Fake History – Hartnäckige Mythen aus der Geschichte - Jo Hedwig Teeuwisse - E-Book
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Fake History – Hartnäckige Mythen aus der Geschichte E-Book

Jo Hedwig Teeuwisse

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Beschreibung

Vom berühmten Zitat »Dann sollen sie doch Kuchen essen«, das fälschlicherweise Marie Antoinette zugeschrieben wird, bis hin zu den berüchtigten Hörnern, die Wikingerhelme geschmückt haben sollen – so gut wie jeden Tag werden in den Nachrichten, in Zeitschriften und vor allem in den Sozialen Medien falsche Behauptungen über geschichtliche Ereignisse und Personen verbreitet.

Jo Teeuwisse, die man auf Twitter als »The Fake History Hunter« kennt, entlarvt in diesem Buch 101 der weitverbreitetsten Mythen über historische Tatsachen und stattet uns so mit dem nötigen Rüstzeug aus, um vor unseren Freunden mit geschichtlichem Wissen zu glänzen und Geschichtsfälschungen zu erkennen und zu korrigieren, wo immer wir ihnen begegnen.

  • Von Napoleons geringer Körpergröße über gehörnte Wikingerhelme bis hin zu Neros Musizieren über dem brennenden Rom: Jo Teeuwisse entlarvt 101 landläufige Irrtümer und verfolgt ihre Spuren zurück bis zu ihren Anfängen
  • Bestes Infotainment für Besserwisser, Faktensammler und Geschichtsbegeisterte

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Seitenzahl: 514

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»Fake History hat viel mit Fake News gemein, nur dass die News hier ziemlich alt sind. Dieses Buch steckt voller Beispiele, von denen viele erst einmal lustig oder ziemlich harmlos klingen mögen. Andere aber können echt schädlich und gefährlich sein. Fake History treibt nicht nur im Internet ihr Unwesen – es gibt auch Legenden, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, ohne dass man sie je hinterfragt hatte. Und selbst die Informationen, die wir in Museen bekommen, stimmen nicht immer. So kommt es, dass am Ende Millionen Menschen den größten Unfug glauben. Geschichte ist bedeutsam. Sie ist ein Leitfaden, der uns hilft, die Vergangenheit zu verstehen, aus der Gegenwart klug zu werden und manchmal sogar zu begreifen, was vor uns liegt – wie bei den Geschichten in diesem Buch.«

Jo Hedwig Teeuwisse

Jo Hedwig Teeuwisse ist eine weithin anerkannte niederländische Historikerin, die als »The Fake History Hunter« in den Sozialen Medien falsche historische »Fakten« entlarvt. Seit über 20 Jahren studiert, lehrt und forscht sie im Bereich Geschichte und ist Expertin für das tägliche Leben im Mittelalterlichen Europa sowie für die Geschichte der Kriminalität. Jo Teeuwisse hat als historische Beraterin in Museen unterrichtet, an Dokumentarfilmen mitgearbeitet und für zahlreiche Filme recherchiert. Sie lebt in Bourtange, nahe der deutsch-niederländischen Grenze.

JOHEDWIGTEEUWISSE

Fake

History

Hartnäckige Mythen aus der Geschichte

101 Dinge, die so nie passiert sind, aber alle für wahr halten

Aus dem Englischen von Ralf Pannowitsch

wilhelm Heyne VerlagMünchen

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Fake History« bei WH Allen, einem Imprint von Ebury. Ebury ist Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 2023

© by Jo Hedwig Teeuwisse 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch

unter Verwendung eines Fotos von Shutterstock.com(Peyker, Everett Collection, Marti Bug Catcher, Marzolino)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-30797-4V001

www.heyne.de

Für meine Mutter Constance, die ein geschichtssüchtiges Kind großziehen musste. Das war nicht einfach, und doch war sie immer stolz auf mich. Sie hat dieses Buch mit Spannung erwartet, verstarb aber leider, bevor es veröffentlicht wurde.

Inhalt

Einleitung

Was ist Fake History, und warum ist sie schlecht?

1 Napoleon Bonaparte hat der Sphinx die Nase weggeschossen

2 Hugo Boss hat die Naziuniformen entworfen

3 Marie Antoinette hat gesagt: »Dann sollen sie doch Kuchen essen!«

4 Die berühmte Person X hat den klugen Ausspruch Y getätigt

5 Raumschiff Enterprise zeigte 1968 im Fernsehen den ersten Kuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe

6 Die Serie EastEnders zeigte 1989 den ersten Fernsehkuss von Menschen gleichen Geschlechts

7 Die Wikinger hatten Hörner auf ihren Helmen

8 Im Mittelalter aßen die Leute Kartoffeln

9 Der Ausdruck Hangover stammt daher, dass sich Schnapsleichen früher über Seile zu hängen pflegten

10 Der Weihnachtsmann trägt wegen Coca-Cola Rot

11 Konzentrationslager sind eine deutsche Erfindung

12 Eine schmale Pforte bewahrte portugiesische Mönche davor, fett zu werden

13 Das FBI prägte den Begriff Serienmörder in den 1970er Jahren

14 Das Wort Honigmond kommt daher, dass man einem frisch verheirateten Paar eine Monatsration Met zu schenken pflegte

15 Clara Bow, die berühmte Schauspielerin aus den 1920er Jahren, war Nationalsozialistin

16 Coca-Cola verwendete in der deutschen Werbung Nazislogans und -symbole

17 Dieser Hund wurde ins Gefängnis gesteckt, weil er eine Katze ermordet hatte

18 Im Zweiten Weltkrieg trug ein Soldat einen Esel über ein Minenfeld

19 Diese Frau hat an einem Berliner Grenzübergang einen dramatischen Sprint in die Freiheit hingelegt

20 Die Schnabelmaske der Pestärzte stammt aus dem Mittelalter

21 Dieses Foto aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt einen deutschen Soldaten mit einem Handy

22 Man verhaftete das Kleinkind François Bertillon und machte ein Verbrecherfoto von ihm

23 Medienleute, Ärzte und Krankenschwestern wurden 1945 in Nürnberg öffentlich gehängt

24 Die früheste Darstellung von Jesus findet sich in einem Museum in Kairo

25 Prostituierte maßen in der viktorianischen Ära die Zeit pro Kunde mit winzigen Kerzen ab

26 Im Mittelalter hatten alle Menschen furchtbar schlechte Zähne

27 Diese Fenster wurden geschaffen, damit die Leute zu Zeiten des Schwarzen Todes weiterhin Wein kaufen konnten

28 Dieses Foto zeigt Charlotte E. Ray, Amerikas erste schwarze Anwältin

29 Eine Fürstin und eine Gräfin duellierten sich im 19. Jahrhundert oben ohne

30 Dieses schöne französische Haus wurde 1509 erbaut

31 Thomas Edison hat die Glühbirne erfunden

32 Aus Ärger über einen unhöflichen Verkäufer benutzte ein Maharadscha zehn Rolls-Royces für die Straßenreinigung

33 Napoleon war klein

34 Newton kam auf seine Gravitationstheorie, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel

35 Als Rom brannte, fiedelte Nero

36 Das römische Vomitorium war ein Raum, in dem man sich erbrach

37 Wendeltreppen in Burgen wurden im Uhrzeigersinn gebaut, um den Verteidigern beim Kämpfen einen Vorteil zu verschaffen

38 Der Kinderreim »Ring a Ring o’ Roses« handelt von der Pest

39 Die V-Geste geht auf mittelalterliche Bogenschützen in der Schlacht bei Azincourt zurück

40 Lady Godiva ritt wegen einer Steuersache nackt durch die Stadt

41 Im viktorianischen England hatten sie spezielle Köfferchen für die Vampirjagd

42 Einstein ist in Mathe durchgefallen

43 Antike und mittelalterliche Statuen und Gebäude waren immer weiß oder ohne Bemalung

44 Im Mittelalter wurden Millionen Frauen der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt

45 Der Hitlergruß hat römische Ursprünge

46 Tote Wikinger wurden auf See in einem brennenden Schiff »begraben«

47 Der Teppich von Bayeux ist ein Teppich (und König Harald wurde von einem Pfeil ins Auge getroffen)

48 Nelsons letzte Worte waren: »Küss mich, Hardy!«

49 Beim Hochwasser von 1910 trieben Hunderte Bücher durch die Straßen von Paris

50 Dass Karotten orange wurden, verdanken wir den Holländern, die damit ihr Königshaus ehren wollten

51 Carl Benz hat das Auto erfunden

52 Das ist ein Foto von Bertha Benz und ihren Söhnen bei der allerersten Autoreise 1888

53 Im Mittelalter konnte niemand außer dem Klerus lesen

54 Das allererste Video- oder Computerspiel war Pong

55 Die chinesische Große Mauer ist das einzige von Menschen geschaffene Objekt, das aus dem Weltall erkennbar ist

56 Im Mittelalter dachten die Leute, die Erde sei eine Scheibe

57 Im Mittelalter leerte jeder seinen Nachttopf auf die Straße, oft gleich aus dem Fenster hinaus

58 Königin Elisabeth I. badete einmal jährlich, »ob sie es nötig hatte oder nicht«

59 Der Ausdruck »upper crust« für die oberen Zehntausend kommt daher, dass die Reichen früher die Oberseite eines Brotes bekamen, während sich die Armen mit dem Boden zufriedengeben mussten

60 Ein langer Bart kostete seinen Träger das Leben

61 Königin Elisabeth II. verbeugte sich vor Kaiser Haile Selassie

62 Im Mittelalter waren die Europäer dreckig, und die Mauren mussten ihnen die Grundlagen der Hygiene und den Gebrauch von Seife erst beibringen

63 Die ersten Frauen in kurzen Hosen provozierten einen Autounfall

64 Ein Mann testete Football-Helme, indem er mit dem Kopf voran gegen eine Mauer rannte

65 Paris Hilton hat das Selfie erfunden

66 Wojtek der Bär wurde im Zweiten Weltkrieg Mitglied einer polnischen Militäreinheit, wechselte aber die Seiten und lief zu den Deutschen über

67 Dies ist die Klinge der Guillotine, mit der Marie Antoinette getötet wurde

68 Die Minions aus Ich – Einfach unverbesserlich basieren auf Fotos von Naziexperimenten an Kindern

69 Das Weiße Haus wurde weiß angestrichen, um die Schäden zu verdecken, nachdem die Briten es angezündet hatten

70 In der Tudorzeit verwendete man Gewürze, um den Geschmack von altem Fleisch zu überdecken

71 Erin O’Keefe wurde im Jahre 1876 von Bergratten gefressen

72 Königin Elisabeth II. bewarf arme Afrikaner mit Lebensmitteln

73 Marlene Dietrich wurde in den 1930er Jahren festgenommen, weil sie Hosen trug

74 In der Schlacht von Gallipoli kollidierten 1915 zwei Gewehrkugeln – so etwas passiert mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Milliarde

75 Dieses mysteriöse Foto zeigt ein verlassenes mittelalterliches Dorf

76 Hugh Hefners Großvater erfand die Playboy-Häschen

77 Dies ist die allererste Miss World

78 Dies ist der erste Roboter der Welt

79 Die Pyramiden wurden von Sklaven erbaut

80 Das ist ein Foto von Bill the Butcher, dem berüchtigten Bandenchef aus dem 19. Jahrhundert

81 Der erste Computervirus der Welt war eine universelle Friedensbotschaft

82 Die Europäer erbauten in Äthiopien eine Brücke, aber die Einheimischen konnten sie nicht reparieren und überquerten den Fluss an Seilen

83 Dr. Batty’s Asthmazigaretten wurden in viktorianischer Zeit als gesundheitsförderlich beworben

84 Dieses riesige Gerät war die erste Kamera der Welt

85 Das ist das allererste Katzenfoto

86 Dies ist das allererste Hundefoto

87 In viktorianischer Zeit verhüllte man die Beine von Möbelstücken, weil sie zu aufreizend waren

88 Im Mittelalter brannten überall Fackeln

89 Beethoven war schwarz

90 Diese Frauen wurden 1922 in China wegen Hexerei bestraft

91 Daumen runter bedeutete in der römischen Antike den Tod des Gladiators

92 Dieses gruselige Foto zeigt die Serienmörderin Leonarda Cianciulli dabei, wie sie aus Menschen Seife macht

93 Diese jungen Frauen verabschieden sich im Zweiten Weltkrieg voll Traurigkeit von den Matrosen

94 Um die Nazis zu täuschen, benutzten Geheimagenten sonderbare Schuhe, deren Sohlen verkehrt herum angebracht waren

95 Die eiserne Jungfrau und die Mundbirne waren brutale mittelalterliche Folterinstrumente

96 Im Mittelalter tranken die Leute statt Wasser Bier

97 Hitler erfand die Autobahn

98 Ehe die Ritter zum Kreuzzug aufbrachen, legten sie ihren Frauen Keuschheitsgürtel an

99 Die Toilette mit Wasserspülung wurde von Thomas Crapper erfunden

100 Ein aus dem Fenster fallendes Baby wurde zweimal vom selben Mann gerettet

101 Dies ist eine fantastische Jugendstilvilla in Bukarest

Googeln Sie das mal

Nachwort: Wie man Fake History auf die Spur kommt

Danksagung

Quellenverzeichnis

Unkonventionelles Register

Bildnachweis

Einleitung

Ich war schon immer von Geschichte besessen.

Als kleines Mädchen trieb ich meine Eltern in den Wahnsinn, weil ich im Urlaub immer wollte, dass sie mich zu Burgen und Ruinen brachten, während sie sich an einem hübschen Strand in die Sonne legen und erholen wollten. Ich wurde auch mehrmals dabei erwischt, wie ich im Museum versuchte, die Leute auf alten Gemälden in ein Gespräch zu verwickeln, und außerdem träumte ich davon, Seeräuberin zu werden. Ich war ein etwas spezielles Kind.

Als ich heranwuchs und merkte, dass Piraterie heute meist nichts mehr mit Dreimastern, Kanonen und Holzbeinen zu tun hat, beschloss ich, lieber Kriegsreporterin zu werden. Zum Glück kam dann meine kleine Schwester Lotte zur Welt, wodurch ich plötzlich Große Schwester war und mir klar wurde, dass sich diese Ehre schlecht damit vereinbaren ließ, für die Nachrichten das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.

Nachdem ich eine Weile in einer weniger tödlichen Abteilung des Film- und Fernsehgeschäfts gearbeitet hatte, musste ich entdecken, dass mein Herz nicht für diesen Job schlug, und ich beschloss, eine neue Laufbahn zu beginnen. Irgendwie schaffte ich es, die nächsten zwei Jahrzehnte mit historischen Hintergrundrecherchen für Schriftsteller, Museen, Macher von Dokumentarfilmen, Spielfilmen, Fernsehsendungen etc. zu verbringen. Ich konzipierte Ausstellungen in Museen, recherchierte für große internationale Filmproduktionen, löste Rätsel, die andere Forscher nicht hatten knacken können, und präsentierte Beweisstücke, von denen die Dokumentarfilmer dachten, sie wären unauffindbar. Ich stellte bei Museumsführungen Personen aus der Vergangenheit dar, wobei ich authentische Kleidungsstücke aus jenen Epochen tragen und wie unsere Vorfahren leben musste, solange ich zu den Besuchern sprach. Es machte mir auch Spaß, Set Dresser und die Kostümabteilungen von Theatern und Filmstudios auf Fehler und Ungenauigkeiten hinzuweisen. Geschichte war mein Brot, meine Butter, mein Suchtmittel, und so ist es bis heute geblieben.

Aber eines Tages beschloss ich, der Stadt zu entfliehen, auf eine kleine Farm irgendwo im Nirgendwo zu ziehen und es ein bisschen langsamer angehen zu lassen. Da machte ich die schockierende Entdeckung, dass es im Internet Leute gibt, die einfach falschliegen.

Es begann damit, dass jemand auf Twitter ein Foto aus den 1920er Jahren teilte und ich glaubte, es sei nicht wirklich aus jener Zeit. Ich stellte Nachforschungen an, bewies, dass er sich geirrt hatte, und suchte daraufhin nach weiteren Leuten, die im Internet Dinge teilten, welche nicht ganz stimmten.

Ich war zum Fake History Hunter geworden.

Und so läuft mein Alltag heute ab: Nachdem ich ein bisschen im Garten gearbeitet habe, mit dem Hund spazieren gegangen bin und meine E-Mails beantwortet habe, nehme ich eine lange Liste von Stichwörtern, schicke sie durch die Suchmaschine von Twitter und schaue, ob schon wieder jemand Fake History gepostet hat. Bisweilen bringe ich eher harmlose Spielarten von Fake History zur Strecke – Tante Doreen hat ein Bild mit einer lustigen, aber unzutreffenden Unterschrift gepostet –, aber ich richte den Fokus auch auf mächtige und berühmte Leute, die Millionen Follower haben. Manche dieser Leute haben verborgene Absichten; sie teilen diese Sachen nicht einfach, um andere zu unterhalten und ein wenig Strahlkraft zu bekommen, sondern um ihre Gegner zu entmenschlichen, um ihre Follower zu überreden, keinen ärztlichen Rat zu suchen, um andere Menschen um ihr Geld zu erleichtern, eine Gruppe gegen eine andere auszuspielen oder einen bestimmten Plan voranzutreiben.

Dieses Buch enthält einige der häufigsten und faszinierendsten Beispiele von Fake History, denen ich im Internet begegnet bin. Das erklärt, weshalb die Themen so bunt gemischt und breit gefächert sind. Und es erklärt auch, weshalb – genau wie in der Geschichte – einige Kapitel lustig sind, während es in anderen um dunkle und heikle Themen geht. Daher gibt es einige Bilder, die Sie sich vielleicht nur mit großem Widerwillen anschauen können.

Manchmal ist es leicht, eine erfundene Story aus der Geschichte zu widerlegen, ein andermal erfordert es eine Menge Forschungs- und Detektivarbeit. Aber das ist nun mal mein Job, und ich liebe ihn. Ich hoffe, Sie haben Freude an meinem Buch, und vielleicht können Sie es sogar dazu nutzen, selbst einmal auf die Jagd nach Fake History zu gehen.

Was ist Fake History, und warum ist sie schlecht?

Fake History hat viel mit Fake News gemeinsam, nur dass die News hier ziemlich alt sind.

Dieses Buch steckt voller Beispiele, von denen viele erst einmal lustig oder ziemlich harmlos klingen mögen – obwohl es für Historiker und Geschichtsfreaks natürlich ärgerlich ist, dass die Leute immer noch gewissen irrigen Vorstellungen anhängen, die längst widerlegt sind. Andere aber können echt schädlich und gefährlich sein. Nehmen Sie bloß einmal die Mythen, falsch zugeordneten Zitate und unzutreffend beschrifteten Fotos, die während der Coronapandemie geteilt wurden. Geschichten über den Schwarzen Tod, die Spanische Grippe und sehr markante und relevante Aussprüche, die brillante Geister der Vergangenheit getätigt haben sollen, wurden verwendet, um entweder die Menschen dazu zu bringen, Masken zu tragen, die Lockdown-Regeln zu befolgen und Corona ernst zu nehmen – oder aber, um alle Welt davon zu überzeugen, genau das Gegenteil zu tun.

Geschichte wird auch auf ungeheuerliche Weise von Leuten missbraucht, die ganze Zivilisationen entweder als minderwertig oder als überlegen hinstellen wollen. So behaupten sie zum Beispiel, dass die Afrikaner nicht wussten, was ein Rad war, bis die europäischen Kolonisatoren eintrafen, oder dass die Europäer keine Ahnung vom Baden und von Seife hatten, bis die Mauren sie unterwarfen.

Die Leute bedienen sich wirklich gern der Vergangenheit, um zu versuchen, sich selbst in ein besseres Licht zu rücken – oder andere in ein schlechteres. Und wenn man ein historisches Foto hat oder überzeugende »Experten«, die Dinge bestätigen, die man unbedingt glauben möchte, dann kann das Hass und Ressentiments nähren und uns noch weiter voneinander entfernen. Ich denke aber: Je mehr wir die Geschichte studieren – die wahre Geschichte – und je besser wir sie begreifen, desto näher bringt uns das zusammen; unsere Vorfahren waren einander ähnlicher, als das mancher von uns glauben möchte.

Fake History treibt natürlich nicht nur im Internet ihr Unwesen – es gibt auch Legenden, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, ohne dass man sie je hinterfragt hätte. Und selbst die Informationen, die wir in Museen bekommen, stimmen nicht immer. Die meisten von uns können sich an Museums- oder Burgführer erinnern, die reichlich seltsame Storys erzählten, welche sich später als an den Haaren herbeigezogen und total unwahr erwiesen.

Und dann gibt es Leute, die Fake History aus einem ganz handfesten Grund verbreiten: Geld. Die sozialen Medien können uns reich machen; populären und weithin geteilten Content zu erzeugen, ist ein großes Geschäft. Es gibt Twitter-Accounts, die Unmengen historischer Bilder und Behauptungen posten. Manchmal kaufen sie sich Tausende Follower, damit sie nicht wie neue, irrelevante Accounts aussehen, die aus dem Nichts aufgepoppt sind, sondern einen seriösen und vertrauenswürdigen Anstrich bekommen. Wenn die Leute erst einmal anfangen, deren Posts zu teilen, schießen die Follower-Zahlen rasch in die Höhe. Und sobald ihr Account dann genügend Follower hat, beginnen sie plötzlich, Posts über selbstklebende Acrylfingernägel zu retweeten, über Online-Spiele, andere total wahllose Accounts und heutzutage auch über NFTs. Das bedeutet, dass sie vermutlich einen Deal mit irgendeiner Vertriebsgesellschaft geschlossen haben und künftig einfach nur Retweets verkaufen. Obwohl man seinen Twitter-Account formal gesehen nicht veräußern kann (außer in ganz seltenen Fällen), passiert es doch immer noch ziemlich oft, und manchmal lässt sich schwer erkennen oder beweisen, dass so etwas geschehen ist.

So kommt es, dass am Ende Millionen Menschen auf einem Gebiet, das mir sehr am Herzen liegt, den größten Unfug glauben. Außerdem kann Fake History nicht nur nervig, sondern auch gefährlich sein. Aber für mich als eingestandene Geschichtssüchtige ist das Schlimmste an Fake History, dass die Legenden, die irrigen Vorstellungen und falschen Behauptungen oftmals weniger interessant und aufregend sind als die Wahrheit.

Geschichte ist bedeutsam. Sie ist ein Leitfaden, der uns hilft, die Vergangenheit zu verstehen, aus der Gegenwart klug zu werden und manchmal sogar zu begreifen, was vor uns liegt. Die Geschichten in diesem Buch zeigen das hoffentlich. Wir können gewinnsüchtige Twitter-User, Historiker und andere einflussreiche Leute nicht davon abhalten, Geschichte zu gebrauchen und zu missbrauchen, aber wir können zumindest etwas tun, wenn sie Fake History verbreiten – und alles, was wir dazu benötigen, sind Forschung und Wissen.

1Napoleon Bonaparte hat der Sphinx die Nase weggeschossen

Eine Skizze der Sphinx von Frederic Louis Norden, veröffentlicht 1755

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Bei seinem Ägypten-Besuch erblickte Napoleon die Sphinx und wurde wütend, als er bemerkte, dass die Statue ein afrikanisch wirkendes Gesicht hatte. Da Napoleon ein übler Rassist war, konnte er es nicht ertragen, dass die Skulptur keine Europäerin abbildete. Daher befahl er seinen Truppen, der Sphinx mit einer Kanone die Nase abzuschießen. Und weg war sie.

Die Widerlegung

Diese Geschichte startete vermutlich als harmlose kleine Legende, als spaßiges Anekdötchen für Touristen. Sie reicht mindestens bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Aber heutzutage wird sie aus einem neuen, ziemlich unerfreulichen Grund im Internet geteilt: Sie soll ein Beweis für Rassismus sein. Ich bin nicht sicher, wann die Leute erstmals dachten, dass Napoleon die Nase des Standbilds für zu afrikanisch hielt und sie deshalb weichen musste, aber heute glauben es eine Menge Leute.

Im Jahre 1995 sagte Louis Farrakhan, der Anführer der Bewegung Nation of Islam, in seiner Rede beim Millionen-Mann-Marsch: »Das Überlegenheitsgefühl der Weißen brachte Napoleon dazu, der Sphinx die Nase wegzuschießen, denn sie erinnerte ihn zu sehr an die Majestät der Schwarzen.« Auf diese Weise wird die Legende genutzt, um Rassismusvorwürfe zu erheben, was eine einstmals harmlose Geschichte natürlich zu etwas macht, das viel mehr Schaden anrichtet. Ironischerweise wird der Nation of Islam und Farrakhan selbst Intoleranz gegenüber Juden, LGBTQ+ und weißen Menschen vorgeworfen, und sie sind für wilde Verschwörungstheorien bekannt. Und obgleich sie für die Behauptung mit der Sphinxnase nicht verantwortlich sind, haben sie großen Anteil an ihrer andauernden Popularität.

Zum Glück lässt sich ganz leicht beweisen, dass die Legende Unfug ist, also passen Sie jetzt gut auf, falls Sie mal jemandem begegnen, der ihr Glauben schenkt. Sofern er nicht denkt, dass sowieso alles eine gigantische Verschwörungstheorie sei, sollten Sie ihn mit einer sehr einfachen Tatsache überzeugen können: Napoleon hatte keinen Zugang zu einer Zeitmaschine. Er wurde 1769 geboren und brach 1798 nach Ägypten auf. Aber wir wissen, dass einige Leute schon über das beschädigte Gesicht der Sphinx geschrieben und Bilder davon gezeichnet hatten, ehe Napoleon überhaupt geboren war. Das sollte eigentlich jede vernunftbegabte Person überzeugen. Außerdem wäre es ziemlich seltsam gewesen, wenn Napoleon diesen Akt des Vandalismus begangen hätte, war er doch eindeutig sehr interessiert an ägyptischer Geschichte. Er hat auch die erste wissenschaftliche Untersuchung der dortigen Altertümer durch Europäer veranlasst. Lassen Sie uns einen Blick auf einige Beweismittel werfen:

Im Jahre 1737 (also vor Napoleons Geburt) reiste der dänische Marineoffizier Frederic Louis Norden nach Ägypten und fertigte von der Sphinx sehr detaillierte Skizzen an, die einige Jahre darauf veröffentlicht wurden. Die Statue auf diesen Zeichnungen hatte ihre Nase bereits ganz klar verloren. Sie können die Bilder mühelos im Internet finden.

Im Jahre 1759 (also ebenfalls vor Napoleons Geburt) erschien die englische Übersetzung eines 1757 publizierten Buches der beiden Holländer Johannes Aegidius van Egmond van der Nyenburg und Johannes Heyman. Sie trug den einprägsamen Titel Reisen durch einen Teil Europas, Kleinasien, die Inseln der Ägäis, Syrien, Palästina, Ägypten, zum Berg Sinai etc. Einschließlich eines besonderen Berichts über die bemerkenswertesten Orte, Bauwerke, Ruinen, Inschriften etc. in diesen Ländern. Zusammen mit den Gebräuchen und Sitten, der Religion, dem Gewerbe, dem Handel, dem Naturell und der Lebensweise der Bewohner. Es ist ein erstaunliches Buch, das Sie online finden können (siehe hier die Quellenangaben am Ende des Buches). Zu unserem Glück haben die Abenteurer auch die Sphinx unter die Lupe genommen. Sie beschreiben ihre Nase als »ein wenig verstümmelt«.

Im Jahre 1744 (also wiederum vor Napoleons Geburt) veröffentlichte der Hallenser Universitätsprofessor Siegmund Jakob Baumgarten seine Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. Er beschreibt darin den (!) Sphinx als »ziemlich unversehrt, ausser daß ihm die Nase zerstümmelt worden, vermutlich von den Muhammedanern, aus Has aller Bilder«.

Es gibt noch mehr Belege – ich wollte nur einige anführen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir über Augenzeugenberichte und Zeichnungen verfügen, die uns verraten, dass der oder die Sphinx bereits eine Beschädigung aufwies, noch ehe Napoleon auch nur ein Funkeln in den Augen seiner späteren Eltern war. Jedem, der diese Beweise nicht akzeptieren will, ist die Legende also eindeutig lieber. Aber wenn es nicht Napoleon war, wer dann?

Professor Baumgarten gibt uns schon einen Hinweis – er erwähnt die »Muhammedaner«, was ein altmodisches Wort für Muslime ist. Im 15. Jahrhundert behauptete der Geschichtsschreiber al-Maqrı-zı-, dass Muhammad Sa’im al-Dahr die Nase im Jahre 1378 zerstört habe, weil er es nicht habe ertragen können, dass die Einheimischen der Sphinx Opfergaben brachten. Das mag die Geschichte sein, auf die sich Baumgarten bezieht. Aber natürlich war es ein Text, der eine ganze Weile nach dem Geschehen verfasst wurde, und es ist nur eine einzelne Geschichte, also nicht wirklich ausreichend für die Auflösung unseres Kriminalfalls. Und es wird noch interessanter: Vor einigen Jahrzehnten untersuchte der Archäologe Mark Lehner die Beschädigungen der Sphinx und kam zu dem Schluss, dass sie zwischen dem 3. und 4. Jahrhundert nach Christus erfolgt sein müssen, womit es weder al-Dahr noch Napoleon getan haben können.

Viele Statuen im alten Ägypten sind beschädigt worden und verloren ihre Nasen. Oftmals haben das die Ägypter selbst getan, denn sie glaubten, dass die Seele eines verstorbenen Menschen oder eines Gottes ein Bild bewohnen könne. Wenn man nun dem Kunstwerk das Gesicht zerstörte, konnte man diese Seele freisetzen.

Außerdem ist es einfach so, dass Nasen hervorragen und deshalb leichter beschädigt werden als andere Teile von Statuen. Zahlreiche alte Standbilder verloren ihre Nasen beziehungsweise andere hervorstehende Teile – etwa Arme oder gewisse Anhängsel, die wir hier nicht zu nennen wagen. Das ist wirklich sehr verbreitet. Auch griechische und römische Statuen sind dieser Art von Beschädigung zum Opfer gefallen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es gibt keinerlei Belege dafür, dass der Vandalismus in Sachen Sphinx irgendwie mit Rassismus zu tun hat. Und obgleich es mehrere Verdächtige gibt, kann niemand mit Sicherheit sagen, wer die Sphinx verunstaltet hat. Aber eines können wir mit absoluter Gewissheit sagen: Napoleon oder seine Truppen waren es nicht. Wenn man noch nicht auf der Welt war, hat man ein felsenfestes Alibi.

2Hugo Boss hat die Naziuniformen entworfen

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Man kann über die Nazis sagen, was man will, aber sie waren wirklich gut gekleidet. Keiner sah im Krieg so gut aus wie sie. Aber das ist ja auch keine große Überraschung, wenn man weiß, dass Hugo Boss alle ihre Uniformen designt hat. Ja, genau der! Seltsam, dass die Marke noch nicht boykottiert wurde, oder?

Die Widerlegung

Dass Hugo Boss die Uniformen der Nazis entworfen haben soll, gehört beinahe zum »Allgemeinwissen«. So viele Leute glauben daran, dass es jedes Mal, wenn die Marke in die Nachrichten gelangt, in den sozialen Medien zu einer üppigen Verbreitung von Postings kommt, die uns an diesen Fun Fact erinnern. Wenn der Formel-1-Rennfahrer Lewis Hamilton Erklärungen zu Rassismus oder zu politischen Themen abgibt, wird er oft als Heuchler bezeichnet, weil Hugo Boss doch zu seinen Sponsoren gehöre. Aber die Wahrheit ist, dass Boss keine einzige Naziunform designt hat. Ja, wirklich – keines dieser extravaganten Kleidungsstücke kann ihm zugeschrieben werden.

Hugo Ferdinand Boss gründete 1924 eine Bekleidungsfirma. Er hatte eine kleine Fabrik mit nicht eben vielen Beschäftigten, und sein Betrieb war hauptsächlich auf die Herstellung von Oberhemden, Sakkos und Arbeitskleidung spezialisiert. Einer seiner ersten Aufträge war die Anfertigung von braunen Hemden für Rudolf Born, einen Textilverleger in München. Boss wusste damals vermutlich nicht, dass sie an die Nazis weiterverkauft wurden, obwohl er sich diese Tatsache später für Werbezwecke zunutze machte und den Leuten erzählte, er habe die Partei ja schon seit 1924 beliefert.

Als Boss 1931 der NSDAP beitrat und es schaffte, einen Vertrag für die Belieferung der Nazis mit Uniformen zu bekommen, war er noch ein relativ kleiner, unbekannter Hersteller, und seine Firma war nur eine von mehreren, die die Nazis mit Kleidung versorgten. Seine Parteibeziehungen retteten die Firma vor dem Bankrott, aber er hatte damals keinen großen oder berühmten Namen. Wichtiger aber war noch, dass Boss kein Modedesigner war, sondern ein Fabrikant. Er bekam einfach Aufträge, und seine Beschäftigten führten sie aus. Kreativität oder Designtalent waren dabei nicht mit im Spiel; die Uniformen waren bereits entworfen worden, ehe die Bestellungen in der Firma eingingen. Viele andere Unternehmen in Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten stellten ebenfalls Uniformen her. Hugo Boss war da bloß ein kleiner Fisch.

Warum zum Kuckuck sollte die Nazipartei solch einen kleinen Bekleidungshersteller ohne wirkliches Designtalent und ohne Erfahrung damit beauftragen, ihre Uniformen zu entwerfen? Es gibt keinerlei Belege dafür, dass man von Hugo Boss jemals verlangt hat, irgendeine Naziuniform zu designen, und ebenso wenig war es ihm erlaubt, das Design seiner Bestellungen aufzupeppen oder zu verändern. Und mal ehrlich – warum denken die Leute eigentlich, dass es den Herstellern erlaubt sein könnte, eine Uniform abzuwandeln? Der Schlüssel liegt doch schon im Namen Uniform: ein Kleidungsstück, das bekannt dafür ist, immer exakt gleich auszusehen.

»Hans, warum ist deine Uniformjacke pink mit gelbem Rüschenrand?«

»Och, weißt du, Günther, die wurde von irgend so einer kleinen Textilfirma hergestellt, und Hitler hat beschlossen, ihnen beim Design völlig freie Hand zu lassen.«

Hätte man den Firmen gestattet, nach eigenem Ermessen zu verfahren, wäre die halbe Wehrmacht so herumstolziert wie Hauptmann Klenzendorf im Film Jojo Rabbit (2019). Natürlich bedeutet das nicht, dass Hugo Boss damit aus dem Schneider wäre. Er war nicht einfach irgendein unschuldiger Fabrikbesitzer, sondern ein aktiver Unterstützer der Nazis, dem man bereits im April 1940 Gelegenheit gab, Zwangsarbeiter zu beschäftigen, was er auch gern annahm. Obwohl Boss diese Menschen offenbar relativ gut behandelte (zumindest im Vergleich zu vielen anderen Firmen), waren es immer noch Zwangsarbeiter; sie wurden bisweilen misshandelt, und Firmenangestellte drohten ihnen damit, man würde sie ins Konzentrationslager schicken. Und allem Anschein nach tat Hugo Boss nichts, um solche Praktiken zu stoppen.

Nach dem Krieg bekam Hugo Boss eine hohe Geldstrafe dafür aufgebrummt, dass er ein frühes NSDAP-Mitglied gewesen war, finanziell von der Naziherrschaft profitiert hatte und mit hochrangigen Nazis befreundet gewesen war. Das Unternehmen stellte weiterhin Uniformen her, nun aber für die Franzosen und das Rote Kreuz.

Der Unterschied zwischen Entwerfen und Herstellen klingt vielleicht nur wie eine semantische Spitzfindigkeit, und doch ist hier mehr im Spiel. Die Legende schreibt Hugo Boss Talent zu – immerhin finden viele Leute die Naziuniformen beeindruckend und schließen daraus, dass Boss äußerst gutaussehende Uniformen zu entwerfen verstand. Die Wahrheit nimmt ihm diesen Nimbus. Nach dem, was am Ende bleibt, ist Boss nur einer von vielen begeisterten Nazis, der auch Kriegsprofiteur war und Zwangsarbeit einsetzte.

Das Unternehmen Hugo Boss setzt sich aktiv mit diesem Kapitel der Unternehmensgeschichte auseinander und informiert dazu auch auf seiner Website.

3Marie Antoinette hat gesagt: »Dann sollen sie doch Kuchen essen!«

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Immer wenn irgendein Reicher oder Mächtiger, ein Politiker oder Milliardär, etwas Blödes oder Realitätsfremdes sagt, gibt es jemanden, der ihn an das Schicksal von Marie Antoinette erinnert.

In Frankreich hungerte das Volk, und sie als Königin war zu abgehoben von der Wirklichkeit, um zu begreifen, dass sich die Leute keine Lebensmittel leisten konnten. Als man ihr sagte, dass sich die Armen kein Brot kaufen konnten, entgegnete sie: »Dann sollen sie doch Kuchen essen!« Das machte die Volksmassen natürlich wütend, woraufhin sie diese ganze Geschichte mit der Französischen Revolution starteten, die königliche Familie unter die Guillotine brachten und auch Marie Antoinette den Kopf abschnitten.

Die Widerlegung

Es gibt keinerlei Belege dafür, dass sie es wirklich gesagt hat – nicht einmal im Scherz und nicht einmal, als vielleicht gerade Berge von Kuchen herumgestanden haben. Erst lange nach ihrem Tod begann man zu behaupten, sie habe so etwas geäußert. Stattdessen gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass eine andere Prinzessin es gesagt hat, und zwar zu einer Zeit, als Marie Antoinette noch ein kleines Mädchen war und in Österreich lebte.

Ja, Marie Antoinette ist in jener Epoche die einzige Französin, die die meisten von uns kennen, und ja, sie war und ist das Symbol für einen unglaublich widerwärtigen Sittenverfall und Überfluss, aber gesagt hat sie es trotzdem nicht. Eher schien sie sich um die Notlage der Armen gesorgt zu haben. Sie schrieb sogar über ihre Beunruhigung angesichts der Armut und des Hungers, den sie in Frankreich miterlebte. In einem Brief vom 22. Juni 1775 an ihre Mutter, Kaiserin Maria Theresia von Österreich, heißt es: »Es ist erstaunlich und zugleich wunderbar, zwei Monate nach den Unruhen und trotz der hohen Brotpreise, die leider nicht zurückgehen, so gut aufgenommen zu werden. […] Eines ist gewiss: Wenn wir sehen, wie uns notleidende Menschen so gut behandeln, fühlen wir uns umso mehr verpflichtet, für ihr Glück tätig zu werden.«

Das Geld, welches sie für ein einziges ihrer Kleider ausgab, hätte zugegebenermaßen ausgereicht, um eine hungernde Familie über Wochen zu ernähren, aber in gewisser Weise war auch sie eine Gefangene der Welt, in die sie hineingeboren wurde. Marie Antoinette wohnte ihr ganzes Leben lang in Palästen, umgeben von Dienern und Gouvernanten, die sie auf ihre spätere Rolle vorbereiteten und von der wirklichen Welt abschotteten. Sie war erst 14, als man sie mit dem König von Frankreich verheiratete, einem der mächtigsten und reichsten Männer der Erde. Würde so etwas heute passieren, dann täte sie uns leid, und manche Teenager würden uns vielleicht auf TikTok erzählen, dass auch sie ein Opfer sei und dass wir sie in Frieden lassen sollten.

Wenn also nicht Marie Antoinette, wer stand dann am Ursprung jener Story?

Der Satz stammt aus einer Geschichte, die sich in Buch 6 der Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau findet. Er behauptet darin, eine »große Prinzessin« habe auf die Nachricht, dass die Bauern kein Brot hätten, entgegnet: »Sollen sie doch Brioches essen!« (Brioches sind übrigens nicht wirklich Kuchen, sondern eher sehr gehaltvolle Weizenbrote, die mit viel Butter und Eiern gemacht werden.) Der Name der Prinzessin wird nicht erwähnt, und vielleicht ist sie auch nur erfunden; eigentlich wird in dem Buch angedeutet, dass es sich um eine Fabel oder Anekdote handelt, die Rousseau irgendwo aufschnappte. Die Geschichte wurde 1766 oder 1767 geschrieben und 1782 veröffentlicht. Marie Antoinette kam 1755 zur Welt, was bedeutet, dass sie ungefähr elf war und noch in Österreich lebte, als jene »große Prinzessin« womöglich ihre Bemerkung über die Brioches fallen ließ (vorausgesetzt, es war keine viel ältere Geschichte, die Rousseau nur wiedergegeben hat). Sie kann eindeutig nicht die Prinzessin sein, über die Rousseau schrieb. Und selbst wenn sie es gewesen wäre – einem Kind könnte eine solche Antwort doch sicher vergeben werden?

Möglicherweise hat die Geschichte sogar noch ältere Wurzeln. Sie könnte zu den Dingen gehören, die sich die Leute seit Jahrhunderten über die Reichen und Mächtigen erzählen. Ich kann das nicht beweisen, aber ich fand einen Beleg, der ins 7. Jahrhundert zurückreicht und unserem Ausspruch verdächtig ähnelt. In einer Chronik der Jin-Dynastie steht, man habe Kaiser Hui berichtet, dass sein Volk hungere, weil es nicht genug Reis gebe, und er habe erwidert: »Warum essen sie dann nicht Brei mit Fleisch?«

So war diese ganz ähnliche Geschichte schon mehr als 1000 Jahre im Umlauf, als Marie Antoinette geboren wurde. Natürlich beweist das gar nichts, aber interessant ist es schon, und falls eines Tages jemand die Zeit findet, quer durch die Jahrhunderte nach anderen vergleichbaren Behauptungen Ausschau zu halten, werden wir vielleicht herausfinden, dass es eigentlich eine populäre alte Klatschgeschichte ist.

Um auf die französische Königin zurückzukommen: Als ihr das Zitat erstmals zugeschrieben wurde, war sie längst unter der Guillotine gestorben und seit Jahrzehnten tot. Während ihrer Zeit als Königin wurde sie mit Kübeln von Propaganda und puren Lügen attackiert: Man behauptete, sie würde im Schlafzimmer unanständige Dinge mit anderen Frauen und unzähligen Männern treiben, sie hätte ihr eigenes Kind vergiftet und plante sogar, alle Franzosen umzubringen – aber niemand behauptete, sie hätte die Sache mit dem Kuchen gesagt. Nach dem, was man auf den Straßen über sie hörte, war sie also eine sexuell abartige, ausländische, zu Kindesmissbrauch neigende, mörderische Verrückte, aber keine Sorge, das ist schon okay, so war sie halt. Doch als sie eine dämliche Bemerkung über Brot machte, soll das die Revolution ausgelöst haben?

Ganz bestimmt nicht.

Es ist interessant, dass die Behauptung ausgerechnet im viktorianischen Zeitalter sehr populär wurde. Wie Sie noch sehen werden, ist es nicht das einzige Mal, dass wir die Viktorianer dafür verantwortlich machen müssen, uns eine schiefe Sicht auf die Vergangenheit hinterlassen zu haben.

4Die berühmte Person X hat den klugen Ausspruch Y getätigt

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Du kennst doch sicher diesen wirklich berühmten und klugen Mann? Na ja, und er hat diese wirklich berühmte und kluge Bemerkung gemacht, und ich werde ihn jetzt zitieren, weil ich dann in den sozialen Medien als ein ganz Schlauer dastehe, und vielleicht wirst auch du denken, ich sei klug, und mir alles glauben, was ich sonst noch sage.

Die Widerlegung

Okay, ich weiß, das klang jetzt ein bisschen albern, aber so läuft es wirklich. Die Leute verwenden Zitate von irgendwelchen berühmten und vorzugsweise besonders klugen oder geistreichen Menschen, um selbst gebildeter zu erscheinen oder um das, was sie als Nächstes sagen wollen, eindrucksvoller wirken zu lassen. Als beispielsweise während der Coronapandemie mal wieder ein Lockdown verkündet wurde, erlangte ein Zitat von Einstein große Popularität: »Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.« Die Leute wollten damit eine Aussage über die Politik der Regierung treffen, die an einem Plan festhielt, der nach Ansicht ihrer Kritiker nicht funktionierte. Bloß dass dies kein Einstein-Zitat war.

Will man andeuten, dass Politiker oder Medien lügen, kommt oftmals ein Zitat von Mark Twain zum Einsatz: »Es ist leichter, die Menschen zu täuschen, als sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.« Ironischerweise ist dieser Ausspruch aber gar nicht von Mark Twain.

Und dann gibt es natürlich noch die Geschichte mit Marie Antoinette und dem Kuchen.

Wer solche Zitate im Internet teilt, erweckt den Anschein, er kenne sich mit Geschichte aus und sei sehr belesen. Wenn Sie bei Twitter sind, können Sie für einen Dienst bezahlen, der in Ihrem Auftrag einmal täglich oder wöchentlich ein Zitat postet. Oft kommen diese Sätze sogar mit einer hübschen Illustration daher – dem Porträt der Person, die man zu zitieren glaubt, oder einer unbestimmten Landschaft, über welche das Zitat gedruckt ist. Das soll den Aussprüchen noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Manchmal gibt es einen Link auf eine der vielen Zitate-Websites, auf denen man lange Reihen von schlauen, witzigen und interessanten Aussprüchen findet. Diese Seiten sehen so glitzernd und eindrucksvoll aus, dass viele Leute annehmen, sie würden bestimmt keinen Nonsens verbreiten, aber ich fürchte, das tun sie doch.

Ich habe eine Liste von falsch zugeschriebenen Zitaten, nach denen ich auf Twitter beinahe täglich suche. Allerdings musste ich es aufgeben, jeden zu korrigieren, der diese Aussprüche verwendet – es passiert einfach zu oft. Buchstäblich Hunderte, wenn nicht Tausende Leute teilen sie fortwährend. Und obwohl ich nur nach ein paar speziellen Aussprüchen suchte, die alle mit Geschichte zu tun haben, fand ich immer noch mehr falsche Zuschreibungen, als ich bewältigen konnte.

Wann also ist ein Zitat wirklich ein Zitat von jemandem?

Im Allgemeinen schreiben wir ein Zitat einer Person zu, wenn es seinen Ursprung bei ihr hatte – wenn diese Person die Sache als Erste ausgesprochen oder niedergeschrieben hatte und wir das beweisen können. Wenn jemand bloß wiederholt, was er irgendwo gelesen hat, oder wenn er jemanden zitiert, dann können wir zwar sagen, dass er es ausgesprochen hat, aber sein Zitat ist es nicht.

Falls Sie Gefallen an solchen Dingen haben und mehr über die Forschungs- und sogar Detektivarbeit wissen möchten, die mit dem Aufspüren von Zitatursprüngen verbunden ist, schauen Sie sich die Quellenangaben zu diesem Kapitel an. Besonders empfehlen kann ich den Quote Investigator, dem man auf Twitter mit Vergnügen folgen kann. Er hat eine wunderbare Website, veröffentlichte aber auch schon ein Buch zu diesem Thema.

Hier folgen nun einige der verbreitetsten »Zitate«, die ich regelmäßig auf Twitter ausfindig mache. Ich bin ziemlich sicher, dass mindestens zwei oder drei darunter sind, die Sie überraschen werden.

Winston Churchill war ein berühmter Staatsmann und verstand ganz bestimmt etwas von Politik, und so ist es verlockend, seine Worte im Internet zu teilen, um einen politischen Standpunkt deutlich zu machen. Die folgenden Aussprüche sind aber nicht von ihm:

»Sie haben Feinde? Gut. Es bedeutet, dass Sie irgendwann in Ihrem Leben für etwas eingetreten sind.«

»Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.«

»Eine Lüge rennt um die halbe Welt, bevor die Wahrheit sich überhaupt erst die Hosen anziehen kann.«

»Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.«

»Die Faschisten der Zukunft werden sich Antifaschisten nennen.«

Oscar Wilde war vielleicht der Champion des Scharfsinns, und es ist immer ein Hit, ihn online zu zitieren, aber die folgenden Zitate können ihm nicht zugeschrieben werden:

»Wenn du den Menschen die Wahrheit sagen willst, bring sie zum Lachen, oder sie werden dich töten.«

»Vergib stets deinen Feinden, denn nichts ärgert sie so sehr.«

»Sei du selbst. Alle anderen sind schon vergeben.«

»Manche machen uns glücklich, wohin immer sie gehen, andere, wann immer sie gehen.«

Einstein war ein Genie, und so werden auch Sie vielleicht klug wirken, wenn Sie seine Worte teilen. Das hier sind allerdings keine Zitate von ihm:

»Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.«

»Jeder ist ein Genie! Aber wenn man einen Fisch danach beurteilt, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm sei.«

»Wenn ein unordentlicher Schreibtisch von einem unordentlichen Geist zeugt, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den aus, der ihn benutzt?«

»Kreativität ist ansteckend.«

»Ein schlauer Mensch löst ein Problem. Ein weiser Mensch vermeidet es.«

»Wissen kann jeder Dummkopf. Es geht aber darum, zu begreifen.«

Nur wenige Menschen wissen wirklich, wer Voltaire war, aber auf jeden Fall hat er ein paar Dinge gesagt, die richtig klug klingen, und so ist er im Internet ziemlich populär. Was er aber nicht gesagt hat:

»Ich mag anderer Meinung sein als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung äußern dürfen.«

»Wenn du wissen willst, wer über dich herrscht, brauchst du nur herauszufinden, wen du nicht kritisieren darfst.«

Das letzte Zitat wurde übrigens von einem amerikanischen Neonazi verfasst, den man wegen des Besitzes von Kinderpornografie inhaftiert hatte. Sie können sich vorstellen, wie schmerzhaft es für manche Leute sein muss, wenn sie merken, wessen Worte sie da verbreitet haben.

Das folgende Zitat ist besonders populär unter Motivations-Coaches, aber auch unter Politikern, also Leuten, die manchmal viele Tausend, wenn nicht gar Millionen Anhänger haben, denen sie Inspiration zu vermitteln suchen. Zu diesem Zweck ist es ein guter Ausspruch, aber …

»Wenn deine Taten andere dazu inspirieren, mehr zu träumen, mehr zu lernen, mehr zu tun und mehr aus sich selbst zu machen, dann bist du ein Anführer.«

… ist kein Zitat von John Quincy Adams, dem sechsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern von der Country-Sängerin und Songwriterin Dolly Parton! Das mindert natürlich nicht seinen Wert, aber es macht Spaß, die Wahrheit jenen Typen unter die Nase zu reiben, die mit todschicken Anzügen und übertrieben weißen Zähnen herumlaufen und denken, sie würden einen Staatsmann zitieren.

5Raumschiff Enterprise zeigte 1968 im Fernsehen den ersten Kuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Jeder weiß doch, dass der allererste Fernsehkuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe im Jahre 1968 ausgestrahlt wurde, als Captain James Tiberius Kirk (dargestellt von William Shatner) und die Dolmetscherin und Kommunikationsoffizierin Lieutenant Nyota Uhura (gespielt von Nichelle Nichols) sich in der Folge »Platons Stiefkinder« küssten. Das ist wirklich Allgemeinwissen, und wenn sich heutzutage jemand darüber beklagt, dass die neuen Folgen so »woke« sind, erinnert man ihn umgehend daran, dass diese Serie schon immer so war. Jener Kuss beweist schließlich, wie weit Raumschiff Enterprise seiner Zeit voraus war!

Die Widerlegung

Mit einem Irrtum sollten wir gleich zu Beginn aufräumen: Den ersten Fernsehkuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gab es mitnichten in Raumschiff Enterprise. Tut mir leid für alle Fans der Serie und für William Shatner. Leute, ich nehme an, ihr habt das nicht gerne gehört, denn ihr habt mich auf Twitter gesperrt, aber es ist nun einmal die Wahrheit.

Nachdem wir das geklärt haben, sollten wir nun eine Reihe von Kussszenen in alten Filmen und Serien technisch penibel analysieren, um herauszubekommen, wem die Ehre gebührt, die Mauer als Erster eingerissen zu haben. Dazu müssen wir zunächst einmal die Ausdrücke »unterschiedliche Hautfarbe« und »Kuss« definieren. Zählt es schon, wenn die Lippen flüchtig die Wange berühren, oder muss es ein handfester Kuss auf den Mund sein? Mit oder ohne Einsatz der Zunge? Muss der Kuss bei Ihnen eine Aaaah-Reaktion auslösen, oder geht auch einer, bei dem Sie peinlich berührt wären, wenn Sie ihn zusammen mit Ihren Eltern auf dem Bildschirm sähen? Muss er romantisch und absichtsvoll sein? Zählt auch ein Kuss nur so zum Spaß oder (wie in Raumschiff Enterprise) ein erzwungener Kuss gegen den Willen einer oder beider Seiten?

Wie schon Sam in Casablanca sang – »ein Kuss ist nur ein Kuss«. Andererseits gilt aber auch: Ein Kuss ist immerhin ein Kuss.

Aber ehrlich mal, wie präzise wollen wir in unserer Definition sein? Wenn schon ein platonisches, harmloses Küsschen auf die Wange zählt, gab es in Raumschiff Enterprise bereits früher einen Kuss zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, als nämlich Uhura in der Folge »Der alte Traum« Nurse Chapel küsst. Ich habe mir die Szene ein paarmal angeschaut und gewann dabei den Eindruck, dass dieses Küsschen Uhura sehr beeindruckt hat – vielleicht war da noch mehr im Spiel … Aber ich schweife ab. (Und trotzdem werden Sie diese Folge künftig nicht mehr sehen können, ohne daran denken zu müssen, was ich darin zu erkennen glaubte.)

Damit die Dinge handhabbar bleiben, sage ich jetzt einfach, dass es zwei Arten von Küssen gibt – platonische und romantische. (Natürlich gibt es noch viel mehr, und ich hoffe für Sie, dass Sie die schönsten davon erleben, aber lassen Sie es uns nicht zu kompliziert machen.) Ein platonischer Kuss ist nur eine flüchtige Berührung der Wange mit den Lippen. Er hat nicht viel zu bedeuten und kann sogar Teil eines Scherzes sein. Ein romantischer Kuss ist da schon mehr. Leidenschaft und, wenn Sie Glück haben, Liebe sind darin involviert. Eine gewisse Bindung ist mit im Spiel, Anziehungskraft und vielleicht sogar eine Andeutung von Geknutsche und Fummelei. Ich werde die Küsse, die wir während unserer Untersuchung finden, nach diesen Kriterien bewerten, und wir werden uns beide Arten von Küssen ansehen, auch wenn ein Kuss unter Liebenden natürlich viel bedeutender ist.

Aber wir müssen auch definieren, was eigentlich »Menschen unterschiedlicher Hautfarbe« bedeutet, und das ist ein bisschen komplizierter. Früher hätte man vielleicht einfach geschrieben »ein Kuss über Rassengrenzen hinweg«, aber die ganze Idee von Menschenrassen ist überholt und wenig brauchbar. Es ist ein soziales Konstrukt, und nicht nur unsere Vorstellungen über »Rasse« haben sich im Laufe der Zeit dramatisch verändert, sondern andere Kulturen haben oft auch andere Ansichten darüber, was was ist. Ganz davon zu schweigen, dass dieses Thema in manchen Ländern viel heikler und viel stärker mit schmerzlichen Geschichtserfahrungen befrachtet ist als in anderen. Gleich die ersten Anwärter auf den frühesten Kuss machen das überdeutlich.

Im Jahre 1951 küssten sich Lucille Ball (europäische Vorfahren) und Desi Arnaz (kubanische Wurzeln) in der Fernsehserie I Love Lucy. Manche sagen, die beiden seien eigentlich nicht »unterschiedlicher Hautfarbe«, denn ein kubanischstämmiger Amerikaner stehe einem europäischen Weißen doch ziemlich nahe, und ihre Hautfarbe ähnle sich sehr. Aber wir reden hier von den USA der 1950er Jahre; der Sender CBS bekam heftigen Gegenwind, weil er Lucy einen Kubaner hatte heiraten lassen, zu alledem einen mit solch einem starken Akzent! Man fand ihn einfach »zu folkloristisch«. Der Zigarettenhersteller Philip Morris, ein Sponsor der Fernsehserie, meinte, dass die US-amerikanischen Zuschauer Desi nicht als Ehemann eines echten amerikanischen Girls akzeptieren würden.

In den 1930er Jahren beschrieben einige offizielle Dokument Desis ethnischen Status als »Kubaner«, aber in anderen wurde er als »Weißer« geführt, sodass selbst die US-amerikanischen Behörden offensichtlich nicht recht wussten, wie sie ihn kategorisieren sollten. Beide Schauspieler (die damals, wie sich vielleicht anzumerken lohnt, im wirklichen Leben miteinander verheiratet waren) hatten natürlich eine helle Haut, wodurch die Kussszene etwas weniger skandalträchtig wurde, und doch war es zu jener Zeit noch eine heikle Sache, wenn eine weiße Frau einen Latino küsste – besonders in den USA. Und sie küssten sich nicht nur einmal, und unschuldige Küsschen auf die Wange waren es auch nicht – Lucille und Desi knutschten ganz unzweideutig. Obwohl also nicht ganz klar ist, ob wir hier von »Menschen unterschiedlicher Hautfarbe« sprechen können, war dieser Kuss doch heftig umstritten und eindeutig romantischer Natur. Er sollte also in unserer Untersuchung wenigstens erwähnt werden.

Beim nächsten Anwärter ist interessanterweise wieder William Shatner mit im Spiel! Aber nicht in seiner Rolle als Captain Kirk. Am 16. November 1958 präsentierte die Besetzung des Bühnenstücks The World of Suzie Wong eine Szene daraus in der Ed Sullivan Show. Die Szene endete damit, dass sich William Shatner und France Nuyen auf den Mund küssten. Davon erfährt man in Mr. Shatners Autobiografie interessanterweise nichts, während dem Raumschiff-Enterprise-Kuss eine Menge Aufmerksamkeit gewidmet wird. Shatner ist ein Weißer, und Nuyens Vater war asiatischer Herkunft, wodurch es nach einigen sehr seltsamen Regeln ein Kuss von »Menschen unterschiedlicher Hautfarbe« wird. Und es ist ein echter Kuss: Mund auf Mund, lang und romantisch. Wenn wir also beschließen, den Kuss aus I Love Lucy nicht gelten zu lassen, wäre dieser hier der erste im Fernsehen ausgestrahlte Kuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe.

Im Jahre 2015 gab es einige Aufregung, als das Britische Filminstitut etwas Filmmaterial von der Fernsehadaption eines Bühnenstücks namens You in Your Small Corner wiederentdeckte. Die Sendung lief am 5. Juni 1962 auf ITV. In diesem Stück gab es einen Kuss zwischen einem Schwarzen und einer Weißen – eine Nachricht, die es nach der Wiederentdeckung weltweit in die Medien schaffte. Selbst auf CNN wurde er erwähnt, denn natürlich ist diese Sendung einige Jahre älter als Raumschiff Enterprise. Im Unterschied zum dortigen Kuss war dieser nicht erzwungen – und mein Gott, er ist echt leidenschaftlich und ganz aus der Nähe gefilmt! Es ist ein guter und echter Kuss, viel besser als der auf dem fremden Planeten.

Aber es gab einen noch früheren, und wieder im britischen Fernsehen. Am 1. Februar 1959 strahlte ITV Ted Willis’ Stück Hot Summer Night (dt. Heiße Sommernacht, 1962) aus. Darin sah man einen sehr leidenschaftlichen und romantischen Kuss zwischen dem jamaikanischen Schauspieler Lloyd Reckord und der weißen Liverpoolerin Andrée Melly. Bedeutet das nun, dass Großbritannien den allerersten Fernsehkuss zwischen einer schwarzen und einer weißen Person für sich beanspruchen kann?

Nein, tut mir leid, aber diese Ehre gebührt uns Holzschuhträgern!

Am 5. Januar 1959, etwa um 20.30 Uhr (also zur besten Sendezeit), gab es einen Kuss zwischen Donald Jones, einem schwarzen Schauspieler, der in den Vereinigten Staaten geboren war, und der weißen Schauspielerin Roekie Aronds, und zwar in der Folge »Beeldromance« der niederländischen Fernsehserie Pension Hommeles. In meinem Heimatland war das eine der populärsten Sendungen aller Zeiten. Damals gab es in den ganzen Niederlanden nur 100.000 Fernsehgeräte. Und trotzdem sahen irgendwie alle diese Reihe, denn wer keinen Fernseher hatte, ging die Nachbarn besuchen und schaute sie mit ihnen gemeinsam.

Bei einem Blick in zeitgenössische niederländische Zeitungen hat man den Eindruck, dass es wegen des Kusses keinen erbitterten Streit und keine Gegenbewegung gab. Ganz im Gegenteil, die Kritiken fielen positiv aus. Obgleich dieser Kuss nicht so leidenschaftlich war wie einige andere Anwärter, war er doch eindeutig romantischer Art und mehr als nur ein unschuldiges Küsschen. Im amerikanischen Fernsehen wäre er seinerzeit problematisch gewesen.

Welchen Kuss wir als »ersten Fernsehkuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe« betrachten können, hängt also davon ab, wie wir persönlich oder kulturell »unterschiedliche Hautfarbe« definieren und ob wir denken, dass jede Art von Kuss zählt, oder nicht. Die wichtigsten Anwärter sind derzeit:

1951: I Love Lucy mit Lucille Ball und Desi Arnaz

1958: The Ed Sullivan Show mit William Shatner und France Nuyen

1959: Pension Hommeles mit Donald Jones und Roekie Aronds

1959: Hot Summer Night in der Reihe Armchair Theatre mit Lloyd Reckord und Andrée Melly

Obwohl wir, wenn es um Liebesbeziehungen über Hautfarben hinweg geht, die Rahmenbedingungen in den USA der 1960er Jahre sowie in Großbritannien und den Niederlanden der 1950er Jahre schlecht miteinander vergleichen können, waren alle diese Küsse auf die eine oder andere Art bahnbrechend.

Interessant ist, dass Hollywood diesen Meilenstein schon lange vor dem Fernsehen erreicht hat. Der älteste Kuss von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auf der Kinoleinwand ereignete sich (zumindest soweit ich es finden konnte), als ein von Gilbert M. Anderson gespielter Weißer eine schwarze Frau küsste, vermutlich die wunderbare Bertha Regustus. Das war schon 1903 im Kurzfilm What Happened in the Tunnel. Es ist ein flüchtiger Moment, aber trotzdem ein Kuss, und er liegt zeitlich vor anderen Kandidaten wie A Florida Enchantment (1914), in dem es auch Frauen in Männerkleidern und Blackfacing gibt, The Greatest Thing in Life (1918) mit einem Kuss zweier Männer unterschiedlicher Hautfarbe, Pinky (1949), worin ein Weißer voll Inbrunst eine Schwarze küsst, und weiteren Filmen.

6Die Serie EastEnders zeigte 1989 den ersten Fernsehkuss von Menschen gleichen Geschlechts

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Zwei Menschen gleichen Geschlechts küssten sich im Fernsehen erstmals 1989 in der britischen Seifenoper EastEnders. Das war ein ziemlich großes Ding: 20 Millionen sahen den Kuss, und obwohl er wunderbar und für viele Zuschauer sogar lebensverändernd war, reagierten andere wütend. Parlamentsmitglieder verlangten das Verbot der Serie, und der ach so entzückende und stets geschmackvolle Piers Morgan verfasste einen hässlichen kleinen Artikel voller Verunglimpfungen. Aber er und die anderen, die sich so furchtbar schockiert gaben, standen auf der falschen Seite der Geschichte – also Hut ab vor der BBC, die wieder mal einen Meilenstein gesetzt hatte. 

Die Widerlegung

Um den Schleier gleich mal zu lüften: Den ersten Fernsehkuss von Menschen gleichen Geschlechts gab es nicht bei EastEnders. Und nein, auch nicht bei L. A. Law – Staranwälte, Tricks, Prozesse oder Dawson’s Creek oder Brookside.

Es war ein ganzes Stück Detektivarbeit nötig, um herauszufinden, welcher Kuss tatsächlich der früheste war, und am Ende stieß ich auf einen, den bisher offenbar niemand sonst gefunden hat. Zu diesem Thema gibt es im Internet gar nicht so wenige Artikel, und auch die Medien reden immer wieder davon, aber sie würdigen stets die falsche Serie dafür. Genau wie beim ersten Kuss von Menschen verschiedener Hautfarbe möchte ich hier eine Unterscheidung zwischen romantischen und nicht-romantischen, platonischen Küssen treffen. Ein romantischer Kuss zweier Männer oder zweier Frauen ist bedeutsamer, er ist mit Liebe und/oder Leidenschaft verbunden und Bestandteil einer ernsthaften homosexuellen Beziehung (zumindest deutet er auf eine solche hin). Ein nicht-romantischer oder platonischer Kuss kann alle möglichen Bedeutungen haben; er kann ein nur flüchtiges Berühren der Wange sein, eine Begrüßung oder ein Scherz.

TV-Küsse von Menschen gleichen Geschlechts gibt es beinahe schon, seit die Fernsehapparate Einzug in unsere Wohnzimmer gehalten haben. Sie waren aber allesamt platonisch und sollten fast immer einen komödiantischen Effekt erzielen. Doch wenn wir den frühesten finden wollen, können wir auch diese Küsse nicht völlig ignorieren.

Eines der ersten Beispiele, die ich auffinden konnte, war ein Kuss zwischen den berühmten Komikern Dean Martin und Jerry Lewis in der Show The Colgate Comedy Hour, die von 1951 bis 1955 im amerikanischen Fernsehen live ausgestrahlt wurde. Wenngleich sie platonisch und oftmals Teil von Slapstick-Späßen war, kann man die Beziehung der beiden Männer auf dem Bildschirm und im echten Leben doch für mehr als eine »normale« Freundschaft halten. Sie zeigten etwas, das im Amerika der 1950er Jahre selten einmal dargestellt wurde: eine intensive und liebevolle Beziehung zwischen zwei einander herzlich zugetanen Männern, die auch kein Problem damit hatten, es offen zu zeigen. Jerry Lewis beschrieb es so: »Was wir miteinander hatten, war eine Liebesgeschichte – zwei Männer, die einander anbeteten, das war der Schlüssel.« Es war eine frühe Version von dem, was heutzutage manchmal bromance genannt wird. Technisch gesehen könnte man dies also als ersten Fernsehkuss zweier Männer betrachten, aber obwohl sich die beiden Männer wirklich sehr mochten, waren sie kein Liebespaar, und ihre Küsse waren nicht romantischer Natur.

Die amerikanische Serie Dawson’s Creek zeigte am 24. Mai 2000 einen echten Kuss. Wie EastEnders wird auch ihr häufig zugeschrieben, den ersten romantischen Kuss zweier Männer ausgestrahlt zu haben. Und am 6. Dezember 1998 lief eine Folge von That ’70s Show, die einen leidenschaftlichen Kuss zweier junger Männer zeigte. Nur einer der beiden war schwul, und es war eine einseitige, unerbetene Annäherung, sodass es sich rein technisch betrachtet um einen zur Hälfte leidenschaftlichen Kuss zweier Männer handelte. Er wurde in den USA zur besten Sendezeit ausgestrahlt.

Aber keiner davon kann für sich in Anspruch nehmen, der erste gewesen zu sein.

Am 6. August 1970 um 21.10 Uhr sendete die BBC Christopher Marlowes Stück Edward II. In dieser Fernsehadaption küsste Ian McKellen voller Leidenschaft James Laurenson. Das Stück wurde auch in den USA gezeigt, und zwar erstmals am 27. September 1975 auf Ed-TV als Teil einer CBS-Sendung. Später strahlten es andere Kanäle erneut aus. Genau genommen macht es diese britische Aufnahme zum frühesten im amerikanischen Fernsehen gezeigten romantischen und leidenschaftlichen Kuss zweier Männer. Aber in Großbritannien selbst strahlte Granada Television schon am 20. Oktober 1968 die Folge »Caligula« aus der Serie The Caesars aus (das war ein großes Kostümdrama mit Themen aus dem alten Rom). In einer Szene gibt Caligula (gespielt von Ralph Bates) Lepidus (verkörpert von Sean Arnold) einen langen, leidenschaftlichen Kuss auf den Mund. Laut einigen Quellen aus der römischen Antike hatten Caligula und Lepidus tatsächlich eine Liebesaffäre. Dies ist meines Wissens weltweit der erste heiße, bedeutungsvolle Kuss zweier Männer, der im Fernsehen gezeigt wurde.

Und wie sieht es bei den Frauen aus?

Die meisten Leute glauben, dass sich der erste leidenschaftliche Kuss zweier Frauen im US-amerikanischen Fernsehen 1991 in einer Folge der NBC-Serie L.A. Law – Staranwälte, Tricks, Prozesse ereignete, aber schon in der Polizeiserie 21 Jump Street – Tatort Klassenzimmer hatten sich zwei Frauen geküsst, und zwar in der Folge »Heimliche Beziehungen«, die am 15. Januar 1990 um 20 Uhr lief. In extremer Naheinstellung gefilmt, war es eindeutig ein leidenschaftlicher Kuss zweier Frauen, von denen die eine lesbisch war. Aber wichtiger noch: Anders als manche der anderen Küsse war dieser nicht einfach eine Art Stunt, mit dem man Kontroversen auslösen und Werbeeffekte erzielen wollte. Er war Bestandteil einer ganzen Folge zum Thema Homosexualität. Sie widmete sich vielen Fragen und versuchte den jungen Zuschauern zu erklären, dass Homosexualität etwas völlig Normales ist. Die Folge war in vielerlei Hinsicht bahnbrechend. Dennoch war es nicht der erste im amerikanischen Fernsehen gezeigte leidenschaftliche Kuss zweier Frauen. Um den zu finden, müssen wir einmal mehr eine britische Sendung ins Visier nehmen.

1968 strahlte die BBC eine Adaption von Émile Zolas Roman Nana aus, in der Katherine Schofield die Titelrolle spielte. In Prospero, dem Magazin des BBC-Pensionsfonds, behauptete im August 2021 der Regisseur des Films, John Davies, es habe darin nicht nur nackte Frauenbrüste zu sehen gegeben, sondern auch eine Szene, in der Nana, bekleidet mit Frack und Zylinderhut, eine andere Frau küsste. Leider hat kein Filmmaterial davon überdauert, sodass es schwer zu beurteilen ist, ob es sich nur um ein unschuldiges Küsschen handelte oder um etwas mehr. Nichtsdestotrotz ist es für Großbritannien der älteste Fernsehkuss zweier Frauen, den ich gefunden habe.

Vermutlich war er das auch in mehreren anderen Ländern, denn der Film wurde von mehreren ausländischen Fernsehsendern rund um den Erdball eingekauft. In den Vereinigten Staaten strahlte man ihn 1969 aus.

Aber der allererste Kuss war es trotzdem nicht. Dieser Punkt geht – soweit wir wissen – an Brasilien. 1963 küssten sich zwei Frauen in einer Folge der Serie A Calúnia. Ihr Kuss war nicht nur auf die Wange hingehaucht, nicht von Aliens erzwungen, kein Scherz und auch kein Missverständnis; es war ein ausgewachsener lesbischer Kuss zweier verliebter Frauen. Die Sendung basierte auf Lillian Hellmans Theaterstück The Children’s Hour (in deutscher Übersetzung Ein Kind klagt an) aus dem Jahre 1934. Das ist eine dramatische Story um zwei Frauen, die man beschuldigt, lesbisch zu sein, und die schließlich entdecken, dass sie tatsächlich zärtliche Gefühle füreinander empfinden. Es ist der erste Kuss zweier Männer oder zweier Frauen, den ich in der Fernsehgeschichte finden konnte, aber weil die Sendung live ausgestrahlt wurde, gibt es keine Aufzeichnungen von dieser Szene. Es ist natürlich möglich, dass jemand noch frühere Küsse ausgräbt, denn viele Geheimnisse des Fernsehens sind noch in Archiven rund um die Welt verborgen.

Einige der von mir erwähnten Küsse rissen Barrieren ein und verdienen eine Menge Anerkennung, und oftmals waren sie die ersten vor einem großen Wendepunkt – die frühesten in einer Seifenoper oder anderweitig die ersten ihrer Art. Ein Kuss in einem zu nachtschlafender Zeit gesendeten Dokumentarfilm ist nicht ganz das Gleiche wie einer, den man in einer Fernsehserie zur besten Sendezeit und für ein Millionenpublikum ausstrahlt, aber beide verdienen Anerkennung, weil sie auf ihre Weise etwas erreicht haben. Serien wie EastEnders haben etwas Eindrucksvolles geleistet, an das man sich erinnern sollte – und keineswegs nur, um Piers Morgan zu ärgern.

7Die Wikinger hatten Hörner auf ihren Helmen

Was man Ihnen vielleicht erzählt hat

Die Wikinger hatten Helme mit gewaltigen Hörnern drauf. Das weiß doch jeder. Wir haben diese Nordländer mit ihren gehörnten Hüten in Film und Fernsehen gesehen, in Büchern, Comics und in der Werbung – einfach überall. Es ist unmöglich, sich einen Wikinger ohne die Dinger vorzustellen. Im Januar 2021 nahm so ein Typ mit Hörnern auf dem Kopf an diesem sonderbaren Sturm auf das Kapitol in Washington teil, und überall in den Medien nannte man ihn einen Wikinger!

Die Widerlegung

Die Idee mit den gehörnten Wikingerhelmen ist weit verbreitet, aber es gibt nicht wirklich Beweise dafür, dass dieser Kopfputz tatsächlich existiert hat. Deshalb war es extrem ärgerlich, als das Bild jenes »QAnon-Schamanen« um die ganze Welt ging, nachdem Trump-Anhänger gewaltsam ins Kapitol eingedrungen waren. So ziemlich jeder nannte ihn »Wikinger«, obgleich er in Wahrheit einen Kopfschmuck der amerikanischen Ureinwohner mit Büffelhörnern trug.