Unter ihren baren Fußsohlen zermalmte sie zerbrochene Muscheln zu Staub, während sie sich der Architektur näherte. Ihre Miene verdunkelten sich im Schatten des riesenhaften Gebäudes. Zola erkannte sich in einer der Flächen. Dunkel spiegelte sich ihre zarte Gestalt in der Scheibe. Sie legte den Kopf schief und wunderte sich fast, wie dieses Kind sie kopierte. Sie war noch dunkler als das Glas, das sie umgab. Tiefe Löcher starrten ihr hinter einem wirren Vorhang aus schwarzen Haaren entgegen. Große Augen in einem schmalen Gesicht mit noch vollen kindlichen Wangen. Ihre Lippen, die sie in einer Kopie eines ernsten Gesichtsausdrucks zusammengepresst hatte, deuteten eine fein geschwungene Oberlippe und eine volle, breite Unterlippe an. Ruckartig wandte sie sich ab. Onyxfarbene Haarsträhnen wippten um das spitze Kinn. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie das Spiegelbild die Fäuste ballte. Der Würfel, vor dem sie stehengeblieben waren, tat sich auf, indem die vorderste Front vollständig auseinander glitt.

Beißendes Licht ergoss sich vor ihren Füßen. Die Uniformen erstrahlten in grellem Weiß. Die Kinder waren gezwungen die Augen zu schließen, als sie die Halle betraten. Aufdringlich helle Gestalten drängten sie weiter, bevor sie sich darüber wundern konnten, dass das Glas keinen Blick auf die Außenwelt ermöglichte.

Mattes eierschalenfarbenes Material bekleidete die Innenwände des Würfels. Die staubigen Körper der Kinder wirkten abstrus in dieser aufgeräumten Umgebung. Die von der Sonne gebräunte Haut schmutzig. Sie bewegten sich geduckt. Scheu drängten sie sich nah einander. Zola erinnerten ihre Bewegungen an einen Schwarm Vögel. Ihre Augen blinzelten kaum, versuchten, jedes Detail ihrer neuen Umgebung zu internalisieren. Fremd. Das war dieser Ort.

Das Einzige, was sie zusammenhielt, war das kollektive Gefühl des Verlustes. Ihrer Familien. Ihrer Bräuche. Ihrer Heimat. Sie brannte wahrscheinlich immer noch. Ein heißer Funke wütete verheerend in einer trockenen Steppe.

Geräuschlos verschloss sich die Front wieder. Ein Käfig.

Krähen in einer blanken Voliere. Zola wich resigniert zu einer der kahlen Wände zurück, als sie bemerkte, dass die Uniformierten verschwunden waren. Als wären sie von dem silbrigen Licht aufgenommen, verschluckt worden.

Die Kinder bildeten ein verwirrtes Bündel. Dicht standen sie beieinander und versuchten zu begreifen. Irgendetwas. Warum geschehen war, was geschehen ist. Wer diese weißen Männer waren. Wo Mama war. Zola zitterte, so stark ergriff das Mädchen Mitgefühl. Sie presste die Hände an die Schläfe. Spürte ihren schnellen Puls durch die dünne Haut ihrer Schläfen. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber sie waren nicht tot. Etwas musste passieren. Ihre Augen suchten die Wände, die Decke, den Boden, nach einer Aussparung ab. Eine winzige Kerbe, die verraten könnte, wo und was als nächstes passieren sollte. Die Unruhe der Wesen drohte sie selbst mitzureißen. Schweiß rann ihren Rücken herab. Sie spürte das leichte Hemd an ihren Schultern kleben. Noch traute sich niemand zu sprechen. Fast war es, als würde ein stilles Einvernehmen existieren, dass erst gesprochene Worte das Geschehene real werden lassen würde. Der kindischen Naivität hingebend, glaubten auch die Ältesten lieber an einen endlichen Alptraum. Die Ältesten der Gruppe waren zwölf. Sie standen einer Büffelherde ähnelnd am äußeren Rand, die Jüngeren in ihrer Mitte.

Ihre Mienen wirkten erbärmlich gefasst. Ihre zitternden Lippen, ihr gehetzter Blick, die erstarrte Haltung erzählten die Geschichte der Furcht.

Es kam von der Decke.

Das Gas.

Explosionsartig regnete es aus winzigen verchromten Düsen auf sie nieder, ehe sie die Atemwege verschließen konnten. Zola spürte, wie ihre Gliedmaßen erschlafften. Hörte ihren keuchenden Atem, als sie zu Boden ging trotz ihrer Anstrengung das Nervengift nicht einzuatmen. Und die Angst des Mädchens war die Ihre. Denn sie wusste nicht, ob sie wieder aufwachen würde. War das schon alles?

Hatte SIE sie bereits gefunden? Enttäuschung verdrängte ihre Angst, kurz bevor ihr Kopf auf dem Boden aufschlug. Seltsam. Das hatte sie all die Male, in denen sie gestorben war, noch nicht gefühlt. Ihre Augenlider schlossen sich. Das Nervengift überquerte ihre Blut-Hirn- Schranke und sie spürte das Nichts.

FÜNF

Ihr Mund war ausgetrocknet, als sie wieder zu sich kam. Sie befand sich in einem aufrechten Zylinder aus Glas, welcher sie vollständig umschloss. Obwohl sie sich dagegen zu erwehren versuchte, kitzelte Scham ihre Ohrmuscheln, als sie feststellte, dass sie nackt war. Ihre Rippenbögen zeichneten sich so deutlich unter ihrer ebenholzfarbenen Haut ab, dass sie versuchte, sich zu bedecken.

Ihre Handgelenke protestieren schmerzhaft und sie hielt in der Bewegung inne. Sie war fixiert. Dünne Stoffbahnen, fest um ihre Gelenke gewickelt, hielten sie von einer mechanischen Ausführung ihrer Extremitäten ab. Langsam krümmte sie abwechselnd die Finger. Sie war noch nicht lange gefesselt. Das Blut zirkulierte noch in den Akren, trotz der strammen Bandagen. Ihre Atemluft kondensierte auf der sauberen Glasscheibe, als sie nach außen starrte. Sie zählte fünf weitere Behälter. Alle bestückt mit entkleideten Solari. Die anderen schienen noch nicht erwacht zu sein. Einer der Behälter war mit einer Flüssigkeit befüllt. Eine junge Fee hielt den Kopf mühsam aufrecht, um nicht zu ertrinken. Zola verstand, warum die Flüssigkeit rosig wirkte, als die Fee sich bewegte und sich der Farbton verdunkelte. Blitzartig erschien die Szenerie vor ihrem inneren Auge. Die Fee hatte geschrien und gefleht, als man ihre Flügel fein säuberlich abgesäbelt hatte. Die Bewegungen des Uniformierten wirkten fahrig, als er das hauchdünne Amputat in einen Kunststoffsack hinein gleiten ließ.

Wie Restmüll. Biologisch. Recyclebar. Nicht, dass sich die Welt zu irgendeiner Zeit ernsthaft mit Nachhaltigkeit beschäftigt hätte.

Zolas Kopf stieß unsanft gegen die Hinterwand des Behälters. Sie verstand nicht. Frustration verschlang den logischen Teil ihres Gehirns. Mit den Fäusten schlug sie gegen das Glas und hinterließ einen fettigen Abdruck. Was war das für eine Welt? Sie spürte ein irrationales dennoch flammendes Verlangen die Verantwortlichen zu finden und büßen zu lassen. Solche wunderbaren Geschöpfe zu verkrüppeln und einzusperren. Ihr Atem beschleunigte sich. Tränen drückten gegen ihre Augenlider. Verstopften ihre Nasennebenhöhlen. Sie blinzelte dagegen an. Bemühte sich die Fassung wiederzuerlangen. Doch das Kind in ihr war erschüttert.

Gepaart mit ihrer Welterfahrenheit war es zu viel.

In den hintersten Windungen ihres Verstandes realisierte sie, dass SIE auf dieser Erde nicht die einzige Bedrohung sein sollte.

Kriege sind geführt, Sklaven drangsaliert, Genozide durchgeführt worden und doch widersetzte sich Zolas Verständnis dieser Inhumanität. Sie spürte die Partikel der Seelen in ihrer Macht aufbegehren. Sie stoben auseinander, formten sich neu, ein hektischer Reigen. Ein Tropfen durchbrach zum Trotz ihre Barriere und bahnte sich einen kühlen Weg entlang ihrer Wange, zu ihrem Kinn und fiel kalt auf ihren Fußrücken. Sie konnte Verständnis dafür aufbringen, dass sie vernichtet werden sollte. Das war eine Gewissheit und Unausweichlichkeit der Zeit. Verständlich in Anbetracht ihrer Art. Ihrer unausweichlichen Art zu existieren.

Sie öffnete die Augen. Ihre Wimpern glitzerten, als sie wieder zu der Fee sah. Das Serum verschloss die Wunden an ihrem Rücken.

Zackige Wundränder näherten sich einander an und verdeckten das korallene Fleisch darunter. Rosige Linien erschienen an Stelle der blutigen Skizze des Messers. Die Verletzungen der Fee waren geheilt. Zola spürte das altbekannte Ziehen ihrer Macht. Spürte die Gewissheit, spürte die Unwiderbringlichkeit ihres Seins. Sie schloss die Augen und ballte die Fäuste. Es würde zu ihrem Besseren sein, sprach sich ihr menschlich empathischer Verstand ihre Instinkte als Urgewalt gut. Der Tod. Zola verfolgte, wie die zarte Gestalt in dem gläsernen Zylinder hinabtauchte. Ihre Knie stießen dumpf gegen die transparente Wand, ihr Kopf zwängte sich in einem unnatürlichen Winkel zwischen ihre Beine. Rötliche Luftblasen perlten an die Oberfläche des Tanks. Zola distanzierte sich nicht länger von dem Kind in ihr. Die Tropfen fielen ungehindert von ihrem Kinn, während sie beobachtete, wie sich die glänzenden Partikel um den zierlichen Körper der Fee lösten und sich in ihrer ursprünglichsten Form zusammenfanden. Sie ertrank.

Zola blinzelte langsam.

Gespreizte Finger drückten gegen die kühle Wölbung der Scheibe. Sie spürte die unbelebte Materie. Ein tiefer Atemzug füllte ihre Lunge, bevor sie in eine andere Dimension trat. Sie war umgeben von stumpfer Farblosigkeit. Ihr organischer Körper blieb in dem Behältnis zurück, als Zola das Glas überwand. Die Seele, die sie fokussierte, war eine zeitlose schillernde Supernova. Von der irdischen Welt nahm Zola nur noch schwache Konturen wahr. Mit einer Berührung zerfiel die polychrome Kugel in einzelne glänzende Stränge, wurde transparent, bevor diese schließlich vollständig in ihre Urgewalt integriert wurden.

Zola blinzelte, als sie wieder in das Mädchen zurückkehrte.

Eintausendzweihundertsiebenundachtzig.

Benommenheit bereitete sich in ihr aus, die nicht weichen wollte, selbst als Menschen den Raum betraten. Am Rand ihres bewussten Interesses sah sie, wie der Körper der Fee entfernt wurde.

Spürte kaum, wie die Düsen in dem Behälter sie in heißes Wasser hüllten, bis es schien, als würde sie in Flammen stehen.

Roch kaum das beißende Desinfektionsmittel, das dem Wasser aus den Düsen folgte. Sie schloss die Augen. Versuchte, an nichts zu denken. Nichts zu spüren. Einfach nichts wahrzunehmen.

Zischend öffnete sich ihr Behälter und Dampf verließ mit ihrer dürren Gestalt den gläsernen Raum. Gänsehaut breitete sich schmerzhaft auf ihren Armen aus. Feine Härchen streckten sich der kalten Luft entgegen. Sie musste sich entscheiden, dachte sie, während ihr Mädchenkörper in einen grauen Overall gesteckt wurde. Grobe Hände rissen an ihren Gliedmaßen, zerrten an ihren Haaren. Sie bemerkte die fein gestickten Ornamente auf dem Rückenteil des Kleidungsstückes. Erkannte, dass die filigranen Goldfäden sich zu einer strahlenden Sonne zusammensetzten.

Realisierte die Ironie dahinter, als sie den Reißverschluss am Oberkörper zu ihrem Hals hochzogen. Das taube Gefühl wich nicht. Und als sie gefolgt von vier weiteren Solari den Raum verließ, konnte sie die Sonne in ihrem Rücken brennen spüren. Sie sah sie nicht. Würde sie nie wieder sehen. Zumindest nicht an diesem Ort.

Diese Kinder hatten die Sonne verloren.

Ihre Augen weiteten sich, als sie in eine gewaltige Halle traten.

Eine gläserne Decke thronte auf spiegelnden Wänden. Der Himmel erstreckte sich über eine riesige Fläche. Sie erkannte im vorderen Teil unerklärliche Feldmarkierungen, die sich von dem Wald dahinter abgrenzten. An einer der Wände waren komplizierte künstliche Klettersteine in eine real gestaltete Felswand eingearbeitet. Seile spannten sich knapp unterhalb der Decke und zeichneten Gitternetze durch das Areal. Das war keine einfache Turnhalle. Ihr Verstand arbeitete an einer Erklärung diesen Ortes.

Doch er war nichts, was sie bisher schon einmal erlebt hatte. Und nichts, was seine Bedeutung in diesem Szenario der Kindesentführung offenbarte. Sie runzelte die Stirn. Der Overall juckte an der empfindlichen Stelle hinter ihren Knien. Sie folgte den Blicken der anderen Kinder, die sich einer Öffnung in der Felswand mit den Klettersteinen zugewandt hatten.

Drei Frauen kamen am Rand der vordersten Feldmarkierung zum Stehen. Die Älteste von ihnen hielt die metallische Sonne der Solari in den knochigen Händen. Purpurn erleuchtete das Kupfer das Gesicht der Frau. Es sah falsch aus. Instinktiv knieten sich die Kinder der Solari vor sie in den Sand. Es war keine Logik, sondern die Konditionierung des Gegenstandes. In Solares kündigte die Sonne Frieden an. Ihr Glaube an die Macht der Sonne war unerschüttert. Ein Jeder von ihnen steckte in den grauen Anzügen.

Und im Rücken jedes Einzelnen zogen sich die schimmernden Fäden der höhnenden Stickerei. Sie hob das Kinn höher und musterte die drei Frauen. Eine alt wie ein Fossil. Eine, deren Blick von Hass entstellt wurde. Eine, die so unscheinbar war, dass sie nicht real wirkte. Ihre Augen verharrten einen Moment länger auf der letzten Frau.

Und dann erhob die zweite Frau ihre Stimme:

„Wir begrüßen euch am Nefarius Institut.“ Knirschend wie Schmirgelpapier. „Ihr hattet keine Wahl hierher zu kommen. Und ihr werdet nie wieder eine Wahl haben. Nur diese Einzige: Gehorsamkeit oder Eliminierung.“

Ihre Stimme wurde lauter, als sie den Satz sprach, der Zola nicht mehr zweifeln ließ.

„Wir geben euch ein Versprechen: Dieser Ort wird euch an die natürliche Ordnung erinnern, gegen die ihr euch widersetzt habt.

Ihr seid Wesen und ihr seid, um zu gehorchen. Könnt ihr euren Zweck nicht erfüllen, wird euch genauso viel Menschlichkeit erwarten wie in eurer Genetik zu finden ist. Gar keine.“

SECHS

Zola stellte fest, wie ihre auditive Hirnrinde exponentiell verkümmerte, je länger sie dieser Frau zuhörte.

„Die Regeln sind einfach. Die Voraussetzungen selbst für euch zu verstehen. Die erste Voraussetzung an diesem Ort geduldet zu werden ist: Akzeptiert eure Rolle. Ihr seid Wesen. Demnach ist die zweite Voraussetzung: Eure Existenz ist frei von Rechten. Frei von Ansprüchen.“ Der Schmerz wanderte von ihren Ohrmuscheln zu ihrer Stirn, breitete sich über ihre Schläfen aus und vermengte sich mit dem Schmerz ihres Kiefers. Ihre Zähne knirschten. Unter gesenkten Lidern brannten ihre Augen ein Loch in das Rückenteil des vor ihr knienden Kindes. Die dunkle Pupille spiegelte die goldenen Filamente.

„Die erste Regel ist: Widersprecht nicht. Niemanden hier. Jedem obliegt an diesem Ort mehr Autorität als euch.“ Die Kinder schienen bei jedem Einzelnen der abschätzigen Worte mehr in sich zusammenzufallen. Selbst die Ältesten kauerten sich auf dem Dreck zusammen und lauschten dennoch aufmerksam. Kein Wort durften sie verpassen. Wenn sie schon nicht verstanden, mussten sie die Worte wenigstens wiederholen können. Die Worte, die ihnen ihre Mündigkeit nahmen. Diese Regeln, die darüber bestimmen würden, ob sie lebten oder nicht. Ob sie geduldet wurden oder nicht. Es waren Kinder. Immer noch vertrauten sie darauf, dass sich jemand um sie kümmern würde. Das Konzept von Regeln war ihnen vertraut. Befolge sie und du wirst belohnt. Oder? Das jüngste Kind malte Kreise in den Sand. Zola schätzte es auf drei Jahre. Wenig koordiniert schabte die pummelige Faust über die Körner.

Hinterließ Spuren. Regeln und Voraussetzungen zerrieselten ungehört in der Luft. Das Kind zu seiner Rechten presste mit einer harschen Bewegung die Faust fest gegen den Boden, als der Blick der Frau die Muster streifte. Himmelblaue Augen blickten auf.

Unschuld, höchstens ein Hauch Verwirrung schnitzte den Ausdruck des weichen Gesichtes.

„Die zweite Regel: Euer Aufenthalt wird so lange gewährt, wie ihr euch als tauglich erweist. Was Tauglichkeit darstellt...“ Ihr für Zola unverständlicher Abscheu schien in der Kunstpause weiterzusprechen. Wir kannten diese Frau nicht, doch sie uns anscheinend genug, um ihr Urteil unlängst gefällt zu haben. Zola kniff die Augen zusammen, zählte die Fäden des Stoffes.

Oder war ihr Urteil unvermeidbar subjektiv, weil sie derart indoktriniert wurde? Ein generalisierter Hass auf ein Volk konnte doch nicht aus dem Gedanken eines einzelnen Individuums hervorgehen.

„Was Tauglichkeit bedeutet, kann ich an einem Beispiel erklären.“

Ihre knochige Gestalt wandte sich in einer Vierteldrehung von ihren Zuhörern ab. Der Overall war ihr zu weit und rutschte an ihrem Arm hinab, als sie auf die Wand vor sich deutete. Die Klettersteine.

„Die Bereiche, in denen ihr Nahrung erhaltet und wo eure Schlafplätze zu finden sind, ist einzig über diesen Eingang für euch zu erreichen.“ Zola folgte ihrer Geste mit den Augen, doch sie musste den Kopf in den Nacken legen, um das Ziel zu erkennen.

Ein Durchgang, schmal genug, dass nur eine Person in aufrechter Haltung passieren konnte. Der Weg zu dem Eingang führte über die künstliche Felswand. Klettern. Sie mussten schätzungsweise zwanzig Meter mithilfe der Steine überwinden. Nur dann würden sie etwas zu essen bekommen. Stirnrunzelnd analysierte sie den Weg, den man nehmen müsste. Die farbig angebrachten Klettersteine lagen verhöhnend weit auseinander. Kritisch musterte sie die jüngeren Kinder. Wer würde nach diesem Tag eine Felswand überwinden können?

Tauglichkeit also.

Die erregte Stimme holte sie wieder aus ihren Gedanken:

„Die dritte Regel ist zu gehorchen.“

Echsenartig musterte sie die Gruppe. Ihre hervorstehenden Augen sprangen von einem Kind zum nächsten. Eines ihrer undefinierbar schlammig braunen Augen schien immer ein wenig länger im Fokus der Betrachtung hängen zu bleiben.

„Freier Wille wird nicht toleriert. Entscheidungen werdet ihr hier nicht mehr treffen müssen.“ Ihre Augen leuchteten in einem Funken perverser Leidenschaft auf.

„Eure Zahl wird höchstwahrscheinlich dezimiert werden. Das ist zumindest die statistische Evidenzlage.“ Der letzte Satz verhallte prophezeiend. In den jüngsten Köpfen würde es sich bloß bedeutungsvoll anhören. Zola zerrieb den Sand mit ihrem Handballen. Das war nicht die einzige Einrichtung dieser Art.

Nicht die einzigen wehrlosen Kinder. Sie hatte bereits Schreckliches erlebt. Selbst Schreckliches erleben lassen. Die Geschichten ihrer alten Welt färbten Buchseiten dunkel von etlichen Kriegen.

Kämpfen. Intrigen. Entsetzen kribbelte eisig unter ihrer Haut.

Welcher Pfad schlug die Regierung in dieser Welt ein, wenn sie Kinder entführten und Völker abschlachten ließen?

Akzeptiert, dass ihr weniger wert seid.

Solche Gedanken sollten nicht mehr existieren. Solche Gedanken sollten nicht in einem einzigen mit Verstand gesegneten Menschen keimen. Müde schloss Zola die Augen. Aber sie verstand. Die Wesen waren anders. Ihr Aussehen war teilweise erschreckend fremd. Was fremd ist, ist schlecht. Die Schlussfolgerung war vielleicht nachvollziehbar. Aber deshalb nicht menschlich. Sie verstand erst, dass die Frauen gegangen waren, als die Kinder sich erhoben. Sand wirbelte auf. Rieselte zwischen den Falten der Kleidung hinab. Feine Körner stachen in ihre Augen, als die Größeren um sie herum auf die Felswand zuliefen. Die Kinder hatten eine Aufgabe. Zumindest jetzt wussten sie, was zu tun war.

Eine Felswand erklimmen. Das war beinahe ein Spiel. Ein Spiel war willkommen. Es sorgte für Ablenkung. Die Aussicht auf Essen war derart verlockend, dass nicht mal der Rest der Halle erkundet wurde. Zola stieß sich mit beiden Händen von der Erde ab und trat zögernd auf die Felswand zu. Unmittelbar vor der Wand schien der Durchgang unerreichbar. Das erste Kind rutschte ab und bremste die anderen in ihrem Übermut, als das blutende Knie den Sand färbte. Die kleineren Kinder starrten nur hilflos an der Wand hoch.

Die ersten Steine außerhalb ihrer Reichweite. Zola taumelte, als sie plötzlich realisierte, dass sie mit den Jüngsten beinahe auf einer Augenhöhe war. Sie streckte den dünnen Arm über ihren Kopf.

Mit den Fingerspitzen konnte sie am gewölbten Fels entlang tasten, doch die Oberfläche war glatt. Sie hat tatsächlich verdrängt, wie klein sie war. Wie schwach ein menschliches Kind war. Neun Jahre.

Und trotzdem wirkte ihr Körper nicht kräftiger als der der fünfjährigen. Ihre Muskeln waren zwar widerstandsfähig, doch nicht kräftig genug. Mit gerunzelter Stirn trat sie zurück. Drei, wie es ihr schien kräftige Schritte, ein Sprung gegen die Wand und ihr Fuß verlor Halt, ehe sie nach den Klettersteinen greifen konnte. Sie schürfte sich ihr Kinn auf. Wütend hob sie den Kopf. Taxierte die Felswand. Sie war künstlich. So etwas würde sie nicht scheitern lassen.

Das Mädchen ließ die Schultern kreisen. Ihre Oberarme waren dürr, ihre Gestalt liebenswert schmächtig zu nennen. Der erste Stein lag eine Körperlänge von ihrem Kopf entfernt. Die dunklen Augen zusammengekniffen, beobachte sie wie einer der Wölfe das dreijährige Kind auf die Schultern nahm. Der kleine Körper zitterte vor Anspannung. Mit von Feldarbeit gestärkten Händen umfasste der Zwölfjährige die schmalen Füße. Wankend streckte er die Arme durch. Es reichte aus. Verblüfft beobachtete Zola das Kind, wie es den ersten quaderförmigen Stein umfasste. Schnaubend wandte sie sich ab.

Eine Zirkusnummer.

Als wäre ich nicht in der Lage, dieses lächerliche Hindernis zu bewältigen.

Mit einem tiefen Atemzug spürte sie die Kraft in sich. Sie war noch nicht vollständig entfaltet. Ein Kitzeln verglichen mit dem Orkan, der bald aus ihr herausbrechen würde. Der die Welt in Trümmern legen konnte, wenn sie lediglich mit dem Gedanken daran spielte. Konzentriert stieß sie die Luft zwischen ihren Schneidezähnen aus. Was für einen Augenblick farblos und verschwommen war, leuchtete nun wieder übermächtig vor ihr auf.

Die bunten Klettergriffe aus Polyurethan. Fünf Schritte. Der Weg war vorausberechnet. Der Absprung war nicht hoch genug. Ihre Schulter knallte gegen das erhärtete Material. Schürfwunden flammten an dem Arm auf, den sie ausgestreckt hatte. Keuchend kam sie wieder am Boden auf. Nur vier Sekunden und sie hatte wieder versagt. Die Solari waren dem Beispiel des Wolfes gefolgt.

Wie Artisten schulterten sie sich gegenseitig. Flach auf den schmalen Vorsprüngen liegend, zogen sie die Kleineren hoch. Sie kooperierten. Selbst die Ältesten, deren hungriger Blick immer wieder nervös zum Durchgang schielte, blieben auf den Vorsprüngen liegen. Sie erinnerten sie an Käfer. Flink von einem Stein zum nächsten. Zitternde Leiber. Ungelenkige Gliedmaßen.

Und dennoch Stück für Stück.

Nur Zola starrte ihnen hinterher. Beobachte frustriert, wie selbst die pummeligsten Ärmchen die Steine hartnäckig festhielten. Sand bahnte sich, losgelöst von den Fußsohlen der Kletternden, einen Weg um die Steine. Sammelte sich zu kleinen Bächen. Stach in Zolas empfindliche Augen. Zehn Schritte. Hinter ihr wirbelte eine Wolke aus Dreck. Ihre Zehen stießen an den Felsen, versuchten Halt zu finden, sich hochzudrücken. Sie fiel. Landete auf dem Rücken. Sand regnete auf sie herab. Eine der Feen grinste zu ihr hinunter. Ihre Fäuste ballten sich. Zehn Schritte. Sie erhöhte das Tempo. Wechselte die Position. Zentrierte ihre Kraft in nur einem Bein. Wechselte das Bein. Stieß mit den Händen gegen die Wand.

Fingernägel suchten kratzend Halt. Und sie fiel und fiel und fiel.

Der Erste erreichte den Durchgang. Sie sah sein Lächeln. Dieses triumphierende kindliche Grinsen. Kommt und seht, ich habe gesiegt. Sie spuckte auf den Boden. Das nächste Kind klatschte die Hand des Ersten ab. Mit krampfenden Beinen stand sie wieder auf.

Fünfzehn Schritte. Andere Position. Sie musste den Winkel ihres Absprungs ändern. Die Hände oberhalb des Kopfes halten. Es musste funktionieren. Ihre Finger griffen ins Leere und sie fiel.

Mühsam beruhigte sie ihren Atem. Kniff die Augenlider zusammen. Sie spürte ihre Kraft, spürte sie pulsieren. Es wäre so leicht. So leicht sie freizulassen.

Den Käfern zeigen, wie echte Macht aussieht.

Sie spürte die unbelebte Materie um sich herum. Spürte ihren Wert, sah die Möglichkeiten. Sand zu Glas zu Scherben werden.

Polyutheran verformt, heiß. Sie konnte alles auseinanderreißen. In die kleinsten Bruchstücke zerlegen.

Eintausendzweihundertsiebenundachtzig Seelen fütterten ihre Macht. Und Millionen von schwarzen Fäden, die ihr die Möglichkeiten der Zerstörung, des Untergangs aufzeigt. Dicht vernetzt mit der schillernden Kraft des Lebens.

Fünfzehn Schritte. Immer wieder und wieder. Ellbogen, Hände, Kinn und Knie bluteten. Würden sich vermutlich von dem Dreck entzünden. Zola verdrängte ihre Kraft. Sie würde sie nicht nutzen.

Nicht, solange sie noch in diesem jungen Körper steckte.

Kinder hatten es geschafft. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen. Allein.

Die Fee war gesättigt von ihren fehlerhaften Versuchen und folgte den letzten Kindern durch den Durchgang. Schüchternes Johlen und gedämpfte Freude hallten durch die weitläufige Halle.

Sie hörte ihre Füße. Hörte, wie sie zwanghaft Spaß hatten. Hörte, wie sie zu verdrängen versuchten, dass etwas Schlimmes passiert war. Doch sie hatten gewonnen, das war nun das Einzige, was für die Waisen zählte. Trauern würde man, wenn es still wurde. Wenn sich das Atmen zu laut anhörte. Tränen Lieder sangen. Sie würden es heimlich machen. Bettdecken oder Kissen als Schalldämpfer nutzen. Tiefe Trauer war leise. Bis sie sich entlud. Kinder mussten erst lernen mit diesen großen Gefühlen zurechtzukommen. Mit der Stille zurechtzukommen. Mit der Tonlosigkeit ihrer Herzen, wenn kein Gefühl mehr bleibt.