Fahnenflüchtig in Wien - Sophia Benedict - E-Book

Fahnenflüchtig in Wien E-Book

Sophia Benedict

4,9

Beschreibung

Der Krieg hat einen langen Arm. Im Zentrum der dramatischen Erzählung stehen die Schicksale von zwei jungen Männern - einem Tschetschenen und einem Russen, beide Deserteure wider Willen. Nahe der Frontlinie treffen sie im Wald aufeinander - einer von ihnen braucht Hilfe, der andere bringt es nicht übers Herz, einen Menschen in der Not allein zu lassen. So bahnt sich zwischen den beiden Feinden eine Freundschaft an. Gemeinsam fliehen sie ins Ausland, aber das Grauen des Krieges verfolgt sie bis ans Ziel ihrer Flucht. Die Freundschaft hilft ihnen zu überleben. Die Autorin erklärt, dass jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen rein zufällig ist.

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Nur die Toten haben

das Ende des Krieges gesehen. (Plato)

Der Krieg hat einen langen Arm. Noch lange, nachdem

er vorbei ist, holt er sich

seine Opfer. (Martin Kessel)

Handelnde Personen

Ivan, Russe, 19 Jahre

Ahmed, Tschetschene, 19 Jahre

Kadyr, Tschetschene, 20 Jahre

Bacha, Tschetschene, über 40 Jahre

Mikola, Ukrainer, 19 Jahre

Dmitrij, Weißrusse, 25 Jahre

Vazha, Georgier, 30 Jahre

Farchad, Afghane, über 20 Jahre

Sevar, Afghane, über 20 Jahre

Horsched, Iraner, ca. 40 Jahre

Omid, Iraner, ca. 40 Jahre

Jana, Moldawien, 18 Jahre

Mila, Russin, 16 Jahre

Salima, Tschetschenin, ca. 30 Jahre

Liya, Tschetschenin, ca. 30 Jahre

Anusch, Armenierin, ca. 35 Jahre

Schagane, Armenierin, ca. 30 Jahre

Lyudmila, Ukrainerin, ca. 20 Jahre

Katrin, Österreicherin [Sozialarbeiterin]

Geigenspieler, über 60 Jahre

Günter, Österreicher [Leiter des Flüchtlingsheims]

Gefängniswärter

Polizisten

Burschen und Mädchen im Dorf

Tschetschenische Kämpfer

Russische Soldaten

Flüchtlinge

Ein kleines Mädchen

Passanten

VORWORT

Es kommt selten vor, dass ich einen Text in einem Zug durchlese. Hier war es so.

Unterschiedliche Schicksale, Menschen, die auf engem Raum zusammengewürfelt, Individuen bleiben wollen, eine neue Heimat, einen Fixpunkt suchen, auf dem sie überleben und leben können. Menschen, die ihre Heimat, ihre Familie verlassen mussten, gezwungen durch Krieg oder andere bittere Gründe, sprechen zu uns von ihren Träumen, Hoffnungen, Wünschen, und, ja, auch ihrem Hass. Beziehungen, die entstehen, sich verflechten und wieder auseinandergehen, schildert die Autorin in einfacher, jedoch eindringlicher Sprache. Ein Bild wird uns gezeigt, ein Puzzle von Gefühlen, das entsteht, um am Ende wieder in einer ungewissen Zukunft auseinanderzufallen. Was wir daraus mitnehmen könnten, ist die Erkenntnis, dass Menschen, so verschieden sie sein mögen, eines immer gemeinsam ist: die Hoffnung auf Zukunft, Freundschaft, Liebe und Treue. Aus welchen Ecken der Welt sie kommen mögen, ein Lächeln bleibt ein Lächeln und eine kleine Geste kann viel bewirken. Sophia Benedict bringt uns in ihrem Buch zum Nachdenken darüber, was im Leben wirklich zählt, worauf wir uns konzentrieren sollten. Gerade jetzt, wo so viele Menschen aus anderen Kulturen und unterschiedlichen Teilen der Welt, die im Krieg versinken, zu uns flüchten, um ihr nacktes Leben zu retten und darauf hoffen, dass ihnen Zuflucht und Hilfe gewährt wird, ein Text, der uns helfen könnte, den Fremden mit anderen Augen zu erkennen: als unser Spiegelbild in zerschlagenem, zersplittertem Glas.

Magdalena Tschurlovits

Wien. Eine Zelle mit sechs Stockbetten im Schubhaftgefängnis. In der Zelle befinden sich zwei Afghanen, ein Ukrainer, ein Weißrusse, ein Georgier, drei Tschetschenen, zwei Iraner und ein Russe. Einige liegen auf ihren Betten, andere sitzen am Tisch. Die Afghanen Farchad und Sevar, beide jung und gutaussehend, sitzen auf dem Boden mit dem Rücken zum Heizkörper. Der Ukrainer Mikola spielt Gitarre.

„Kennst du vielleicht auch unsere Lieder?“, sagt Farchad.

„Eure Lieder? Nein. Wo hast du Russisch gelernt?“ fragt Mikola.

„Ich habe ein Jahr lang in Russland gelebt. Ich kann viele Sprachen.“

„Sing und ich versuche die Melodie zu finden.“

Farchad beginnt leise zu singen. Sevar stimmt ein, zuerst nur die Melodie, dann auch die Worte. Das Lied klingt traurig und monoton. Sie singen immer lauter, es kommen auch fröhlichere Töne. Mikola findet die passende Begleitung sehr schnell. Man hört, dass er ein begabter Musiker ist. Das Lied ist sehr lang.

Schließlich hält es einer der Tschetschenen nicht mehr aus.

„Haltet die Klappe! Ihr beide!“, schreit Kadyr.

Die Sänger verstummen. Betretenes Schweigen. Farchad steht langsam auf und macht einen Schritt auf Kadyr zu.

„Was hast du gesagt?“, fragt er in drohendem Tonfall.

„Ich hab gesagt, haltet endlich eure verdammte Klappe! Euer Gesang steht mir schon hier!“, schreit Kadyr, fährt mit der Hand quer über seinen Hals und steht auf. Die beiden stehen sich in aggressiver Körperhaltung gegenüber und schauen einander direkt in die Augen.

„Lass das, Kadyr!“, sagt Ahmed.

Im selben Moment gehen Farchad und Kadyr aufeinander los. Der Afghane versucht, den Tschetschenen in den Clinch zu nehmen, er ist stärker und gut trainiert. Alle außer Horsched und Omid stehen auf und schauen den beiden schweigend zu. Die Körperhaltung von Sevar und Ahmed zeigt, dass sie bereit sind, ihrem Kameraden Farchad zu Hilfe zu kommen.

Dann stehen auch die Iraner langsam auf. Sie sind älter als alle anderen und tragen Bärte. Sie stellen sich zwischen Farchad und Kadyr. Omid sagt etwas in seiner Sprache, mit leiser aber sehr harter Stimme. Es klingt so, als ob ein strenger Lehrer einem Schüler die Leviten liest. Farchad und Kadyr verstehen zwar nicht, was er sagt, aber sie erkennen sehr gut, worum es geht. Ungern beugen sie sich der Autorität des Älteren. Etwas verlegen blicken sie zur Seite. Man sieht, dass die beiden immer noch sehr wütend sind. Trotzdem gehen sie auseinander.

„Kadyr, lass das. Lass sie singen. Das stört ja niemanden“, sagt Ahmed leise.

„Gefällt dir das Lied nicht?“ fragt Dmitrij.

„Das Lied spielt keine Rolle. Ich will einfach nicht, dass sie singen“, antwortet Kadyr.

Dmitrij setzt sich neben Mikola und sagt:

„Hör zu! Weißt du zufällig, warum die Afghanen mit den Tschetschenen verfeindet sind?“

„Entschuldige, Dim“, sagt Mikola, „das ist mir scheißegal! Ich bin Musiker! Ich mag alle, die Musik mögen!“

„Warum bist du nach Österreich gekommen?

Mikola greift in die Saiten und sagt, eine Grimasse schneidend:

„Warum, warum…“

„Ich zum Beispiel wegen dem Lukashenko. Und Du? Hast du auch Probleme zuhause?“

„Entschuldige, ich scheiße auf die Politik. Auch auf diesen Tschetschenen da und auf den Afghanen. Ich hab‘ doch gesagt, ich bin Musiker! Mich interessiert nur die Musik!“

Mikola spielt auf der Gitarre eine elegante Passage.

***

Kärntnerstraße. Fußgängerzone. Die Geschäfte sind noch geöffnet. Gut gekleidete Menschen flanieren die Straße entlang. Bei Anbruch der Dämmerung sammeln die Straßenmaler ihre Habseligkeiten zusammen und die Musiker nehmen ihre Plätze ein. Aus verschiedenen Richtungen wehen unterschiedliche Melodien herüber.

Mikola findet einen Platz. Er schließt seinen tragbaren Verstärker an die Gitarre an. Der geöffnete Gitarrenkoffer bleibt auf dem Boden liegen. Er beginnt die Gitarre zu stimmen.

Ein Mann mit einer Geige kommt auf ihn zu.

„Du wieder hier…“, sagt der Geigenspieler.

„Ja, wo soll ich denn sonst sein?“

„Du und ich, wir kommen aus demselben Land. Ich sehe, dass dich auch das Heimweh plagt.“

„Was soll das, diese Sehnsucht? Geht es dir schlecht in Wien? Du hast doch schon längst die Staatsbürgerschaft…“

„Habe ich. Warum? Es geht mir gut. Ich bin froh in Wien zu sein.“

„Übertreib nicht! Würde es dir gut gehen, würdest du nicht abends auf der Straße spielen.“

„Früher dachte ich auch so. Ich träumte davon, im Konzerthaus aufzutreten. Später habe ich verstanden, dass die Freiheit wichtiger ist. Wie viel verdienst du an einem Abend? Ich komme auf fünfzig, sechzig Euro pro Abend. Dazu noch meine Pension. Ist das nicht besser, als in einem Orchester den ganzen Abend irgendwo hinten zu stehen, und ein bescheuerter Dirigent macht mit dir, was er will? Oder jeden Tag neue Aufträge suchen? Wäre das wirklich besser? So aber, wenn mich wer anruft, kann ich auf einer Hochzeit oder auf einer Bar-Mizwa spielen. Ich entscheide selbst. Ich werde gebeten, ich muss mich nicht selber verkaufen. Ich weiß, dass ich hier draußen immer was verdienen werde. Ruhm und Erfolg… na ja…“

„Ich brauch‘ aber Erfolg“, sagt Mikola, ein wenig beleidigt.

„Als ich jung war, dachte ich genauso. Wenn du wüsstest, auf welchen Bühnen ich gespielt hab‘! Ich dachte, wenn ich nach Wien komme, werden mich alle haben wollen… Tja…“ Er schweigt eine Weile und setzt dann fort: „Statt dessen hab‘ ich meine Kinder ausbilden lassen. Alle beide! Sie sind mein Ruhm. Der Sohn hat gestern erst einen Wettbewerb gewonnen!“

„Dein Sohn ist ein Glückspilz. Ich freue mich für euch beide“, sagt Mikola teilnahmslos.

„Und du spielst Gitarre…“

In der Stimme des Geigenspielers schwingt Mitleid mit.

„Ich bin mit der Gitarre hierher gekommen. Ich spiele auch Posaune, Schlagzeug und andere Instrumente. Ich bin ein Orchester-Mann, verstehst du?“, sagt Mikola, er ist gekränkt.

Der Geigenspieler antwortet misstrauisch:

„Ja, ich verstehe. Gut! Ich werde dich nicht mehr stören. Man sieht sich… Ach, übrigens…“

„Was noch?

„Ich wollte nur fragen, hast du schon deine Bewilligung für Straßenkunst vom Magistrat abgeholt?“

„Was für eine Bewilligung?“

„Weiß du das nicht? Man braucht eine Bewilligung, um hier spielen zu dürfen…“

Der Geigenspieler geht weg. Inzwischen hat Mikola seine Gitarre gestimmt und beginnt zu spielen.

Passanten bleiben stehen. Bald bildet sich um ihn eine große Gruppe von Zuhörern. Kleingeld fällt in den Koffer. Von Zeit zu Zeit blitzt eine Fotokamera.

Mikola sieht sein Publikum nicht mehr, er ist in seine Musik vertieft. Sein Gesicht ist eingerahmt von langen, hellen Haaren, es ist schön und strahlt Begeisterung aus. Er spielt zuerst eine Barkarole. Dann singt er das ukrainische Lied

, Ich schaue in den Himmel ‘:

Ich schaue in den Himmel und bedauere, dass ich kein Falke bin, dass ich nicht fliegen kann. Warum, lieber Gott, hast Du mir keine Flügel gegeben? Ich hätte dann die Erde verlassen und wäre in den Himmel geflogen, um mein Glück zu suchen. Ich hätte bei der Sonne und den Sternen nach Zärtlichkeit gesucht. In ihrem hellen Licht wär ich in meiner Seelennot versunken. Weil ich keine Liebe im Leben finde, ich bin nur ein Tagelöhner, ein dahergelaufener Bursche. Ein Fremder überall. Wer liebt schon fremde Kinder?

Seine Stimme klingt einmalig schön. Die Umstehenden hören wie verzaubert zu.

Es kommen zwei Polizisten. Mikola sieht sie nicht, er singt weiter. Die Polizisten bleiben stehen und hören auch zu. Man sieht, dass auch sie von dem Lied berührt sind. Als das Lied zu Ende ist, treten die Polizisten näher an Mikola heran.

„Bitte, Ihren Ausweis und Ihre Bewilligung!“

Mikola antwortet nicht, stattdessen beginnt er seine Sachen einzusammeln.

Die Polizisten führen ihn ab.

***

Wir sind wieder in der Zelle des Schubhaftgefängnisses.

„Verstehst du, ich bin hierher gekommen, um Geld zu verdienen. Ich will meine eigenen CDs herausbringen. Irgendwie muss man sich durchsetzen in diesem Leben. Nicht wahr? In der Ukraine, du weißt ja selbst, jetzt…“, sagt Mikola ohne den Satz zu beenden.

„In Weißrussland ist es auch nicht viel besser. Deshalb bin ich in diese Geschichte hineingeraten“, antwortet Dmitrij.

„Was für eine Geschichte?“

„Ich bin ein Bürgerrechter. Ich war auf Kundgebungen. Friedlichen Kundgebungen. Die Polizei hat dann begonnen, mir irgendwelche kriminellen Sachen zu unterstellen. Ich bin aber kein Verbrecher!“

„Das sagen alle“, murmelt Mikola misstrauisch.

„Glaubst du mir nicht? Ich schwör es, ich lüge nicht. Ihr Ukrainer mögt einfach die Weißrussen nicht, deshalb glaubst du mir nicht. Alle Ukrainer mögen die Weißrussen nicht!“

„So ein Blödsinn! Ich hab doch gesagt, mir ist die Politik scheißegal. Und die Weißrussen übrigens auch.“

„Warum glaubst du mir dann nicht?“

„Ich glaube dir. Natürlich glaube ich dir. Sie sind mir aber egal, dieser Lukaschenko, oder Juschtschenko, oder sonst wer! Verstehst du? Sie zerfleischen sich gegenseitig für die Macht, und das Volk bleibt hungrig, so wie immer. Du weißt ja selber, die Herren raufen, aber die Köpfe rollen bei den Untertanen.“

„Wenn alle so denken wie du…“

Ivan mischt sich in ihr Gespräch ein:

„Lasst das, Kinder! Die Tschetschenen gehen auf die Afghanen los, die Ukrainer auf die Weißrussen, die Georgier auf die Armenier, und dann noch die Türken auf die Kurden… Seid ihr alle verrückt? Was soll denn das werden?“

Kadyr sagt böse:

„Und du bist wohl ein Heiliger? Du liebst sie alle!“

Kadyr schaut Ivan an mit einem langen Blick. Dann wendet er sich hasserfüllt ab.

„Soll ich dir das glauben, dass du alle magst?“, sagt Vazha. Als Georgier fühlt er sich auch beleidigt.

Ivan antwortet etwas bestürzt:

„Also, ich mag … Warum … Ich mag auch nicht alle. Na, zum Beispiel, diese…, na, wie heißen die? Ah ja, die Papua von der… Osterinsel, ich denke so heißt sie, also, die mag ich wirklich nicht!“

Überrascht drehen alle ihre Köpfe zu Ivan.

„Hast du jemals einen gesehen?“ fragt Dmitrij ganz ernst.

„Nein, Dim, ich habe nie einen getroffen, ich mag sie aber trotzdem nicht!“

„Und warum bitte?“

„Also, warum … weil sie…“