Wenn man zu lange auf den Ozean schaut - Sophia Benedict - E-Book

Wenn man zu lange auf den Ozean schaut E-Book

Sophia Benedict

4,8

Beschreibung

Wie ist eine russische Frau in der Liebe? Was ist Liebe für eine „typische“ Russin, die auch tatarische Wurzeln hat? Wie ein loses Blatt im Herbstwind taumelt Frida von Mann zu Mann, von einem Land ins nächste – von der russischen Pazifikküste nach Lissabon, wo sie schließlich ihre große Liebe findet. Das glaubt sie zumindest. Dieser Roman ist eine packende west-östliche Kulturgeschichte der Liebe – mit authentischen Charakteren und vielen individuellen Facetten. Spannend wie ein guter Krimi, steht er in der besten Tradition des Genres und reiht sich damit ein in Werke bedeutender Autoren wie Honore de Balzac oder Ivan Turgenev.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 448

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für R.M., deren Schicksal die Autorin zu diesem Roman bewogen hat

VORWORT

Da ich immer wieder von Lesern gefragt werde, ob mein Roman autobiographisch sei, muss ich dieser neuen Auflage ein Vorwort hinzufügen. Die Ich-Perspektive war bei Schriftstellern aller Zeiten sehr beliebt.

Auch ich verwende sie gern. Oft, sogar wenn meine Protagonisten Männer sind, schreibe ich in der Ich-Perspektive, weil diese narrative Art des Erzählens eine besondere emotionale Nähe zu meinem Leser aufbaut.

Also, suchen Sie bitte bei der Ich-Erzählerin dieses Romans keine Hinweise auf die Biographie der Autorin – sie gibt es nicht. Auch wenn – nach der Behauptung des großen Österreichers Freud –, alles, was wir tun, in der einen oder anderen Form unsere Persönlichkeit spiegelt.

Inhalt:

Teil 1 L’HOMME FATAL

Eifersucht

Wir kommen aus der Kindheit

Der Majestätische

Wieder Gefangenschaft

Treibeis

Das Goldene Horn

Teil 2 IN DER UMARMUNG MOSKAUS

Sokolniki

Leo

Odessa

Laubfall

Der Plan

Liebe ohne Liebe

Richard

Der Pelzmantel

Ich heirate

Teil 3 DIEGO

Tango

Beerdigung

Die Rückkehr der Schmetterlinge

Die Scheinehe

Mutter

Abschied von Moskau

Lissabon

Die Reise

Ich will tanzen

Die zwei Leben des

Korsaren

Maria

Kokain

Die Flucht

Paris – das Ende des Weges

EPILOG

TEIL 1

L´HOMME FATAL

Ein Tropfen Blut ist eine ganze Welt mit einer Sonne in der Mitte… Das Meer ist ein Tropfen Blut, ein winziger Teil deines Körpers.

Edvard Munch

Eifersucht

Man sagt, starke Männer lieben schwache Frauen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Pawluscha wollte anscheinend auf mich aufpassen. Er sagte, ich sei schwach und nicht klug und lebenstüchtig genug, und würde ohne ihn zugrunde gehen. Ich stritt nicht mit ihm. Ich streite überhaupt nie, ich habe nicht das Verlangen, jemandem etwas beizubringen. Außerdem habe ich keine Überzeugungen, für die sich ein Streit lohnen würde.

Mitja1 sagte, jeder habe Überzeugungen, aber nicht jeder verspüre das Bedürfnis, sie wie eine Fahne vor sich her zu tragen. Er meinte, dass ich aus Klugheit nie stritt. Klugheit, sagte er, sei wichtiger als Verstand, man könne sie nicht erwerben, sie sei angeboren wie die Schönheit.

Von Klugheit verstehe ich nichts, was aber die Schönheit betrifft, so irrte Mitja. Erstens ist Schönheit Geschmackssache, und zweitens kann sich sogar eine hässliche Frau schön herrichten. Zumindest sah ich das so. Ob das wichtig war? Wichtig war nur, dass ich da war und dass Pawlik da war. Mitja war auch da, und für uns alle schien die liebe Sonne.

Für alle anderen war er Pawel Semjonowitsch.

Pawluscha konnte es nicht leiden, wenn ich ihn Pawlik nannte. Der Kosename Pawluscha hingegen gefiel ihm und passte auch gut zu ihm. Ich wusste, wie zärtlich dieser Riese sein konnte. In solchen Minuten flüsterte ich ihm ins Ohr: „Mein Kapitän…“, dann ging seine Zärtlichkeit in Leidenschaft über. Er spürte seine Kraft gerne. Ich spürte auch gerne Kraft, seine Kraft, die Kraft eines Mannes, und seine Macht über mich. Ich brauche das. Erst dann bin ich glücklich.

Ich hätte gerne gewusst, ob er zu allen so war. Zu allen Frauen. Nein, das war egal! Ich bin nicht eifersüchtig. Ich glaube nicht, dass ich eifersüchtig bin. Und ich verstehe diesen Othello nicht, wieso hat er nicht einfach mit Desdemona geredet? Hätte er sie gefragt, ob sie das Tuch, das er ihr geschenkt hatte, verlor, wäre alles anders gekommen. Stattdessen machte er ihr eine Szene – das Tuch, wo denn das Tuch sei! Als ob das wirklich ein Beweis für ihre Untreue gewesen wäre! Arme Desdemona… Vielleicht sind Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise eifersüchtig?

Ich lag faul in der Sonne, war sogar eingenickt und von einem leisen Geräusch wieder aufgewacht. Mitja saß an der Reling, hielt meine Angel und schaute mich an. Seine Augen waren blau wie der Himmel über dem Pazifik, sie strahlten Wärme aus. Mitja war blond und braungebrannt, er war sehr jung, jünger als ich. Er und Pawluscha sahen einander ähnlich wie Brüder, allerdings war Mitja kleiner und weniger sportlich.

„Was ist los? Hypnotisierst du mich?“

„Ich, nein! Ich habe einfach gesehen, dass du eingeschlafen bist und die Angel dalag. Schau, es beißt einer an!“

Der Schwimmer bewegte sich wirklich. Mitja zog abrupt die Angel zu sich. Ein silbernes Fischlein fiel auf das Deck.

„Wie lange werden wir noch hier liegen?“, fragte ich.

„Wahrscheinlich noch ein paar Stunden. Dann fahren wir in den Hafen ein. Eine Woche an Land, dann wieder fischen… Hast du von diesem Fischen nicht schon die Nase voll, wozu brauchst du noch eine Angel?“, sagte er, schaute vor sich hin und fügte traurig hinzu, „Du weißt, ich werde das Schiff verlassen. Ich fahre nicht mehr zur See.“

„Was wirst du dann machen?“

„Kunst studieren. Ich gehe zurück nach Moskau.“

„Ach ja, du kommst aus Moskau, das hätte ich fast vergessen. Glaubst du, dass du an der Kunsthochschule aufgenommen wirst?“

„Na sicher! Ich habe Talent.“

„Ja, das weiß ich! Ich hoffe, es ist größer als deine Frechheit“, lachte ich.

Mitja schaute mich gekränkt an.

„Wenn du mir nicht glaubst, schau selber.“ Er reichte mir sein Album, das er immer griffbereit hatte.

Auf der Zeichnung sah ich mich auf dem Deck liegen, die Wolken liebkosten mich. Ein Bild der Glückseligkeit. Ich fing an im Album zu blättern. Auf jedem Blatt war ich. Das war schmeichelhaft, aber auch irgendwie unheimlich.

„Warum machst du das, Mitja?“

„Du weißt selbst, warum“, sagte er leise und schaute auf die Bucht, wo sich auf den Hügeln die Stadt ausbreitete.

Vor einem Jahr hatte Pawluscha mich nach Wladiwostok mitgenommen. Die Stadt selbst bekam ich aber kaum zu Gesicht. Er nahm mich immer mit auf seine Seefahrten – und er trug mich sogar als Hilfskraft des Schiffskochs ein. Die Küche, pardon, die Kombüse, betrat ich aber nie, dort machten alles seine Burschen. Sie mochten mich. Sie waren auch von meinem Alter gerührt, sie sagten, ich sei zu jung und zu dünn, um die Kessel zu schleppen. Anscheinend verwöhnten sie mich auch recht gern. Oder wollten sie ihrem Kapitän imponieren? Mit seinen Matrosen war er gar nicht zimperlich, trotzdem mochten sie ihn. Obwohl sie ihn auch fürchteten. Er verteidigte ihre Löhne, war aber ansonsten ein richtiger Despot. Wie ein Vater, der beschützte und bestrafte. Sie verziehen ihm alles. Wie Kinder ihrem Vater. Obwohl er noch recht jung war.

Mitja schwieg weiter. Ich blätterte das Album durch. Plötzlich spürte ich einen Schatten auf mich zukommen.

„Was hast du da?“, fragte Pawluscha und streckte seine Hand nach dem Album aus.

Ich sprang auf und verbarg das Album hinter meinem Rücken.

„Zeig her!“, befahl Pawluscha.

Ich hielt das Album fest und zeigte ihm eine Zeichnung. Sein Mundwinkel verzog sich nervös nach oben.

„Ist das vielleicht von dir?“, fragte er Mitja und riss mir das Album aus der Hand.

Er war wütend, vor diesen Augenblicken fürchtete sogar ich mich.

„Es gehört mir“, sagte Mitja ruhig und stand auf. Er hatte anscheinend keine Angst.

„Na, du Ajwasowskij, kannst du auch etwas anderes zeichnen als die Frauen anderer Männer?“

„Ich bin kein Ajwasowskij, ich bin Repin2“, parierte Mitja ruhig.

Pawluscha hob seine Hand und wollte das Album über Bord werfen, aber ich riss es ihm aus der Hand. Gerade noch rechtzeitig! Sonst hätten die Fische meine Porträts bewundert, aber die verstanden von Kunst noch weniger als Pawluscha.

„Wir sind nicht verheiratet“, zischte ich und drückte das Album mit beiden Händen an meine Brust.

„Sei still!“, befahl Pawluscha so gutmütig als sei ich ein Kind.

Er ärgerte sich fast nie über mich, er nahm mich einfach nicht ernst, wenn er mit mir sprach, verschwand die Bosheit aus seiner Stimme.

Er wandte sich wieder an Mitja:

„Ajwasowskij, du hast schon verstanden, was ich gesagt habe. Zeichne das Meer oder hör überhaupt auf, etwas auf das Papier zu schmieren.“

„Ja gut, mein Kapitän, ärgere dich nicht, ich bin eben einfach so“, sagte Mitja in demselben ruhigen Ton, „es gibt keine anderen Frauen auf dem Schiff, also zeichne ich sie…“

Mitjas Antwort gefiel Pawluscha nicht, er trat auf ihn zu, packte ihn leicht und warf ihn über Bord.

„Hast du den Verstand verloren?“, schrie ich und trommelte mit meinen Fäusten auf Pawluschas Brust. „Er wird sterben! Du weißt, am dritten Tag kommt das Grundwasser nach oben!“

Das bedeutet, dass das Wasser sehr kalt ist, man kann nur wenige Minuten darin überleben. Pawluscha lächelte nur, er versuchte nicht einmal mir auszuweichen, dann packte ich ihn an den Haaren. Er nahm meine beiden Hände in eine seiner riesigen Pranken, packte mich am Arm und zog mich die Treppe nach unten. Währenddessen hörte ich einen lauten Schrei: „Mann über Bord!“

Pawluscha trug mich in die Kabine und ließ mich auf das breite Kapitänsbett fallen, dann ging er hinaus und schloss die Tür ab. Ich warf mich dagegen, verstand aber bald, dass es sinnlos war. Ich war gefangen.

Ich legte mich auf das Bett und weinte.

Es reichte! Ich hatte dieses Schiff satt! Ich hatte dieses Meer satt! Ich hatte es satt, monatelang dieselben Menschen vor Augen zu haben, und schließlich hatte ich das Faulenzen satt! Ich wollte nicht, dass man mich wie ein dummes Kind behandelte!

Ehrlich gesagt, zunächst hatte es mir ja gefallen, von Pawluscha beschützt zu werden, aber das war zu viel! Er dachte, wenn er sich um mich sorgte, musste ich alles machen, was er sagte. Ohne ihn konnte ich gar nichts unternehmen, nicht einmal einkaufen gehen. Er kaufte mir alles. In einer Hafenstadt kann man auch alles kaufen. Geld spielte für ihn keine Rolle. Aber wann sollte ich meine wunderschönen Kleider tragen? Sie blieben im Schrank hängen. Ich wollte diese Kleider nicht!

Ich lauschte und bekam mit, dass Mitja wieder an Bord war, seine Stimme zu hören wirkte beruhigend. Das Album behielt ich, es hatte ein wenig gelitten, aber wenn ich es unter die Matratze legte, würde es wieder glatt werden.

Ich war schön auf Mitjas Zeichnungen. Ich weiß nicht, ob ich etwas von Kunst oder von Schönheit verstehe, aber auf seinen Zeichnungen gefiel ich mir. Besonders auf der mit dem riesigen Apfel in der Hand…

Ich komme aus der Kindheit

Jemand hat gesagt, dass wir alle aus der Kindheit kommen.

An meine Mutter erinnere ich mich nicht. Sie hat mich und meinen Vater verlassen, als ich noch ein Baby war. Danach lebte ich bei meinem Vater, seinen Eltern und seinen jüngeren Brüdern, also in einer richtig großen Familie, wie es sie heute nur noch auf dem Land gibt. In den Städten sind die Häuser groß, die Familien aber, die darin leben, sind klein.

Über meine Mutter will ich nicht richten, sie wurde mit meinem Vater zwangsverheiratet. Ihre Eltern hatten die Ehe arrangiert. Wie in alten Zeiten. Und meine Mutter wagte nicht nein zu sagen. Wir sind keine Russen, wir sind Tataren, bei uns werden die Kinder streng erzogen. Meine Mutter war damals viel zu jung. Das Schlimmste war aber, dass sie bereits einen anderen liebte. Man sagte ihr: Das macht nichts, die richtige Liebe ist die, die du für deine Kinder empfindest, dann wirst du alles andere vergessen, weil die Liebe zum Kind das einzig Wahre ist. Mein Vater liebte sie sehr, aber als er sah, dass sie zutiefst unglücklich war, wurde er auch unglücklich und bedauerte, dass er nicht auf sie gehört und auf die Ehe verzichtet hatte.

Es war nicht mein Schicksal, Mamas größte Liebe zu werden. Als ich geboren wurde, weinte sie viel. Meine Großmutter hasste sie dafür.

Der junge Mann, den sie liebte, liebte sie auch. Meine Mutter war so schön, dass er sie nie vergessen konnte. An ihrem Hochzeitstag betrank er sich vor Kummer und baute mit seinem Auto einen Unfall. Er lag lange im Krankenhaus. Als er wieder auf den Beinen war, kam er immer wieder in unser Dorf, nur um seine Liebste zu sehen. Die Drohungen meines Vaters und seiner Brüder und sogar die Warnungen des Polizeiinspektors blieben wirkungslos. Dann lauerte er meiner Mutter auf, zerrte sie vor den Augen der Nachbarn ins Auto und fuhr mit ihr weg. Sie wehrte sich und weinte, aber wahrscheinlich nicht entschlossen genug, sonst hätte er es kaum geschafft, sie zu entführen. Meine Mutter kam nie mehr zurück. Auf dem Land herrschen strenge Sitten. Der Vater suchte sie, ihm war das egal. Er wäre bereit gewesen, sie zurückzunehmen und an einen Ort zu bringen, wo uns keiner kannte. Doch der andere Mann hatte meine Mutter zu sich genommen. Sie zogen nach Mittelasien. Zurück an die Wolga kamen sie erst zehn Jahre später, als sie bereits zwei Kinder hatten. Meine Mutter wurde inzwischen Grundschullehrerin. Das war alles, was ich von ihr wusste. Wo sie mittlerweile war, wusste ich nicht.

Mein Vater liebte mich sehr, er nahm mich oft zur Arbeit mit. Er war Elektriker und kletterte mithilfe riesiger eiserner Krallen, die man aus irgendeinem Grund Katzen nennt, auf die Masten. Mir brachte er auch das Baumkraxeln bei, ich aber saß lieber einfach da und flocht Feldblumenkränze. Während er auf dem Mast werkte, sang er mir die schönen tatarischen Lieder vor, und wenn er mit der Arbeit fertig war, gingen wir ins Geschäft, wo er mir Karamellen und diese langen Bonbons mit den bunten, spiralig gedrehten Streifen kaufte. Sie waren sehr schön. Es ist so wunderbar, wenn etwas gleichzeitig süß und schön ist!

Sonntags ging mein Vater mit mir ins Kino oder wir fuhren in die Stadt in den Lunapark, wo ich Karussell fuhr. Wir besuchten auch Papas Schwester oder fuhren zusammen mit ihrer Familie und ihren Freunden an die Wolga. Die Erwachsenen bereiteten Schaschliks und die Kinder spielten, liefen herum und machten Lärm. An solchen Tagen war niemand unzufrieden, und die Kinder durften laut sein.

Papas Schwester lebte mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Kasan3. Meine Tante versuchte meinen Vater zu überreden, mich bei ihr zu lassen, aber mein Vater war nicht einverstanden. Alle Verwandten wollten, dass er endlich wieder heirate, aber er hatte nur mich gern und wollte nichts von einer anderen Frau wissen. Die Großeltern fanden sogar eine neue Braut für ihn. Sie sagten, ein Mann dürfe nicht alleine leben. Das ärgerte meinen Vater. Einmal schrie er sie sogar an:

„Wenn ich heiraten will, suche ich mir selber eine Frau! Danke schön, einmal habe ich bereits auf euch gehört! Man muss jemanden heiraten, den man liebt. Mit Vernunft kauft man eine Kuh, aber Liebe einer Ehefrau kann man nicht kaufen!“

Anscheinend weinte er, dann ging er auf die Felder. Ich trippelte ihm nach und fragte mich, ob es nicht reichte, dass er mich hatte, dass ich ihn liebte, er war doch nicht alleine, wir waren zu zweit, er brauchte keine andere Frau… Das sagte ich ihm auch, er streichelte mir über die Haare und sagte:

„Faridchen, dich, mein süßes Mädchen, liebe ich über alles. Ich habe so ein wunderbares Töchterchen, wozu würde ich noch eine Frau brauchen?“

„Und wenn Mutti zurückkommt?“, fragte ich, „würdest du sie brauchen?“

„Wenn Mutti…“

Er vermisste sie so sehr. Ich auch, obwohl ich mich gar nicht an sie erinnern konnte.

Und dann einmal war mein Vater nach einem Gespräch mit Großvater sehr verärgert, sie stritten im Vorraum, wonach Vater die Tür zuknallte und arbeiten ging. Es regnete. Bei so einem Wetter darf man nicht auf einem Mast arbeiten.

Man fand ihn bewusstlos. Die Großeltern fuhren ins Krankenhaus und kamen verheult zurück. Warum, warum hatten sie mich nicht mitgenommen?! Warum hatten sie mich nicht meinen Vater ein letztes Mal sehen lassen? Wenn diese Erinnerungen kommen, möchte ich vor lauter Schmerz heulen. Die Bitterkeit einer großen Liebe.

Liebe ist aber immer ein großes Glück, selbst dann, wenn sie bitter ist… Ich versuche die Bitterkeit in eine ferne Ecke meines Gedächtnisses zu schieben. Ich wollte mich nur an das Gute erinnern. An Papas Liebe.

Meine Liebe zu meiner Mutter ist auch sehr bitter. An meine Mutter konnte ich mich nicht erinnern, es war, als ob sie auch tot wäre…

Nach Vaters Ableben schickte mich meine Großmutter zu meiner Tante nach Kasan. Sie sagte, da, wo es bereits zwei Kinder gibt, wird auch ein drittes Platz haben. Meine Tante weinte mit mir, tröstete mich und bat mich sogar um Verzeihung. Ich verstand nicht, wofür. Wahrscheinlich ist das so ein Brauch, weil alle Menschen immer irgendeine Schuld mit sich herumtragen. Tante wollte ein Töchterchen haben, bekam aber zwei Söhne, ein drittes Kind durfte sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr bekommen. Das erzählte sie und fügte hinzu: „So ein Töchterchen wie dich hätte ich gerne.“ Es klang, als sei ich etwas Besonderes. Schwierig, daran zu glauben. Wäre ich wirklich etwas Besonderes gewesen, hätte meine Mutter mich nie verlassen, und mein Vater wäre auch noch da. Wenn ich ihm lieb und teuer gewesen wäre, hätte er nicht im Regen eine Stromleitung repariert. Einen blöden Schaden zu beheben war ihm wichtiger als ich und meine große Liebe! Ich hatte aber niemanden, der mir wichtiger gewesen wäre als mein Vater.

Meine Tante und die anderen Verwandten bedauerten mein Schicksal und nannten mich ein armes Waisenkind. Ich hasste dieses Wort.

In dem Jahr, als mein Vater ums Leben kam, fing für mich die Schule an. Am liebsten hatte ich das Lesen. Mein Vater hatte es mir beigebracht, er hatte mir auch gerne vorgelesen. Wenn ich ein Buch nehme und zu lesen anfange, vergesse ich alles, es ist, als ob man in eine andere Welt eintaucht, wo alles anders ist als im eigenen Leben…

Ich mochte die Schule, die Lehrerin beklagte sich aber, dass ich mich nie richtig anstrengte. Sie sagte, ich sei begabt, hätte aber wenig Ehrgeiz. Ich verstand nicht, warum sie unzufrieden war. Ich hatte doch gute Noten, wozu sollte ich noch besser werden?

Ich war eingenickt. Erwachte, weil das Schiff zitterte. Die Maschinen arbeiteten wieder. Pawluscha kam in die Kabine.

„Mach dich fertig, Kleine, wir sind auf dem Weg in den Hafen!“

Pawluscha war gut aufgelegt. Es war merkwürdig, wie schnell seine Wut verging. Auch wenn es schien, er hätte die Beherrschung verloren, verlor er sie nie ganz. Wahrscheinlich, weil sein Selbstbewusstsein unerschütterlich war, es grenzte an Gleichgültigkeit. Ein anderer wäre an seiner Stelle immer noch verärgert gewesen, an ihm aber perlte der Ärger ab wie Wasser von dem Ganzgefieder, er machte, wonach ihm zumute war, dann beruhigte er sich vollkommen.

Ich stellte mich schlafend. Pawluscha setzte sich auf das Bett und küsste mich leicht hinter dem Ohr. Das war gemein, er wusste, wie das auf mich wirkte!

Ich drehte mich ärgerlich zur Wand, er aber fing an, meinen Hals und meine Schultern zu küssen. Mit ganz kurzen, leichten Küssen. Was sollte ich tun? Er spürte, wie mein Ärger verflog, drehte mich um und drückte seine zarten Lippen auf meine. Da verlor ich meinen Willen, seine Zärtlichkeit ließ mich vergehen. Schnell warf er seine Klamotten auf den Boden, kam unter die Decke, drückte sich mit seinem ganzen großen Körper an mich und tauchte in mich ein. Ich liebte seinen Körper, er brachte mir so viel Freude! Als Pawluscha in meine Tiefe vorgedrungen war, drehte sich alles süß in meinem Kopf, ich stöhnte. Das bittere Gefühl konnte ich aber immer noch nicht loslassen, es störte mich jedoch nicht. Ganz im Gegenteil, es gab dieser wunderbaren Frucht offensichtlich einen besonderen Geschmack, den ich gierig und ungeduldig kostete. Zarte Bitterkeit des reifen Pfirsichs…

Erschöpft lagen wir auf den heißen Laken, die von unserem Schweiß durchtränkt waren, die Welt bestand immer noch nur aus unserer Zärtlichkeit…

„Oh Gott, wie ich dich liebe!“, sagte Pawluscha ganz leise. „Ich verliere den Verstand vor Eifersucht, der Gedanke, dass du mit jemand anderem… Das ist unerträglich!“ Das war seine Art um Verzeihung zu bitten. Pawluscha zog sich wieder an und ging hinaus. Ich grub meinen Kopf in das Kissen und atmete den schönsten aller Gerüche ein, den Geruch gesunden Männerschweißes…

Ich lebte in süßer Gefangenschaft, in einem Zauberkäfig.

„Liebe, lass mich los!“, flehte ich innerlich „Lass mich, meine Liebe, los!“

Der Majestätische

Bevor ich erzähle, wie ich Pawluscha kennenlernte, muss ich doch erzählen, was davor passiert war.

Meine Tante brachte mich in die Stadt, aus der ich dann nie mehr wegzog. Meine Freundinnen fuhren in den Ferien mit ihren Eltern ans Meer oder anderswo hin, ich aber besuchte nur meine Großeltern auf dem Land.

Ich kam gut durch die Schule. „Was willst du weiter machen?“, fragte meine Tante, fragten meine Freunde. Warum muss man unbedingt etwas machen, dachte ich mir. Reichte es denn nicht, einfach zu leben?! Aber man musste etwas machen. Also inskribierte ich an der Uni Philologie. Daneben suchte ich mir einen Job. Ich wollte meinen Pflegeeltern nicht noch weiter zur Last fallen. Sie behandelten mich zwar gut, aber ich konnte nie vergessen, dass sie nicht meine richtigen Eltern waren. Ich wollte ihre Güte nicht ausnutzen.

So quälte ich mich ein halbes Jahr in einem verstaubten Büro, bevor sich ein Job in einem Zeitungskiosk fand. Das war echtes Glück! Noch dazu war der Kiosk in der Nähe der Uni, vor allem aber – es war kein Chef da! Obwohl ich nie mit jemandem streite, ertrage ich es nicht, ständig kontrolliert zu werden. Noch dazu gab es hier ringsherum viel Licht, viel Luft, viele Menschen, viele Gesichter, also mit einem Wort, das war echtes Leben! Wie ein unendlicher Feiertag! Unaufhörlich plauderte ich mit den Kunden – über das Wetter, über die UFOs, die damals in Mode waren, über neue Filme und über verschiedene andere Sachen. Mir gefielen diese unverbindlichen Plaudereien. Es zeigte sich, dass ich anderen Menschen ganz leicht den Kauf völlig unnötiger Dinge einreden konnte, besonders wenn es Männer waren.

Er kam zum Kiosk. Fragte nach ein paar Zeitungen, legte das Geld auf den Ladentisch, erst dann blickte er zu mir hoch. Für einen Moment war er wie erstarrt, als ob er etwas Besonderes gesehen hätte. Dann nahm er das Wechselgeld und ging. Ein paar Minuten später kam er zurück und kaufte noch einige Zeitungen.

Er sah nicht so aus, als ob er die Zeit hätte, sie alle zu lesen. Davon zeugte sein Aussehen – von seinem sicheren Blick bis zum teuren Anzug und dem äußerst gepflegten Äußeren. Er hatte dunkle Augen und schwarzes gelocktes Haar. Seine Haut war schön gebräunt. Das schönste an ihm aber war sein beeindruckendes Profil mit der Adlernase. Ich schätzte sein Alter so gegen vierzig. Er strahlte das Selbstbewusstsein eines reifen Mannes aus.

Der Fremde schaute mich wieder an, sein Blick ließ mein Herz schneller schlagen. In meinem Bauch flatterte plötzlich ein ganzer Schwarm Schmetterlinge. Es war ein ganz neues, ein mir bis dahin unbekanntes Gefühl.

„Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich viel lese“, sagte der Mann, als habe er meine Frage gehört.

Ich fragte nicht, was er für eine Arbeit habe.

Als er wegging, spürte ich etwas wie Trauer, als hätte mich jemand verlassen, der mir bereits sehr teuer war.

Am nächsten Tag stand er wieder vor dem Kiosk.

„Wassilij Alexandrowitsch Steblow“, stellte er sich vor und fügte hinzu: „Für Sie einfach Wassia.“

„Farida“, sagte ich.

„Übersetzt aus dem Tatarischen, wenn ich nicht irre,… 'die Einzige?'“

„Sie irren nicht“, lächelte ich, geschmeichelt von seinen Kenntnissen meiner Muttersprache.

Am selben Abend trafen wir uns im Park.

Später sagte er, meine Unbefangenheit habe sein Herz erobert. Er meinte auch, dass er von meinem tatarischen Namen überrascht gewesen sei, weil ich nicht unbedingt tatarisch aussah. Ich sei auf eine internationale europäische Art schön. Ja, das sagte er, also meinte er, ich sei schön.

Ich weiß nicht, was Wassilij unter internationaler europäischer Schönheit verstand, aber die Wolgatataren sind nicht immer einfach von Russen zu unterscheiden, unser Blut hat sich wahrscheinlich im Laufe der Jahrhunderte häufig vermischt. Wenn ein Mann um ein Mädchen wirbt, sagt er immer, dass es schön ist. Ich habe hellbraunes Haar, meine Augen sind auch hellbraun, meine Nase ist nicht groß und nicht klein, meine Haut eigentlich hell und das Gesicht schmal. Müsste ich einen Fragebogen ausfüllen, würde ich bei „besonderen Merkmalen“ einen Strich machen. Ich habe nichts Besonderes an mir. Ich glaube auch nicht, dass ich besonders hübsch bin, aber hässlich bin ich auch nicht.

Wassilij Alexandrowitschs Beruf war wirklich ungewöhnlich. Er war ein bekannter Kameramann bei Film und Fernsehen. Ein besonderer Beruf macht in den Augen einer Frau aus einem Mann etwas Besonderes.

Er wollte nicht, dass ich ihn Wassilij Alexandrowitsch nannte, ich konnte aber nicht Wassia zu ihm sagen. In der Übersetzung aus dem Griechischen bedeutet Wassilij – der Majestätische. Im russischen Alltag heißen jedoch die Figuren aus den Säuferanekdoten Wassia… Ein solcher Name passte weder zu seinem Alter noch zu seinem Äußeren, seinen Manieren oder seinem Beruf. Ich entschied mich für seinen vollen Namen – Wassilij.

Der Frühlingstag war zart und warm, die Wolga spiegelte den blauen Himmel, das Laub auf den Bäumen war hellgrüngelblich abschattiert, alles glänzte und wurde von zärtlichen Sonnenstrahlen in Gold gehüllt. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, bald würden Rot und Gelb in den Himmel und ins Wasser kommen. Also, die Welt war schön.

Es war Liebe. Liebe auf den ersten Blick.

Ob ich früher schon verliebt gewesen war? Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich mich in einen bekannten Filmstar verliebt. Später gefiel mir ein Junge aus der zehnten Klasse, ich war aber in der sechsten, also bemerkte er mich gar nicht. All das waren unklare Kindergefühle, sie quälten mich, ich verstand nicht, woher sie kamen und was sie bedeuteten.

Dieses neue Gefühl war anders, es verdrehte mir den Kopf, es überflutete mich wie eine Welle einen ermüdenden Schwimmer überschwemmt. Mir kam vor, dieses Gefühl hätte ich schon immer gehabt, es sei aber erst jetzt an die Oberfläche geschwappt. Es lebte in meiner Brust und im ganzen Körper, im Kopf, in den Beinen, im Bauch… Besonders im Bauch, im Unterleib. Dort war es am schlimmsten. Es kroch nach oben zum Sonnengeflecht, dann schien es, als flattere ein winziger Vogel oder ein Schmetterling und schlage gegen die Wände seines engen Käfigs. Wassilij war hier, er war lebendig, ich fühlte die Wärme, die von seinem Körper ausging, ich roch den Geruch seiner Haut, ich hörte seine Stimme. Es kostete mich viel Kraft, mich nicht in seine Umarmung zu stürzen und für immer in ihrem Abgrund zu versinken.

Stattdessen gingen wir, wie es sich gehört, nebeneinander her, und er erzählte mir von seiner Arbeit. Ab und zu nahm er aus seiner Tasche ein Schokoladebonbon und steckte es mir zu. Er fütterte mich, als sei ich ein herrenloser Hund…

„Morgen muss ich für einige Tage zu Dreharbeiten verreisen“, sagte er, bevor wir uns verabschiedeten, „also sehen wir uns in vier Tagen wieder?“

Seine Frage klang wie ein Befehl. Ich nickte.

In jener Nacht träumte ich verworrene Träume, ich wachte auf, erinnerte mich an ihn, und mein Herz stand für einen kurzen Moment still. Ein beängstigendes und süßes Gefühl.

Die drei Tage zogen sich qualvoll, die Freude wurde zum Zweifel, und der Zweifel machte der Hoffnung Platz. Ich wartete auf ein neues Treffen, bereitete mich aber darauf vor, dass niemand auf mich warten würde.

Dann sah ich seine vertraute Gestalt. Wassilij hatte mir ein Sträußlein Maiglöckchen mitgebracht. Seine Lippen berührten ganz leicht meine Lippen. Noch heute erweckt der bittere Maiglöckchenduft in mir das grenzenlose Glücksgefühl, das ich damals empfand. Wir machten einen Spaziergang an der Wolga, dann setzten wir uns auf eine Bank. Vor unseren Augen lag der Fluss in seiner unendlichen Weite, darüber die ganze Bläue des Horizonts. Sinkende Sonne – die talentierte Malerin - ergänzte das Bild mit zartrosa Pinselstrichen. Die Natur tat das Ihre. Die Feinheit der Farben rund um uns und die Feinheit des warmen Windes verschmolzen mit jener Feinheit, die in uns war.

Wassilij sprach mich weder mit Sie noch mit Du an, er sprach mit mir in der dritten Person.

„Wenn Faridchen mich liebgewinnen wird, werde ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein.“

„Sie mag Sie schon jetzt“, antwortete ich so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.

In den rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne ähnelte sein Profil dem eines römischen Eroberers auf einer alten Münze. Vorsichtig fasste er mein Kinn und schaute mir lange in die Augen:

„Wenn Faridchen mir einen Sohn gebiert, werde ich der glücklichste Mensch auf der Erde sein.“

„Und wenn es ein Töchterchen wird?“, flüsterte ich verlegen und glaubte selber nicht, dass ich das sagte.

„Ich werde auch ein Töchterchen sehr gern haben.“

Alles war wie im Märchen. Erst später fiel mir ein, dass mich eine derart seltsame Liebeserklärung hätte hellhörig machen müssen. In mir aber lebte der naive Glaube, dass mir ein gütiger Gott meine bitteren Verluste großzügig entgelten, dass er mich für meine Leiden mit einer großen Liebe belohnen würde. Wenn ich auch durch die Art dieser Liebeserklärung und durch seine Eile etwas verwirrt war, sah ich darin nichts Merkwürdiges. Wer sagt, dass sich Träume nicht erfüllen?

Als mir all die furchtbaren Dinge passiert waren, war ich noch ein Kind gewesen. Das bedeutete, ich hatte noch keine Sünden begangen, das hieß, ich hatte auch keine Strafe verdient. Also war das eine große Probe, die ich geduldig bestanden hatte. Jetzt kam endlich die Zeit der großen Belohnung! Wenn das nicht geschähe, hätte es ja bedeutet, dass die Welt grausam war und dass es keine Gerechtigkeit gab! So etwas durfte aber einfach nicht sein. Die Welt war wunderbar, das bewies allein schon ihre Schönheit. Und wir erfreuten uns daran wie himmlische Wesen.

Ich fürchtete, mein neues Glück zu verschrecken, es kam mir so brüchig vor, es forderte von mir etwas ganz Bestimmtes, aber ich wusste nicht, was. Klar war mir nur eines: Sollte ich Wassilijs Erwartungen nicht erfüllen, würde alles einstürzen, und ich würde wieder alleine in dieser riesigen, weiten Welt sein…

„Willst du mit mir zu Dreharbeiten in die Taiga fahren?“, fragte Wassilij.

„Was mache ich dort?“, hielt ich verwirrt entgegen.

„Machen werde ich, du wirst dich einfach erholen.“

„Es ist aber doch eine Dienstreise…“

„Ich nehme dich als meine sehr persönliche Assistentin mit“, lächelte Wassilij und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir werden in einem Zelt schlafen.“

„Wir… in einem…“

„Die Burschen in meinem Team sind wunderbar, sie werden uns verstehen.“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

Den Dampfer hatten wir um vier Uhr morgens bestiegen, einige Stunden lang fuhren wir auf der Wolga, dann stiegen wir in LKWs um. Die Straße war dermaßen schlecht, dass es ein Wunder war, dass wir unterwegs nicht unsere Zähne verloren. Ich freute mich, als wir zu Fuß weitergingen. Gegen Abend hatten wir endlich unser Camp am Ufer des kleinen Baches eingerichtet. Hier in der Nähe sollten morgen die Aufnahmen gemacht werden. Drehort waren der Wald und der Bach, in dem Forellen und Krebse lebten. Der Film war dokumentarisch – über die Flora und Fauna dieser Region, so etwas wie „Die Welt der Pflanzen“ oder „Die Welt der Tiere“. Wassilij galt auf diesem Gebiet als großer Spezialist, er besaß eine diabolische Geduld und konnte stundenlang auf Beute warten.

Die Mannschaft bestand aus dem Regisseur, zwei Assistenten und einem Jäger, der den Wald gut kannte. Ohne ihn hätten wir uns sicher verirrt. Den Regisseur nannten alle Kescha, ich konnte aber eine derartige Vertraulichkeit nicht verstehen und sprach ihn daher mit Innokentij Iwanowitsch an. Einer der Assistenten war blond, jung, nicht groß und sehr beweglich, er hatte ein reizendes Lächeln, man nannte ihn Sanja4. Der andere war Ilias, schlank und groß, mit einem blassen Gesicht und traurigen grauen Augen. Er schien nicht stark zu sein, übernahm aber die schwerste und verantwortungsvollste Arbeit.

Die Männer stellten die Zelte auf, und ich ging in den Wald, um Holz für das Feuer zu sammeln. Die Sonne vergoldete die Wipfel der Kiefern, ihre Stämme strahlten im rosafarbenen Licht. Etwas bewegte mich, einen warmen Stamm zu umarmen. Ich drückte meine Wange an ihn. Irgendwo oben über meinem Kopf hörte ich ein Geräusch. Ein Eichhörnchen sprang von einem Ast zum anderen. Der Luftzug seines Sprungs traf meine Wange. Das kleine Tier setzte sich mir gegenüber hin und beobachtete mich wie verzaubert mit seinen winzigen Augen. Ich hatte Angst, mich zu bewegen, um das Tierchen nicht zu erschrecken.

Leise kam Wassilij. In seinem Beruf ist es wichtig, dass er lautlos durch den Wald gehen kann. Er umarmte mich von hinten und drückte seinen ganzen Körper an mich. Seine Hände waren heiß, ein Schauer lief durch seinen Körper, er drückte sich an mich mit dem ganzen Körper, sein Atem war feucht und stoßartig.

„Du hast gesagt, du willst mitkommen, das heißt, du bist einverstanden…“

Ich drückte mich nur noch fester an seinen Körper.

Ich hatte Angst. Und ich war glücklich. Mich durchflutete ein unbekanntes Gefühl. Erst später verstand ich, dass das eine Empfindung der Macht war. Der Macht einer schwachen Frau über einen starken Mann, jener flüchtigen Macht, die ihr seine Liebe und sein Verlangen geben. Ich spürte auch seine Macht. Diese Einigkeit, dieses Vertrauen ist das größte Glück, das ist Liebe.

Wassilij hatte seinen Kopf zu mir geneigt, sein Atem benetzte meinen Hals, über meine Haut lief ein leichter Schauer. Er küsste meinen Nacken und die Grübchen hinter den Ohren. Ich drehte mich um, unsere Lippen trafen sich. Seine Liebkosungen wurden immer beharrlicher, er beeilte sich aber nicht. In mir spannte sich alles, seine Berührungen weckten in mir eine Leidenschaft, die ich nie gekannt hatte. Ein unbekannter Orkan, ein Tornado wütete in mir und brachte mich in seine Gewalt.

„Bist du sicher, dass du mir gehören willst?“, flüsterte er, wobei seine Stimme zitterte.

„Spürst du denn nicht, dass ich es will“, wollte ich schreien, aber meiner Kehle entwand sich nur ein Stöhnen, das nicht menschlich klang. In solchen Momenten werden Worte zum Feind…

Ich war eine Priesterin auf dem Altar der Liebe, es war ein heiliger Ritus, ich brannte im Feuer der Liebe, meine Seele flog himmelwärts… Mein Rücken spürte den warmen Stamm der Kiefer, ich wurde eins mit dem Stamm und mit der ganzen Natur, ich wurde Teil dieser Natur, in der alles einen tieferen Sinn hat. Der Schmerz war stark, aber ganz kurz, er stand an der Schwelle zu einer alles überflutenden Glückseligkeit. Mir öffnete sich das Tor zum Paradies…

Wassilij stemmte sich mit den Händen vom Stamm ab, seine Stirn berührte meine Stirn. Der Duft seines Schweißes vermischte sich mit dem Duft des Frühlingswaldes, es war der Duft der Liebe…

Als wir – nackt – zum Bach hinunterstiegen, fragte Wassilij nachdenklich:

„Warum hast du nicht gesagt, dass du Jungfrau warst?“

„Warst“, lächelte ich, „hast du das denn bezweifelt?“

Wassilij schwieg nachdenklich.

„Liebster, bist du nicht froh, dass du der erste… und einzige bist? Wir gehören jetzt für immer zusammen.“

Er gab keine Antwort.

Wir stiegen in den Bach, das Wasser war eiskalt, ich kreischte und sprang heraus. Wassilij fauchte lachend und bespritzte mich mit einer Handvoll Wasser.

Als wir zurückkehrten, waren die Zelte schon fertig, die ganze Gesellschaft saß am Feuer. Das Holz, das ich gesammelt hatte, war am Bach liegen geblieben. Unserem Erscheinen begegnete man ruhig, niemand machte einen Witz oder Andeutungen. Man goss uns Wodka in die Aluminiumbecher und gab jedem ein Stück Brot. Ich kippte meinen Wodka in Wassilijs Becher.

„Ich hole mir Wasser vom Bach“, sagte ich.

Ich hockte mich hin und tauchte meine Hand ins Wasser. Das klare Nass kühlte meine Haut. War es wirklich passiert? Und was war eigentlich passiert? Früher oder später passiert das jedem Mädchen…

Die Jungfräulichkeit… Meine Tante hatte versucht, mit mir über dieses Thema zu reden, sie tastete sich vorsichtig heran, sie wollte mich warnen. Ich nickte dankbar. Konnte ich meiner Tante sagen, dass ich fest entschlossen war, nicht zuzulassen, dass meine Jungfräulichkeit zur Ware wurde? Niemand sollte mich verkaufen, wie meine Mutter verkauft worden war. Wir sahen, was daraus wurde. Wollten sie wirklich, dass auch mein Schicksal so traurig endete, dass ich den einen liebte und einen anderen heiraten musste?! Dieses wunderbare Geschenk bekam der, den ich liebte. Er liebte mich auch. Jetzt waren wir miteinander verbunden. Zeugen unseres Bündnisses waren der Wald, die Wolken und der Himmel.

Ich hatte Wasser geschöpft und kehrte zurück zum Feuer.

Wassilij saß nachdenklich, der rötliche Widerschein des Feuers tanzte auf seiner gebräunten Haut. Mein Herz brannte süß. Zitternd am ganzen Körper drückte ich mich an den Geliebten. Mein Legionär hatte mich erobert, ich war seine Trophäe.

Die Männer wurden schnell satt, danach besprachen sie die Aufgaben des nächsten Tages. Kescha verteilte die Pflichten, mich vergaßen sie. Dann richteten sich alle Blicke auf das Feuer.

Der Tanz des Feuers verzaubert, er ist schrecklich und anziehend. Das Feuer und die Liebe sind einander so ähnlich! Plötzlich tauchte eine Gitarre auf. Sanja sang ein lustiges Lied über einen jungen Mann, der sich in eine Bergsteigerin verliebte und sich entschloss, ebenfalls Bergsteiger zu werden. Er war aber recht ungeschickt und wurde ständig getadelt. Dabei hätte er eigentlich gar kein Bergsteiger werden wollen, er wollte nur die Liebe des Mädchens erringen.

In den Krügen war wieder Wodka, aber ganz wenig. Kescha sagte:

„Genug für heute! Morgen kommt ein schwerer Tag.“

Der Jäger schlummerte bereits, er lehnte an einem umgefallenen Birkenstamm.

„Wir gehen ins Zelt“, sagte Wassilij, und ich folgte ihm.

Unser Zelt stand etwas abseits von allen anderen.

Mein Geliebter liebkoste mich die ganze Nacht.

Als ich erwachte, war ich alleine. Ich klappte den Zeltvorhang auf, und mich begrüßte ein wunderschöner sonniger Tag. Die nächtliche Kühle war bereits weg. Auf dem Gras blitzten die letzten Tautropfen. Irgendwo oben sangen Vögel, im Gras zirpten ganz wunderbar die Grillen, es war das beste Orchester, das ich je gehört hatte.

Ich entdeckte plötzlich, dass ich ganz nackt geschlafen hatte. Ich hatte einfach nicht bemerkt, wie ich eingeschlafen war. Die Erinnerung an die vergangene Nacht ließ meinen Körper erzittern. Dann begann ich ihn zu studieren, er schien mir ganz neu zu sein, und er gefiel mir. Diese abstehenden Brustwarzen hatte er die ganze Nacht geküsst, diesen Bauch hatten seine Hände berührt… Mein Körper war durch die Berührung und die Liebe meines Geliebten geheiligt.

Am Zelteingang sah ich im Gras eine Thermosflasche und ein Päckchen. Das war mein Frühstück. Dankbare Liebe erfüllte mein Herz.

Nach dem Frühstück wollte ich den Aufnahmeplatz suchen, erinnerte mich aber daran, dass mein Geliebter mich gebeten hatte, nicht weit vom Lager wegzugehen, man könne sich hier schnell verlaufen. Ich ging zurück zum Camp und sah Sanja. Er atmete schwer und suchte etwas in seinem Rucksack.

„Sanja, wo ist Wassilij?“

„Er macht die Aufnahmen!“

„Wo?“

„Dort.“ Sanja deutete unbestimmt die Richtung an. „Er geht den Bach runter. Mit Kescha und Ilias…“

Er holte ein Objektiv, und sagte bereits im Laufen:

„Ruh dich aus, sie dürfen jetzt nicht gestört werden, sie nehmen die Krebse auf.“

Komisch. Ich verstehe das nicht. Was macht ein Regisseur bei Naturaufnahmen? Sagt er dem Krebs, wohin er sich bewegen soll? Schade, dass ich nicht zuschauen durfte!

Ich räumte rund um die Zelte ein wenig auf, legte die verstreuten Zweige auf einen Haufen, stieg zum Bach hinunter und wusch das Geschirr ab. Nach dieser wenig anspruchsvollen Arbeit legte ich mich ins feuchte Gras und schaute in den Himmel. Oben schwammen kleine Wolken, die mich an Schmetterlinge erinnerten. Die vergangene Nacht tauchte wieder auf, und ich spürte in meinem Bauch etwas wie eine Flamme, etwas wie… wie Falter, die sich aus ihrem Kokon befreien wollten.

Bald wurde es heiß. Laut summten die Bienen, das Vogelgezwitscher hingegen wurde leiser, ich hörte es wie aus weiter Ferne. Der Duft des Grases vermischte sich mit dem harzigen Duft der Kiefern und erfüllte mich mit neuer Freude. Ich empfand ganz klar die Schönheit der Natur und ihre göttliche Harmonie. Ich wurde eins mit ihr, mein Körper wurde ein Teil dieser mich umgebenden Schönheit. Ich wünschte mir, für immer in diesem Paradies zu bleiben!

Ich merkte nicht wie die Zeit verging, meine Seele und mein Körper füllten sich mit wunderbarer Faulheit. Ich liebte meinen majestätischen Gebieter. Ich liebte ihn mit meiner ganzen Liebesfähigkeit. Ich liebte auch meinen Körper, weil mein Geliebter ihn berührt hatte. Ich musste einfach lieben, was er liebte.

Die glücklichen Tage flogen schnell dahin, so kam unser letzter Abend in der Taiga. Kescha war zufrieden mit den Aufnahmen, er befand sie für gut.

Wir saßen wieder am Feuer, und ich redete ununterbrochen. Wenn ich glücklich bin, bin ich immer redselig.

Die Männer machten mir Komplimente, und Wassilij flüsterte mir ins Ohr, dass er ein wenig eifersüchtig sei, aber er vertraue mir und wüsste, dass ich nur für ihn da sei. Mit diesen Worten drückte er mich an sich und nahm ein Stück Fleisch von meinem Teller, um noch offensichtlicher zu machen, dass ich zu ihm gehörte.

Kescha holte aus seinem Rucksack eine Flasche Wodka und sagte:

„Heute können wir richtig feiern!“

Ich wollte keinen Wodka trinken, aber alle ringsherum riefen, wir würden doch morgen fahren, also wenigstens einen Schluck… Und ich machte einen Schluck. Die bittere Flüssigkeit ließ mich für einen Moment den Atem anhalten. Dann strömte rasch eine angenehme Wärme durch meinen Körper.

Der erste Mann. Der erste Schluck Wodka…

Ich fiel. Ich fiel tief… Es war so süß, tief zu fallen… Nein, mein Geliebter ließ mich nicht fallen, er würde mich im Flug auffangen, wie ein Akrobat seine Partnerin in der Luft auffängt. Ich balancierte unter der Kuppel, es war ein schöner und gefährlicher Tanz, ein Tanz, bei dem das Vertrauen und die sichere Hand des Partners über Leben und Tod entschieden.

Wieder füllten sich die Gläser.

„War das wirklich dein erster Schluck vom Lebenselixier?“, fragte Sanja lächelnd. Zwar war er der Jüngste, doch er hielt sich für sehr erfahren.

„Also, wir gratulieren dir! Trink ex, trink ex!“, riefen die anderen.

„Nein, ich kann nicht, ich mag nicht!“, lachte ich verlegen, musste aber wieder trinken, weil alle darauf bestanden.

Ilias nahm die Gitarre und stimmte sie. Dann begann er mit seinem schönen Bariton zu singen. Das war unerwartet, da sein Brustkorb gar nicht so kräftig aussah.

Ein Matrose schüttet euch

sein Herz aus,

sagt, wie einsam er doch ist…

Ilias sang und schaute ins Feuer, in seinen Augen liefen goldene Funken. Er hatte einen kaum hörbaren tatarischen Akzent. Als das Lied aus war, reichte er Wassilij die Gitarre, der aber schaute ihn erstaunt an und gab sie mir weiter.

„Ich weiß, dass du singen kannst, sing etwas für uns!“

„Woher weißt du das?“, lachte ich und fühlte, wie ich errötete.

Zu erröten oder öffentlich zu weinen, ist furchtbar peinlich, aber am Feuer würde das schon keiner bemerken, beruhigte ich mich. Wassilij bemerkte jedoch meine Verlegenheit und sah mich fragend an.

„Du hast dich verraten, jetzt musst du singen“, sagte er.

„Gut“, gab ich auf, „gebt mir nur eine Minute…“

Die Söhne meiner Tante, also meine Cousins, hatten Gitarre gespielt und gesungen, sie imitierten dabei berühmte Popstars. Ich hatte auch ein wenig experimentiert, aber nur, wenn niemand daheim war. Ich versuchte sogar, eine Musik für meine Lieblingsgedichte von Marina Zwetajewa zu komponieren. Es waren aber nur Eigenkompositionen. Später merkte ich, dass ich einfach unbewusst längst Bekanntes kombinierte.

Lange zupfte ich die Saiten, schlug einen Akkord an, noch einmal, diesmal schon kräftiger. Plötzlich wurde es still und ich sang:

An den Pranger genagelt,

sage ich, dass ich dich liebe…

Meine Stimme zitterte, aber dann fühlte ich neue Kraft.

Wenn mein Regiment mir eine Fahne anvertraut

und ich sehe dich

mit einer Feindesfahne in der Hand,

wird meine Hand die Fahne fallen lassen…

Nach dem letzten Akkord hatte ich Tränen in den Augen. Für einen Augenblick war alles still. Nach mir wollte keiner mehr singen. Sanja nahm die Gitarre und fing leise an zu spielen. Bald gingen die Männer in ihre Zelte, beim Feuer blieben nur Kescha und mein Geliebter. Ich ging auch zum Zelt, um eine Decke zu holen. Die Nacht war wunderschön, ich wollte nicht, dass sie zu Ende ging. Wenn wir jetzt einschliefen, würde diese wunderbare Nacht allzu rasch vorbei sein. In der Früh sollten wir abreisen.

Kurz blieb ich vor dem Zelt stehen und schaute zu den Sternen hinauf. Sie waren groß und glänzten ganz hell am schwarzen Samt des nächtlichen Himmels. In der Stadt sieht man solche Sterne nie. Wir würden nie mehr zu diesen Sternen zurückkehren. Nie taucht man in dieselben Sterne ein… Nur diese Zauberlichter wussten, was geschehen war. Etwas Unwiderrufliches. Etwas Schreckliches und Wunderbares. War es aber wirklich so schrecklich? Um den Weg des Lebens weiter zu gehen, darf man nicht lange an einem Ort bleiben, man muss sich von der Vergangenheit verabschieden können. Von der Kindheit. Von der Unschuld. Um erwachsen zu werden. Wichtig ist nur, dass du bleibst, was du bist. Wichtig ist nur, dass du selbst entscheiden kannst, was du tun willst. Hauptsache, niemand schreibt dir vor, wie du zu leben hast, keiner zwingt dich, etwas zu machen, was du nicht machen willst. Das machen dürfen, wonach deine Seele und dein Körper verlangen. Das Leben ist ungerecht, es ist auch grausam, es nimmt dir die liebsten Menschen weg, aber es schenkt dir auch glückliche Augenblicke… Es schenkt dir die Liebe und dafür kannst du dankbar sein.

Ich hörte, wie die Sterne mir Glück wünschten.

Gesegnet sei dieser Wald!

Gesegnet sei dieser rauschende Bach!

Und auch sie, die zärtlichen Sterne, die Zeugen meines Falls und meines Glücks, die Zeugen meiner großen Liebe, die für immer…

Als ich mich wieder dem Feuer näherte, hörte ich Keschas Stimme, die irgendwie böse klang. Noch ein paar Schritte, und ich verstand auch die Worte:

„Wassilij, mir gefällt diese Geschichte nicht. Sie ist noch ein Kind. Sie ist richtig verliebt in dich. Als du gesagt hast, dass du mit einer Dame kommst, dachte ich…“

„Was dachtest du? Was willst du von mir?!“, unterbrach ihn Wassilij.

Ein Zweig knackste unter meinem Fuß, die Männer wandten ihre Köpfe zu mir her.

Kescha stand auf.

„Es ist Zeit“, sagte er und küsste mir die Hand. „Leute, vergesst nicht das Feuer zu löschen.“

„Warum ist er unzufrieden?“, fragte ich.

„Wer weiß!“, antwortete mein Geliebter ungeduldig und fragte: „Was hast du dort ohne mich gemacht?“

„Soll ich dir alles erzählen?“, lächelte ich.

„Alles!“, antwortete er und rieb seine seit drei Tagen nicht rasierte Wange an meiner.

„Du Stachelbär!“, protestierte ich. „Meine Haut wird rot!“

„Wenn schon! Hier sieht dich ja niemand!“

„Die Sterne sehen mich. Lass uns das Feuer löschen und die Sterne anschauen!“

„Ich lösche das Feuer!“, sagte Wassilij, „du gehst zum Zelt. Ich komme gleich.“

Ja natürlich, das Feuer löschen die Männer…

Der Dampfer hatte Verspätung. Als er angelegt hatte und wir unser Gepäck aufs Deck brachten, stand die Sonne bereits im Zenit. Diesmal fuhr das Schiff stromabwärts, es ging viel schneller. Vorbei glitten die Ufer mit einsamen Dörfern, zarten Birkenwäldern und breiten Blumenwiesen. Die friedliche Landschaft war voller Schönheit und Ruhe. Die Stille des Tages wurde nur vom leisen, einlullenden Motorengeräusch unterbrochen.

Ich nickte an der Schulter des Geliebten ein, auch er hatte seine Augen geschlossen und lehnte sich an die Bank. Sein Atem war regelmäßig und ruhig. Wir atmeten in einem Rhythmus.

Es dämmerte bereits, als wir den Kasaner Hafen erreichten. Die Gepäckstücke wurden vom kleinen LKW des Fernsehstudios abgeholt. Wir verabschiedeten uns. Ich wollte noch ein wenig bei meinem Geliebten bleiben, einfach so neben ihm sitzen. Er aber wurde ungeduldig. Wie dumm, dass wir uns trennen mussten!

Wassilij brachte mich mit einem Taxi heim, küsste mich, stieg aber nicht aus dem Auto aus.

„Ich rufe dich an“, sagte er und fuhr weg. Ich blieb auf dem Bürgersteig und sah ihm nach. Ich wartete, dass er sich umdrehen und mir winken würde. Das tat er aber nicht. Bald verschwand das Taxi um die Ecke.

Meine Tante würde mir jetzt vom Gesicht ablesen, was passiert war, dachte ich… Mich quälte die Notwendigkeit lügen zu müssen, mein Gewissen litt bereits unter dieser Lüge. Eine Lüge nimmt dir deine Freiheit.

Drei Tage vergingen. Wassilij rief nicht an. Innerlich schrie ich vor Schmerz. Hatte er mich vergessen? Nein, das konnte ich nicht glauben. Schreckliche Gedanken bemächtigten sich meiner, aber ich vertrieb sie, ohne zu versuchen, sie in Worte zu fassen. Wahrscheinlich war er einfach viel zu beschäftigt, er hatte doch gesagt, dass der Film viel Arbeit bedeutete…

Drei Tagen waren vergangen. Dann tauchte Wassilij vor dem Kiosk auf und fragte nach der Zeitung Prawda, also der Wahrheit. Seine Stimme klang, als wäre nichts passiert. Er lächelte und schaute mich zärtlich an. Er hatte keine Ahnung, was ich in den vergangenen Tagen gefühlt hatte.

„Ach, du willst die Wahrheit!“, sagte ich erfreut und verbittert gleichzeitig. „Ich hasse dich! Das ist deine Wahrheit! Wo bist du gewesen, warum hast du mich nicht angerufen? Drei Tage lang! Drei Tage lang hast du mich nicht angerufen!“

Meine Stimme zitterte.

„Du siehst wunderschön aus!“, lächelte Wassilij, als hätte er meine Worte nicht gehört, dann fügte er hinzu: „Ich liebe dich. Treffen wir uns heute um fünf!“

„Ich arbeite bis sechs!“

„Lass dir etwas einfallen!“

Er machte eine leichte Handbewegung, als würde er mir einen Kuss schicken, dann verschwand er in einem Taxi, das auf ihn gewartet hatte.

Wir trafen uns im Park, den ich bereits unseren Park nannte. Mein Geliebter führte mich in eine entfernte Allee. Er schaute, ob keine Passanten da wären, dann küsste er mich leidenschaftlich. Mein Atem stockte, eine Hitzewelle durchströmte meinen ganzen Körper.

„Ich will dich“, flüsterte ich schamlos.

„Ich will dich auch, mein Mädchen…“

Seine dunklen Augen wurden heller, sie verströmten Honig, und ich trank seine goldene Süße.

„Ich kann ohne dich nicht leben!“

„Ich liebe dich auch sehr.“

Wir gingen langsam zum Fluss. Am Ufer fanden wir eine freie Bank.

„Setzen wir uns, wir müssen reden“, sagte mein Geliebter, in seiner Stimme schwang etwas mit…

Wir setzten uns auf die Bank und blieben lange stumm sitzen.

„Liebste“, begann dann er zärtlich, „wir müssen nachdenken, wo wir uns treffen können. Ich liebe dich! Ich will dich oft sehen. Ohne dich kann ich keinen einzigen Tag leben.“

„Drei Tage hast du aber recht gut gelebt“, sagte ich nachtragend und fügte hinzu: „Liebster, ich sehne mich auch nach dir, ohne dich kann ich auch nicht leben, ich will auch, dass wir uns oft sehen. Du fehlst mir, wir werden uns so oft treffen, wie du willst. Warum können wir eigentlich nicht zusammenziehen?“

Ich redete wie ein Wasserfall und verschluckte meine eigenen Worte. Sie flossen unwillkürlich aus meinem Mund. Es war mir peinlich. Solche Vorschläge sollte der Mann machen und nicht die Frau. Aber hatte Wassilij nicht gesagt, dass er ein Kind von mir wollte?! War das nicht eine Art Heiratsantrag gewesen?! Ich redete weiter:

„Du weißt, ich lebe bei meiner Tante. Wir sind zu fünft, der ältere Bruder wird bald heiraten, so werde ich mein Zimmer verlieren und mit meiner Tante auf dem Sofa schlafen müssen, das wird so lange dauern, bis das junge Paar seine eigene Wohnung hat. Mein Onkel übersiedelt auf seinen Platz ins Kinderzimmer. Wir haben ja nur drei Zimmer. Später wird sich alles irgendwie regeln, wir sind nicht die einzigen, die so leben, vielen anderen geht es noch schlimmer. Liebster, warum können wir nicht bei dir wohnen?“

„Da gibt es ein Problem“, presste Wassilij nach kurzem Schweigen mühsam hervor.

„Was für ein Problem?“

„Ich lebe nicht alleine.“

Ach ja, natürlich, ich hatte nicht bedacht, dass er auch bei seinen Eltern lebte… Wassilij hatte bis jetzt fast nichts von sich erzählt. Wir trafen uns öfter während der Mittagspause und gingen im Park spazieren, dann fuhr er wieder ins Studio. Er arbeitete viel, seine Arbeitszeit dauerte länger als bei allen anderen Menschen. Arbeit war doch das Wichtigste! Wir waren bis jetzt weder im Theater noch im Kino gewesen. Während unserer kurzen Treffen im Park hatten wir zu wenig Zeit zum Reden. Nichtsdestoweniger begann er unsere Bekanntschaft mit Zukunftsplänen. Nur… Er kehrte nie wieder zu diesem ersten Gespräch zurück, mir aber war es peinlich, ihn daran zu erinnern. Also, ich wusste von ihm gar nichts, während er von mir alles wusste. Ich plauderte alles aus wie ein Wasserfall…

„Also, du lebst bei deinen Eltern“, sagte ich eher bestätigend als fragend.

„Nein, nicht bei den Eltern“, antwortete Wassilij.

Mir wurde plötzlich innerlich kalt. Ich wartete, was er weiter zu sagen hätte, aber er schwieg.

„Bist du verheiratet?“, fragte ich mit zitternder Stimme.

„Nein, ich war nie verheiratet“, antwortete Wassilij.

Ein Seufzer der Erleichterung entriss sich meiner Brust. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Er schaute von mir weg und sagte dann mit gedämpfter Stimme:

„Ich lebe mit einer Frau zusammen… Seit fünf Jahren.“

Das Blut entwich meinem Gesicht, alles drehte sich in meinen Augen, ich wurde beinahe ohnmächtig.

„Dann, warum…“

In meiner Kehle stand ein Klumpen. Das Ganze… Wie beschämend… Mühsam presste ich aus mir heraus:

„Aber… du wolltest doch, dass wir Kinder…“

„Das will ich auch jetzt! Warte, ich werde dir alles erklären, es ist nicht so, wie du denkst. Alles ist viel komplizierter und auch viel einfacher. Gestatte mir, dir alles zu erklären, dann wirst du es verstehen…“

Er nahm meine Hand und ließ mich nicht los.

„Was, was soll ich verstehen?“, sagte ich, „Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich liebe dich. Ich wäre mit dir zusammengeblieben, aber warum diese Lüge?“, schrie ich flüsternd. Ich versuchte nicht mehr meine Tränen zurückzuhalten.

„Schau, mein Mädchen, Deine Bluse ist ja von den Tränen ganz nass geworden“, Wassilij tröstete mich, wie man ein Kind tröstet, als ob es um ein im Sand verlorenes Bonbon ginge.

Er nahm meinen Kummer nicht ernst. Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken.

„Und Kinder… Habt ihr auch Kinder?“

„Nein, wir haben keine Kinder“, sagte Wassilij. „Das heißt, ich habe keine. Sie hat aber zwei Töchter von ihrem ersten Mann, die sind zehn und elf Jahre alt. Wir lieben uns nicht, ich habe sie nie begehrt, es ist einfach passiert, ich habe damals nach ihrer Scheidung Mitleid mit ihr gehabt, ich wollte sie einfach trösten, und dann hat sich aus dem Trösten etwas ergeben. Deshalb habe ich dir nichts gesagt. Ich wohne bei ihr…“

„Hast du ihr gesagt, dass du von mir ein Kind willst?“, fragte ich leise.

„Ich habe mit ihr nicht über dich geredet. Noch nicht. Alles zu seiner Zeit…“

Ich entzog ihm meine Hand und ging.

Wieder Gefangenschaft!