Fake it till you're famous - Stefan Gemmel - E-Book

Fake it till you're famous E-Book

Stefan Gemmel

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Beschreibung

Hochaktuelles Jugendbuch ab 12 von Lesemotivator Stefan Gemmel über den Wunsch, berühmt zu werden. Milla will berühmt werden. Und zwar sofort! Als sie den Kanal des fast gleichaltrigen Mode-Influencers JohnnyWear entdeckt, wird ihr klar: So will sie auch sein! Aber anstatt sich nach vorn an die Spitze zu kämpfen und alles für ihren Traum zu geben, erschafft Milla eine Fake-Welt, die sie immer tiefer in eine Spirale aus Lügen und Betrug zieht. Sie braucht dringend eine neue Idee, um ihrem Fashion-Account Aufmerksamkeit zu verschaffen. Oder wenigstens die Hilfe von JohnnyWear. Als der ihr seine Unterstützung verweigert, greift Milla zu drastischen Mitteln … Publikumsautor Stefan Gemmel zeigt bewegend, wie schnell Realität und Schein ineinander verschwimmen können.   Hervorragend geeignet für den Einsatz im Unterricht mit kostenlosem Unterrichtsmaterial auf www.arena-verlag.de Zusätzliches Material zur Diskussion im Anhang: • Leser*innenstimmen • Einblick in die Arbeit von Influencerinnen • Nachwort von Stefan Gemmel   Weitere Titel von Stefan Gemmel im Arena Verlag: Befreiungsschlag

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Seitenzahl: 201

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Weitere Titel von Stefan Gemmel im Arena Verlag Befreiungsschlag. Der Weg aus der Gewalt

Stefan Gemmel,

Jahrgang 1970, ist einer der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren im deutschsprachigen Raum. Der Leseweltrekordler 2012, 2015 und 2018 wurde für seine herausragenden Autorenlesungen und sein Engagement in Sachen Leseförderung als Lesekünstler des deutschen Buchhandels und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er lebt in Laudert (Hunsrück).

www.gemmel-buecher.de

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download unter wwww.arena-verlag.de zur Verfügung.

Für Sarah Haag aus dem Team der Literatur-Agentur Keil & Keil.

Die kreativste, geduldigste, herzlichste Agentin, die man sich als Autor nur wünschen kann. Herzlichen Dank.

1. Auflage als Originalausgabe im Arena-Taschenbuch 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Stefan Gemmel

Cover und Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

© Millena und © Luke Project

Satz: Goldesel, Malte Ritter

Lektorat: Jessica Lawson & Anna-Lena Amend

E-Book ISBN 978-3-401-80972-4

Besuche uns auf:

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Das Mädchen in der Tür

Kramer schaute zur Uhr.

Nur noch eine Viertelstunde, dann würde er seinen Platz verlassen.

Nur noch zwanzig Minuten, dann würde er neben seiner Angeltasche im Auto sitzen.

Nur noch vierzig Minuten und er würde die Angel am See auswerfen, könnte diesen Tag ausklingen lassen. Diesen Tag, der glücklicherweise mal wieder ruhig verlaufen war, wie so viele Tage in den letzten Wochen. Diesen Tag, von dem es hoffentlich noch genau 431 geben würde, bis er diesen Job an den Nagel hängen und nur noch angeln gehen würde.

Dachte Kramer.

Mit Blick auf die Uhr.

Die Uhr über der Tür der Wache.

Die Tür, der er seit Jahrzehnten gegenübersaß.

Die Tür, die sich in diesem Moment öffnete.

Die Tür, in der jetzt dieses Mädchen stand.

Mit fliehendem Blick.

Mit Angst in den Augen.

Mit blutverschmierten Händen.

Kramer wurde blitzartig klar, dass sich seine Ruhe, all seine Pläne, seine ganzen Wünsche gerade in Luft auflösten. Das Mädchen kam hereingestürzt, sah ihn aus gehetzten Augen an, stützte sich mit ihren blutverschmierten Händen auf der Theke ab und schrie ihm entgegen: »Sie müssen mich festnehmen! Es geht um eine Entführung!«

1. Teil

1

Risse im Blick

Milla blickte auf die Uhr neben ihrer Tür. Die Uhr, die sich seit Stunden nicht mehr vorwärtsbewegte. So, wie sich nichts in ihrem Leben vorwärtsbewegte.

»Nichts!«

Milla schrie dieses Wort, als müsste sie es ausspucken. Dann schaute sie sich in ihrem Zimmer um. Ihr Blick schweifte von ihrem Klavier über die Gitarre und die Ballettschuhe bis zu dem Laptop auf dem Schreibtisch und dem Notizbuch daneben, das voller angefangener Kurzgeschichten war.

»Nichts!« Dieses Mal brummelte sie das Wort vor sich hin. »Das alles hat nichts gebracht. Gar nichts!« Sie griff sich ein Kissen und warf es mit voller Wucht auf die Wanduhr neben der Tür. Krachend zerschellte sie auf dem Boden. Doch das klirrende Geräusch wurde noch übertroffen, als Milla erneut schrie: »Nichts!«

Zum Glück war sie allein zu Hause. Sonst stünde ihre Mutter jetzt längst in der Tür und würde sich sorgen. So, wie sie sich immer sorgte.

Genau wie ihr Vater auch. Beide waren Vollzeit berufstätig und versuchten, das auszugleichen, indem sie pausenlos um Milla herumsprangen, wenn sie doch mal ausnahmsweise zu Hause waren.

Dabei verstanden sie nichts.

»Nichts!«, brummelte Milla erneut. »Gar nichts. Und sie haben noch nie etwas verstanden von dem, was in mir vorgeht.«

Sie steckte sich die Ohrstöpsel ein und suchte auf dem Smartphone ihren Lieblingssong. Sobald Janice Duvalls Stimme ertönte, drehte Milla die Lautstärke voll auf und sang mit. Ihren Blick richtete sie dabei auf das Poster von Janice Duvall an der Wand. Während die Musik Millas Hirn flutete, sah sie, wie sich Janice auf dem Poster veränderte. Die blonden Locken zogen sich in die Länge und fielen ihr schulterlang und braun auf die Schultern, so wie Milla ihre Haare trug. Janice’ grüne Augen wandelten sich in Millas braune und das Gesicht verzog sich so, dass Milla in sich selbst hineinblicken konnte.

Sie sah sich dort stehen, auf dem Poster. Auf dieser Bühne. Vor Tausenden von Menschen. Alle jubelten ihr zu, sangen mit, warfen ihr Plüschtiere zu und machten Fotos mit ihren Handys.

Aber mitten im Song, an der Stelle, an der Janice ihre durchdringende Stimme über die House-Bässe so einsetzte, wie es Milla niemals gelingen würde, verwandelte sich das Bild auf dem Poster wieder. Aus braunen Augen wurden grüne, aus glatten Haaren wurden Locken, aus Millas Gesicht wurde Janice’ und aus der Jubelstimmung wurden Wut und die Erkenntnis, dass sich keine Fans um Milla scharten, dass sie nicht auf der Bühne stand, dass sie nicht in Fangesänge gehüllt war.

Sie war hier. In ihrem Zimmer. Auf ihrem Bett. In ihrer Trostlosigkeit.

»Das ist so unfair!«, brach es aus ihr hervor und sie zog sich die Stöpsel wieder aus den Ohren. Janice Duvall sang unbeirrt weiter, doch so klang es aus den Stöpseln nicht mehr nach Bühnensound. Jetzt, wo sie auf der Bettdecke lagen, hörte sich alles wie aus einer Konserve an.

»Warum du?«, schrie Milla die Janice Duvall auf dem Poster an. »Was du kannst, kann ich auch. Warum bist du berühmt und ich bin … ich bin … hier?«

Am Alter konnte es nicht liegen. Auch Janice Duvall war gerade erst 14 Jahre alt, als sie berühmt wurde. Genauso alt also wie Milla.

Sie sprang von ihrem Bett und rannte zu dem Poster. Mit beiden Händen ergriff sie das Papier an der oberen Ecke und zerriss das Bild mit einem kräftigen Ruck, sodass nur noch zwei Seitenränder schlaff an der Wand hingen.

Milla ließ den Papierfetzen los und er fiel so, dass er die Gitarre bedeckte.

»Ja! Mach das!«, schnaubte Milla. »So muss ich die blöde Gitarre nicht mehr sehen!« Sie musste sich sehr zurückhalten, ihren Frust nicht an der Gitarre auszulassen. Ihre Wut war noch nie so groß gewesen wie heute. Wie viel Zeit und Kraft hatte sie in die Gitarrenstunden gesteckt und wie viel Zeit in den Klavierunterricht?

Sie drehte sich um und blickte das weiße, schmale E-Piano an, an dem sie schon unzählige Stunden gesessen hatte.

»Völlig umsonst! Völlig!« Am liebsten hätte sie dem edlen Teil einen Tritt verpasst.

Ihre Eltern nörgelten ständig, dass sie viel zu früh aufgegeben hätte …

»… aber was wissen die schon!?«

Milla klaubte den Posterfetzen von der Gitarre und zerriss ihn. Janice Duvalls Gesicht starrte ihr aus zwei hässlich ausgefransten Teilen entgegen.

»Niemand weiß irgendwas von Milla«, zischte sie hervor. »Niemand! Keiner ahnt, wie es in mir aussieht! Alle interessieren sich nur für sich.«

Nun griff sie sich eines der Hefte mit den Kurzgeschichten. Beinahe hätte sie auch das zerrissen, doch im letzten Moment hielt sie inne. Frau Knopp mochte ihre Geschichten. Die Deutschlehrein hatte sie ja sogar extra darauf angesprochen.

»Bleib dran, Milla«, klangen Frau Knopps Worte in ihr nach. »Du bist auf einem guten Weg. Du musst nur an dir arbeiten.«

Endlich flossen Milla Tränen über das Gesicht. Endlich hatte die Wut sich den Weg aus ihrem Körper und aus ihrer Gefühlswelt gesucht.

»Aber ich arbeite doch an mir«, schluchzte Milla und ließ sich auf die Knie sinken. Sie schaute erneut auf Klavier, Ballettschuhe, Gitarre. »Ich hab doch an mir gearbeitet. Ich hab das doch alles gelernt. Und trotzdem …«

Sie drückte ein Knie auf Janice Duvalls Augen auf dem zerrissenen Poster.

»Trotzdem sind es die anderen, die weiterkommen.«

Es waren Sturzbäche, die ihr über das Gesicht liefen. Ihr Shirt war am Saum patschnass.

Milla wischte sich über die Augen. »Ist doch scheiße alles. Ist doch …!«

Ein quietschender Ton unterbrach ihre Gedanken. Ihr Handy hatte geklingelt. Milla mochte den Klingelton, den sie eingestellt hatte, sehr. Angeblich sollte es ein bremsendes Auto sein, das man da hörte, doch es klang eher so, als würde jemand eine Ente kitzeln.

Sie erhob sich von den Posterfetzen und blickte zu ihrem Handy. Das Symbol für eine erhaltene Nachricht blinkte munter vor sich hin.

»Burgers Sargnägel«, las Milla und kicherte, während sie den Messenger öffnete. Wenn Herr Burger, ihr Klassenlehrer, den Gruppennamen kennen würde … »Hihi … egal!« Vorfreude kam in ihr auf. »’ne Meldung in der Klassengruppe? Haben wir morgen schulfrei, oder was?«

Mit einem Fingerwisch klickte sie den Messenger auf und las, was Kathy in die Gruppe geschrieben hatte:

Denkt daran: Gleich bei Pop-U-up! Johnny geht wieder online. Hab euch heute Morgen von ihm erzählt … Ihr könnt ihn live sehen.

Milla erinnerte sich. Ja, Kathy hatte am Morgen von einem Jungen gesprochen, der online steilging. Milla hatte es nicht interessiert. Kathy schwärmte ja immer von irgendwem oder irgendwas. Aber jetzt, wo sie die Meldung so las …

»Hmmm …« Millas Blick fiel auf den Begriff Pop-U-up. Diese Plattform kannte sie wirklich noch nicht. Wieder was Neues im Netz?

Nun war ihr Interesse doch geweckt. Schnell drückte sie auf den Link. Der Browser ihres Handys öffnete sich, es erschienen erst das grau-schwarze Logo Pop-U-upund dann darunter der Slogan »Sei ein Star – du kannst mehr!«.

Milla horchte auf. Nun war ihr Interesse riesig groß. »Sei ein Star?« Ihr Blick ging noch einmal zu dem Logo. »Wieso hab ich noch nie was von dir gehört?«

Am unteren Bildschirmrand gab es die Möglichkeit, ein Konto zu erstellen.

»Warte doch erst einmal«, kicherte Milla, als ob das Programm sie hören könnte. »Lass mich mal schauen, was du so kannst!«

Sie wischte sich durch mehrere Accounts, wo Jugendliche zeigten, warum sie das Zeug zum Star hatten. Pop-U-up erinnerte sie in vielen Funktionen an bestehende Plattformen und dennoch war es anders. Man fühlte sich den Accounts mehr verbunden. Das lag daran, dass man leicht kommentieren konnte, aber auch daran, wie diese Videos eingebettet waren. Außerdem gab es einen Infokasten, der alles über die Person hinter dem Account verriet. Man musste nicht lange recherchieren und herumklicken, bis man diese Infos erhielt.

Das alles kam Milla neu und gleichzeitig bekannt vor.

»Hmmm, hat was«, kommentierte Milla. Oder: »Das würde ich lassen an deiner Stelle.«

Man konnte Kommentare oder auch einfach nur Likes hinterlassen. Am unteren Rand zeigte ein kleines Symbol, wie viele User gerade zusahen.

Schließlich gelangte sie zu einer Jugendlichen, die einen Song von Janice Duvall auf ihre ganz eigene Art interpretierte. Es war der erste Account, bei dem Milla hängen blieb. Sie hörte sich den gesamten Song an und fand die Idee des Mädchens, das eigentlich schnelle Stück sehr langsam zu singen, super.

Daher ärgerte sie sich über die Kommentare, die manche User zurückließen:

#Singende Schlaftablette, konnte Milla lesen oder Würde dabei einschlafen, wenn es nicht so schräg wäre.

»Quatsch!«, brüllte Milla in ihr Handy. »Ihr versteht das alles bloß nicht richtig.«

Sie war schon kurz davor, einen eigenen Kommentar zu schreiben, als am oberen Bildschirmrand ein Pop-up aufploppte.

In Sekundenschnelle einen Schwan aus Servietten falten, stand dort als Einladung und Milla klickte darauf.

Ein etwa zwölfjähriger Junge strahlte in die Kamera. »Tach auch«, rief er seinen Usern zu. »Guckt mal!« Und dann faltete er hektisch und unbeholfen etwas zusammen, das Milla nur mit Mühe und Not als Schwan erkennen konnte.

Nun kribbelte es in ihren Fingern, ebenfalls einen Kommentar zu schreiben.

Üb lieber noch einmal, tippte sie ins Display. Dann sieht dein Schwan auch nicht aus, als wäre eine Horde Stiere drübergelaufen!

Sie lachte über ihren Einfall und klickte auf »Go«, als sie den Hinweis bekam, dass sie sich erst ein Konto zulegen müsse.

»Ach so!« Milla zuckte zurück. »Nee, warte noch mal!«

Sie klickte sich eine Zeit lang durch alle möglichen Videos, bis sie noch einmal aufgefordert wurde, sich einen Account zuzulegen.

Vor einem grauen Hintergrund ploppten zwei Buttons auf. Man musste sich entscheiden zwischen »Willst du ein Star sein?« oder aber »Willst du einen Star sehen?«. Zu gern hätte Milla die erste Option gewählt, doch das musste warten. Erst einmal wollte sie wissen, was das für ein Junge war, von dem Kathy schrieb.

Also klickte Milla auf »Willst du einen Star sehen?« und sofort taten sich verschiedene Möglichkeiten auf. Es gab unterschiedliche Rubriken: »Music«, »Videos«, »Gaming«, »Fashion«, »Sports«, »Beauty«, »Hobbys«, »Pets«, »Learning«, »Cooking«, »Travels«, »Others«.

Milla wischte über all die Begriffe hinweg und scrollte weiter und weiter nach unten. »Und wo finde ich diesen Johnny?«, murrte sie und setzte noch »Wieso hast du keinen Link geschickt, Kathy?!« hinterher, als sie den Begriff »Search« entdeckte, neben dem es eine Zeile zum Eintragen gab.

Milla tippte den Namen ein: Johnny. Erneut ploppte ein Menü auf dem Display auf. Es gab mehrere Johnnys. Einer unter der Rubrik »Hobbys«, der anscheinend Vogelhäuschen baute.

Das Profilbild zeigte einen älteren Mann in Latzhose in seiner Garage, wie er eine Säge an einem Vogelhaus ansetzte.

Milla musste lachen. »Kathy, du bist ja schon schräg. Aber so schräg dann bestimmt doch nicht.«

Ein anderer älterer Johnny stand in der Küche und gab scheinbar Kochtipps. Und ein weiterer älterer Johnny saß vor einem Einstein-Poster, wahrscheinlich in einer Schule, und bot Mathenachhilfe an.

»O Kathy … Du bist vielleicht doch schräger, als ich dachte«, kicherte Milla. »Schwärmst du jetzt für Mathelehrer?«

Ihre Wut von vorhin war verflogen. Sie war gespannt, was das alles sollte.

Dann: »Volltreffer!«

Ganz klar, das musste Kathys Johnny sein. Milla schaute auf das Profilbild eines Jungen, der auch von einem Filmplakat oder einem Albumcover herabblicken könnte. Er war keine zwanzig Jahre alt, schätzte Milla, hatte kurze, blonde, gegelte Haare und ein sympathisches Lächeln. Unter dem Foto konnte sie seinen Slogan lesen: »Make love and wear.«

Milla verstand den Seitenhieb auf »Make love not war« und musste zugeben, dass Johnnys Spruch originell war. Erst auf den zweiten Blick allerdings verstand sie die Dimension dieses Slogans.

Milla musste lachen: »Johnny Wear? Das ist dein Künstlername? Du gibst Klamottentipps? Krass, Kathy ist also doch schräg drauf. Sie steht auf einen Unterhosen-Typen!«

Sie schaute noch einmal auf das Profilbild, murmelte »Zugegeben, ein sehr sexy Unterhosen-Typ« und öffnete den Account.

Sie konnte Massen von kurzen Videos anklicken. Überall sah man diesen Johnny mit Klamotten stehen, die er anscheinend weiterempfahl. Mal trug er sie selbst, mal hielt er sie nur in den Händen. Er schien Abwechslung zu mögen – sowohl was die Klamotten als auch die Präsentation betraf.

Milla war beeindruckt. Mehr noch: Sie musste ihr Geläster von vorhin zurücknehmen.

»Na ja.« Sie grinste. »Wenn so ein Junge für Unterhosen modelt, dann bin ich gern dabei!«

Noch im Kichern hielt sie sich einen Finger gegen den Mund. Hatte sie das gerade wirklich laut gesagt? Gut, dass sie allein im Haus war. Nicht auszudenken, wenn ihre Mutter solche Sprüche von ihr hören w…

Millas Augen weiteten sich. Ihr Mund stand vor Erstaunen offen, die Augenbrauen hoben sich. Sie starrte auf diese Zahl in ihrem Display: 117.344 Follower.

Sofort fiel Milla ihr eigener Account bei TikTok ein, auf dem sie gerade mal 324 Follower hatte. Und dieser Johnny-Unterhosen-Typ hatte über hunderttausend?

»Weil du Klamotten zeigst?«, blaffte sie den Account an, als sich auf dem Display etwas regte. Ein digitaler Hamster in seinem Rad erschien und darunter war zu lesen: »Noch eine Minute, dann beginnt der Livestream.«

Milla erhob sich vom Boden und ging zu ihrem Bett. Sie ließ sich in die Kissen fallen, ohne den Blick von dem spaßigen Hamster-GIF abzuwenden.

»Okay, bin mal gespannt, Johnny, wie du hunderttausend Follower rockst! Ich hoffe nur, du behältst die Unterhosen dabei an. Nicht, dass Kathy uns auf eine dieser Ferkelseiten geschickt hat.« Sie musste über ihren eigenen Gag lachen.

In diesem Moment stand der Hamster im Display still und das Bild wandelte sich wieder. Milla musste vier verschiedene Werbeeinblendungen über sich ergehen lassen, von denen sie nicht eine einzige interessierte. Sie verdrehte die Augen. Wenn das nur mal einer abschalten könnte. Das halbe Leben schien daraus zu bestehen, Werbung zu ertragen. Fernsehen, online, Gaming, alle Apps – immer diese Werbeblöcke davor, dazwischen, danach.

»Mann! Ehrlich! Ich …«

Die Werbung verschwand und Johnnys eigene Seite erschien. Milla beugte sich tief über das Handydisplay. Johnny stand wahrscheinlich in seinem eigenen Zimmer, mit einem weit geöffneten Kleiderschrank im Hintergrund, der vor lauter Klamotten nur so überquoll.

Milla schaute sich alles sehr skeptisch an, doch sie musste zugeben: Johnnys Auftritt wirkte hochprofessionell. Der Raum war perfekt beleuchtet und die Kamera so positioniert, dass Johnny genau in der Mitte stand und der riesige, offene Schrank im Hintergrund ihn einrahmte.

Johnny selbst wirkte super gelaunt und echt sympathisch. Er stand mit T-Shirt und offenem Hemd vor der Kamera und hatte einen wachen, klaren Blick.

»Bin erst mal beeindruckt«, musste Milla murmelnd zugeben, als Johnny zur Begrüßung beide Hände zur Kamera hielt.

»Hey, Mädels! Hey, Jungs! Hey, diverse Welt!«, rief er fröhlich und Milla war zum zweiten Mal beeindruckt.

»Er begrüßt sogar die nonbinären Follower? Cool. Da würde ich niemals dran denken.«

Ihr Interesse war nun gigantisch groß. Dieser Johnny war bestimmt kein Unterhosen-Typ. Das war klar.

Johnnys Stimme klang weiterhin fröhlich aus dem Handy: »Ja, ich weiß, ich hab schon einige Hundert dieser Videos für euch gemacht, aber ich bin doch immer wieder aufgeregt. Immerhin ist das Ganze hier live. Ich hab Sorge, mich zu versprechen oder aus Versehen ein falsches Wort zu benutzen oder die Firmen zu verwechseln, die mich hier unterstützen.«

»Wow!«, entfuhr es Milla. Ein Junge, der seine Schwächen zugab? Und das gleich zu Beginn eines Videos? Wie cool war das denn bitte? Sie musste tatsächlich zugeben, dass …

Als Johnny in diesem Moment mit dem Finger zum unteren Displayrand zeigte, stockte Milla schon wieder der Atem. Johnny war wohl selbst überrascht, zumindest tat er so.

»Und wenn ich dann noch sehe«, rief er aus, als sein Finger nach unten deutete, »dass von meinen vielen Followern gerade über tausend dieses Video live mit ansehen, steigt die Aufregung noch mehr. Hey, Leute, ich glaube, mit meinem Lampenfieber könnte ich jetzt den ganzen Raum ausleuchten.«

Er lachte laut. Er lachte herzlich. Er lachte so, dass er Millas Herz direkt erreichte. Johnny war klasse. Ein Traumtyp. Bisher hatte sie nichts ansatzweise Ähnliches online gesehen. Das hier war nicht zu vergleichen mit den Livestreams, die sie auf TikTok oder Instagram angeklickt hatte. Johnny war witzig, er hatte Charme und er wirkte so offen und ehrlich, dass man glauben konnte, ihn schon immer zu kennen.

Auch seine Show, die knapp zwanzig Minuten dauerte, war perfekt. Johnny erzählte von seinem letzten Shoppingtrip und hielt alles in die Kamera, was er sich gekauft hatte. Shirts, Hemden, Jeans, Schuhe. Und zu allem gab es Geschichten. Johnny berichtete von einem witzigen Gespräch mit einer anderen Kundin, als er das Hemd ausgesucht hatte, und er erzählte von einem interessanten Austausch mit dem Filialleiter der Schuhkette. Außerdem musste er selbst darüber lachen, dass er dreimal an dem Laden, den man ihm als Geheimtipp genannt hatte, vorbeigelaufen war. »Das ist mal ein Geheimtipp, was?«, lachte er offen in die Kamera und Milla hatte lauthals mitgelacht.

Zwischen all dem Geplauder gab Johnny noch wissenswerte Facts über die Modewelt weiter.

Die zwanzig Minuten verflogen, als wären es nur Sekunden. Als Johnny schließlich mit beiden Händen in die Kamera winkte, sich von allen »Mädels, Jungs und nonbinären Menschen« verabschiedete und ein GIF erschien, das den vorhin so rennenden Hamster nun schlafend in seinem Rad mit der Unterzeile »Bis bald in diesem Kanal« zeigte, da starrte Milla weiter auf das Display. Sie war so gedankenverloren, dass sie den Blick nicht abwenden konnte. Auch nicht, als nach und nach die verschiedensten Nachrichten auf ihrem Handy aufploppten:

Hey, Kathy, danke für den Tipp zu Johnny. Der ist ja echt klasse, der Typ!

Kathy, der boy ist so cute. THX für den Link!

Kathy, warum hab ich noch nie von diesem Johnny gehört? Der ist ja voll krass drauf!

Kathy: Noch mehr Tipps, please!

Milla las alle diese Nachrichten, aber ihr Blick löste sich nicht mehr von ihrem Display. Sie umklammerte das Handy sanft mit beiden Händen und flüsterte nur: »Das bin ich!«

2

Tief in Gedanken

»Es ist aber schon alles in Ordnung mit dir, oder?«

Die Stimme ihres Vaters riss Milla aus den Gedanken. »Was?«

Er lächelte sie an. »Wir sitzen seit einer Viertelstunde beim Abendessen und du sprichst kaum was. Da mache ich mir schon Sorgen, du.«

Milla lächelte kurz zurück. »Ach so. Nee. Bin nur in Gedanken«, antwortete sie und dachte: Bei Johnny.

»Das müssen aber viele Gedanken sein«, bemerkte er.

»Stimmt«, gab Milla zurück und dachte: Alle für Johnny.

»Ob da jemand verliebt ist?«, ulkte er.

»Nö«, schoss es aus Milla heraus. Sie dachte: Bin gerade in niemanden verliebt. Und ganz bestimmt nicht in Johnny.

Gerade dieser letzte Gedanke ließ sie selbst aufmerken. Warum dachte sie den ganzen Tag nur an ihn? Und zwar so sehr, dass es selbst ihrem Vater auffiel? Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Für Jungs oder Mädchen interessierte sich Milla überhaupt nicht auf diese Art. Sie bekam ja mit, was ihre Freundinnen alle für einen Stress mit ihren Beziehungen oder eben ihren Nicht-Beziehungen hatten. Das musste sie sich nicht auch noch aufladen.

Nein, ihre Johnny-Grübeleien mussten einen anderen Hintergrund haben. Schließlich musste sie lächeln, als ihr klar wurde, was sie an Johnny so faszinierte.

Ihrem Vater war das Grinsen nicht vergangen. »Na, so wie du gerade schaust, bist du ja wohl doch ein bisschen verliebt, was?«, neckte er seine Tochter. »Darf man fragen, was er hat, was andere nicht haben?«

Milla blickte von ihrem Abendessen auf, lächelte noch mehr als vorher und antwortete knapp: »Geile Followerzahlen.«

Das verdutzte Gesicht ihres Vaters, der mit allen anderen möglichen Antworten gerechnet hätte, verfolgte sie bis hoch in ihr Zimmer.

»Followerzahlen«, wiederholte Milla oben angekommen, als sie ihr Handy einschaltete und bei Pop-U-up Johnnys Profil öffnete.

»Uff!«, entglitt es ihr, als sie sah, dass seit seiner Livesendung über 500 neue Follower dazugekommen waren. »Das gibt’s nicht!«

»Doch, das gibt’s. Das ist so!« Kathy warf am nächsten Morgen nur einen flüchtigen Blick auf die Followerzahlen, die ihr Milla auf dem Schulhof vor die Nase hielt. Sie standen an der riesigen Eiche, die mitten auf dem Schulhof wuchs. Hier trafen sie sich jeden Morgen, bevor der Unterricht begann. Von hier hatten sie den besten Blick auf all die Schülerinnen und Schüler, die am Morgen in die Schule kamen. Man konnte am besten beobachten und lästern, Klamotten vergleichen oder neue Frisuren entdecken oder herausfinden, wer was mit wem hatte oder auch nicht …

»Ich folge ihm erst seit ein paar Wochen und staune auch. Echt, ey: Nach jedem Livestream folgen dem ein paar Hundert Fans mehr. Der macht die Million bald voll. Glaub mir!«

Milla schaute sie schräg an. »Reden wir noch über Follower?«

Kathy lachte. »Follower oder Kohle, ich glaube, das ist bei Johnny gleich.«

»’ne Million?«

»Oder mehr«, winkte Kathy ab und Lia, die neben ihnen stand, gab Kathy recht: »Das ist der Hammer, was die verdienen. Ich hab das mal in einem Blog gelesen. Jede einzelne Folge ist eine echte Gelddruckmaschine.«

»Das war aber nicht immer so«, warf Lia ein. »Der hat schon jahrelang seinen Account, aber erst seit einigen Monaten ist er überall bekannt.«

Milla sah sie an. »Echt?«

Kathy gab Lia recht. »Ja. Der hat früher einfach nur Klamotten präsentiert. So wie alle. Erst, als er auf die Idee kam, Geschichten drum herum zu erzählen, wurde er bekannt. Da gibt es ein Video, in dem er sagt, er sei Bronco begegnet. In einem Laden.«

Milla riss die Augenbrauen hoch. »Dem Rapper?«

»Hammer, oder? Die beiden haben wohl lange Zeit gequatscht und als Johnny davon erzählte, ist sein Account fast geplatzt.«

Lia nickte. »Der ist also über Nacht bekannt geworden.«

»Und reich!«, lachte Kathy.

»Und reich!«, stimmte Lia mit ein.

Milla blieb still. Sie gab auch kein High Five. In ihr brannte eine Frage, von der sie nicht wusste, ob sie sie stellen sollte. Schließlich wollte sie nicht naiv oder unwissend erscheinen.

Aber es war zu wichtig, als dass sie nicht nachhaken wollte: »Wie denn? Wie macht man denn mit solchen Videos Kohle?«

Lia freute sich über die Frage, denn jetzt konnte sie ihr Wissen beweisen: »Was kam vor Johnny?«

Milla dachte nach. »Ich musste mich anmelden. So ein süßer Hamster in seinem Rad war zu sehen, um zu zeigen, wie lange …«

»Werbung!«, fuhr Lia dazwischen. »Du hast Werbung gesehen. Stimmt’s?«