Fairfassung - Clemens Oswald - E-Book

Fairfassung E-Book

Clemens Oswald

0,0

Beschreibung

In unsicheren Zeiten setzen sich viele für die "Verteidigung" der Demokratie ein. Das Grundgesetz und die rein repräsentative Demokratie wirken dabei wie "in Stein gemeißelt". Clemens Oswald zeigt in seinem Essay, wie sie weiterentwickelt werden und damit Spaltung und Verdrossenheit begegnet werden kann. Sein Ziel: die Demokratisierung des Grundgesetzes. Gibt es so etwas wie Bürgerwürde? Wann fragen wir nach unserem Recht auf politische Partizipation über das Wählen hinaus? Wie sollten demokratische Strukturen aussehen, die den gesellschaftlichen Dialog ankurbeln, statt ihn abzuwürgen? Mutig liefert der Autor konkrete Ideen für eine grundlegende Gesellschaftsreform, die die Bürger als "Citoyens" und höchstes Staatsorgan in den Mittelpunkt stellt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 354

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

In unsicheren Zeiten setzen sich viele für die „Verteidigung“ der Demokratie ein. Das Grundgesetz und die rein repräsentative Demokratie wirken dabei wie „in Stein gemeißelt“. Clemens Oswald zeigt in seinem Essay neue Wege gegen Spaltung und Verdrossenheit auf. Das Ziel für ihn: die Demokratisierung des Grundgesetzes.

Gibt es so etwas wie Bürgerwürde? Wann fragen wir nach unserem Recht auf politische Partizipation über das Wählen hinaus? Wie sollten demokratischere Strukturen aussehen, die den gesellschaftlichen Dialog ankurbeln, statt ihn abzuwürgen? Mutig liefert der Autor konkrete Ideen für eine Gesellschaftsreform, die die Bürger als „Citoyens“ und höchstes Staatsorgan in den Mittelpunkt stellt.

Der Autor

Clemens Oswald ist promovierter Jurist und freier Journalist. Er hat nach einem Volontariat als fester freier Mitarbeiter beim NDR-Fernsehen gearbeitet (Abteilung Innenpolitik, u.a. Redaktion Panorama). Zuvor war er Lokaljournalist und Nahostkorrespondent für zahlreiche Printmedien und Hörfunksender.

Für alle Citoyens

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Göttin Eunomia beim Psychiater I

Göttin Eunomia beim Psychiater II

Anmerkungen

Danksagung

Prolog

Zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai 2024 gab es wie erwartet in Mengen - hochverdientes - Lob von allen Seiten. Praktisch unerwähnt blieb im Trubel der Aspekt, dass das Grundgesetz dringend eine Demokratisierung braucht. Dieser Essay wagt bei aller Wertschätzung des Grundgesetzes den weiten Blick nach vorn in eine Bürgergesellschaft. Er soll als „Aufschlag“ zur Diskussion einer neuen Denkrichtung und eines Staatsdesigns dienen. Es geht um die Zukunft der deutschen Verfassung. Dazu gibt die zunehmend unsichere Gemütsverfassung von uns Bürgern dringenden Anlass.

Der Titel des Essays soll nicht provozieren, sondern zum Nachdenken anregen. Ist das Grundgesetz, das als Provisorium verabschiedet wurde und heute noch eines ist, was im Trubel der Feierlichkeiten leider oft falsch dargestellt worden ist, fair genug zu seinen Bürgern? Oder beschneidet es ihre demokratischen Rechte? Kann es eine fairere Verfassung geben? Tatsächlich gibt es noch viel unausgeschöpftes Potenzial, was allerdings kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert ist. Die Denk- und Kritikfähigkeit vieler scheint im Zustand jahrzehntelanger Gewohnheit wie erstarrt.

In diesem Buch soll getreu der Theorien des britischen Philosophen Sir Karl Popper hartnäckig hintergefragt werden, an welchen Stellschrauben zu drehen ist, damit das Grundgesetz schrittweise noch besser werden kann. Anlass ist unter anderem die erfreulicherweise zunehmende Nutzung von Bürgerräten auf allen staatlichen Ebenen, sogar im Bund. Inwiefern kann dem Grundgesetz durch mehr Partizipation der Bürger noch mehr Brillanz verliehen werden? Wie können seine Strukturen so angepasst werden, dass es das Wohl der Menschen noch stabiler über weitere Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte, schützt und fördert?

In der tiefen Überzeugung, dass eine Transformation unseres „demokratischen Rechtsstaats“ in eine „rechtsstaatliche Demokratie“ nötig ist, was ein großer Unterschied ist (!), möchte der Autor seine Leser auf eine Reise mitnehmen. Die führt nicht über den gewohnten, vorgezeichneten „Rechtsweg“ sondern den noch weitgehend unerschlossenen „Demokratieweg“. Den öffnet zwar das Grundgesetz an mancher Stelle einen Spaltbreit (z.B. durch Erwähnung von Volksabstimmungen), er wirkt aber durch uneinsichtige „Türhüter“ (Parteipolitiker) geradezu kafkaesk verschlossen. Es braucht ein neues „Haus der Demokratie“. Das Selbstbewusstsein neuer Citoyens ist dafür der Türöffner. Wer die rein repräsentative Demokratie als „die“ Demokratie missversteht, macht es sich zu bequem. Es geht mehr und es darf auch unter dem Grundgesetz mehr sein. Umso mehr Bürger den Weg zu mehr Partizipation einschlagen wollen und am gemeinsamen Haus der Kooperation (statt des Konflikts) mitbauen, desto größer ist die Chance auf einen demokratischeren Gesellschaftsvertrag.

Es spricht alles für diesen Wandel. Der Autor mutet einiges an Theorie, neuen Begriffen und Begriffsinterpretationen zu. Ist der Demokratieweg aber erst erkannt, winken Freude an der Gestaltung statt Ohnmacht und Frust. Der Demokratieweg ist zudem auf der praktischen Seite weniger steinig und lang als der Rechtsweg, wenn erst die richtigen Fairfahren gefunden sind.

Der Essay ist stark wissenschaftlich basiert. Er kann auch ohne die zahlreichen Fußnoten gelesen werden. Diese dienen als Belege, zur Vertiefung, machen den Text schlanker und zeigen, dass viele der Thesen so oder ähnlich schon von anderen Wissenschaftlern vorher aufgestellt worden sind. Das Werk ist also keineswegs im „luftleeren Raum“ entstanden. Der Essay fügt seine zahlreichen Thesen schließlich mosaikstückartig zum Leitbild einer neuen Bürgerdemokratie zusammen. Stand der Recherchen ist - mit Ausnahme des Wahlrechts-Urteils - Ende Juni 2024. Zur besseren Lesbarkeit des Essays wird das generische Maskulinum verwendet.

Göttin Eunomia beim Psychiater I

Eine Psychiatrie in Hamburg, im Mai 2024

Psychiater:

Guten Tag, Frau …

Eunomia:

Ich heiße Eunomia.

Psychiater:

Ein seltener Name.

Eunomia:

Ja, bekannter ist meine Mutter Themis. Bei den Römern hieß sie Justitia. Auch in Ihrer Gesellschaft wird sie meist so genannt.

Psychiater:

Verstehe. Daher auch Ihr Äußeres. Ich meine die Waage auf der Mütze.

Eunomia:

Genau, natürlich liebe ich meine Mutter. Ich trage die Waage daher auch als Ohrring. Und das Schwert als Kettenanhänger.

Psychiater:

So, so, das Schwert als Symbol der Gerechtigkeit?

Eunomia:

Das habe ich meine Mutter auch immer gefragt … Womöglich ist dies sogar ein Grund, warum ich zu Ihnen komme.

Psychiater:

Wie kann ich Ihnen helfen?

Eunomia:

Nun, das Grundgesetz feierte ja gerade sein 75. Jubiläum.

Psychiater:

Bitte helfen Sie mir. Deshalb kommen sie zu mir?

Eunomia:

Oh entschuldigen Sie, das ist ja die Crux. Als Göttin stehe ich für die gute Ordnung. Wenn man so will die Demokratie in ihrer besten Form. Aber seit gut 2500 Jahren habe ich eine tiefe Depression. Niemand sieht mich mehr, niemand will mich, ich werde verkannt. Alle schauen auf meine Mutter. Als ob sie das Ideal ist.

Psychiater:

Da kann ich auf jeden Fall mit Stimmungsstabilisierern helfen.

Eunomia:

So etwas brauche ich nicht. Das ist doch alles ein Missverständnis. Die Menschen huldigen dem Rechtsstaat statt der Demokratie, verstehen Sie nicht? Eigentlich sollte nicht ich hier sitzen …

Psychiater:

sondern alle Menschen? Entschuldigen Sie. Aber ich muss sie fragen, wer hier der Geisterfahrer ist. Alle anderen oder doch Sie?

Eunomia:

Auch Sie wollen mir nicht trauen. Ich dachte, hier finde ich einen Ort und einen Menschen, der mir hilft und auch hilft, alle zu heilen.

Psychiater:

Das ist eine sehr noble Absicht. Ich kann hier aber nicht die gesamte Gesellschaft heilen, wenn Sie allein auf der Couch liegen.

Eunomia:

Vielleicht doch. Aber kommen Sie mir nicht mit Beruhigungstabletten. Alles, was ich brauche, ist jemand, der mir ernsthaft zuhört. Und ich schlage vor, dass wir unser Gespräch öffentlich machen. Vielleicht können Sie es bekannt machen, wenn Sie mir am Ende Glauben schenken?

Psychiater:

Nun, wir können es versuchen.

Eunomia:

Wir vertauschen die Rollen, einverstanden? Ich verabreiche ihnen so eine Art Demokratie-Tablette nach altgriechischem Urrezept, einzige Nebenwirkung: Zufriedenheit. Wollen wir es darauf ankommen lassen?

Psychiater:

In Ordnung, solange das hier unter meiner psychiatrischen Leitung verbleibt und Sie die Patientin sind, ist es für mich ok. Dann habe ich ein offenes Ohr. Schließlich beschäftigt Sie dieses Thema ja so sehr, dass Sie deshalb zu mir kommen.

Eunomia:

Versprochen. Es geht um Logik und Vernunft. Und am Ende eine bessere Gesellschaft. Ich habe lange Gespräche mit einem Autoren geführt, der es besser zusammenfassen kann als ich. Denn wer wird mir zuhören?

Psychiater:

Das geht jetzt aber nicht gegen das Grundgesetz, oder? Das würde Ihnen niemand abnehmen, ich auch nicht. Das ist uns Deutschen heilig, wissen Sie, selbst wenn es praktisch niemand liest.

Eunomia:

Auch ich erkenne den Zivilisationssprung, den Ihr Land durch das Grundgesetz gemacht hat. Was ich mir wünsche, ist trotzdem eine neue Denke und eine positive, schrittweise Ergänzung, nichts anderes. Das Grundgesetz ist offen dafür, auch wenn es niemand zugeben und thematisieren will. Der Autor hat meine Thesen wissenschaftlich nachrecherchiert.

Psychiater:

Ok, bitteschön. Ich bin ganz Ohr.

Die Verfassungen sind das Maß der Freiheit, gemessen am Grade der Vernunftentwicklung.

Adalbert Stifter, 1849

Der Genfer Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau hatte eine Marotte. Stolz nannte er sich “Citoyen de Genève”, also “Bürger von Genf”, und setzte diese Selbstbezeichnung demonstrativ zusammen mit seinem Namen auf die Titel seiner Werke.1 Wer das heute tun würde, würde schief angeschaut, ja eher noch als Verrückter, Spinner oder Exzentriker verurteilt werden.

Denn ist nicht jeder Bürger?

Rousseau hat damals streng zwischen Citoyen und Bourgeois unterschieden. Der Citoyen ist demnach ein aktiver, politisch mitwirkender Bürger, der Bourgeois ein passiver, unpolitischer Konsumbürger, einer der wie ein Untertan regiert wird, während Citoyens mitregieren, sich selber die Gesetze geben, denen sie sich dann freiwillig und stolz unterwerfen.

Im Grundgesetz findet sich in Art. 38 GG das geradezu geheiligte Wahlrecht, das laut Bundesverfassungsgericht “vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat”.2 Seine Inhaber, also wir Bürger, gelten aufgrund der Möglichkeit seiner Ausübung als Aktivbürger.3 Aber das so zentrale Wahlrecht ist überraschend wenig feierlich im Grundgesetz niedergelegt. Es liest sich wie folgt:

„(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.“

Art. 38 GG hebt das Wahlrecht nicht wirklich als vornehmes Recht hervor. Es liest sich teils sogar passivisch. Nur im zweiten Absatz wird es direkt angesprochen, aber sogleich durch die Altersbegrenzung eingeschränkt. Art. 38 GG hat bei genauer Betrachtung primär staatsorganisatorische Bedeutung, indem er beschreibt, wie der Bundestag mit Abgeordneten “bestückt” wird. Das ist nicht ansatzweise die große Wertschätzung des Wahlakts, die mancher hier am Kern unserer repräsentativen Demokratie erwarten mag.

Die fehlende “Feierlichkeit” schmälert zwar nicht die juristische Wirkung des Wahlrechts, das sich als sogenanntes “grundrechtsgleiches Recht” außerhalb des Grundrechtskatalogs befindet, der den vorderen Bereich des Grundgesetzes prägt.4 Das Wahlrecht in seiner nur schwach individualrechtlichen Formulierung und Einordnung steht allerdings symptomatisch für die insgesamt nicht stark ausgeprägten demokratischen Rechte im Grundgesetz. Betont werden in ihm vornehmlich die Freiheitsrechte. Originäre Partizipationsrechte stehen nicht im vorderen Teil. .Es gibt für sie auch keinen Abschnitt. Das Wahlrecht ist stattdessen in den Abschnitt “Der Bundestag” integriert. Direktdemokratische Abstimmungen wiederum werden in Art. 20 II S. 2 GG zwar neben Wahlen als gleichrangiges demokratisches Mittel erwähnt, mehr aber nicht. Sie werden nirgends ausgeführt, weder als subjektives Recht, noch als Verfahren. Nur in den Landesverfassungen gibt es Volksentscheide, nicht auf Bundesebene. Auch auf kommunaler Ebene gibt es Bürgerentscheide. Es klafft auf Bundesebene also eine Lücke. Kritiker sprechen vom faktischen “Ausschluss” der Bürger auf Bundesebene, sobald die Stimmen an der Urne abgegeben sind.5Der Ausschluss sei für moderne repräsentative Demokratien wie die deutsche geradezu konstitutiv.6 Nach der Bundestagswahl “dürften” die Wähler gewissermaßen wieder in einen vierjährigen “demokratischen Schlaf” fallen – das sei genau so vom Grundgesetz angelegt.

Aber ist nicht das Grundgesetz die Gewähr für unser Bürgersein?

Das Grundgesetz geht ganz natürlich davon aus, dass es uns zu Citoyens macht7: Wir dürfen wählen. Das ist die Errungenschaft der modernen repräsentativen Demokratie und wird vielfach als Krönung der Demokratie dargestellt. Mit Verlaub: Es ist ein bequemer Selbstbetrug, diese Interpretation kritiklos hinzunehmen. So würde es zumindest der Aufklärer Rousseau sehen, ein Gegner der Repräsentationsidee.8 Man muss diese nicht wie er über Bausch und Bogen ablehnen, um zu erkennen, dass durchaus mehr ginge als was die Eltern des Grundgesetzes vor über 75 Jahren ersonnen haben.

Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich scheinen, aber Ausdruck findet das im Gemälde “Wanderer über dem Nebelmeer” des gerade sehr präsenten Romantikers Caspar David Friedrich. Friedrich feiert dieses Jahr auch einen Geburtstag, sogar einen runden: den 250sten. Anlass, sich sein wohl bekanntestes Bild rein zur Veranschaulichung einer der Thesen dieses Essays mal aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen. Für das Bild gibt es viele Interpretationen. Warum nicht mal so etwas wie politische Freiheit hineininterpretieren? Und zwar so: Auf dem Gipfel steht nach langem Weg ein stolzer Wanderer, der auf das äußerlich wunderschöne, aber auch geheimnisvolle Nebelmeer hinabschaut. Er hat es verlassen, um hier hochzukommen und bei klarem Blick draufzuschauen. Er spürt nun die Erhabenheit und Melancholie desjenigen, der den richtigen Weg gefunden und verstanden hat, dass er nicht Teil des Nebelmeers sein muss, sondern frei sein kann.9 Der Althistoriker Josiah Ober hat mit Bezug auf die athenische Demokratie einmal gesagt, dass die Würde der Bürger, die damals eine Blütezeit erlebte, vom heutigen Mainstream der politischen Theorie “vernebelt” werde.10 Das war der Auslöser für diesen Gedankengang: Es steht hier ein Citoyen und schaut auf seine Mitmenschen, die als anonymes Volk nicht zu sehen sind. Wenn Friedrich als “Forscher unsichtbarer Wahrheit” bezeichnet wird11, warum dann nicht mal diese Metapher einer absichtlich “zugedeckten Demokratie” aus dem Gemälde ableiten? Kunstkritiker mögen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber liegen Schönheit und Interpretation nicht ausschließlich im Auge des Betrachters?

Aber hat nicht das Grundgesetz Deutschland aus dem NS-Nebel befreit?

Absolut. Das Grundgesetz ist eine Antwort auf den Nationalsozialismus, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg. Das “Nie wieder” schallt schon aus dem ersten Artikel. Dort heißt es kurz und prägnant: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” Das ist stark, ikonisch, wegweisend, und leitet die Grundrechte ein, die zu Recht gleich am Anfang des Grundgesetzes stehen, um die Bürger zu schützen. Was aber auffällt: Bei der Menschenwürde geht es vor allem um das Schützen und Verteidigen von Freiheitsrechten. Die Menschenwürde ist primär ein Abwehrrecht. Menschen dürfen nicht gefoltert werden, sie müssen ihre Meinungen sagen dürfen, sie sind gleich, sie dürfen nicht zum Objekt herabgewürdigt werden, usw.12 Es geht dabei um die Abwehr eines übergriffigen Staats. Vereinfacht gesagt: Menschenwürde schützt in erster Linie. Sie und die auf ihr basierenden Grundrechte sind zwar auch, aber weniger dafür geeignet, Leistungen vom Staat zu fordern. Erst recht steht die Menschenwürde bislang nicht für starke politische, bzw. partizipatorische Rechte. Es ist vornehmlich ein liberales Recht und individuell geprägt. Da, wo die politischen Rechte der Menschenwürde praktisch aufhören, nämlich beim Wahlrecht, fangen die demokratischen Leistungsrechte, um die es in diesem Essay geht, erst an.13

Was ist also mit mehr Mitbestimmung im politischen Bereich? Was ist mit Volksabstimmungen? Was ist mit effektiver Bürgerbeteiligung?

Wenn man ehrlich ist, klafft dazu im Grundgesetz eine große Lücke. Und das hängt auch damit zusammen, dass das Grundgesetz am 23. Mai 1949 als Provisorium für die Bundesrepublik Deutschland beschlossen wurde.14 Die deutsche Teilung sollte erst beendet werden, bis es eine finale Verfassung geben sollte, die dann auch von den Bürgern verabschiedet würde. Der Name “Grundgesetz” statt “Verfassung” sagt schon alles aus. Das Grundgesetz war als Übergangsverfassung gedacht. Damals beschlossen die Landtage das vom Parlamentarischen Rat, einem nur aus Parteipolitikern zusammengesetzten Gremium, ausgearbeitete Grundgesetz. Eine Abstimmung der Bürger war erst nach der Herstellung Gesamtdeutschlands vorgesehen, wurde allerdings damals nicht durchgeführt und wird heute gern zerredet. So stieß der Versuch des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke), der sich für eine Volksabstimmung über das Grundgesetz ausgesprochen hatte15, auf erheblichen Widerstand im politischen Berlin. Der ostdeutsche Bürgerrechtler und SPD-Politiker Markus Meckel will den Art. 146 GG, der ausdrücklich die “freie Entscheidung” des Volkes über seine Verfassung vorsieht, sogar ganz streichen.16

Während der Wendezeit gab es zwar Debatten über eine Abstimmung. Jedoch fehlte von Anfang an die Zeit für eine konkrete Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, weil der Druck zur Wiedervereinigung zu groß war. Kein Vorwurf an jene, die damals die Chance verpasst haben, aber nach über 75 Jahren und angesichts des Verschwindens der damaligen geradezu “besoffenen” Wendestimmung und einer Spaltung im Land, die in Teilen “Züge einer kollektiven Psychose”17 annimmt, ist wohl kaum der Zeitpunkt, einfach Zustimmung und Zufriedenheit in allen Punkten des Grundgesetzes per Blankoscheck zu unterstellen. Das gängige Argument, es gebe so etwas wie ein “tägliches Plebiszit” (französisch: “plébiscite de tous les jours”) über das Grundgesetz, also seine tägliche Annahme durch bloßes Stillhalten der Bürger, kann nicht überzeugen.18 Plebiszite lassen sich mit Verlaub nicht auf diesem Wege konstruieren und es gibt keine Vorschrift im Grundgesetz, die diese “tägliche Annahme” regelt, wo es doch sonst alles Wichtige regelt und es sich hier um eine zentrale Frage handelt.

Aber soll in einer Phase multipler Krisen - Pandemien, Kriegen, Haushalt, Rechtspopulismus und –extremismus – jetzt noch eine Verfassungsdiskussion vom Zaune gebrochen werden, wo doch das Grundgesetz grundsätzlich in den letzten 75 Jahren für Stabilität gesorgt hat?

Genau aus dem Grunde, dass das sogenannte Gründungsplebiszit nie nachgeholt worden ist, ist die Diskussion jedenfalls nicht ad acta zu legen. Gregor Gysi sprach schon beim 70. Grundgesetz-Jubiläum von einem “Auftrag”, den Art. 146 GG unterstreiche.19 Kein Grund für Alarmsirenen: Das Nachdenken darüber und das Umsetzen eines solchen Prozesses dürfen nur sehr gründlich und konsensorientiert erfolgen. Die Verfassung darf gerade nicht spalten, sondern soll einen. Das zu erreichen, wird eher Jahrzehnte als Jahre in Anspruch nehmen. Wichtig ist zunächst, dass überhaupt eingesehen wird, dass das Grundgesetz in seiner jetzigen Form nicht sakrosankt, sondern reformbedürftig ist. Die Kernthese dieses Essays ist, dass es demokratisiert werden muss. Das käme allen Bürgern gleichermaßen zugute. Und aus neuen demokratischen Verfahren kann eine neue lebendige Demokratie erwachsen, die in der Lage ist, auch schwierigste Themen ganz anders als bisher weitgehend im Konsens zu lösen.

Für Reformbedarf spricht der erschreckende, schier unaufhaltsame Aufstieg der AfD. Die verfolgt nicht nur auf Bundesebene eine möglicherweise verfassungsfeindliche Programmatik, wie jüngst das OVG Münster urteilte20, sondern in manchen ostdeutschen Bundesländern laut dem jeweiligen Verfassungsschutz menschenfeindliche, völkisch-nationalistische, “gesichert rechtsextremistische” Positionen, die sich insbesondere in der Migrationsfrage gegen die Menschwürde richten.21 Sie muss vor dem Hintergrund definitiv als Gefahr für das Grundgesetz und die freiheitlich demokratische Grundordnung gesehen werden.

Die AfD sorgt für reflexartige Reaktionen bei den anderen Parteien, was einen Diskurs über eine demokratischere Verfassung erschwert. So fordert die AfD lautstark mehr Demokratie durch die Einführung von Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild. Schon deshalb dürften sich die Grünen, aber auch die SPD in den letzten Jahren zwangsläufig von der lange vertretenen Idee der Abstimmungen gelöst haben.22 Wer will schon fordern, was auch die AfD will? Differenzierungen bei der Art der Anwendung von Volksentscheiden fallen schwer. Dann lieber gleich rigoros ablehnen, mit der Folge, dass der AfD ein populistisch nutzbares Thema weitgehend als Alleinstellungsmerkmal überlassen worden ist.23 Nicht allein die AfD spaltet de facto, sondern auch die anderen Parteien indirekt, indem sie sich abgrenzen und indem sie versuchen, sie konsequent unmöglich zu machen. Dabei gehen schon mal langjährige Standpunkte über Bord, und der Dialog mit AfD-Wählern wird auch nicht leichter.

Die AfD ist absolut untragbar mit ihren teils völkischen Thesen, aber es fragt sich trotzdem, woher die enormen Zuwächse der letzten Umfragen kommen. Es ist trotz des geradezu “irren” Geheimtreffens in Potsdam, auf dem laut einer Correctiv-Recherche allen Ernstes bekannte Rechtsextreme, hochrangige AfD-Mitglieder sowie auch Mitglieder der Werte-Union mit finanzstarken Unternehmern über die Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland fantasierten (Stichwort: Remigration)24, davon auszugehen, dass die AfD im September 2024 für Furore bei drei ostdeutschen Landtagswahlen sorgen wird. Auch die SS-Verharmlosungen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah vor der Europawahl und die mutmaßliche China-Spionage seines engsten Mitarbeiters werden kaum für einen spürbaren Rückschlag sorgen. Sogar eine erstmalige Kanzlerkandidatur aus dem rechtspopulistischen Lager ist nicht mehr unwahrscheinlich. Die Sorge vor einem “Volkskanzler” geht um.25 Das alles gedeiht unkrautmäßig “auf dem Boden des Grundgesetzes”, welches doch gegen Nazis geschrieben wurde. Nicht einmal ein Verbotsverfahren ist aus Sorge vor einer eventuellen Niederlage in Karlsruhe und einem zu langen Verfahren wahrscheinlich. Die Demokratie soll es, muss es schon selber richten, heißt es dazu meist.

Wie konnte das Grundgesetz diese Situation zulassen?

Vielleicht sollten wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass das politische System des Grundgesetzes durchaus seine “Macken” hat, die wir uns allerdings als “gute” Bürger bislang nicht ausreichend bewusst gemacht haben, die aber auch kaum einmal ernsthaft aus dem politischen Betrieb an uns herangetragen werden. Mit Fremdenhass angereicherter knallharter Populismus ist das Gegenteil von konstruktiv. Das macht nichts heil, nur kaputt. Soviel ist klar: Falsch wäre es aber auch, die aktuellen Probleme der Demokratie allein auf die AfD zu projizieren. Gerade jetzt ist systemisches Hinterfragen gefordert, denn wie konnten wir nur in diese Zwickmühle geraten, in der wir stecken?

Neben den schon angedeuteten demokratischen Mängeln, die noch vertieft werden, gibt es diverse rechtsstaatliche Mängel, die unser aller Aufmerksamkeit bedürfen und nicht wie selbstverständlich weggeschwiegen werden sollten. Sie führen dazu, dass es eine Distanz zwischen Wählern und Abgeordneten gibt. Gemeint sind dabei nicht nur AfD-Anhänger, wenn diese auch, wie auch BSW-Anhänger, in großer Mehrheit die “Abgehobenheit” von Politikern als “größte Gefahr für die Demokratie” kritisieren.26 Politiker werden allerdings auch von vielen anderen Bürgern als eigeninteressenorientiert, unfähig und wenig bürgerfreundlich wahrgenommen. Ursache für den Rechtsruck, aber auch die generell bedenkliche hohe Politikverdrossenheit im Land, die im Fall mancher AfD-Wähler offensichtlich bis zur Politikverachtung umgeschlagen ist, sind zudem strukturelle Mängel im demokratischen Rechtsstaat, die ihre Basis im Grundgesetz haben. Nur wird darüber im “Kampf gegen rechts” kein Wort verloren. Wenn schon politische Fehler übertüncht werden, wie sollen dann strukturelle ein Thema werden? Wir haben doch wahrlich kein Demokratieproblem, oder? “Die” Demokratie, also die repräsentative Demokratie, funktioniert doch. Oder?

An der Stelle muss auf ein gut genährtes Missverständnis über die Bedeutung des Rechtsstaats hingewiesen werden. Wenn Bundesinnenministerin Nancy Faeser immer wieder, und das, ohne dass sich spürbar etwas verbessert hat, betont, “alle Instrumente des Rechtsstaats nutzen” zu wollen, um rechtsextremistische Netzwerke zu zerschlagen27, so versteht dies jeder sofort als klassische Kampfansage des Rechtsstaats gegen rechts. Der Rechtsstaat darf aber nicht auf Sicherheitskräfte wie Polizei und Verfassungsschutz reduziert werden. Rechtsstaat heißt in der politischen Theorie viel mehr als Durchgreifen des Staates auf Basis geltenden Rechts. Eine der oft ignorierten zentralen Kernaufgaben des Rechtsstaats ist es, die Macht der Herrschenden zu kontrollieren, zu beschränken, einzuhegen. Stichwort: Gewaltenteilung, besser gesagt Gewaltenverschränkung.

Haben Sie schon mal etwas von “Gewaltenverschränkung” gehört?

Tatsächlich haben wir bei differenzierter Betrachtung der rechtsstaatlichen Strukturen keine Gewaltenteilung, von der allerdings immer salbungsvoll geredet wird. Wissenschaftler nutzen den Begriff Gewaltenteilung nicht, wenn sie die Strukturen des Grundgesetzes detailliert beschreiben. Dann ist eher von der Verschränkung der Gewalten die Rede, nicht von ihrer Trennung. Der hoch gepriesene Rechtsstaat zeigt bei genauer Betrachtung gewisse Schwächen, die aber im üblichen Sprachgebrauch unerwähnt bleiben und so kaum als grundsätzlicher Mangel auffallen.28

Hier kommt ein wichtiger Vorgänger Rousseaus, gewissermaßen sein rechtsstaatliches Pendant, ins Spiel: Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu, kurz Montesquieu. Der hatte bekanntlich im 18. Jahrhundert korrekterweise erkannt, dass unkontrolliert Herrschende schnell in Versuchung des Machtmissbrauchs, ja in Größenwahn verfallen können. Um diese Gefahr einzuhegen, hat er die Theorie der Gewaltenteilung mit drei Gewalten erfunden. Dabei hat er nicht nur – wie zuvor John Locke – Exekutive und Legislative als Gewalten bezeichnet, sondern auch die Judikative hinzugezogen.29 Immanuel Kant sprach später von den drei “Staatswürden” und zwar ohne dass sie tatsächlich eine persönliche Würde hätten, sondern dass sie den Bürgern zum Dienen verpflichtet seien und dadurch im übertragenen Sinne Würde erlangen könnten.30 Kant war es wiederum auch, der von der notwendigen “Absonderung” der Staatsgewalten schrieb.31 Damit sei selbst ein “Volk von Teufeln” mit „Privatgesinnungen“ zur Raison zu bringen.32 Auch Kant beschrieb also die Idee der Gewaltenteilung.33

Tatsächlich liegt in der Bundesrepublik real keine Gewaltenteilung vor, obwohl dies der übliche Sprachgebrauch ist. Bei genauem Hinsehen gibt es in weiten Teilen Überlappungen der Gewalten.34 So wählt die Mehrheit des Parlaments den Bundeskanzler und seine Regierungskoalition und gibt es personelle Überschneidungen zwischen Regierung und Parlament, obwohl die Regierung der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Die gleichzeitige Ausübung von Ministeramt und Abgeordnetentätigkeit wird als „andauernde Verhöhnung der Gewaltenteilung“ bezeichnet.35 Wenn der Politikwissenschaftler Philip Manow ein „prekäres Austauschverhältnis“ zwischen Exekutive und Legislative kritisiert, so moniert er etwas, das uns völlig normal scheint, das wir nicht anders kennen und schon weil es irgendwie politisch inkorrekt erscheint , kaum hinterfragen.36 Im Ergebnis kommt der Opposition eine sie überfordernde Rolle als Hauptkontrolleur der Exekutive zu, da sie selbst keine Staatsgewalt ist.37 Sie kann dieser Funktion nicht gerecht werden, da sie nur auf die öffentliche Meinung Einfluss nehmen kann und gewisse Klagebefugnisse hat, nicht mehr.38 Außerdem hat sie in aller Regel kein Interesse, die Systematik zu ändern, da sie selbst in die machtvolle Regierungsfunktion strebt.

Auch das Bundesverfassungsgericht spricht offen von einem grundgesetzlichen System zahlreicher “Gewaltenverschränkungen und -balancierungen“. Das Prinzip der Gewaltenteilung sei zwar ein „tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes“, aber „nirgends rein verwirklicht“.39 Das sei nicht schädlich, da da das Grundgesetz eine absolute Trennung nicht fordere, nur die „gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten“, was mit Verlaub den im Grundgesetz manifestierten „Eiertanz“ der Gewalten nur unterstreicht.40

Am Punkt Gewaltenverschränkung kommen auch die Parteien als zentrale verbindende Player ins Spiel. Nicht wenige Rechtswissenschaftler sehen kein Problem darin, dass Parteien die drei Gewalten letztlich personell “ausmachen” (Legislative, Exekutive), bzw. bestücken (Judikative), obwohl die Gewalten voneinander unabhängig sein sollten. Historisch gesehen war der Begriff “Parteienstaat” zudem lange positiv im Sinne des reinen, guten Parlamentarismus besetzt.41 Rupert Scholz sprach allgemein von der „Parteienstaatlichkeit“ als „Funktionsbedingung der repräsentativen Demokratie“.42

Wissenschaftler nutzten den Begriff dann aber zunehmend beschreibend und äußerten vergleichsweise scharfe Kritik an “Machtbesessenheit, Bürgerferne, Eigennutz, Inkompetenz und mangelnder Vertrauenswürdigkeit”, die alle von Parteien ausgingen.43 Es war auch von überdehntem Einfluss der Parteien, “Okkupation des Staatlichen und des Gemeinwohls”44, parteipolitischer Durchdringung des öffentlichen Dienstes oder “Selbstbedienung” die Rede.45 Lange vor der Gründung der AfD stellten insofern nicht wenige Wissenschaftler öffentlich die Frage, ob sich die Parteien über das Grundgesetz „eine verfassungsrechtlich bedenkliche oder gar verfassungswidrige Machtstellung gesichert“ hätten.46 Sogar Bundespräsident Richard von Weizsäcker monierte im Jahr 1992 öffentlich, dass die Parteien „einen immer weitergehenden, zum Teil völlig beherrschenden Einfluß entwickelt“ hätten, der verfassungsrechtlich so nicht vorgesehen sei.47

Bei solchen Vorlagen und da sich strukturell praktisch nichts in der Folge getan hat, ist es kein Wunder, dass die AfD den Begriff zu einem ihrer populistischen “Kampfbegriffe” machen konnte. „Wenn wir morgen in einer Regierungsverantwortung sind, dann müssen wir diesen Parteienstaat abschaffen“, tönte etwa der brandenburgische AfD-Landtagsabgeordnete Hünich.48 Sofort zeigte sich der Verfassungsschutz alarmiert, sprach von einem „Verstoß gegen die Verfassung“. Und die Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) ließ wissen: „Diese Äußerungen sind falsch und gefährlich. Es gibt in Deutschland keinen ‚Parteienstaat‘, wie behauptet wird, sondern eine pluralistische Demokratie mit freien, gleichen und geheimen Wahlen.“49

Weiter aneinander vorbei kann man nicht reden. Jeder noch so tumbe Anti-Establishment-Spruch der AfD führt derzeit selbstredend zu einem „Demokratieschutz-Konter“, der schon deshalb massentauglich und höchst gerechtfertigt scheint, weil er gegen den „Feind von rechts“ geht. Aber ist nicht genau dieses Ping-Pong auch Auswuchs des „Parteienstaats“? Konflikt, Konflikt, Konflikt. Nicht-Miteinanderreden-Wollen, Polarisierung, Spaltung.

Muss das so weitergehen?

Alle, denen der Rechtsstaat und die Demokratie am Herzen liegen, sollten sie nicht als „gottgegeben“ und unverbesserbar sehen, sondern in Abständen auch mal prüfen. Dass die AfD so stark geworden ist, hat auch Gründe, die bislang noch nicht alle erkannt worden sind. Da lohnt schon mal der Blick auf die Strukturen des demokratischen Rechtsstaats. Es gibt hier erhebliche Angriffsflächen, sonst hätte es die teils erbitterten Diskussionen über den „Parteienstaat“ nicht schon seit den 80er, 90er Jahren gegeben. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion über die Rolle der Parteien im Staat. Sonst können Extremisten den Begriff pauschal und populistisch für ihre Zwecke missbrauchen. Das mag ein heikles Thema sein, aber zum Vorgehen gegen rechts gehört auch die Einsicht, dass es wunde Punkte im Gefüge der „Gewaltenteilung“ gibt. Und genau die würde die AfD hinter allem Protest sicherlich gern weiter für sich selber nutzen.

Es gibt wie gesagt Wissenschaftler, die sich schon lange und teils vehement am “Parteienstaat” und seinen Auswirkungen abarbeiten. Der Parteienforscher Hans Herbert von Arnim listet immer wieder erhebliche Mängel des Rechtsstaats auf. Parteien agierten zu oft und nicht ausreichend kontrolliert im eigenen Interesse. Besonders ungehörig für ihn: Parteien können sich über ihre in den Bundestag gewählten Abgeordneten selbst Finanzierungen gewähren. Dabei geht es um die Diäten sowie üppige Zuweisungen an Fraktionsvertreter und parteinahe Stiftungen. Die Opposition falle im Regelfall als Kontrolleur aus, da es meist um Pläne gehe, von denen alle Parteien profitierten.50

Es soll hier gar nicht diskutiert werden, wieviel genau Abgeordnete verdienen sollten. Das Problem ist der fragwürdige Weg, dass sie selbst über ihre Entlohnung entscheiden können. Das macht die Diäten per se fragwürdig. Der Anspruch auf die „Diäten“ folgt aus Art. 48 III GG.51 Danach haben Abgeordnete einen Anspruch auf „angemessene Entschädigung“. Nur was ist angemessen? Diäten klingt zwar nach Abnehmen, aber die Abgeordnetenentschädigungen, wie sie offiziell heißen, nehmen seit Jahrzehnten zu, manchmal auf einen Schlag erheblich. Seit Juli 2023 beträgt die zu versteuernde Abgeordnetenentschädigung für Bundestagsabgeordnete 10.591,70 Euro brutto.52 Das ist die Basisausstattung. Hinzu kommt eine steuerfreie sogenannte Kostenpauschale in Höhe von derzeit 4.725,48 Euro53, Amtsausstattungen54 und eine beitragsfreie, aus Steuermitteln finanzierte Altersversorgung in Höhe von monatlich 2,5 Prozent der Abgeordnetenentschädigung, die mit jedem Jahr der Mitgliedschaft um 2,5 Prozent angehoben wird. Das bedeutet, dass Abgeordnete bereits nach sechs Jahren einen höheren Anspruch als die Durchschnittsrente (1.384 Euro) haben, wobei Arbeitnehmer dafür mindestens 35 Versicherungsjahre ableisten müssen. Dies ist selbst unter Abgeordneten unterschiedlicher Fraktionen nicht unumstritten.55

Summen und Mechanismen der Diätenberechnung werden von den Abgeordneten seit jeher selbst festgesetzt. Das soll laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 regelmäßig „vor den Augen der Öffentlichkeit“ geschehen.56 Dies gelang freilich nicht immer, wie etwa die Wahl des Wortes „Diätenanpassung“ zum „Unwort des Jahres“ 1995 gezeigt hat. Erhöhungen der Bezüge werden, wie 2014, auch schon mal per „Blitzgesetz“ (von Arnim) in nur gut einer Woche durchgebracht.57 Immer wieder gibt es Kontroversen: Zuletzt wurden die Diäten in zwei Stufen auf das Niveau von Bundesrichtern angehoben und gleichzeitig an die Entwicklung der Bruttogehälter deutscher Arbeitnehmer (sog. Nominallohnindex) angekoppelt und damit dynamisiert, was für Hans Herbert von Arnim nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar war. Es hätte laut ihm einer Grundgesetzänderung bedurft, und dieser bedürfe es wegen der fehlenden öffentlichen Kontrollmöglichkeit bis heute.58 Die Folgen sind im Jahr 2024 erheblich: Ausgerechnet in einer Phase fehlenden politischen Vertrauens in die Politik kommt es aufgrund der um sechs Prozent gestiegenen Nominallohnentwicklung zu einer Rekord-Erhöhung allein der Basisausstattung um 635,50 Euro auf 11.227,20 Euro – und zwar automatisch ohne jegliche Aussprache im Bundestag. Ein Aufreger in zahlreichen Zeitungen. Der Bund der Steuerzahler beschreibt einen „nicht würdigen“ Vollautomatismus.59

Von Seite der Abgeordneten wurde die Erhöhung mit den Empfehlungen der sogenannten Schmidt-Jortzig-Kommission aus 2013 begründet. Diese muss jedoch als befangen gelten, da sie aus Abgeordneten, Ministern, Parlamentarischen Staatssekretären und anderen dem Bundestag nahen Personen bestand.60 Von Arnim kritisierte insbesondere auch die geradezu „schamlose Selbstbereicherung“ der Abgeordneten im Berliner Rathaus mittels einer 58prozentigen Erhöhung der Bezüge im Jahr 2019.61 Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Erhöhung zwischenzeitlich für rechtmäßig erklärt.62

Was ist mit dem Grundsatz “Nemo iudex in sua causa”? Niemand darf in seiner eigenen Sache richten, bzw. kein Amtsträger, auch nicht die Parlamentarier, dürfen in eigener Sache entscheiden63 - ein überflüssiges Gebot?

Hier ist entscheidend, ob der Grundsatz als Rechtsgrundsatz oder bloß als ethisches Postulat eingeordnet wird.64 Im ersten Fall würde er die demokratische Legitimation “stechen”, mit der solche “Selbstentscheidungen” bislang wie selbstverständlich gefällt werden. Im zweiten Fall käme es auf die Moral der Abgeordneten an. In einem Rechtsstaat reicht unethisches Verhalten nämlich nicht für ein Untersagen. Im Gegenteil können sich Abgeordnete darauf berufen, dass sie demokratisch legitimiert und daher rechtlich zu solchen Entscheidungen befugt sind. Der Streit braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, denn Wissenschaftler sind sich immerhin an dem Punkt weitgehend einig, dass in Bezug auf das Parlament ein verfassungswidriges “strukturelles Kontrolldefizit” vorliegt.65

Tatsächlich ist das Bundesverfassungsgericht bei Entscheidungen in eigener Sache zumeist außen vor, selbst wenn es 1992 Obergrenzen für die Parteienfinanzierung festlegte.66 Im Grundsatz gilt: Wo kein Kläger, da keine Prüfung und kein Urteil.67 Finanzierungsgesetze werden da schon mal während einer Fußball-WM durchgebracht, wenn Tore gerade öffentlich mehr zählen sollen als Transparenz.68 Zwar hatten Grüne, Liberale und Linke ausnahmsweise mal im Jahr 2019 vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt und vier Jahre später sogar Recht bekommen, da die GroKo ihren Begründungspflichten für die Erhöhung nicht ausreichend nachgekommen war.69 Die Begründung wurde dann im Bundestag auch nachgeholt, indem die Erhöhung mit erheblich gestiegenen Kosten für Digitalisierung und innerparteiliche Beteiligung erläutert wurden. Die absolute Obergrenze wurde dann trotzdem rückwirkend auf 184,7 Millionen Euro angehoben, was nur 5,3 Millionen Euro unter der von der GroKo ursprünglich versuchten Erhöhung lag.70 Viel Rauch um nichts. Bezeichnenderweise kam es nicht zu der zeitweise im Raum stehenden Option einer von den Parteien losgelösten Kommission.71 Kritiker monierten, dass das Ganze erneut ein Fall für Karlsruhe werden könnte, weil auf einmal Sachverhalte einberechnet wurden, die sich nach dem Stichjahr 2018 ereignet hatten.72 Aber dazu kam es nicht, denn, wie gesagt, hat im Grundsatz keine Partei ein Interesse daran, sich selbst den Geldhahn zuzudrehen.

Besonders weidlich nutzen die Parteien laut von Arnim das Schlupfloch der „Ersatzparteien“. Dabei handele es sich um indirekte, bzw. verdeckte Parteienfinanzierung in großem Maße:

„„Die politische Klasse legt nicht nur das eigene Einkommen fest, sondern auch die Finanzierung der eigenen Hilfskräfte und Organisationen: der Abgeordnetenmitarbeiter, der Parteien, der Parlamentsfraktionen und der Parteistiftungen.“73

Über diese sogenannten „Ersatzparteien“ – Stiftungen, Fraktionen und Mitarbeiter – sind die faktischen Zahlungen an die Parteien bei Einbeziehung der Länder auf rund 900 Mio. Euro jährlich angewachsen. Das ist das Vierfache (!) der direkten Zuwendungen an die Parteien. Insgesamt seien die Zahlungen für die Alternativen zur herkömmlichen Parteienfinanzierung zwischen 1968 und 2015 stark verdreißigfacht worden.74 Die Parteienfinanzierung ist in Summe also entgegen der Vorgabe der Eltern des Grundgesetzes in immense Höhen geschossen.

Verfassungswidrig und dreist, so bezeichnet von Arnim sogenannte Funktionszulagen für eine breite Zahl von Fraktionsvertretern (stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Arbeitsgruppensprecher, Landesgruppensprecher und Sprecher sozialer Gruppen). Denn sie verstießen gegen das sogenannte zweite Diäten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000. Dieses hatte – wenn auch in Bezug nur auf Thüringen – klargestellt, dass Zulagen nur an Fraktionsvorsitzende zu zahlen seien, niemanden sonst. 75 Das Bundesverfassungsgericht hatte allerdings später mehrfach betont, „allgemeine Maßstäbe“ für Parlamente auf allen Ebenen aufgestellt zu haben, selbst wenn das Urteil konkret nur zu einem Bundesland gefallen sei.76 Damit sind Zahlungen dieser Art, die in Bund und Ländern jährlich zusammen über 5 Mio. Euro betragen, höchst fragwürdig, werden aber stur weitergeleistet. Verteidigern der Praxis wirft von Arnim persönliche Befangenheit vor:

„Die Autoren, die anderer Auffassung sind, sind regelmäßig Angestellte oder sonstige Bedienstete von Parlament oder Fraktionen oder sie machen Gutachten für sie und verdanken den Parteien auch sonst einiges."77

Auch bei der Finanzierung der Fraktionen gibt es laut von Arnim Schnittmengen, griffen doch die Bundestagsfraktionen ihren Parteien widerrechtlich durch intensive Öffentlichkeitsarbeit unter die Arme und ersparten ihnen so Ausgaben. Die Bürger unterschieden nun einmal kaum zwischen Parteien und Fraktionen.78 Die Finanzierung der Fraktionen seien gesetzlich nur oberflächlich geregelt (vgl. § 58 Abgeordnetengesetz). Es fehle fatalerweise die klare Regelung der Höhe der Zuschüsse.79

Erwähnt sei noch die Grauzone, ob Abgeordnete ihre Mitarbeiter statt nur für Parlaments- auch für Wahlkampfarbeit einsetzen können. Ein unerlaubter Wahlkampfeinsatz lasse sich nur schwer nachweisen, so das Bundesverfassungsgericht, das damit vor der Situation kapitulierte, dass Mitarbeiter einfach behaupteten, in ihrer Freizeit am Wahlkampfstand gestanden zu haben.80 Regelungsversuche der Bundestags-Fraktionen inklusive Ordnungsgeldern sind – wenig verwunderlich – bislang weitgehend ins Leere gelaufen.81

Was wiederum die parteinahen Stiftungen angeht, die übrigens mit Ausnahme der Friedrich-Naumann-Stiftung eigentlich Vereine sind82, ging der Trick bis letztes Jahr so: Während bei Erhöhungen von Parteizuschüssen aufwendig das Parteiengesetz geändert werden müsste und Verhandlungen über das Ob und die Höhe offen geführt werden müssten, wurden Zuwendungen für sie ohne Gesetz beschlossen und einfach im Haushaltsplan versteckt.83 Ein lukratives Modell, wurden doch den Stiftungen zuletzt jährliche Globalzuschüsse in Höhe von 116 Mio. Euro bewilligt, zu denen noch rund 340 Mio. Euro für teils im Ausland angesiedelte Projekte kommen. Von Arnim hatte schon lange darauf hingewiesen, dass das Modell verfassungswidrig sei.84 Diese Sicht bestätigte im Februar 2023 schließlich das Bundesverfassungsgericht.85 Es fehlten bei der letzten Erhöhung der gesetzliche Grund und eine Regelung zur Höhe.

Das Pikante: Es bedurfte ausgerechnet einer Klage der AfD, die ebenfalls für die ihr nahestehende Desiderius-Erasmus-Stiftung von den üppigen Zuschüssen profitieren wollte, die ihr von den anderen Fraktionen nicht gewährt worden waren. Sodann bereitete sie der unwürdigen Praxis mit einem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ein Ende, in dem sie eine gesetzliche Regelung in Form eines Stiftungsfinanzierungsgesetzes forderte. Das Urteil war eine deftige Ohrfeige für die anderen Parteien.86 Diskutiert wurde nach dem Urteil freilich über ganz anderes als deren offengelegten Trick. Es dürfte den Parteien sehr recht gewesen sein, dass der Fokus sich ganz hin verschob. Denn es stellt sich bis heute die weitere Frage, ob die AfD Anspruch auf hohe staatliche Zuschüsse für “ihre” Stiftung hat, wo sie doch im Verdacht steht, verfassungsfeindlich zu sein?87 Eine wichtige und richtige Diskussion, die zu Recht durch einen Passus im Urteil befeuert worden ist, wonach Parteien von der Stiftungsfinanzierung auszuschließen seien, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten.88 Diese Bedingung steht nun auch im Ende 2023 gegen die Stimmen der AfD verabschiedeten Stiftungsfinanzierungsgesetz. Außerdem wurde im Gesetz verankert, dass Parteien dreimal hintereinander in Fraktionsstärke in den Bundestag gewählt worden sein müssen, um den Anspruch auf Stiftungsgelder zu haben, was bei der AfD bislang noch nicht der Fall ist. Beide gesetzliche Voraussetzungen richten sich ganz offensichtlich gegen die AfD, die nun erneut ihr Heil in Karlsruhe suchen wird. Profitiert sie bei den Wahlen womöglich als Märtyrer?89

Ob die vom Europarat kritisierte deutsche Parteispendenpraxis oder die Praxis des Sponsorings – es gibt noch weitere nicht konsequent kontrollbedürftige Finanzierungsbereiche, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll.

Ein weiterer Befangenheitsbereich, für den die Fraktionen im Bundestag zuständig sind, ist das Wahlrecht.90 Die per Wahl demokratisch legitimierten Abgeordneten sollen Gesetze für das Gemeinwohl machen, nutzen aber de facto die Möglichkeit, es zu eigenen Gunsten zu konzipieren, was eine fragwürdige Art institutionalisierter Befangenheit ist. Das Wahlrecht ist nämlich hochpolitisiert, was sich etwa an den letzten beiden Reformen sehr deutlich zeigte. Klar ist: Die schon vor der Wahl 2017 völlig überdimensionierte Zahl von 709 Sitzen wurde trotz eines „Wahlreförmchens“ kurz vor der Wahl 2021 nochmals getoppt. Der Bundestag hat seither 736 Sitze, sollte aber eigentlich 598 Sitze haben.91

Besonderer Ausdruck parteipolitischer Befangenheit, bzw. eines strukturellen Kontrolldefizits, war zuletzt die Wahlrechtsreform der Ampel im Jahr 2023, bei der es zur Verkleinerung des Bundestags insbesondere um die Kappung bislang sicherer Direktmandate (bei Wegfall der Ausgleichs-und Überhangmandate) und dazu die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel ging. Letztere wurde vom Bundesverfassungsgericht Ende Juli 2024 gekippt.92 Die Streichung der Grundmandatsklausel hatte CSU und Linke vorübergehend in gewisse Existenzängste gebracht. Die Klausel wirkte zuvor noch als Ausgleich zur Fünf-Prozent-Sperrklausel (§ 4 II S. 2 Nr. 2 BWahlG), indem sie solchen Parteien Sitze im Bundestag in Fraktionsstärke zusicherte, die unter der Sperrklausel bleiben, aber mindestens drei Direktmandate in den Wahlkreisen erlangen. Diese Regelung rettete die Linke im Jahr 2021 knapp vor der Bedeutungslosigkeit und hätte sich auch für der CSU als Rettungsanker erweisen können, falls diese bei der Bundestagswahl 2025 bundesweit unter der Fünf-Prozent-Sperrklausel geblieben wäre. Die Karlsruher Richter betonten, dass drei Wahlkreisgewinne “Indizien” dafür seien, dass die Parteien “besondere Anliegen” aufgegriffen hätten, die eine Repräsentation im Parlament rechtfertigten.93

Ernüchternd war im zuvor die Analyse einer Sachverständigen-Anhörung aus dem Februar 2023 ausgefallen. Neun von zehn Experten lehnten den Entwurf der Ampel-Koalition ab.94Beschlossen wurde er trotzdem.95 Das Ganze wirft über das Urteil hinaus rechtspolitische Fragen auf. Im Fokus dabei: die Selbstverständlichkeit des Vorgehens der Ampel als Gesetzgeber “in eigener Sache”. Diese hat durch Ausnutzung ihres verfassungsrechtlichen Spielraums nicht nur Recht verletzt, sondern auch ein gutes Stück weit die politische Kultur beschädigt. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel war wurde letztlich als “parteiisch” entlarvt.96 Schon im Vorfeld war der SPD das Kalkül unterstellt worden, die Linke durch die Reform „bundespolitisch bedeutungslos werden zu lassen“97, ein Vorwurf, der auch gegen die anderen Ampelparteien erhoben werden kann. Kritiker sprachen gar von einem „Akt der politischen Gewalt“ der Ampel gegen die kleineren Parteien98, die selbst von „Manipulation“ sprachen (so CSU-Chef Markus Söder). Manche Kritiker vergleichen die ihr Vorgehen mit dem amerikanischen „Gerrymandering“, also dem bewussten Verschieben von Wahlkreisgrenzen zu eigenen Gunsten, sobald sich die Gelegenheit durch politische Macht ergibt.99 Für die Reform sprach zwar die dadurch erreichte Verkleinerung des Bundestages. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Zahl von zuletzt 736 auf nur 630 Sitze reduziert worden ist, nicht auf die ursprüngliche Sollgröße von 598 Sitzen. Im Ergebnis liegt also tatsächlich eine schleichende Vergrößerung des Bundestags vor.100

Wie schon bei den Finanzfragen besteht beim Wahlrecht die Gefahr, dass die Akzeptanz der Demokratie durch allzu eigenmächtiges Vorgehen leidet. Man stelle sich nur die Situation vor, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl zwar in 45 Wahlkreisen die meisten Stimmen erringt, aber bei nur 4,9 Prozent der Stimmen ohne Abgeordnetenmandate bliebe. Es muss auch zu denken geben, dass Wahlrechtsreformen gleich zweimal innerhalb kurzer Zeit in Karlsruhe landen, schlicht weil sich die demokratischen Parteien nicht einigen können.101 Und was ist das für ein Zustand, dass das Wahlrecht jederzeit aufs Neue wieder geändert werden kann, sobald sich die Mehrheitsverhältnisse ändern?102 Ein “Wahlfrieden“ wird so absehbar nicht erreicht.

Ist das alles noch eines Rechtsstaats würdig, wenn das Wahlrecht zum Spielball parteipolitischer Interessen verkommt?

Zu einem weiteren Zankapfel: Lobbyismus. Zunächst dürfte wohl nur wenigen bekannt sein, dass gar nicht der Bundestag der Ort ist, wo die meisten Gesetze erarbeitet werden, die er beschließt. Tatsächlich stammen die mit Abstand meisten Gesetze nicht aus dem “Haus der Gesetzgebung”, dem Bundestag, sondern haben ihren Ursprung in den Ministerialbürokratien, oft auch aus Anwaltskanzleien, jeweils im Auftrag der Regierung. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordete Marco Bülow erläutert eindrucksvoll, dass dies daran läge, dass das Parlament kaum Ressourcen habe, um gegen die schier übermächtig ausgestattete Ministerialbürokratie zu bestehen. Das Verhältnis von Exekutive und Legislative in deren ureigenen Bereich der Gesetzgebung beschreibt er als “Regierung Koch, Parlament Kellner”. 103 Das sogenannte „Strucksche Gesetz“, wonach kein Gesetz den Bundestag verlässt, wie es hineingekommen ist, ist für Kritiker eine „hohle Phrase“. Es diene letztlich dem Kaschieren des Zustands, dass faktisch trotzdem die Bundesregierung der Gesetzgeber ist.104

Hier liegt also bereits eine Verzerrung vor. Hinzu kommt,, dass es in den Ministerien viele weitgehend unbemerkte Einflüsse von Lobbyisten gibt. Es soll sogar eigens eingerichtete Schreibtische für Lobbyisten geben, die schon mal wie selbstverständlich “in das Tagesgeschäft integriert” werden und bei Gesetzesentwürfen “beratend und sachverständig” tätig werden.105 Der Einfluss der Lobbyisten, die nach den Medien als vierte schon mal als “fünfte Gewalt” bezeichnet werden106, ist aufgrund geringer Transparenz kaum zu kontrollieren.

Das gilt auch für das Lobbying von Abgeordneten selbst: Denn zwar gibt es seit der Amthor-Affäre und den sogenannten Masken-Deals im Jahr 2022 erstmals ein Lobbyregister für den Bundestag, das auf Transparenz setzt.107 Wenn aber nicht einmal der Auslöser für das Gesetz, also der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor, im Wiederholungsfall davon erfasst wäre, muss etwas falsch gelaufen sein. Das Lobbyregister stellt Transparenzregeln tatsächlich nur für die Einflussnahme von außen auf, nicht von innen, von Seiten der Abgeordneten selbst – eine offensichtliche Regelungslücke.108 Sehr fragwürdig, aber kaum eine Überraschung, haben die Abgeordneten das sie betreffende Gesetz doch selbst verabschiedet.

Zwar wurde das Lobbyregister im Oktober 2023 nachgeschärft109