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Der Schattengreifer setzt seine Reise fort und hält Simon und dessen Freunde noch immer auf dem Seelensammler fest. Wieder führen die Abenteuer durch Zeit und Raum, sogar zurück in die Steinzeit. Endlich gelingt es Simon, hinter das Rätsel der magischen Gestalt und des mysteriösen Plans zu kommen. Und dabei wird ihm bewusst, dass der Kampf gegen den Schattengreifer gefährlicher ist, als er bisher geahnt hat ...
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Seitenzahl: 339
Zweiter Bandder Trilogie
Lübbe Digital
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
© 2010 Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen: Silvia Christoph
Lektorat: Katharina Jacobi
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH
ISBN 978-3-8387-0825-6
Sie finden uns im Internet unterwww.luebbe.dewww.baumhaus-verlag.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Simon rannte. Jagte davon. Seine Lunge drohte zu zerplatzen. Seine Beine spürte er schon lange Zeit nicht mehr. Alles in ihm wehrte sich gegen diese Anstrengung.
Doch er musste rennen. Weiter und weiter.
Den Blick starr vor sich auf die Straße gerichtet, lief er um sein Leben. Er war auf der Flucht, und er kannte seine Verfolger. Ebenso, wie er sich bewusst war, dass sie aufholten.
Simon kämpfte gegen die Erschöpfung und gegen die Schmerzen an. Er mühte sich weiter, Schritt für Schritt, den Blick fest auf die Straße geheftet.
Doch plötzlich schnitt ihm etwas ins Ohr. Simon schrie auf und warf den Kopf in den Nacken. Eine riesige Krähe war dicht an ihm vorbeigeflogen und hatte ihn mit ihren scharfen Flügelspitzen gestreift. Simon verfolgte ihren Flug mit seinen Blicken. Die Krähe beschrieb einen weiten Bogen, dann kam sie direkt auf Simon zugeflogen.
Sie gehörte zu seinen Verfolgern. Mit einem ohrenbetäubenden Krächzen kam sie auf den Jungen zugestürzt. Simon duckte sich und spürte ihren Luftzug im Gesicht, als sie über ihn hinwegfegte. Noch immer behielt Simon sie im Blick. Er drehte den Kopf, sah der Krähe hinterher, und im gleichen Augenblick bemerkte er seinen zweiten Verfolger. Nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Im Licht der Nacht erkannte er hinter sich nur einen Schatten, der ihn verfolgte. Einen Schatten und dessen schneeweiße Hände, die aus dem schwarzen Umhang hervorschauten und sich im Mondlicht spiegelten: lange, spindeldürre Finger, die sich nach Simon reckten. Und weit hinter ihm, im Dunkel der Nacht kaum auszumachen, ein Schiff auf dem Meer, mit brennenden Fackeln auf seinen zwei Mastspitzen.
Schnell wandte Simon wieder den Kopf und hielt den Blick auf die Straße gesenkt. Da spürte er, wie er gepackt wurde. Wie sich eine Macht um seinen ganzen Körper legte, ihn einschnürte und ihm jede Bewegungsmöglichkeit nahm.
Simon schrie auf. Er versuchte, sich zu wehren, versuchte zu kämpfen, doch er war gefangen.
„Simon!“
Der Junge wandte den Kopf, versuchte weiter, sich zu befreien, doch …
„Du hast geschrien!“
Diese Stimme – so vertraut.
Er japste nach Luft, konnte sich noch immer nicht bewegen.
„Simon! Was ist mit dir?“
Allmählich schwanden die Bilder vor seinen Augen, und er kam zu sich. Er blickte verwirrt um sich, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Seine Mutter saß neben ihm und sah ihn voller Sorge an. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. „Albträume?“, fragte sie.
Simon sah an sich herunter. Er hatte sich im Schlaf so sehr in seiner Bettdecke gewunden, dass sie ihn wie eine zweite Haut umspannte und ihm jede Möglichkeit zur Bewegung nahm. Also doch kein Zauber, in dem er gefangen war. Seine eigene Decke hatte ihm einen Streich gespielt.
Nun kam auch sein Vater ins Zimmer gestürzt. Er rieb sich schlaftrunken die Augen. Dann warf er einen Blick auf seinen Sohn, der völlig verstört in seinem Bett lag. „Wieder Albträume?“, fragte auch er sofort, und Simon nickte stumm.
„Was ist nur mit dir los?“ Simons Mutter half, ihn aus der Bettdecke zu befreien. „Immer wieder diese Träume. Es war ja einige Zeit wirklich besser, und ich dachte schon, das hört von alleine auf. Aber in den letzten Wochen … beinahe jede Nacht …“
Simon blickte hilflos in die besorgten Gesichter seiner Eltern. Wie hätte er ihnen das alles erklären sollen? Wie hätte er ihnen sagen können, dass er bereits seit langer Zeit auf diese Träume gewartet hatte? Dass er diese Bilder kannte. Ja, dass er sie herbeigesehnt hatte?
Diese Träume waren Zeichen. Sie waren seine Verbindung. Wie ein Rufen aus der Unendlichkeit der Zeit. Und Simon wollte auf dieses Rufen antworten.
Er war bereit.
Langsam erhob er sich von seinem Bett. „Es geht schon wieder“, sagte er mit belegter Stimme. „Vielleicht hab ich gestern Abend nur etwas Falsches gegessen oder getrunken. Oder …“
„Klar!“, erwiderte der Vater. „Das wird es sein. Das Glas Milch zum Abendessen war bestimmt von einer Monsterkuh. Und deshalb bekommst du auch Monsterträume und …“
„He!“, unterbrach ihn Simons Mutter mit strengem Blick. Doch die Stimmung im Zimmer entspannte sich spürbar, und ihr war anzusehen, dass sie ihrem Mann sehr dankbar für seine Sprüche war.
„Es geht schon wieder“, brachte Simon hervor, und ohne einen weiteren Blick auf seine Eltern ging er ins Bad.
Endlich!
Das schrille Klingeln der Schulglocke. Schulschluss!
Hastig packte Simon seine Sachen zusammen.
„Du gehst bestimmt wieder einmal nicht mit uns nach Hause, oder?“ Tom hatte sich an seine Seite gestellt. „Bist bestimmt wieder auf dem Weg zur Schulbibliothek? Fleißig lesen!“
Simon sah verlegen auf seine Tasche. „Ich hab da noch was zu erledigen. Ich muss …“
„… etwas nachschlagen. Ist schon klar“, unterbrach ihn Tom scharf. „Ich muss mir unbedingt die Telefonnummer von der Bibliothek besorgen. Falls ich mal mit dir sprechen will.“
Simon sah auf. „Bist du sauer?“
Tom winkte nur ab. „Ach, lass mal. Schon in Ordnung. Wirst deine Gründe haben.“
Grübelnd blickte Simon seinem besten Freund hinterher, dann machte er sich auf den Weg in die Bibliothek.
Die Leiterin empfing ihn mit einem Lächeln: „Simon. Ich hab mich schon gefragt, wo du bleibst! Schau mal, ich hab dafür gesorgt, dass dein PC-Platz frei ist.“
„Super, vielen Dank!“ Simon ging zu dem Computertisch und stellte die Tasche neben seiner halb vollen Wasserflasche ab, die er gestern dort vergessen hatte. Auch sein Geschichts-Lexikon lag noch dort. Aufgeschlagen, so wie er es liegen gelassen hatte.
Simons Herz tat einen Sprung, als er auf das Buch blickte. Seine Hand strich über die Buchstaben. Jeden Tag las er die wenigen Zeilen dieses Berichtes. Eine Randnotiz nur, doch für Simon die wichtigste Information in diesem tausendseitigen Band.
Kaum hatte Simon auf dem Stuhl vor dem Computertisch Platz genommen, zog er auch schon das Lexikon zu sich und ließ die Finger über die Stelle wandern, die er schon so oft gelesen hatte und doch immer wieder lesen musste.
Neben einem gezeichneten Stadtplan der historischen Stadt Karthago war ein längerer Text über den Untergang dieser Stadt abgedruckt. Von Scipio, dem römischen Konsul, war dort die Rede, der 146 vor Christus mit seinen Truppen die Stadt zerstört hatte.
Am Ende dieses Artikels gab es eine Randbemerkung, die Simon inzwischen auswendig hätte aufsagen können. Wort für Wort. Selbst dann, wenn man ihn nachts um drei aus dem Schlaf geschüttelt und ihn danach gefragt hätte.
Von einer Legende um einen Jungen aus Karthago war dort die Rede: Von Basrar, der mit seinen 13 Jahren in der Nacht des Untergangs einige hundert Menschen der Stadt gerettet hatte. Er sei gewarnt worden, hieß es, und er hätte alles darangesetzt, seine Familie, Freunde und Nachbarn in der Nacht des Untergangs zu warnen, um mit ihnen zu flüchten.
„Wer dem Jungen erschienen sein soll, ist bis heute ein Rätsel“, hieß es in dem Lexikon-Artikel. Und weiter: „Wissenschaftler vermuten, dass es wohl niemals einen Menschen geben wird, der dieses Geheimnis lüften kann.“
Simon lächelte. Er wusste genau, worauf diese Rettung zurückzuführen war. Und er kannte auch denjenigen, der Basrar gewarnt hatte. Denn derjenige saß hier, an diesem Tisch. Den Finger auf dem Artikel.
Und dies alles war erst der Anfang. Bald schon würde noch mehr geschehen. Schon sehr bald. Denn das verrieten ihm seine Träume der letzten Tage.
Er schaltete den Monitor an seinem Computer-Platz ein und rief das Online-Lexikon auf, mit dem er am liebsten arbeitete. Hier hatte er bisher noch alle Antworten auf seine Fragen erhalten. Und es waren viele Fragen, die ihn beschäftigten.
Schon sausten seine Finger über die Tastatur. „Pestzeit“ gab er ein und „Europa“. Sofort erschienen die vertrauten Bilder, und Simon ließ den Mauszeiger über die ebenso vertrauten Artikel wandern. Er musste sich alles genau einprägen. Er musste vorbereitet sein. Jeden Moment könnte es so weit sein, dass …
Jemand stieß ihm in die Seite. Simon sah von seinem Monitor auf.
„Na?“
Tom war in der Bibliothek erschienen. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Simon. Mit dem Kopf wies er in Richtung Monitor. „Mal wieder auf der Suche?“
Simon zog die Schultern in die Höhe. „Na ja, du kennst mich ja.“
„Gib mir Bescheid, wenn du deine Doktorarbeit beendet hast, ja?“ Tom grinste. „Entschuldige wegen vorhin.“
„Nein, kein Problem“, wehrte Simon schnell ab. „Ich kann dich ja verstehen.“
„Aber ich dich nicht“, erwiderte Tom. „Seit fast einem Jahr sitzt du jede freie Minute an diesem Platz. Vergräbst dich in Büchern, starrst auf den Bildschirm und springst durch die Vergangenheit. Was hat das alles zu bedeuten?“
Simon seufzte. „Ich werde es dir erklären. Irgendwann. Aber jetzt kann ich einfach noch nicht darüber sprechen. Ich muss vorbereitet sein. Für eine bestimmte Sache.“
Tom winkte ab. „Das hast du mir schon hundert Mal gesagt. Ich will dich ja auch nicht drängen. Aber …“
„Ja?“
„Kann ich dir vielleicht helfen?“
Über Simons Gesicht zog sich ein Lächeln. „Du meinst …“
„Die ganze Sache scheint dir sehr wichtig zu sein. Und du bist mir wichtig. Und da könnten wir uns doch zusammentun, oder?“
„Das wäre toll!“ Simon sah Tom dankbar an. Er musste Acht geben: Simon durfte nicht nur an seine Freunde aus der Vergangenheit denken, er durfte auch die Freunde der Gegenwart nicht vergessen.
Tom rückte sich auf seinem Stuhl zurecht. „Also, was kann ich tun?“
„Du kannst mich abfragen“, war die spontane Antwort. „Es gibt ein paar historische Ereignisse, über die ich genau Bescheid wissen muss. Und du kannst mir helfen, die Lücken zu füllen.“
„Kapiert. Womit fangen wir an?“
Schnell schob Simon seinem Freund eines der Lexika zu und setzte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick ging nach draußen, auf die Klippe am Meer, die wegen ihrer besonderen Form und dem roten Sand, den es nur in dieser Gegend gab, Rotkopf-Klippe genannt wurde. Tatsächlich konnte man mit nur etwas Fantasie ein Gesicht in den Klippen erkennen. Einen Mann, der hinaus auf das Meer schaute. Auf Simons Meer. Er war schon lange nicht mehr mit seinem Vater rudern gewesen. Alles, was ihm früher wichtig gewesen war, hatte er zurückgestellt. Denn es gab etwas Neues in seinem Leben. Etwas, das …
„Fangen wir auch mal an?“, erkundigte sich Tom mit einem spöttischen Lächeln.
Simon riss sich wieder zusammen und wandte den Blick von der Rotkopf-Klippe ab. „Ja, klar. Pass auf!“ Und dann begann er zu erzählen, was er sich nun schon seit langer Zeit so genau wie möglich einzuprägen versuchte.
Er begann mit der längst untergegangenen Stadt Ur, die 2500 vor Christus die erste Hochkultur der Menschheit darstellte. „Die Stadt lag in Mesopotamien, im heutigen Iran“, erklärte Simon seinem Freund, der sich mehr und mehr beeindruckt zeigte von all dem Wissen, dass Simon sich angeeignet hatte. „Doch die Menschen wirkten von ihrem Äußeren her eher asiatisch.“
„Ist das wichtig?“, hakte Tom ein.
Und Simon nickte. Für ihn war das sehr wichtig. Denn in seinen Gedanken sah er sie wieder vor sich: Nin-Sis Augen. Und gleich daneben tauchte Neferti auf, die Ägypterin. Und Salomon, der Junge, der die erste große europäische Pestzeit erlebt hatte. Und natürlich Moon, der Lakota-Indianer. Simons Freunde der Vergangenheit.
Und seine Sehnsucht, sie alle wieder zu sehen, wuchs ins Unendliche.
Sein Zauber zeigte Wirkung. Er konnte die Angst des Jungen spüren, nachts, wenn er sich in dessen Träume schlich und ihn auf das Wiedersehen vorbereitete. Er konnte den Jungen schreien hören in der Nacht. Er konnte dessen Flüstern vernehmen. Ja, selbst das Geräusch seiner Herzschläge drang bis zu dem Magier. Seine Macht über den Jungen war größer geworden. Und das würde er zu nutzen wissen. Bald schon. Bald …
Gerade hatte Simon seine Schultasche in die Ecke geworfen und war ins Wohnzimmer gekommen, als er erschrocken zusammenzuckte. Sein Vater saß am Esstisch und blickte seinen Sohn mit einem Gesichtsausdruck an, bei dem es Simon kalt den Rücken hinunterlief.
Es war kein grimmiger Blick. Simon erkannte eher Verunsicherung darin. Und obwohl ihn sein Vater nicht direkt finster ansah, lag dennoch etwas Unheimliches in dessen Augen. Etwas, das Simon nicht geheuer war.
„Ist was?“
Sein Vater winkte ihn zu sich heran. „Können wir reden?“
„Natürlich.“ Simon setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
„Es geht um diese Träume in der letzten Zeit“, eröffnete ihm sein Vater ohne Umschweife. Er sah Simon sehr konzentriert an. Etwas schien seinen Vater zu beschäftigen. Sehr sogar.
„Ja?“
„Was genau träumst du nachts?“
Simon überlegte, wie er seinem Vater die Bilder erklären könnte. „Es ist nichts Greifbares“, sagte er. „Sehr verschwommen und durcheinander. Eher wie …“
„Träumst du immer dasselbe?“, unterbrach ihn sein Vater auf einmal.
Simon nickte.
„Jede Nacht?“
Wieder nickte Simon.
Sein Vater beugte sich zu ihm vor. Er sah Simon so fest in die Augen, dass dem Jungen der Ernst der Situation sofort klar wurde. Und noch etwas wurde Simon bewusst: Er würde seinem Vater alles erzählen. Jetzt. Einen ähnlichen Moment wie diesen hatte Simon noch nie erlebt. Nicht einmal während der unzähligen Tage, die Simon und sein Vater allein und vertraut rudernd oder segelnd auf dem Meer verbracht hatten. Es war der Blick des Vaters. Und sein fragender Gesichtsausdruck. Etwas ging in seinem Vater vor.
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