Fabian Hambüchen - Fabian Hambüchen - E-Book

Fabian Hambüchen E-Book

Fabian Hambüchen

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Beschreibung

Ein erfolgreicher Leistungssportler zu sein bedeutet hartes Training, große Siege und jede Menge zu erzählen. Bewegend und humorvoll beschreibt Fabian Hambüchen in seiner Autobiografie, wie er vom schüchternen Knirps mit Brille zur Turn-Nummer-eins wurde: seine ersten Flüge am Reck, die überschwängliche Freude über Medaillen, wie es ist, unter den Augen der Öffentlichkeit vom Jungen zum Mann zu reifen. Bereits als Kleinkind kommt Fabian Hambüchen zum Turnen. Die ersten Stürze sind schmerzhaft, entmutigen ihn aber nicht. In der Schule beißt er sich trotz Mobbings wegen seines 'uncoolen' Hobbys durch. Er gewinnt Jugendmeisterschaften, darf mit 16 Jahren als jüngster Olympiateilnehmer nach Athen und ist plötzlich Publikumsliebling. Seine Mutter hat Mühe, ihn auf den Boden zurückzuholen. Es folgen der Weltmeistertitel, die erste große Liebe, riesige Erwartungen und ein schlimmer Sturz in Peking. Offen und selbstironisch schildert Fabian Hambüchen die Höhen und Tiefen seiner 15-jährigen Turner-Karriere und scheut sich dabei nicht, auch von privaten Misserfolgen zu berichten. Ein berührendes Buch über das Erwachsenwerden im Rampenlicht und das außergewöhnliche Selbstporträt eines besonderen Sportlers.

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Seitenzahl: 340

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Fabian Hambüchen

Die Autobiografie

Mit Sandra Beckedahlund Kai Psotta

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Prolog

Verdammt, ich bin nicht Florian!

Es gibt einen Menschen auf dieser Welt, den hasse ich. So richtig. Wie die Pest. Der hat sich einfach mir nichts, dir nichts in mein Leben gedrängt. Und schmückt sich ganz dreist mit fremden Federn. Mit meinen Federn. Der Typ taucht plötzlich bei der Gala »Ein Herz für Kinder« auf und sitzt neben Box-Weltmeister Henry Maske und Dieter »Didi« Hallervorden am Spenden-Telefon. Ohne dass ich mich auch nur irgendwie wehren könnte, stiehlt der mir die Show. Der Idiot lässt sich als dreifacher Junioren-Europameister und als »größte deutsche Turnhoffnung« feiern. Der schafft es sogar, sich beim »Sportler des Jahres« in Baden-Baden einzuschleichen und dort mit Turnerin Magdalena Brzeska auf dem roten Teppich zu flirten. Was für eine Pfeife. Nichts geleistet, aber den dicken Macker raushängen lassen. Wie gesagt, ich hasse ihn – diesen Florian Hambüchen.

Am liebsten würde ich diesen Trittbrettfahrer sofort zu mir einladen und zum Duell herausfordern. Dann könnten wir uns mal messen – und er könnte beweisen, ob er wirklich, wie es mal in der »Süddeutschen Zeitung« hieß, »mit den Naturgesetzen am Reck spielt, als wäre es ein Kirschbaum«. In Athen soll dieser Florian 2004 ja, so hat es jedenfalls der »Berliner Kurier« geschrieben, »eine Super-Flugshow« geboten haben. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« hat ihn als »traumhaften Typ« beschrieben, dem die Menschen hinterherlaufen. Und wer bei einem Olympia-Quiz vom »Hamburger Abendblatt« seinen Namen dem richtigen Sportgerät zugeordnet hat, konnte sogar eine 14-tägige Urlaubsreise für zwei Personen nach Griechenland gewinnen. Das sind nur einige wenige Beispiele. An die 23.800 Treffer bekommt man, wenn man nach »Florian Hambüchen« im Internet googelt. Trotzdem scheint es diesen Kerl in Wirklichkeit nicht zu geben. Jedenfalls habe ich ihn in keinem Telefonbuch gefunden. Über siebzig Hambüchens sind in ganz Deutschland eingetragen. Es gibt einen Frank, auch Franz Günter, Franz-Josef und Friedrich. Aber es gibt keinen Florian.

Einmal war ich mit den Jungs von »stern TV« unterwegs, bei denen ich ja mehrfach in der Sendung war, als mir der Redakteur von einem ganz besonderen Brief erzählte. Ein Mädchen, das sich selbst als mein allergrößter Fan ausgegeben hatte, hat die Redakteure gefragt, ob sie nicht ein privates Treffen organisieren könnten. Sie habe jeden Zeitungsartikel von mir ausgeschnitten, seit sie meinen Auftritt bei den Olympischen Spielen gesehen habe. Ich sei so süß. Und sie sei total in mich verliebt. »Bitte«, lautete der letzte Satz dieser Fanpost, »könntet ihr mir nicht helfen, Florian Hambüchen zu treffen?«

Jetzt ganz im Ernst: Es kann ja mal passieren, dass man den Namen verwechselt. Aber doch nicht so oft. (Ursprünglich sollte ich übrigens Sylvio heißen, aber dazu später mehr.) 16 Jahre habe ich jedenfalls wunderbar mit meinem Namen gelebt. Ohne Probleme. Bis ich bei den Olympischen Spielen in Athen, wo ich als jüngster deutscher Teilnehmer dabei war, »Turn-Floh« getauft wurde. Seitdem werde ich Florian genannt. Ständig, immer wieder. Selbst heute noch. Egal ob im Fernsehen, im Radio oder in Zeitungen. Manchmal nennen mich sogar meine Sponsoren Florian! Ich bleibe dann immer höflich und korrigiere diesen Fehler, wenn es mir möglich ist.

Obwohl es nervt: Verdammte Axt, ich heiße Fabian!

Ich bin Welt- und Europameister im Turnen und ich habe noch viele andere Wettkämpfe gewonnen. Mein großer Traum ist es, einmal bei Olympia Gold zu gewinnen. Dafür trainiere ich, dafür lebe ich. Aber dennoch erlebe ich auch viel abseits der Turnhalle. Davon will ich in diesem Buch erzählen. Von meinen Siegen, von meinen Niederlagen, von meinen Reisen und auch von den vielen Menschen, die ich durch den Sport kennenlernen durfte, und natürlich vom Turnen – aber auch von dem, was mich bewegt und was mich antreibt! Einfach von mir, Fabian Hambüchen.

Kapitel 1

Der Beginn einer großen Leidenschaft

Ich war ein Wunderkind. Ein Teufelskerl, der sogar schon vor seiner Geburt Kunststücke vollbrachte, die ahnen ließen: Mensch, das wird mal ein Ausnahmeturner. Diesen Eindruck kann man zumindest bekommen, wenn man meiner Mutter Beate auf einem unserer Familienfeste zuhört.

Der Abend wird später, die Stimmung lockerer, und dann kommen Anekdoten über meinen vier Jahre älteren Bruder Christian und mich auf den Tisch. Dass dieser Zeitpunkt bei jeder Feier irgendwann kommt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Weihnachten, Ostern, bei runden Geburtstagen, immer dann, wenn die ganze Familie zusammen ist. Obwohl mir (und da bin ich sicher nicht der Einzige in der Runde) einige der Geschichten schon aus den Ohren rauskommen, weil wir sie in- und auswendig kennen.

Mama stört das nicht im Geringsten. Beharrlich beginnt sie zu plaudern und erzählt jedem, der es nicht hören will, zum Beispiel von meiner ersten turnerischen Meisterleistung. Die habe ich demzufolge bereits vollbracht, als meine Mutter noch im achten Monat mit mir schwanger war. Ich habe also schon im Mutterleib geturnt. Nichts Besonderes, machen doch alle Babys, könnte man denken. Stimmt. Aber die meisten Babys turnen in Mamas Bauch, wenn da noch viel Platz ist und sie sich bewegen können. Allerdings: Im achten und neunten Monat, wenn es richtig eng wird, bleiben die meisten Babys ruhig liegen. Nur ich hatte darauf offenbar überhaupt keine Lust. Drei Wochen vor dem berechneten Geburtstermin hat Mamas Frauenärztin per Ultraschall geschaut, wie es mir geht – und ob ich richtig liege.

Natürlich hatte ich mich, wie es sich für einen braven Sohn gehört, vernünftig gedreht. Mit dem Kopf voran, so dass alle zufrieden waren. Aber so blieb ich nicht. Ich und still liegen? Ausgeschlossen! Dreimal habe ich mich noch im Bauch meiner Mutter gedreht. Schon damals, so behauptet sie heute steif und fest, habe sie gewusst, dass aus mir ein Turner werden würde.

Alles deutete also auf eine Turnkarriere hin. Auch am Tag meiner Geburt. Denn Ende Oktober 1987 fand die Turn-WM in Rotterdam statt. Vaters damaliger Chef fuhr hin und nahm ihn mit. Mama, die in Wetzlar ja noch nicht so viele Leute kannte, weil wir erst kurz vorher dorthin gezogen waren, und damit rechnete, dass ich in den nächsten Tagen zur Welt kommen würde, fuhr mit Christian zu ihren Eltern nach Bergisch Gladbach. Dort hatte sie bis vor Kurzem auch noch gewohnt.

Böse Zungen behaupten, sie habe gar nichts dagegen gehabt, dass Papa bei meiner Geburt nicht mit dabei sein würde – das würde Mama so natürlich nie zugeben. Doch dieser ist bekannt dafür, dass er schon bei einer Spritze schlappmacht und ohnmächtig wird. Blut zu sehen, das ist für ihn ein Alptraum. Ihr schwante offenbar, dass er mehr Belastung als Hilfe sein würde. Und daher wollte sie das lieber allein (beziehungsweise mit ihrer Mutter, meiner Oma Rosemarie) hinter sich bringen.

So kam es wie erwartet: Am 25. Oktober 1987 um 16.12 Uhr erblickte ich in Bergisch Gladbach das Licht der Welt. 279 Kilometer entfernt in Rotterdam turnte der Russe Dmitri Bilosertschew zum selben Zeitpunkt eine Reck-Kür wie von einem anderen Stern – und wurde Weltmeister auf diesem Gerät. Er war damals 19 Jahre und zehn Monate alt. 19 Jahre und zehn Monate später sollte ich ebenfalls Weltmeister am Reck werden. Zufall? Ich würde sagen: Nein! Während Papa also über Bilosertschew am Reck staunte, brachte Mama gerade einen Sohn (mich) zur Welt.

Als die Hebamme sie fragte, wie ich heißen solle, blieb Mama zunächst eine Antwort schuldig. Es war nämlich so: Papa wollte, dass ich Sylvio heiße (nach dem DDR-Turner Sylvio Kroll), Christian wollte, dass ich Fabian heiße (nach einem Kinderbuch), und Mama, von der nun eine Antwort erwartet wurde, hatte sich doch eigentlich eine Katja gewünscht. Die Hebamme gab sich mit Mamas Achselzucken nicht zufrieden und bohrte kurz darauf noch einmal nach. Da sagte Mama einfach: Fabian. Katja war ja nun passé, und mit seiner Vorliebe für den Namen Sylvio stand Papa familienintern sowieso allein da.

Ich hieß also Fabian und war bereits fünf Stunden auf der Welt, als Vater aus Rotterdam nach Bergisch Gladbach zurückkehrte – noch immer euphorisiert von Bilosertschews Wahnsinns-Kür. Was die Telekommunikation anging, befand man sich damals noch in der Steinzeit. Handys gab es nicht. Für mich heute ein unvorstellbarer Gedanke. Mit anderen Worten: Vater war noch völlig ahnungslos, als er bei seinen Schwiegereltern klingelte. Doch als ihm mein Opa lachend die Tür öffnete, dämmerte ihm wohl schon, dass nicht in Rotterdam, sondern in Bergisch Gladbach das eigentliche Top-Ereignis des Tages stattgefunden hatte.

Sofort ging es in die Klinik und Vater (insgeheim wahrscheinlich schon ein bisschen erleichtert darüber, dass die Geburt auch ohne sein Mitwirken so wunderbar vonstatten gegangen war) konnte seinen 3700 Gramm schweren und 53 Zentimeter langen Sohn in den Arm nehmen.

Unfreiwillige Anfänge

Es war also kein Wunder, dass man nicht bis zur ersten Schulsportstunde warten musste, ehe ich das erste Mal am Reck hängen würde. Sieht man mal davon ab, dass ich bereits mit vier Wochen ganz kurz ans Reck gehängt und wieder aufgefangen wurde, fand mein Debüt knapp eineinhalb Jahre später statt. Kleinkinder in dem Alter haben noch diesen Klammerreflex. Der ist so ausgeprägt, dass man sie ans Reck hängen kann wie Wäsche an die Leine. Und waschechte Turner-Eltern haben nichts Besseres zu tun, als genau das am eigenen Nachwuchs zu testen. Zwei Minuten soll ich am Reck gehangen haben, darunter zur Sicherheit eine Schaumstoffkuhle. Und als meine Finger müde wurden, habe ich mich einfach runterplumpsen lassen. Lachend und völlig furchtlos.

Wobei ich zugeben muss, dass es nur ein 100 Zentimeter hohes Tiefreck war, also keine 2,55 Meter hoch wie das Ding, an dem ich Jahre später turnen sollte. Dementsprechend war meine Fallhöhe auch nicht so hoch, und selbstverständlich standen meine Eltern direkt neben mir, einsatzbereit, um mich im Falle eines Falles auffangen zu können. Doch das mussten sie gar nicht. Also: Mit 16 Monaten bin ich das erste Mal vom Reck gestürzt – leider sollten noch viele weitere unfreiwillige Abgänge folgen.

Doch bevor es an die Turngeräte ging, gab es für mich andere Hürden zu nehmen. Zum Beispiel Gardinen, die damals auf mich, wie auf viele meiner Altersgenossen, eine mysteriöse Anziehungskraft ausübten. Daher versteckte ich mich oft dahinter, um mich dann wie ein Gespenst mit der Gardine über dem Kopf nach vorn zu stürzen. Einmal berechnete ich den Schwung falsch, beziehungsweise die Gleichung aus Schwung und Abstand bis zum Glaswohnzimmertisch ging nicht wirklich auf – denn ich geriet ins Stolpern. So segelte ich mit voller Wucht, ungebremst, mit dem Kopf voraus in den Glastisch. Unglücklicherweise versuchte sich einer meiner Schneidezähne in die Tischplatte zu bohren und brach aus dem Kiefer, der andere entschied sich für die andere Richtung – und schraubte sich direkt in den Kiefer. Alles in allem eine sehr blutige Angelegenheit. Wir sind direkt zum Zahnarzt, der sich um die Erstversorgung kümmerte. Später waren wir in der Kinderzahnklinik, wo die Wurzel des Zahnes gezogen wurde. Das passierte kurz vor Christians Einschulung, weshalb ich auf den Fotos von seinem großen Tag mit einer kapitalen Zahnlücke in die Kameras grinse. Die Lücke behielt ich bis zum Ende meiner Grundschulzeit, weil ich erst dann meine zweiten Zähne bekam. Mich hat sie nicht gestört und ich bin wegen des Sturzes auch nicht gerade vorsichtiger geworden.

Früh übt sich

Wie bereits erwähnt, ist mein Bruder Christian vier Jahre älter als ich. Er wurde zwar nicht während einer Turn-WM geboren, hat aber auch von Vater das ominöse Hambüchen-Turn-Gen geerbt. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass auch er entsprechend früh an die Materie herangeführt wurde und ebenfalls Turner wurde. Er war ungefähr fünf, als er mit dem regelmäßigen Training begann.

Zweimal unter der Woche und samstags war er mit Vater in der Halle. Mama und ich holten Christian dann nach dem Training ab. Das war für mich immer ein Highlight. Wenn wir dort waren, hielt mich nichts in meinem Kinderwagen. Sobald Mama mich heraushob, war ich weg.

Zunächst krabbelnd, später auf beiden Beinen wankend. Die Turnhalle wurde für mich zum Erlebnisparcours. Ich lernte, auf den Weichbodenmatten Stufen herunterzurutschen. Legte meine ersten längeren Strecken diagonal auf dem Bodenviereck zurück. Wippte schon mit dicken Windeln auf dem Trampolin, ehe ich dann später auf beiden Beinen dort herumhüpfte.

Mama beobachtete meine Erkundungstouren ganz entspannt aus der Ferne. Denn schließlich wusste sie, dass mir nichts passieren konnte, alles war weich und abgesichert, es lauerten nirgends Gefahren. Kein Wunder, dass diese Spielhalle für mich der tollste Ort auf der ganzen Welt war. Und dort wollte ich natürlich so oft wie möglich hin. Als ich irgendwann in der Lage war, mich einigermaßen zu artikulieren, forderte ich: »Mitwollen – zum Turnen!« Ich erbettelte, erbrüllte, ertobte mir also mein erstes Turntraining.

Was muss ich aufgeregt gewesen sein, als es zum ersten Mal samstags mit meinem großen Bruder und Papa zusammen in die Halle ging. Damals war ich drei Jahre alt. Die Ansage war klar: Nicht herumwuseln! Gehorchen! Ich war zwar noch klein, aber so viel wusste ich: Ich musste mich daran halten, denn sonst würde für mich das Abenteuer Turnhalle schneller beendet sein, als es begonnen hatte.

Folglich machte ich prima mit. Und das sah zum Beispiel so aus: Die Gruppe umfasste eine Handvoll Jungs, die sich um Vater geschart hatten, der ihnen vorturnte, was sie machen sollten. Ich stand hinter Christian und turnte dort die Übungen mit. Zunächst achtete Vater gar nicht auf mich, sondern kümmerte sich um seine Eleven. Er war offenbar nur froh, dass ich das Training nicht störte. Außerdem war ich ja viel kleiner als die übrigen Jungs, und so sah man mich hinter ihnen gar nicht. Erst nach einer gewissen Zeit des Schattenturnens entdeckte Vater mich. Er staunte nicht schlecht, als er sah, dass sich sein jüngster Sohn gar nicht dumm anstellte. Das hatte zur Folge, dass mein Training recht schnell nach meinem Eintritt in Vaters Turngruppe ausgedehnt wurde.

Meine Trainingseinheiten wurden auch aus einem anderen Grund aufgestockt. Denn jedes Mal, wenn Mama mich nach der verabredeten Stunde vom Training abholen wollte, veranstaltete ich einen riesengroßen Zirkus. Ich sah überhaupt nicht ein, warum ich schon so früh abgeholt werden sollte, während die anderen noch weiterturnen durften. Unverschämtheit! Meine Wut über die vermeintliche Ungerechtigkeit (ich war schließlich erst drei Jahre alt und folglich dachte mein Vater zu Recht, dass eine Stunde reichen würde) ließ ich vor allem an Mama aus und brüllte, was das Zeug hielt.

Heute erinnert sie sich mit Grausen an diese Zeit. Ob es an meiner Darbietung auf der Turnmatte oder an meinen Wutanfällen lag? Wie auch immer: Stück um Stück habe ich mir die Übungseinheiten in jungen Jahren erkämpft.

All das weiß ich aus den anfangs erwähnten ausschweifenden Erzählungen meiner Mutter, denn meine eigene Erinnerung ans Turnen beginnt erst mit einer Verletzung. Damals trainierte ich nicht bei meinem Vater, sondern in einer anderen Gruppe. In diesem Alter – ich war damals fünf – geht es noch nicht an die Geräte, sondern man wird spielerisch an die Sportart herangeführt. Da sollen die Voraussetzungen fürs Turnen an den Geräten geschaffen werden, aber die Kinder sollen körperlich nicht überfordert werden. In erster Linie werden in dieser Zeit also Laufen, Springen, Klettern geübt, was für die körperliche Entwicklung von Kindern so immens wichtig ist. Und bei so einer spielerischen Übung, wo es ums Fangen ging, passierte es: In der Halle waren Geräte aufgebaut. Stufenbarren, Reck, Seile hingen von der Decke, kleine und große Kästen, Matten bildeten die Inseln auf dem Boden. Einer von uns war der Fänger, der die anderen kriegen musste. Hatte man ein Gerät geentert, war man für zehn Sekunden in Sicherheit und konnte nicht gefangen werden.

Ich war damals schon recht geschickt und gehörte immer zu den Letzten, die gefangen wurden. Also dachte der Fänger, es sei schlauer, einfach neben mir stehen zu bleiben, während ich auf der rettenden Insel war. Ich hing am Barren und erbarmungslos verrannen die Sekunden. Ich wollte auf keinen Fall gefangen werden, also überlegte ich – und glaubte die Lösung gefunden zu haben.

Ich holte mit den Beinen aus und pendelte hin und her, um noch mehr Schwung zu bekommen. Mein Plan war, mit so viel Schwung vom Gerät zu springen, dass ich direkt auf einer ein paar Meter entfernten Matte landen würde, um so dem Fänger zu entkommen. Die Idee war gut, die Umsetzung weniger. Ich fiel hin, knickte um und verletzte mir das Bein.

Glücklicherweise war die Verletzung nicht kompliziert: Der Mittelfuß am fünften Zeh rechts war gebrochen, was bei Kindern in diesem Alter nicht dramatisch ist. Ich bekam einen Tape-Verband, und drei Tage später rannte ich bereits wieder durch die Gegend. Eine Woche später war ich schon wieder in der Turnhalle – denn Turnen war längst zu meinem Lebenselixier geworden.

Natürlich, damals im Alter von fünf Jahren war mir noch nicht klar, dass das, worauf ich mich immer so freute, die wichtigste Sache in meinem Leben werden sollte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich bereits mit dem Turn-Virus infiziert war. Heilungschancen gleich null. Aber etwas anderes wurde mir schnell bewusst: dass es unglaublich viel Spaß machte, in der Halle Vollgas zu geben. Das war damals schon so und es ist auch heute noch mein Antrieb. Ich habe einfach richtig Bock, mich in der Halle zu bewegen. Neue Elemente zu erlernen, mich an den Geräten zu bewegen, sogar auf dem Pauschenpferd – manchmal. Durch die Luft zu fliegen und die Reckstange wieder im richtigen Augenblick zu erwischen ist ein sensationelles Gefühl. 2,50 Meter über dem Boden einen Salto zu schlagen, noch einen Tsukahara hinterher und eine Schraube und dann wieder kerzengerade innerhalb des Bodenvierecks zu landen kann süchtig machen. Den eigenen Körper in die Senkrechte zu bringen, nur von Holzringen, die von der Decke hängen, gehalten zu werden. Kerzengerade und ohne Wackler, das gibt mir den Kick … Das ist es, was mich heute an meiner Sportart fasziniert. Die Vorfreude auf Wettkämpfe und Meisterschaften, wenn ich mich mit den Besten der Welt messen kann, das treibt mich an.

Damals, mit fünf Jahren, war es freilich noch nicht diese Perspektive, die meinen Ehrgeiz befeuerte. Denn natürlich ahnte noch keiner, wohin das alles bei mir einmal führen würde. Damals wollte ich einen Handstand machen, wie ihn Christian und mein Vater konnten. Ich wollte die Welt auch aus einer anderen Perspektive sehen und auf Händen laufen wie sie. Nach dem Handstand folgten die Radwende, der Flic Flac. Und so ging es kontinuierlich weiter. Ich ging an die Geräte, in die Luft und wieder zurück. Mit sechs Jahren turnte ich meinen ersten Wettkampf. Der war eigentlich für die Sieben- bis Achtjährigen. Aber ich bekam eine Sondergenehmigung und durfte trotzdem starten. Das war ein Teamwettbewerb. Und bereits dieser Wettkampf hat so viel Spaß gemacht. Ich weiß noch, dass ich unbedingt mitmachen wollte. Und offenbar war ich schon für die Mannschaft einsetzbar. Die erforderlichen Elemente beherrschte ich auch schon aus dem Effeff: Rad links und rechts geschlagen, Flugrolle, Spagat und einen Handstand turnte ich am Boden und erhielt am Ende meine erste Urkunde samt Medaille. Es gibt noch ein Foto, auf dem ich stolz wie Oskar mit meiner Medaille neben dem Pauschenpferd stehe. Ich war noch so klein, dass mich das Gerät überragt hat.

In diesem Alter habe ich mich wirklich in diese Sportart verliebt und diese Liebe ist nie abgekühlt. Egal wie viele blaue Flecken ich vom Training nach Hause brachte, egal wie oft mich die Geräte abwarfen – ich habe nie an meiner Partnerwahl gezweifelt.

Die Hambüchen AG

An das Turnen herangeführt wurde ich wie erwähnt von meinem Vater, der selbst auch ein sehr guter Turner war – und ein Turnverrückter wie ich. Er war ungefähr elf Jahre alt, als er mit dem Turn-Virus infiziert wurde. Ihm hat es dann schnell nicht mehr gereicht, in seinem Turnverein in Krefeld nur zwei- bis dreimal pro Woche zu trainieren wie die anderen. Also hat er sich gleich mehreren Vereinen angeschlossen, um jeden Tag in der Halle an den Geräten üben zu können. Ganz schön heftig. Aber es wird noch krasser. Vater wurde immer besser im Turnen und immer besessener – im positiven Sinn.

Damals, Anfang der siebziger Jahre, waren die Japaner die weltbesten Turner. Einige dieser Könner studierten zu jener Zeit an der Deutschen Sporthochschule Köln und arbeiteten nebenbei als Trainer, um sich ihr Studium im Ausland finanzieren zu können. So lernte auch Vater einen von ihnen kennen – und war fasziniert. Der Trainer kam aber nur einmal pro Woche nach Krefeld, darüber hinaus lehrte er in anderen Vereinen im Kölner Umland, jeden Tag woanders. Und jedes Mal mit Vater als gelehrigem Schüler.

Denn der reiste seinem Trainer einfach hinterher wie Groupies einer Rockband, und zwar auf dem Moped, das ihm seine Eltern zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Teilweise tuckerte er eineinhalb Stunden zum Training. Also 90 Minuten hin, Turnen und dann wieder dieselbe Strecke zurück. Jahrelang knatterte er so durchs Rheinland. (Das Moped gibt’s übrigens immer noch, das steht bei meinen Eltern in der Garage.)

Was für ein irrer Aufwand! Aber auf diese Weise ist er ein recht ordentlicher Turner geworden und hat darüber hinaus sogar sein Abi geschafft. Was aus meiner Sicht noch größeren Respekt verdient. Denn ich sollte ja am eigenen Leib erfahren, wie schwer das ist. Nach bestandener Reifeprüfung ging Papa direkt für ein Jahr nach Japan, um – wen wundert’s – zu turnen. In die Weltspitze hat er es dennoch nie geschafft, auf nationaler Ebene war er aber ganz okay.

Nach seiner Rückkehr aus Japan hat er ein Diplomstudium an der Sporthochschule Köln (mit Geografie und Erziehungswissenschaften bis zum ersten Staatsexamen) begonnen. Und – was noch viel wichtiger war – meine Mutter kennengelernt. Sonst gäbe es mich heute ja nicht. Das war 1978. Da war Mama 19 und Papa schon 24 Jahre alt. Das Ganze passierte auf der Party eines Turnkollegen meines Vaters in Bergisch Gladbach. Mama, die gerade ihr Abi in der Tasche hatte, wurde von einem Freund auf ebendiese Feier mitgenommen.

Meine Eltern lernten sich kennen, verliebten sich ineinander, kamen zusammen und heirateten 1982 in Bergisch Gladbach. Vater hatte inzwischen sein Studium beendet, doch er fand keine Anstellung als Lehrer, da zu dieser Zeit das Land mit Pädagogen überschwemmt wurde. Also wurde er Turntrainer (was sowieso seine große Leidenschaft war). Mama arbeitete als Röntgenassistentin, was sie gelernt hatte, ehe 1983 mein Bruder Christian auf die Welt kam.

Kurz vor meiner Geburt hat Papa die Stelle als Landestrainer in Hessen bekommen. Mama, Papa und Christian (und ich im Bauch von Mama) sind von Bergisch Gladbach nach Wetzlar gezogen.

Papas Arbeitsplatz war also die Turnhalle, wo ab 1990 auch seine beiden Söhne trainierten. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt ja erst drei Jahre alt. Aber Christian war immerhin schon sieben und verdammt talentiert. Er hatte Spaß an der Sache, den Willen und die Möglichkeiten, ein richtig guter Turner zu werden. Meine Eltern unterstützten ihn auf diesem Weg; das war eine Aufgabe, die sich nicht so einfach nebenbei erledigen ließ. Kunstturnen ist eine sehr trainingsintensive Sportart – bereits in der Kindheit. Entscheidet man sich als Kind, diesen Weg zu gehen, bedeutet das schon im Grundschulalter fünf Mal pro Woche drei Stunden lang Training. Das will neben der Schule koordiniert sein. Als Christian in die Grundschule ging und ich noch im Kindergarten war, war der Aufwand noch überschaubar, da konnte Mama noch Teilzeit als Röntgenassistentin arbeiten. Doch mit meiner Einschulung änderte sich das. Nun ging Christian bereits auf die Mittelschule und wir trainierten beide mehrmals pro Woche. Wir mussten zu den Einheiten gebracht und wieder abgeholt werden, nebenbei hatte meine Mutter ja auch noch den Haushalt ihrer vierköpfigen Familie zu organisieren.

Mama beschloss, ihren Job aufzugeben, um sich ganz uns zu widmen. Papa war das nicht unrecht, denn er wusste ja schließlich aus eigener Erfahrung, wie viel Raum und Zeit das Training eines Leistungsturners in Anspruch nimmt. Damals war mir das nicht so ganz klar, aber heute bin ich mir dessen bewusst, was Mama uns dadurch alles ermöglicht hat – und ich bin ihr sehr dankbar dafür, dass sie zurückgesteckt hat, um uns zu unterstützen.

Mama blieb zu Hause! Das war auch die Geburtsstunde des Familienunternehmens Hambüchen. Wir brauchten keinen Gesellschaftervertrag, unsere Rollen und Aufgaben waren ohnehin klar verteilt:

Vater war fürs Turnerische zuständig. Er war Christians und mein Trainer. Von ihm lernten wir die Riesenfelge, Salti, Spagat.

Mamas Hoheitsgebiet waren die schulischen, organisatorischen und medizinischen Belange. Sie brachte uns jeden Morgen zur Schule und holte uns mittags wieder ab, verhandelte mit den Lehrern, dass wir für Lehrgänge und Wettkämpfe vom Unterricht freigestellt wurden. Ging mit uns zum Arzt, wenn das notwendig war, und stellte sicher, dass wir unsere Hausaufgaben bereits erledigt hatten, bevor wir nachmittags ins Training gingen. Kurzum: Sie wurde die Managerin unserer Familie, und als solche macht sie bis heute einen verdammt guten Job. Perfekte Organisation, akribische Logistik, ständige Betreuung und ganz viel Power waren vonnöten, damit alles über die Jahre so reibungslos klappte und alle Interessen unter einen Hut gebracht werden konnten.

Der Wochenplan von uns Kindern war ja minutiös geplant. So komisch das klingen mag, aber wir hatten keine Zeit zu vergeuden. Wie alle anderen mit dem Schulbus nach Unterrichtsschluss nach Hause? Nicht möglich, dauert zu lange. Meine Mutter holte uns immer mit dem Auto ab. Nicht selten habe ich auch bereits in den letzten Minuten der jeweiligen Schulstunde mit den Hausaufgaben begonnen.

Schule plus mindestens 25 Stunden Training zusätzlich, das ist nur möglich, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Und das war dank Mama der Fall. Weltklasseturner zu werden und nebenbei noch Abitur zu machen – das schafft man nur, wenn man nichts dem Zufall überlässt.

Meine Mutter managt aber nicht nur unseren Familienbetrieb perfekt, sondern sie gibt uns auch emotional Halt. Sie hat mich getröstet, wenn ich unglücklich war, weil ich wegen einer Erkältung nicht mittrainieren durfte. Sie trug mich ins Bett, wenn ich nach dem Training auf dem Sofa einschlief. An Tagen, an denen ich in der Schule eine Klausur schreiben musste, sprach sie mir Mut zu. Sie kochte mein Lieblingsessen (Milchreis mit Obst – mein Vater war immer der Ansicht, das sei kein richtiges Essen, darum gab’s das nur zu besonderen Anlässen oder wenn Vater nicht zu Hause war), wenn ich enttäuscht war, weil ich nicht mit Christian und Papa zu einem Wettkampf fahren durfte. Später dann, als im Training die inzwischen legendären Streite zwischen Papa und mir begannen, bot sie mir immer eine Schulter zum Anlehnen und vermittelte zwischen den sturen männlichen Familienmitgliedern. Ihr gegenüber konnte ich immer schon Schwäche zeigen, was mir gegenüber Vater immer schwerfällt – schließlich ist er Vater und Trainer in Personalunion. Mit Mama rede ich heute noch lieber über Dinge, die mich berühren, sie war und ist der warme Ort in meinem Leben.

Das Familienunternehmen Hambüchen lief so perfekt durchorganisiert und gut, dass Christian und ich uns auf das konzentrieren konnten, was uns am meisten Spaß machte: das Turnen. Christian als der Ältere war der Vorreiter, sozusagen der Vorturner, wovon ich als der Jüngere natürlich profitierte. Er ebnete mir den Weg in jeder Hinsicht. So wussten wir beispielsweise schon, bevor ich überhaupt in die Schule kam, worauf man zu achten hatte beim Zusammenspiel von Schule und Sportkarriere. Dadurch genoss ich natürlich einen erheblichen Vorteil.

Es war wirklich toll, einen großen Bruder zu haben, der auch turnte. Er teilte seine Erfahrungen mit mir und es war nie langweilig. Zum Beispiel bei Autofahrten zum Training oder zu Wettkämpfen hatte ich immer einen Spielkameraden. Denn die Autofahrten konnten auch lang werden. Insbesondere Anfang der neunziger Jahre, als Vater für eine Zeit nach Frankfurt ins Bundesleistungszentrum versetzt wurde. Für Christian und mich (und letztlich natürlich auch für Mama als unsere Fahrerin) hieß das jeden Tag, nach der Schule mindestens eine Stunde einfache Fahrt nach Frankfurt zum Training. Manchmal, wenn Stau war, sogar länger. Natürlich haben wir auf diesen Fahrten auch unsere Hausaufgaben gemacht – und wieder war ich es, der von der Situation profitierte, denn mein Bruder ist ja älter und konnte meine Aufgaben folglich ganz leicht lösen. Glücklicherweise wurde Vater nach ein paar Monaten wieder nach Wetzlar zurückbeordert, denn ich weiß nicht, wie lange wir das zeitlich, nervlich und auch finanziell durchgestanden hätten.

»Fabian muss seinen Helm tragen«

Meine Kindheit unterschied sich von der Gleichaltriger. Seit ich denken kann, wurde mein Tagesablauf vom Turnen bestimmt. In der Grundschule bin ich noch wie die anderen Kinder mit dem Schulbus zur Schule gefahren, doch später hat mich wie gesagt meine Ma immer gebracht und wieder abgeholt. Nachmittags, wenn die Nachbarskinder auf dem Spielplatz waren, war ich in der Turnhalle. Damit war ich schon im Alter von acht Jahren in meiner Klasse so etwas wie der Sonderling.

Sicher auch nicht ganz unschuldig daran war ein Utensil, das ich in meiner Kindheit oft tragen musste. Christian und ich mussten nämlich wegen des Turnens besonders darauf achten, dass unsere Knochen heil blieben. Unsere Eltern waren zwar recht cool, was andere Sportarten anbelangte, und wir durften auch in der Schule alles machen, jedoch gab es in allen Einverständniserklärungen einen bestimmten Passus: »Fabian muss seinen Helm tragen« war über der Unterschrift von Mama vermerkt, wenn es beispielsweise darum ging, mit der Klasse eislaufen zu gehen. Mein Helm war richtig schön rosa. Das fanden vermutlich viele meiner Altersgenossen ziemlich Panne, dass ich als Junge mit einem Mädchenhelm herumlief – mir selbst war es schnurzpiepegal. Selbst Kommentare von der Seite (»Fabian sieht aus wie ein Mädchen!«) tangierten mich nicht. Warum auch. Das Ding sollte mich schützen, ob in Schweinchenrosa oder Giftgrün, das tat nichts zur Sache.

Mein rosafarbener Kopfschutz musste schließlich einiges aushalten. Nicht nur mit dem Skateboard, auch mit dem BMX-Rad bin ich gerne durch die Gegend gerast. Irgendwann war der Helm von den vielen Stürzen so angeknackst, dass seine Schutzfunktion allenfalls noch symbolisch war. Darum bin ich auf unser Garagendach geklettert und habe ihn von oben hinunterfallen lassen. Beim Aufprall platzte das Ding wie eine Wassermelone in fünf Teile. Das war das jähe Ende des berühmten rosa Fahrradhelms.

Der Helm war nicht das einzige Teil, mit dem ich mich modisch von meinen Altersgenossen abgrenzte. Wegen meiner Körpergröße trug ich etwas länger als die anderen in meinem Alter Kindergrößen. Während die meisten Jungs aus der Klasse schon im HipHop-Style wie Tupac rumliefen, prangten auf meinen Pullovern noch lustige Applikationen von Donald Duck und Mickey Mouse. Bis tief hinein in die Pubertät passten mir mühelos die Klamotten aus der Kinderabteilung. Aber ganz ehrlich, das hat mich nicht sonderlich gestört. Ob ich modisch ganz weit vorn war oder nicht, war mir ziemlich egal. Für mich mussten Klamotten bequem sein und in der kühleren Jahreszeit wärmen. Das war wichtig. Vor allem warm musste es sein. Darum trug ich bereits beim ersten kühlen Lüftchen im Herbst Strumpfhosen und meine von Oma gestrickte Mütze mit dem bunten Bommel. In diesem Outfit hätte die Modepolizei ihre Freude an mir gehabt, aber so hielt ich das Risiko, krank zu werden, einigermaßen gering. Denn die übliche Erkältung im Herbst wollte ich um jeden Preis vermeiden. Mit einem Schnupfen konnte ich schließlich nicht trainieren.

Brüder

Zwar war ich vielleicht ein Außenseiter in der Schule, aber beruhigenderweise nicht anders als mein großer Bruder. Und das war entscheidend. Wie konnte ich etwas unnormal finden, was mein großer Bruder auch so machte? Etwa die Tatsache, dass wir nicht wie alle anderen aus der Straße im Fußballverein waren? Ich hatte nie wirklich das Gefühl, anders zu sein, denn in meiner Familie, meinem wichtigen Mikrokosmos, war das, was ich tat, ja normal. Darum war Christian für mich auch als Orientierungsgröße so enorm wichtig.

Christian und ich hatten uns, die anderen Kinder waren uns ziemlich egal. Es machte uns nichts aus, wenn wir die Einzigen in der Nachbarschaft waren, die nicht zum Geburtstag eines Nachbarkindes eingeladen wurden. Wenn uns andere Kinder in der Schule oder aus der Nachbarschaft wegen unseres Sports blöd anmachten, ließ uns das kalt. Manchmal, wenn wir einen ganz penetranten Pöbler vor uns hatten, haben wir dem einen Spruch reingereicht, nach dem Motto: Und, kannst du auf Händen gehen? Und auch in diesen Situationen, wenn vermeintliche Checker sich über unseren »Schwuchtelsport«, der ja nicht so cool wie Fußball war, lustig machten, konnte es durchaus angenehm sein, einen großen Bruder zu haben.

Es war außerdem ja auch nicht so, dass wir immer nur in der Turnhalle waren. Mittwochnachmittags war trainingsfrei. Da haben wir die Dinge gemacht, die andere Jungs auch gemacht haben. Ich war zum Beispiel immer schon sehr risikofreudig. In meinem Bruder fand ich einen gleichgesinnten Verbündeten. Wir beide heizten auf unseren BMX-Rädern und mit unseren Skateboards derart wüst durch die Gegend, dass viele der Nachbarskinder nur noch staunten. Halfpipe mit dem Skateboard, wie es viele andere angeblich coole Checker machten, war nichts für uns. Wir schraubten die kleinen Räder der Skateboards ab, ersetzten sie durch etwas größere und los ging’s, downhill.

Die Landschaft rund um Wetzlar ist ja sehr hügelig, und so hatten wir genügend Möglichkeiten zu waghalsigen Abfahrten. Einmal sind wir die steilste Straße in der gesamten Gegend runtergedonnert. Und zwar um die Wette, ich vornweg, Christian mir hinterher. Wir waren beide schnell unterwegs. Zum großen Finale unserer halsbrecherischen Talfahrt winkte eine ungemütliche S-Kurve. Vermutlich wäre es das kleinere Übel gewesen, sich einfach vom Brett fallen zu lassen (was Christian, der immer schon der Besonnenere von uns beiden war, auch wohl wissend tat). Aber ich kam gar nicht auf die Idee, freiwillig vom Board zu gehen. Die Kurve hätte ich ohnehin niemals gekriegt, denn mein Skateboard ließ sich nicht mal einen Millimeter nach links oder rechts bewegen. Also ging es geradeaus ungebremst mitten in ein Feld. Nach ein paar Metern kam noch mal ein Abhang, den man aber von oben nicht sah. Ich fuhr also mit dem Skateboard ins Feld und flog direkt den Abhang hinunter, überschlug mich mehrmals, landete auf dem Po und rutschte so noch einige Meter weiter. Irgendwann kam ich auf der Wiese zum Stillstand. Und was machte Christian? Der maß erst mal die Meter ab, um herauszufinden, wie weit ich geflogen war. Erst dann hat er pflichtschuldig gefragt, wie es mir ginge. Ich war vollkommen euphorisiert und sagte nur: »Noch mal!«

Doch das wusste Christian dann zu verhindern, die Eltern erwarteten von ihm als dem Älteren ja immer, dass er auf mich, den Kleineren, aufpasst. Meine Eltern hätten ihm ganz schön den Marsch geblasen. Daher hatte er ein ureigenes Interesse, dass ich wohlbehalten nach Hause komme.

Christian und ich spielten oft in unserer Freizeit zusammen. Bis auf die Sonntagvormittage, denn Christian hat wie meine Eltern gern ausgeschlafen. Wobei in diesem Zusammenhang ausgeschlafen auch relativ ist. Ich war damals schon ein Frühaufsteher. Sonntagmorgens zwischen 5 und 6 Uhr stand im Hause Hambüchen (wie wahrscheinlich in den meisten) noch Matratzenhorchdienst auf dem Programm. Nur bei Klein-Fabi nicht. Doch ich fand zum Glück ziemlich rasch eine Beschäftigung, um die Zeit zu überbrücken, bis meine Familie endlich aus den Federn kroch.

Berufsbedingt hatte Vater stets einen Haufen Turnvideos zu Hause, also Aufzeichnungen von Wettkämpfen, Meisterschaften und Schauturnen. Ich schnappte mir also ein Video und sah mir die Turner an. Einmal, zweimal, dreimal … unendlich viele Male. Ich studierte intensiv die Bewegungsabläufe der Turner, ihre Elemente und die Küren. Ich habe mir das Material so genau eingeprägt, dass man mich anhand der Time Codes auf die Probe stellen konnte. Ich wusste ganz genau, was in welcher Minute auf dem betreffenden Video zu sehen war, welcher Turner an welchem Gerät welches Element turnte.

Was für viele Menschen sicherlich unendlich langweilig ist (verstehe ich gar nicht), war für mich ein echter Blockbuster, das Highlight am Sonntagmorgen. Bei diesen Turnvideos guckte ich mir auch eine Menge ab. Irgendwie war ich schon ein Kauz: An meinem einzigen richtig freien Tag zog ich mir Turnvideos rein.

Christian und ich haben ein sehr gutes Verhältnis. Das war immer schon so. Natürlich gab es bei uns die üblichen Kabbeleien zwischen Brüdern, aber das Turnen hat uns zusammengeschweißt. Bei allen charakterlichen Unterschieden zwischen uns beiden, die es zuhauf gibt. Zum Beispiel: Christian ist viel besonnener als ich. Er interessiert sich für andere Dinge. Er liest gern und viel. Er wird Lehrer für Sozialwissenschaften – das Fach, das ich in der Schule am meisten gehasst habe.

Es hat jedenfalls auch Vorteile, einen großen Bruder zu haben, der denselben Sport ausübt. Als ich zum Beispiel in die Jugendauswahl berufen wurde, war Christian bereits in diesem Kader. Meine erste große Reise zum Länderwettkampf Deutschland gegen Kanada plus Trainingslager in Montreal machte ich folglich auch zusammen mit meinem großen Bruder.

Wäre unser Verhältnis nicht so gut gewesen, hätte es möglicherweise auch Spannungen zwischen uns gegeben. Zumindest gab es bei einer Angelegenheit in unserer Biografie Potenzial für einen Bruderzwist. Denn obwohl Christian vier Jahre älter ist als ich, hatte ich ihn im Alter von elf Jahren turnerisch überholt. Natürlich war das für meinen großen Bruder im ersten Moment ein Schock. Für wen wäre es das nicht gewesen? Ich war immer der Kleine, anfangs sogar derjenige, der gnadenhalber mitdurfte, als Christian schon Meisterschaften gewann. Und plötzlich turnte der Mini-Mann (so nennt mich Christian, ich nenne ihn meist Jupp) ihm, dem Juniorenmeister, etwas vor. Waren die Medienvertreter (okay, damals noch eine überschaubare Gruppe: ein Vertreter der Lokalzeitung) vorher wegen Christian in die Halle gekommen, interessierten sie sich plötzlich für den Kleinen.

Diese Entwicklung kam weder plötzlich noch unerwartet. Denn ich war nie eines dieser Kinder, das von den Eltern zum Training überredet werden musste. Im Gegenteil, man musste mich bremsen. Ich konnte wirklich wütend werden, wenn ich beispielsweise einen Arzttermin hatte und deshalb das Training verpasste. Ich war (und bin immer noch) wild aufs Knüppeln. Während andere nach einer gewissen Zeit im Training eine Pause brauchten, ging es bei mir ohne Unterbrechung weiter. Aus diesem Grund hatte ich auch mehr Wiederholungen, erlernte so Übungen und Bewegungsabläufe schneller als die anderen. Vater wusste schon, als ich acht, neun Jahre alt war: Wenn ich gesund bleiben würde, hätte ich das Potenzial, ganz weit oben in der Weltspitze zu turnen. Und da ich mich turnerisch eben sehr rasant entwickelte (nur turnerisch, körperlich ja so überhaupt nicht), war vorauszusehen, dass ich irgendwann, bevor ich in die Pubertät kommen würde, Christian überholt haben würde.

Dennoch: Das war im ersten Moment für Christian ungewohnt und neu, und wahrscheinlich auch schmerzhaft. Doch mein Bruder arrangierte sich schnell mit der Situation. Mehr noch, er unterstützte mich weiterhin.

Nach den Olympischen Spielen 2004 in Athen bin ich oft gefragt worden, wie das Verhältnis zwischen Christian und mir sei. Die Journalisten witterten förmlich das vermeintliche Problem. Am liebsten hätten sie gehört: Ja, Christian, der Ältere, hat ein Problem damit, dass ich, der Jüngere, der erfolgreichere Turner von uns beiden bin. Vor allem, nachdem Christian 2004, also mehr oder weniger im Anschluss an Olympia, seine Karriere beendet hatte. Da war für viele klar: Der erträgt es nicht, im Schatten von Fabian zu turnen. Da muss es doch Ärger geben!

Aber ich muss alle enttäuschen, denn so ist es überhaupt nicht. Christian ist stolz auf mich, nicht neidisch. Wir haben beide jeder seinen Weg eingeschlagen, ich turne weiter und er hat sich dafür entschieden, Lehrer zu werden.

Kurz nach Athen fand übrigens unser erstes und einziges Bruderduell in der Turnhalle statt. Unsere Bundesligamannschaften traten gegeneinander an. Dass es überhaupt dazu kommen konnte, lag daran, dass unsere Eltern zu Beginn unserer Karrieren entschieden hatten, dass wir für verschiedene Teams antreten sollten. Sie wollten einfach, dass jeder sich entwickeln kann, ohne dass es bereits eine Schublade für ihn gibt. Dass wir Christian und Fabian und nicht »der kleine Bruder von …« oder »der große Bruder von …« sind. Darum turnte Christian für den MTV Urberach und ich (immer noch) für den KTV Straubenhardt.

Wir Brüder freuten uns auf den Wettkampf und hatten dafür gesorgt, dass wir beim Sprung und auf dem Boden im direkten Duell gegeneinander antraten. Dabei ging es uns nicht um den Wettkampf an sich. Wir hatten vielmehr untereinander ausgemacht, dass der, der den Sprung sicherer steht, den anderen zum Essen einladen sollte. Und ich hatte Glück: Christian kam mit einem Mini-Hopser zu stehen, ich stand wie eine Eins.

Weniger lustig war dann aber, dass im Fernsehen darüber berichtet wurde und der Tenor in eine Richtung ging: Christian, der Große, im Schatten des Kleinen … Das stimmte nicht.

Christian und ich fahren übrigens manchmal zusammen zu Schauturnen, für die ich gebucht werde. Denn da kann ich mir ja aussuchen, welchen Trainer ich mitnehme. Und es hat sich eingebürgert, dass ich Christian mitnehme – und wir verbringen für gewöhnlich einen coolen Tag gemeinsam. Christian ist als Trainer auch sehr angenehm. Seine besonnene Art passt gut zu meinem Hitzkopf. Wir sind zusammen wirklich ein gutes Team.

Vater und Sohn

Besonnenheit ist etwas, was Vater dagegen eher versehentlich an den Tag legt. Da sind wir uns leider zu ähnlich. Vielleicht knallt es darum auch so oft zwischen uns beiden im Training. Wir sind schließlich beide Sturköpfe und Heißsporne. Wobei er behauptet, dass ich sturer sei. Was natürlich überhaupt nicht stimmt. Das ist eine ziemlich explosive Mischung. Jeder, der uns beide schon mal zusammen in der Trainingshalle erlebt hat, weiß, dass wir wie Nitroglyzerin sein können. Es herrscht ständig Explosionsgefahr.