Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie -  - E-Book

Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie E-Book

0,0

Beschreibung

Wie läuft eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der Praxis ab? In diesem Buch nehmen elf Therapeutinnen und Therapeuten die Leserinnen und Leser mit in ihre Therapiestunden. Sie zeigen anhand von Behandlungssequenzen, Verläufen und Interaktionen die Vielfalt des therapeutischen Arbeitens und erläutern die Grundbegriffe der Tiefenpsychologie. Psychodynamische Therapieansätze werden verständlich vermittelt und mit Fallbeispielen veranschaulicht. In persönlichen Einblicken schildern die Therapeutinnen und Therapeuten, wie sie ihre Sitzungen und ihre Arbeit erleben. Der hohe Praxisbezug macht die Texte auch für Anfängerinnen und Anfänger nachvollziehbar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 254

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Herausgeberin

Julia Hristov ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in der Vitos Klinik Hofheim sowie als Dozentin an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie tätig.

Julia Hristov (Hrsg.)

Facetten tiefen-psychologisch fundierter Psychotherapie

Erfahrungen, Techniken, Schlüsselmomente

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung: © PinkCat/shutterstock.com

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039794-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-039795-8

epub:   ISBN 978-3-17-039796-5

mobi:   ISBN 978-3-17-039797-2

Autor*innenverzeichnis

 

 

Sabine HoffmannKinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Leitende Psychologin der Vitos Klinik Hofheim, Dozentin, [email protected]

Julia HristovKinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, tätig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanz, Dozentin, [email protected]

Martin KaschkeDr. phil. Dipl. Psych., Dipl. Biol., Psychologischer Psychotherapeut, Paartherapeut, Hakomi-Therapeut, Gruppenpsychotherapeut, niedergelassen in eigener Praxis in Heppenheim, Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter, [email protected]

Lena KuhlmannKinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Bestsellerautorin, betreibt einen Social-Media-Account zum Thema mentale Gesundheit, [email protected]

Cornelia LeistnerKinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, niedergelassen in eigener Praxis in Usingen, Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin, [email protected]

Kerstin NeuthePsychologische Psychotherapeutin, Gestalttherapeutin, niedergelassen in eigener Praxis in Flörsheim, Dozentin, Supervisorin, [email protected]

Meike PudlatzPsychologische Psychotherapeutin, niedergelassen in Gemeinschaftspraxis in Hamburg, Basic Trainerin Positive Psychotherapie, Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin, [email protected]

Anna Radon-WolfKinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, niedergelassen in eigener Praxis in Wiesbaden, Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin, praxis [email protected]

David RothPsychologischer Psychotherapeut, niedergelassen in eigener Praxis in München, Gruppenpsychotherapeut, Präsident der Deutschen Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter, [email protected]

Frank StulaKinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, niedergelassen in eigener Praxis in Walluf. Staatsprüfer. Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter, [email protected]

Lalenia ZizekProf. Dr., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Professur für Bildung, Beratung, Förderung und Therapie im Kindesalter an der Fachhochschule Potsdam, Staatsprüferin, niedergelassen in eigener Praxis in Berlin, Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin, [email protected]

Inhaltsverzeichnis

 

 

Autor*innenverzeichnis

Vorwort

1      Zwischen Unsicherheit und Verstehen

Julia Hristov

1.1   Die ersten Schritte

1.2   Die Macht des Unbewussten

1.3   Der Weg zu einem Symptom

1.4   Unsicherheit überwinden

Literatur

2      Die ersten Begegnungen in der Psychotherapie

Kerstin Neuthe

2.1   Aufspannen des therapeutischen Beziehungsraums

2.2   Zugänge zur unbewussten Psychodynamik

2.3   Ein Bild zeichnen

Literatur

3      Es war einmal … Wie uns von Patient*innen geschriebene Geschichten Einblicke in ihre Welt gewähren

Anna Radon-Wolf

3.1   Zauberer und Drachen

3.2   Der Vorstellungstermin

3.3   Abschlussbetrachtungen

Literatur

4      Der Jedi in uns – Zur Bedeutung moderner Märchen der Populärkultur in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Frank Stula

4.1   Psychodynamische Sichtweise auf Märchen der Populärkultur

4.2   Die Heldenreise

4.3   Aus der psychotherapeutischen Praxis

4.4   Der Psychotherapeut als Jedi

Literatur

5      Affekte klarifizieren in der Kindertherapie: der Wutvulkan und der Einsatz von Geschichten

Cornelia Leistner

5.1   Ein Maulwurf im Familiensystem

5.2   Der Wutvulkan

5.3   Einsatz von Geschichten in der therapeutischen Arbeit mit Kindern

Literatur

6      Eltern und Familien in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen

Lalenia Zizek

6.1   Zur Geschichte der Familie in der Psychotherapie

6.2   Die Psychotherapie mit Kindern und ihren Eltern

6.3   Abschluss

Literatur

7      Psychodynamisch arbeiten mit Positiver und Transkultureller Psychotherapie nach Peseschkian (PPT)

Meike Pudlatz

7.1   Charme von Gründer und Ansatz

7.2   Aus der Praxis für die Praxis I: das Balancemodell

7.3   Aus der Praxis für die Praxis II: die Arbeit mit orientalischen Geschichten

7.4   Ausblicke

Literatur

8      Die Klinik und das Unbewusste – Tiefenpsychologisches Arbeiten in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik mit Versorgungsauftrag

Sabine Hoffmann

8.1   Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

8.2   Wie kann ich das szenische Verstehen zur Hypothesenbildung nutzen?

8.3   Wie kann ich eine Gruppensituation tiefenpsychologisch im Team aufarbeiten und die Gegenübertragungsphänomene in einen Behandlungsplan einfließen lassen?

8.4   Wie kann eine Uneinigkeit des Behandlungsteams als Ambivalenz der Patientin erkannt und für die Behandlung nutzbar gemacht werden?

8.5   Wie erkenne ich die Grenzen tiefenpsychologischen Arbeitens in einer Gruppenpsychotherapie?

8.6   Welche Stärken liegen im tiefenpsychologischen stationären Arbeiten?

9      Ein lachendes und ein weinendes Auge – der Abschied in der Psychotherapie

Julia Hristov

9.1   Ein gelungener Abschied

9.2   Abschied nehmen

9.3   Gestaltung des Abschieds

9.4   Und das war es jetzt?!

Literatur

10   »Sie haben Ihr Ziel erreicht«: über Erfolg in der tiefenpsychologischen therapeutischen Arbeit

Lena Kuhlmann

10.1 Therapieziele erarbeiten

10.2 Nicht alles ist möglich

10.3 Auftragsklärung und Elternarbeit

10.4 Am Ende ist immer alles gut?

10.5 »5 von 5 Sternen«

Literatur

11   Wie lernt eine ambulante Gruppe laufen? Ideen für den erfolgreichen Start einer Gruppenpsychotherapie

Martin Kaschke

11.1 Aller Anfang ist schwer

11.2 Das Setting

11.3 Wenn die Gruppe wirklich beginnt

11.4 Zu guter Letzt – oder warum ich Gruppentherapien so schätze

Literatur

12   Persönliche Einblicke, Einsichten und Gedanken zu tiefenpsychologischer Supervision und Selbsterfahrung

David Roth

12.1 Der Ursprung meiner Suche

12.2 Übernahme von Haltungen in der Therapeutenausbildung

12.3 Einstieg in die Selbsterfahrung

12.4 Approbationsausbildung

12.5 Auf dem Parkett und auf der Empore

12.6 Ausblick

Glossar

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Zu theoretischen Grundlagen und Interventionstechniken der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gibt es bereits zahlreiche Fachbücher, die diese sehr anschaulich und nachvollziehbar darstellen. Wie aber erleben Psychotherapeut*innen selbst ihre Sitzungen? Was sehen sie als Schlüsselmomente im therapeutischen Prozess an? Wie werden diese von ihren Patient*innen wahrgenommen? In diese Erlebniswelt geben die vorliegenden Beiträge Einblicke.

Elf erfahrene Psychotherapeut*innen nehmen die Lesenden mit in ihre Therapiestunden. Sei es in der Erwachsenentherapie, der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, in Gruppen, in der Supervision oder Selbsterfahrung, in der ambulanten oder stationären Arbeit: Jedes Kapitel erzählt nicht nur von konkreten therapeutischen Situationen, sondern wie tiefenpsychologisches Arbeiten aus Therapeut*innensicht erlebt wird.

Die Autor*innen möchten nicht theoretisch, sondern ganz praktisch zeigen, wie Therapie und Supervision geschehen. So werden Therapiebeginn und -ende, einzelne bedeutsame Sequenzen, spezielle Ausrichtungen, tiefenpsychologisches Arbeiten in einer Klinik und vieles mehr aufgegriffen. Es ist spannend, zu sehen, was tiefenpsychologisches Arbeiten bewirken kann – bei Patient*in und Therapeut*in gleichermaßen.

Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass die beispielhaft aufgeführten Methoden auch für Anfänger*innen nachvollziehbar sind. Ein großes Anliegen ist es, das tiefenpsychologische Arbeiten verständlich zu machen und dafür zu werben, da dies ein Ansatz ist, der den unbewussten seelischen Vorgängen einen hohen Stellenwert als Erklärung für menschliches Verhalten und Erleben beimisst.

In einer tiefenpsychologisch orientierten Behandlung wird das Wissen um das Wirken unbewusster Motive, Fantasien und Wünsche als nicht willentliche Triebfeder von Verhalten nutzbar gemacht: Die seelische Erkrankung wird als Ausdruck eines tiefen Nicht-Vorankommens (eines inneren Konflikts) verstanden, dessen Auslöser im Jetzt, der Ursprung jedoch in den frühen Beziehungserfahrungen oder einem Trauma gesehen wird. Fokussiert wird weniger der Ausdruck des Problems oder des Symptoms. Auch die schnelle Lösung des Alltagsproblems steht nicht im Vordergrund. Der Blick zurück dient dem Begreifen und dem Überwinden. Der Gewinn liegt in der Bearbeitung des ursprünglichen Defizits. In Spielsituationen oder im Gespräch werden diese Konflikte geschützt dem Bewusstsein zugänglich gemacht. Dann können Patient*innen ihren eigenen Entwicklungsweg kreieren, da sie das Symptom nicht mehr benötigen. Von großer Bedeutung für die Behandlung ist die Notwendigkeit und hohe Bereitschaft der Psychotherapeut*innen, sich selbst gut zu kennen und sich persönlich einzubringen – in der Übertragungs- und Gegenübertragungsarbeit. Deshalb nimmt in der Ausbildung tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut*innen, neben der Vermittlung von Kenntnissen über Genese von Störungsbildern und Interventionstechniken, die Selbsterfahrung einen großen Stellenwert ein.

Durch die Veränderungen der therapeutischen Landschaft in Folge der Reform der Psychotherapeutenausbildung scheint es umso wichtiger, sich auch mit psychodynamischen Therapieansätzen auseinander- und für diese einzusetzen.

Unser Dank gilt daher dem Kohlhammer Verlag, der unser Projekt und damit unser Anliegen mit dem Erscheinen dieses Buches unterstützt. Wir danken auch unseren Ausbilder*innen, Supervisor*innen, Seminar- und Selbsterfahrungsleiter*innen für ihre Geduld, Überzeugungskraft und ihr tiefes Wissen, das sie mit uns geteilt haben. Ganz besonders danken wir aber unseren Patient*innen für ihr Vertrauen, ihr Öffnen, ihr Widerstreben und ihre Entwicklungen. Es ist ganz wunderbar, dies begleiten zu dürfen.

Den Lesenden wünschen wir nicht nur fachlichen Lesegenuss, sondern auch fruchtbares Erkennen, wie wichtig und wirkungsvoll die Tiefenpsychologie für die Versorgungslandschaft und wie hilfreich sie für unsere Patient*innen ist.

Sabine Hoffmann, Februar 2021

1

Zwischen Unsicherheit und Verstehen

Julia Hristov

1.1       Die ersten Schritte

In meiner ersten Therapiestunde war ich mindestens so angespannt und nervös wie mein Patient, wahrscheinlich sogar noch mehr. Bei meinem Gegenüber handelte es sich um einen großen, kräftigen 16-jährigen, gleichgültig und abgebrüht wirkenden Jugendlichen, der mich kritisch und erwartungsvoll musterte. Er hatte einen Schulverweis bekommen, war wegen kleinerer Einbrüche und Schlägereien polizeibekannt. Die Eltern beschrieben ihn in einem gemeinsamen Aufnahmegespräch als aufbrausend und grenzüberschreitend, aber phasenweise auch antriebsarm und bedrückt.

Seinen Blick auf mir spürend, überlegte ich, ob ich autoritär genug wirkte, er mir zuhören würde, wie ich mich ihm entgegenstellen könnte. Trotz vieler besuchter Psychologie- und Therapieseminare und eines großen Stapels studierter Fachliteratur, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Manual, auf das ich mich hätte beziehen können, eines, in welchem ich schrittweise Handlungsvorgaben vorfinden würde. Obwohl ich hartnäckig versuchte, seinen Panzer zu durchbrechen, machte der Jugendliche es mir nicht leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen und mehr über ihn zu erfahren. Und dennoch: Er blieb 50 Minuten lang und erschien auch zu den weiteren Terminen.

Im Nachhinein ist mir bewusst, wie eindrücklich und aussagekräftig die erste Begegnung mit meinem Patienten war – wie viel sie über den Patienten, unsere Beziehung und auch über mich aussagt. Sie führt mir meine eigene Unsicherheit als angehende Therapeutin vor Augen. Sie lässt mich den unausgesprochenen Erwartungsdruck des Patienten spüren, der mich musterte, als wollte er herausfinden, was ich ihm als Therapeutin bieten konnte. Der erste Termin zeigt mir auch, dass der Patient einen hohen Leidensdruck hatte, Hilfe suchte und auf seine Art sehr wohl in Beziehung ging. Wie leicht hätte er aufstehen, das Gespräch vorzeitig beenden und gehen können. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte ihn nicht aufhalten können. Am stärksten haben mich aber sein Auftreten und seine einschüchternde Ausstrahlung beschäftigt, was diese bei mir ausgelöst hatte und wohl auch bei anderen auslösen würde.

Ein wichtiger Aspekt, der das tiefenpsychologische Arbeiten für mich auszeichnet und spannend macht, ist es, das Augenmerk darauf zu haben, was sich weit über das Gesagte hinaus zwischen Patient*in und Therapeut*in abspielt. Lorenzer führte hierfür das Konzept des Szenischen Verstehens ein (Lorenzer, 2006). Dabei beschreibt der Psychoanalytiker und Soziologe vier Ebenen des Verstehens in Interaktionen. Zum einen ein logisches Verstehen, das sich auf den Inhalt des Gesprochenen bezieht, die Informationen, die sich daraus ergeben. Des Weiteren ein psychologisches Verstehen, das der Beziehung der Interaktionspartner*innen einen emotionalen Wert verleiht. Das szenische Verstehen erfasst die Situation im Gesamten mit allen Umgebungsbedingungen und Äußerungen über das Gesagte hinaus. Das tiefenhermeneutische Verstehen schließlich liefert über die dargebotene Szene einen Zugang zu verborgenen Wünschen und Abwehrmechanismen. In Bezug auf die Therapiesituation lässt sich festhalten, dass vieles, das sprachlich nicht ausgedrückt werden kann, dennoch Eingang in die Interaktion zwischen Therapeut*in und Patient*in findet. Dies geschieht in der Form, dass verdrängte Erlebnisse und Erfahrungen der Patient*innen in der therapeutischen Beziehung ausagiert werden, ein Gegenüber in die Inszenierung eingebunden und ihm eine Rolle zugewiesen wird. Ein Verstehen dieser Dynamik kann dysfunktionale Beziehungsmuster der Patient*innen aufzeigen und diese erlebbar sowie korrigierbar machen.

Rückblickend erscheint es mir noch verständlicher, dass eine Therapieform, die den Einfluss von zwischenmenschlicher Beziehung so stark betont, nicht alleine durch Fachliteratur und Seminare verstanden werden kann, sondern in der Beziehung zu einem Gegenüber erlebt werden muss. Wenn uns frühe Beziehungserfahrungen prägen und entscheidend dafür sind, wie wir mit anderen Menschen in Kontakt treten, wie wir mit Problemen und Schwierigkeiten umgehen und wie wir uns selbst oder andere erleben, muss man auch als Therapeut*in in Beziehung gehen, um dies zu spüren, zu erkennen und bewusst zu machen.

1.2       Die Macht des Unbewussten

Wie schon deutlich wurde, gestalten neben bewussten Vorgängen auch unbewusste Prozesse die Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in. Am bedeutsamsten sind hier die Übertragung und Gegenübertragung, erstmals von Freud beschrieben. So werden (oftmals unbewusste) Erwartungen und Wünsche der Patient*innen auf Therapeut*innen übertragen, in der Hoffnung, dass diese von ihnen erfüllt werden (Übertragung). Therapeut*innen kann dabei die Rolle einer Person zugeschrieben werden, mit der Patient*innen einen Konflikt hatten oder haben, ihn aber nicht lösen können. Ein junger erwachsener Mann, der in seiner Kindheit wiederholt von seiner psychisch kranken Mutter alleine gelassen wurde, kann unbewusst den Wunsch nach Zuwendung und Fürsorge auf seine Therapeutin übertragen, gleichzeitig aber auch die Angst, von ihr verlassen zu werden. Dieser Wunsch und das Gefühl gelten eigentlich der Mutter, durch die Übertragung auf die Therapeutin lassen sie sich jedoch im Hier und Jetzt in der Therapie bearbeiten. Ebenso kann eine erwachsene Frau mit einem kritischen, abwertenden und von hohen Ansprüchen geprägten Vater in der Therapie bemüht sein, dem männlichen Therapeuten zu gefallen und ihm alles recht zu machen, um Anerkennung und Lob zu erhalten, was sie von ihrem Vater nicht bekommen hat.

Bei Therapeut*innen entstehen wiederum Erwartungen, Wünsche und Gefühle als Reaktion auf Patient*innen (Gegenübertragung). Eine Therapeutin fühlt sich durch ihre Patientin nicht wahrgenommen, da diese ihr oftmals ins Wort fällt und über Fragen und Einwürfe hinweggeht. Einem anderen Patienten gegenüber hegt sie dagegen mütterliche Gefühle, möchte ihn beschützen und schonen. Um diese Reaktionen effektiv in den therapeutischen Prozess einbinden zu können, muss gut unterschieden werden, ob sie durch Patient*innen oder die eigene Lebensgeschichte hervorgerufen werden.

Unbewusst kann der Therapieprozess auch behindert werden, was sich in Form von ständigem Zuspätkommen, kurzfristigen Terminabsagen, »keine Ahnung«- und »ich weiß nicht«-Antworten oder einem Ausweichen manifestieren kann und als Widerstand bezeichnet wird. Dieser sollte Patient*innen gegenüber in einer für sie angemessenen Form aufgegriffen und gedeutet werden, um eine effektive Weiterarbeit nicht zu gefährden.

Am eindrücklichsten habe ich die Macht des Unbewussten in einer Supervisionsstunde erlebt. Dort habe ich meiner Supervisorin von den vorangegangenen Terminen mit einer 7-jährigen Patientin berichtet – sich immer wiederholende Spielsequenzen im Puppenhaus, die ich nicht deuten konnte. Während des Berichtens wurde ich plötzlich sehr traurig und merkte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Auch der Supervisorin blieb dies nicht verborgen. Sie sprach mich darauf an und fragte, ob dies mit mir, meiner aktuellen Lebenssituation oder meiner Familie zu habe. Ich verneinte, versicherte, dass bei mir alles gut sei. Das Berichten über die Patientin und unsere letzten Stunden hatte mich traurig gemacht, und obwohl mir ein traumatisches Erlebnis in ihrer Vorgeschichte bekannt war, die Patientin seit einigen Monaten häufig gedrückt und traurig zu mir kam, konnte ich mir nicht erklären, warum ich gerade in diesem Moment so reagierte. Nach kurzem Schweigen fragte die Supervisorin, ob es sein kann, dass sich der Todestag der älteren Schwester meiner Patienten jähre, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Ich war völlig irritiert und verblüfft, blätterte aber umgehend in meinen Unterlagen nach. Die Supervisorin hatte recht. Im Gegensatz zu mir hat sie die Traurigkeit nicht nur gespürt, sondern konnte sie auch zuordnen. Mir war nicht bewusst, dass der Todestag so nah war, die Patientin hatte dies nicht angesprochen. Vermutlich hatte ich es wohl auch verdrängt, um mich nicht dem Schmerz der Patientin stellen zu müssen. Und dennoch war er da. Mir hat das Verstandenwerden durch die Supervisorin Erleichterung gebracht. In den folgenden Therapiestunden konnte ich dann meine Patientin besser verstehen, ihr mitfühlend und tröstend begegnen, denn ich hatte wirklich gespürt, was sie bewegt, aufwühlt, abwehrt und was sie nicht in Worte fassen konnte, was sie aber immer begleitet hat und auch in den Therapieterminen anwesend war. Wir konnten gemeinsam um ihre Schwester trauern.

1.3       Der Weg zu einem Symptom

Einige Patient*innen berichten, dass sie »plötzlich« bemerkten, dass etwas nicht in Ordnung war, sie sich ängstlich, traurig, wütend fühlten, scheinbar aus dem Nichts heraus. Andere wiederum beschreiben einen schleichenden Beginn oder benennen einen konkreten Auslöser, der zum Ausbilden einer psychischen Symptomatik geführt hat. Oftmals ist der Weg bis zum Auftreten eines Symptoms ein langer, meist unbewusster, auf dem versucht wird, Kummer und Schmerz abzuwehren, in Schach zu halten oder zu verdrängen, bis sie schließlich doch ausbrechen. Der Auslöser scheint mitunter nicht in Relation zur Wucht der Symptomatik zu stehen, diese wird aber verständlich, wenn man sich anschaut, was dem zugrunde liegt.

Die Abwehr erfolgt über Abwehrmechanismen. Diese dienen dazu, unbewusste, seelische Konflikte zu lösen und das psychische Gleichgewicht aufrechtzuhalten. Sie sind meist unbewusst und unterscheiden sich daher von bewussten Problemlösestrategien. So können innere Wünsche abgewehrt oder verleugnet werden oder sich in körperlichen Symptomen manifestieren. Eine umfassende Übersicht zu den Abwehrmechanismen findet sich bei Anna Freud (1984).

Betrachtet man genauer, wie es zur Entstehung eines Symptoms kommt, sollte man auch einen Blick auf die Neurosendisposition des Patienten werfen. Dieser Begriff wurde von Boessmann und Remmers (2008) geprägt und bezieht sich auf das Konzept der Neurosenstruktur von Schultz-Hencke. Eine Neurosendisposition ist jedem Menschen eigen und hat zunächst einmal keinen Krankheitswert. Das frühe Erleben und Empfinden, Beziehungserfahrungen sowie Konflikte und deren Lösungsversuche führen bei jedem Menschen zu einem spezifischen Muster, wie jemand mit bestimmten Situationen umgeht, sich selbst und andere erlebt. Insgesamt listen Boessmann und Remmers zehn Neurosendispositionen auf und geben damit ausreichend Möglichkeit, auch sich selbst in einer oder mehreren wiederzufinden.

Belastende Situationen, Verluste, Entwicklungsaufgaben oder Konflikte können dazu führen, dass Neurosendispositionen die Entstehung einer psychischen Störung begünstigen, weil Lösungsversuche und Abwehrmechanismen nicht mehr greifen. Das Erkennen einer patient*innenspezifischen Neurosendisposition aufgrund einer biografischen Anamnese und des im Erstkontakt erhobenen psychischen Befundes gibt Aufschluss über die Psychodynamik, die einem Störungsbild zugrunde liegt und liefert somit Behandlungsansätze.

Dies mag sich für manche*n Leser*in sehr komplex anhören, da doch die meisten Prozesse unbewusst ablaufen. Jedoch wird in den nachfolgenden Kapiteln aufgezeigt, wie spannend es ist, das »Unbewusste« zu erforschen und mit diesem zu arbeiten.

1.4       Unsicherheit überwinden

Viele Therapieinteressierte und angehende Psychotherapeut*innen stellen sich nun wahrscheinlich die Frage, wie sie die oben kurz angeführten Konzepte und Grundgedanken der tiefenpsychologisch- psychodynamischen Sichtweise im therapeutischen Setting, d. h. im direkten Patient*innenkontakt, ganz konkret umsetzen können. Sie fühlen sich oftmals unsicher, in ihrer Position verantwortlich für die Beziehungsgestaltung und erleben den eingangs erwähnten Erwartungsdruck durch die Patient*innen.

Zusammenfassend kann ich folgende Faktoren benennen, die mir geholfen haben, meine anfängliche Unsicherheit zu überwinden und meinen Patient*innen weiterhin mit Neugier, Interesse, Wertschätzung und Mitgefühl, aber auch mit mehr Gelassenheit und Vertrauen in ihre Fähigkeiten und den therapeutischen Prozess zu begegnen:

  In Beziehung gehen mit den Patient*innen: Das ist wohl der wichtigste Faktor, nicht nur, weil man aus eigenen Erfahrungen bekanntlich am meisten lernt, auch weil das tiefenpsychologische Arbeiten das Einlassen auf eine Beziehung voraussetzt. Dabei kann nicht im ersten Termin die gesamte, meist unbewusste Dynamik sofort verstanden werden, auch müssen nicht Symptome nach einem Termin verschwinden. Es ist erstaunlich zu erleben, wie sich für die Patient*innen typische Beziehungsmuster auch in den Therapiestunden zeigen und in der direkten Beziehung aufgegriffen werden können und wie hartnäckig Kinder wieder und wieder dieselben Spielsequenzen wiederholen, bis sie schließlich irgendwann durch die Therapeut*innen verstanden werden.

  Supervision/Intervisionund der Austausch mit Kolleg*innen: Es ist lehrreich, aufmunternd und ermutigend, sich mit angehenden und erfahrenen Kolleg*innen darüber auszutauschen, wie es ihnen mit ihren ersten Patient*innen erging, was ihnen Orientierung gegeben hat, welche Erfahrungen für sie wertvoll waren. Supervision ermöglicht es, das eigene therapeutische Vorgehen, die Dynamik zwischen Therapeut*in und Patient*in zu reflektieren, Rückmeldungen und neuen Input (ganz konkret, in Form einer Sicht von außen oder durch das Verstehen bestimmter Szenen) für die weitere Behandlung zu bekommen.

  Selbsterfahrung: Sowohl einzeln als auch in der Gruppe war dies eine wertvolle Erfahrung für mich. Selbsterfahrung dient dazu, sich seiner Lebensgeschichte, eigener Themen und Beziehungsmuster bewusst zu werden – damit verbunden auch der eigenen Verletzlichkeit, erlebter oder befürchteter Kränkungen, Ängste und Themen, die man vielleicht aus Scham oder Schuldgefühlen meidet. Sich bewusst über seine eigene Geschichte, sein Erleben und seine Prägung zu sein, hilft wiederum, diese nicht in der Therapiesitzung auf die Patient*innen zu übertragen oder ihnen gar aufzudrängen, sondern als Eigenes wahrzunehmen.

  Fachliteratur: Viel zu lesen (und damit auch nie aufzuhören) ist unabdingbar, um sich einen Überblick über therapeutische Konzepte, Wirkmechanismen, aktuelle Forschungsergebnisse etc. zu verschaffen und ein theoretisches Fundament für das eigene Arbeiten aufzubauen. Sowohl Wöller und Kruse (2018) als auch Rudolf (2019) geben in ihren Fachbüchern einen leicht zugänglichen und verständlichen Überblick über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Gleichzeitig ermöglicht das Lesen von Fachliteratur und Eintauchen in Fallbeispiele aus Sicht verschiedener Therapeut*innen, ihre Ansätze und ihr Vorgehen und damit ein therapeutisches Vorbild kennen zu lernen.

Der erste Punkt scheint mir dabei gleichzeitig am wichtigsten und am unkontrollierbarsten, für angehende Therapeut*innen spannend und zugleich verunsichernd – mitunter aufgrund der empfundenen Verantwortung gegenüber den Patient*innen und dem Wunsch, diese möglichst schnell zu entlasten, ihnen zu helfen. Auch um einen fantasierten Beziehungsabbruch zu vermeiden, die Befürchtung, die Hilfesuchenden könnten sich anderswo Unterstützung holen, wenn nicht möglichst schnell eine Besserung eintritt. In den nachfolgenden Kapiteln möchten wir ermutigen, die anfängliche (und immer wieder auftauchende) Unsicherheit anzunehmen und sie reflektiert in die therapeutische Arbeit einfließen zu lassen und gleichzeitig aufzeigen, welche lohnenswerten Erfahrungen in der Therapeut*in-Patient*in-Beziehung entstehen können.

Literatur

Boessmann, U. & Remmers, A. (2008) Behandlungsfokus. Bonn: Deutscher Psychologenverlag.

Freud, A. (1984). Das Ich und seine Abwehrmechanismen (24. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer.

Lorenzer, A. (2006). Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten. In U. von Prokop & B. Görlich (Hrsg.), Kulturanalysen (Bd. 1). Marburg: Tectum.

Rudolf, G. (2019). Psychodynamisch Denken – tiefenpsychologisch Handeln. Praxis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer.

Wöller, W. & Kruse, J. (2018). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Basisbuch und Praxisleitfaden. (5. Aufl.) Stuttgart: Schattauer.

2

Die ersten Begegnungen in der Psychotherapie

Kerstin Neuthe

Eine junge Patientin sprach erstmals über dramatische Erinnerungen und wollte sich ihrer endlich entledigen, indem sie versuchte, alles zu erzählen und sich nicht mehr stoppen konnte. – Eine Frau hielt ihrem stattlichen Mann im Wartezimmer die Hand mit den Worten »Damit er auch wirklich mit reingeht« und er stand zögernd auf. – Eine ältere Patientin gab mir gleich nach der Begrüßung ihren Klinikbericht in die Hand.

Aus diesen einzelnen Szenen meiner ambulanten psychotherapeutischen Praxis lässt sich erahnen, wie lebendig die Begegnung zwischen Patient*in und Therapeut*in in den ersten Psychotherapiestunden sein kann. Die ersten Kontakte in der Psychotherapie sind außergewöhnlich und intensiv: Zwei Unbekannte treffen aufeinander und eine*r spricht über sich.

Für Psychotherapeut*innen hingegen nimmt mit jeder der vielen ersten Begegnungen die Erfahrung zu und es sinkt die Unsicherheit gegenüber dieser besonderen menschlichen Situation. Über die Berufsjahre hinweg ertappe ich mich immer wieder dabei, die Brisanz – vor allem der allerersten Begegnung – für die Patient*innen zu unterschätzen.

Doch was genau passiert in den ersten Begegnungen in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie? Was gibt den Anstoß für einen inneren Entwicklungsprozess und lässt unsere Patient*innen irgendwann sagen: »Dieses Gefühl quält mich nicht mehr.« »Jetzt verstehe ich, was ich da tue.« »Die Therapie ist wie eine zweite Geburt.«

Es ist schwierig, in Worte zu fassen, was genau heilsam ist. Heilsam ist nicht allein die Intervention – Heilung oder Entwicklung hängt vorrangig mit der therapeutischen Beziehung zusammen, dem wichtigsten Wirkfaktor der Psychotherapie. Wie Forschungsergebnisse belegen und in diversen Psychotherapielehrbüchern (Boessmann & Remmers, 2018; Körner, 2018) herausgearbeitet ist, hat die Qualität der Therapiebeziehung – aus Patient*innensicht – den höchsten Einfluss auf das Ergebnis der Behandlung. Die hilfreiche therapeutische Beziehung ist wie ein unsichtbares Fundament, es wird in den ersten Begegnungen gelegt und trägt über die gesamte Zeit der Behandlung.

In den folgenden Ausführungen verdeutliche ich die Bedeutung der ersten psychotherapeutischen Begegnungen und beschreibe weniger theoretische Inhalte, sondern mehr den praktischen Umgang.

Anfangs spanne ich den therapeutischen Beziehungsraum auf, veranschauliche den auftauchenden Konflikt zwischen Versuchung und Versagung und die besondere therapeutische Haltung. Im Mittelteil charakterisiere ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wesentliche Bestandteile der ersten Begegnungen, die einen Zugang zur unbewussten Psychodynamik begünstigen: das Verstehen von Szenen, von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken sowie die Anwendung der Probetherapie. Schließlich geht es im letzten Teil um das Zeichnen eines Bildes.

2.1       Aufspannen des therapeutischen Beziehungsraums

2.1.1     Versuchung und Versagung

Der Beginn einer Psychotherapie ist eine regelrechte Zumutung für Patient*innen. Einesteils kann es für sie eine offensichtliche Kränkung und Beschämung bedeuten, etwas nicht alleine bewältigen zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein. Doch damit nicht genug: Die Hilfesuchenden werden bereits bei Aufnahme des therapeutischen Kontakts in einen elementaren, unvermeidbaren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Beziehung und einer möglichen Frustration hineingestoßen. Die therapeutische Begegnung stellt sowohl eine Versuchungssituation als auch eine Versagungssituation dar.

Die treffenden Begriffe Versuchung und Versagung wurden von Harald Schultz-Hencke (1892–1953) geprägt. Die bewusste Versuchung (Anziehung, Anreiz) in der Psychotherapie ist die Hoffnung, psychisch gesund zu werden. Die unbewusste Versuchung ist oft mit Beziehungswünschen verknüpft, wie etwa endlich verstanden, akzeptiert und geborgen zu sein. In jeder möglichen Versuchung oder in jedem Beziehungswunsch steckt gleichzeitig eine Angst vor dessen Versagung (Absage, Ablehnung). Die Versagung ist unvermeidbar: Die durch den gesetzlich-formalen Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien geregelte therapeutische Beziehung ist immer nur ein begrenztes Angebot.

Schon Hermann Hesse (1877–1962) ermutigt in seinem Gedicht »Stufen«, sich immer wieder auf diese Versuchung der Begegnung einzulassen, da jedem Anfang ein Zauber innewohne und er betont, gleichzeitig zum Abschied bereit sein zu müssen, also Versagungen anzunehmen. Dieses kulturübergreifende, menschliche Thema machen sich Tiefenpsycholog*innen zunutze.

Nachfolgend das Beispiel einer Patientin mit emotional instabiler Neurosendisposition und ihrem Umgang mit dieser Konflikthaftigkeit in der therapeutischen Beziehung.

Eine Patientin brach immer wieder die Therapie mit der Begründung ab, ich sei »zu sachlich«, beende die Sitzung immer »überpünktlich« – sie könne sich deshalb »nicht einlassen«. Nach jedem Abbruch meldete sie sich einige Tage später wieder und wollte die Therapie unbedingt fortführen – nur ich könne ihr helfen.

Hier ist sichtbar, wie sehr sie zwischen der Versuchung einer idealen Therapiebeziehung und der Versagung, der Begrenztheit der emotionalen Beziehung hin- und hergerissen war. Intrapsychisch sind Versuchung und Versagung nicht integriert, sondern voneinander abgespalten. Versagungen erlebte sie als vollständige Ablehnung. Um das Gefühl des Abgelehnt-Seins abzuwehren, projizierte sie es auf mich und spaltete Beziehungswünsche aus ihrem Erleben; solange, bis ihre starken Wünsche nach emotionaler Beziehung wieder in ihr Bewusstsein drängten. Allein das Angebot einer Therapiebeziehung traf bei dieser Patientin auf so starke innerpsychischeAmbivalenzenbzw. Unvereinbarkeiten, dass sie das Zustandekommen einer stabilen Therapiebeziehung boykottierte.

Psychodynamisch arbeitende Behandler*innen eröffnen von Beginn an freie Situationen der Begegnung. Sie lassen sich mit allen Sinnen auf die Interaktion mit ihren Patient*innen ein. Sie vergessen zunächst alle Theorien und sind offen für alles, was innerlich wie äußerlich passiert oder eben auch nicht. Gerade dann kann sich die jeweils eigene Beziehungsdynamik in dem unvermeidbaren Konfliktpotential zwischen Versuchung und Versagung entfalten.

Im Erkennen der im therapeutischen Kontakt auftauchenden Beziehungsdynamik liegt eine große therapeutische Chance. Ähnlich wie aus einem unter dem Mikroskop betrachteten Tropfen Blut direkt Rückschlüsse auf den Zustand des ganzen Körpers gezogen werden können, so können aus einzelnen therapeutischen Begegnungen Rückschlüsse auf innere Vorstellungen der Patient*innen von Beziehungen und die darin manifestierte Psychopathologie gezogen werden.

2.1.2     Die therapeutische Haltung

Vor einem Jahr sammelte meine damals dreijährige Tochter täglich Gegenstände wie Blätter oder Stöcke und gab sie mir. Ich sollte alles in meiner Hand halten. Einige Teile legte sie dann in eine Schatzkiste. Besonders zufrieden war sie, wenn ich mich auch für ihre Schätze interessierte. Einmal zeigte sie mir zwei Papierschnipsel und einen Mandarinenkern; ich habe es zwar bestaunt, dann aber gewohnheitsmäßig in den danebenstehenden Papiereimer fallen lassen. Sie rief empört: »Mama!«. Ich entschuldigte mich und angelte alles wieder aus dem Papierkorb. Heute, ein Jahr später, sammelt sie Schätze in ihren eigenen Jackentaschen.

Dieses Halten oder Aufbewahren von Gesammeltem muss zunächst von den Bezugspersonen übernommen werden, bevor Kinder es selbst können. Zudem ist es ein Äquivalent für das spätere Wahrnehmen und Bewahren von eigenen Gedanken und Gefühlen. Ähnlich wie Eltern die Funde ihrer Kinder aufbewahren, gemeinsam betrachten und benennen, ist gerade in den ersten Begegnungen der Behandlung eine ähnliche therapeutische Haltung förderlich. Durch dieses Aufbewahren entsteht ein Raum für die in der Therapie zentrale Selbsterfahrung.

Tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeut*innen sammeln und bewahren aber nicht nur das offensichtlich Präsentierte. Sie sind darauf spezialisiert, die verborgenen unbewussten Schätze und Potentiale, aber auch das Unerträgliche zu entdecken und innerlich zu bewahren. Es ist das Abgewehrte – den Patient*innen ist es nicht möglich, es als Teil ihrer selbst wahr- oder anzunehmen.

Der von Wilfred Bion geprägte Fachbegriff dazu lautet Containing und bedeutet, zunächst die Äußerungen und Projektionen der Patient*innen in sich zu bewahren. Anschließend geht es darum, das für die Patient*innen Unerträgliche innerlich in etwas Erträgliches zu verwandeln. Im Therapeutenjargon heißt das auch: »Das muss ich jetzt erst mal verdauen.« Dieser Schritt kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Abschließend wird der Teil, von welchem die Patient*innen therapeutischen Nutzen haben könnten, zurückgegeben. Dieses Prozedere ist eine grundlegende therapeutische Haltung und bildet gleichzeitig eine wichtige Grundlage für das Durcharbeiten der Konflikte in der Therapiebeziehung.

Das Durcharbeiten in der Therapiebeziehung gestaltete sich mit der oben genannten Patientin mit immer wieder auftauchenden Abbruchwünschen folgendermaßen:

Mein pünktliches Beenden der Sitzung aktivierte bei ihr das Gefühl des Abgelehnt-Seins. Dieses Gefühl war für sie das Unerträgliche, sie versuchte sich dem Gefühl des Abgelehnt-Seins zu entledigen, indem sie es auf mich projizierte. So drehte sie den Spieß um und lehnte mich als ihre Therapeutin wütend ab.

Aufgrund der dramatischen Emotionalität kann es an dieser Stelle leicht zurprojektiven Identifikationkommen: Der*die Therapeut*in identifiziert sich mit der Projektion,er*sie wird also aus dem Gefühl des Abgelehnt-Seins selbst zum*zur Ablehner*in. Wenn der*die Psychotherapeut*in dann im Alltagserleben haften bleibt, wird er*sie die Ablehnung gekränkt zurückgeben und die Therapie ebenso spontan abbrechen.