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Ursula ist unzufrieden. Zu hässlich, zu hungrig, zu allein – ihr Leben läuft überhaupt nicht so, wie sie es gern hätte. Die Schwester ist schöner, die Nachbarin glücklicher, und wer hält schon eine ewige Gemüsesuppen-Diät durch? Da kommt ihr der mysteriöse Erpresseranruf eigentlich ganz gelegen: Man habe ihren Ehemann entführt, eine Million Lösegeld. Nur: Ursula hat gar keinen Ehemann. Doch ihr unstillbarer Hunger auf das Leben der anderen verbietet ihr, die Verwechslung aufzudecken. Sie entdeckt ihr kriminalistisches Talent, das sie in ein abstrus herrliches Abenteuer führt.
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Seitenzahl: 245
Ursula ist unzufrieden. Zu hässlich, zu hungrig, zu allein. Da kommt ihr der mysteriöse Erpresseranruf eigentlich ganz gelegen: Man habe ihren Ehemann entführt, eine Million Lösegeld. Nur: Ursula hat gar keinen Ehemann. Grund genug, ihr kriminalistisches Talent auszuschöpfen und sich in ein abstrus herrliches Abenteuer zu stürzen.
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Mercedes Rosende, geboren 1958 in Montevideo, Uruguay, studierte Recht und Integrationspolitik. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mit dem LiBeraturpreis, dem Premio Municipal de Narrativa, dem uruguayischen Nationalliteraturpreis und dem Código Negro ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.
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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
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Mercedes Rosende
Falsche Ursula
Kriminalroman
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Die Montevideo-Romane (1)
E-Book-Ausgabe
Mit einem Bonus-Dokument im Anhang
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2017 bei Estuario Editora, Montevideo.
Mottozitat: Übersetzung von Alfred Peuker, bearbeitet von Ursula Fischer, in: Thomas de Quincey, Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet, Insel Verlag, Frankfurt a. M., 1977.
Lektorat: Anne-Catherine Eigner
Originaltitel: Mujer equivocada
© by Mercedes Rosende, 2017
Die deutsche Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Ampi Margini Literary Agency
© by Unionsverlag, Zürich 2022
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Unter Verwendung eines Motivs von GeorgePeters (iStockphoto)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31078-0
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
FALSCHE URSULA
Erster Tag1 – Hallo Ursula, willkommen in der Welt der Dicken …2 – In der Ferne taucht das altbekannte Schild vor …3 – Eilig lege ich die Strecke von der Calle …4 – Guten Abend. Ihre Papiere, bitte.«5 – Seit einer Weile gibt es wieder Strom …6 – Der Unterzeichnete, Polizeikommissar Walter Dos Santos Morales …7 – Los, hilf mir. Mann, ist der schwer.«Zweiter Tag1 – Eine Zigarette verbreitet ihren Rauch in meinem Wohnzimmer2 – Das Warten beim Arzt gleicht einem Aufenthalt in …3 – Wo bin ich? Ist hier jemand? Ich höre …4 – Nous ne sommes pas de ce monde5 – Montevideo, 19. April6 – Im Traum betrete ich eine fremde Wohnung …Dritter Tag1 – Ich drücke auf den in der Wand neben …2 – BEKANNTER UNTERNEHMER AUS MONTEVIDEO VERSCHWUNDEN3 – Übersetzt habe ich schon immer, manchmal arbeite ich …4 – Eine Frau ergreift ein großes, scharfes Messer …5 – Ich bin komplett irre. Natürlich bin ich irre …6 – In der Avenida Dieciocho de Julio tut sich …7 – Der Mann mustert mich unsicher. Auf den ersten …8 – Ich werfe die Handtasche auf das Cordsofa …Vierter Tag1 – Vor mir eine Dame vom Hof des Himmlischen …2 – Wie spät ist es?«3 – Ich habe das Auto in die Werkstatt gebracht …4 – Hallo, spreche ich mit Ursula López?«5 – Sehr geehrte Nachbarin aus Wohnung 602Fünfter Tag1 – UNTERNEHMER WEITERHIN VERSCHWUNDEN2 – Geräuschlos öffnet sich die Tür, ebenso geräuschlos sind …Sechster Tag1 – Ich gehe die Calle Sarandí entlang, biege dann …2 – Ursula?«3 – Erster Negativpunkt, als ich den Friseursalon betrete …4 – Ich komme ein paar Minuten zu spät …5 – Ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen« …6 – In einer dunklen Regennacht fährt ein Auto auf …7 – Hallo? Sind Sie das? Endlich sind Sie wieder …8 – Kälte, Nebel. Selbst bei geschlossener Tür dringt die …Siebter Tag1 – Hallo? Polizei? Helfen Sie mir, dies ist ein …2 – Halb zwei. Es ist so weit3 – Hallo?«4 – Der Revolvergriff ist porös und kalt, aber er …5 – UNTERNEHMER WIEDER FREIEinen Monat später1 – Alles schiefgegangen.«2 – Der Tag hat sanft begonnen, ohne besondere Versprechungen …Mehr über dieses Buch
Mercedes Rosende: »In Romanen muss man die Realität etwas verdünnen.«
Über Mercedes Rosende
Mercedes Rosende: »Wir dürfen den Sinn für das Komische nicht verlieren.«
Über Peter Kultzen
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»Wenn einer sich erst aufs Morden einlässt,dann verfällt er auch bald aufs Rauben;Saufen und Sabbatschänden sind die nächsten Laster,und von da ist es nicht mehr weit zuFrechheit und Saumseligkeit.«
THOMAS DE QUINCEY
Hallo Ursula, willkommen in der Welt der Dicken, wo Spiegel dir definitiv übel gesinnt sind.
Das Übergewicht hat sich auf leisen Sohlen herangepirscht, sage ich mir, ich habe es fast nicht bemerkt. Nein, stimmt nicht, ich habe es sehr wohl bemerkt, zuerst drückte der eine oder andere Knopf, dann ging der Reißverschluss nicht richtig zu, was alles, für sich allein genommen, noch nicht viel zu bedeuten hat: Du hast eben deine Tage und bist deshalb so aufgequollen, oder du hast Blähungen, oder es haben sich irgendwelche Flüssigkeiten angestaut – das wird doch kein Fibrom sein? Bis vor Kurzem befand mein Arzt, Größe und Gewicht stünden bei mir in einem ausgeglichenen Verhältnis, »alles im grünen Bereich«, wie er sich ausdrückte. Ab wann ist eigentlich die Gesundheit wichtiger als das Aussehen? Sobald man siebzig Kilo wiegt? Fünfundsiebzig? Von welchem Moment an spielt es eine Rolle, ob sich Taille, Hüfte und Beine »im grünen Bereich« befinden?
»Und, passt es?«, höre ich die Verkäuferin rufen.
»Ich komm nicht rein, können Sie es mir eine Nummer größer bringen?«
»Nein, haben wir nicht, das ist schon die größte.«
Das saß.
Plötzliche Hitze durchwallt mich, von der Brust hinauf ins Gesicht, bis die Ohren glühen. Beim Versuch, das Kleid, das einfach nicht über meine Hüfte passte, wieder auszuziehen, verheddert es sich zwischen den Achseln und meinem Kopf, der dicke Stoff raubt mir Licht und Luft. Ich möchte mich befreien, zerre an dem Kleid, fuchtele mit den Armen, verfickte Verkäuferin, was heißt da, das ist schon die größte Nummer? Mit den Pobacken stoße ich an die Wand der Umkleidekabine, die mich auf einmal einengt, umklammert, erstickt! Ich bekomme das verdammte Kleid nicht ausgezogen, ich kann nichts sehen und kriege keine Luft, Rücken und Brust sind schweißnass, Herrgott noch mal, warum will das Scheißding nicht? Ich zerre noch heftiger, was die Nähte davon halten, ist mir egal, dafür muss ich an die Frau da draußen denken und werde immer wütender, am liebsten würde ich losheulen, aus der Kabine rennen und ihr den Fummel ins Gesicht schmeißen, ich zerre und zerre, die Nähte ächzen, der Stoff steht kurz vor dem Zerreißen, dann bin ich das Ding endlich los.
Und stehe da und atme durch. Tief durch.
Im erbarmungslosen Licht der Kabine betrachte ich mein Spiegelbild: eine aufgewühlte keuchende Frau mit rotem Gesicht, vortretenden Augen und wirrem Haar, die aus ihrer Unterwäsche quillt.
Sieh dich an, Ursula, sieh dich ruhig an. Diese schweißglänzenden Speckfalten, die bei fünfhundert Watt Beleuchtung erst so richtig zur Geltung kommen – das bist du! Erkennst du dich nicht wieder? Darf ich vorstellen: die fette Ursula. Der schwabblige Lappen da, das ist dein Doppelkinn, und die Kugel, weiter unten, das ist dein Bauch, und dahinten? Ein Rie-sen-arsch.
»Wer sollte so einen Dickwanst jemals lieb haben?«, flüstert Papa mir zu.
Es reicht, ich sehe weg.
Und ziehe mich an, so gut ich kann. Meine ungeschickten Finger knöpfen die Bluse schief zu. Dann fällt mir die Handtasche hin, Münzen, Taschentücher, ein Kamm, Lippenstifte, angebissene Müsli- und Schokoladenriegel verteilen sich über den Boden. Ich sammle alles auf, zupfe mir das Haar zurecht. Dass bloß diese Verkäuferin nicht mehr da draußen steht! Soll sie doch ihre Liliputanersachen jemand anderem andrehen.
Mit dem Kleid in der Hand und einem Kloß im Hals trete ich aus der Kabine.
Ich halte suchend nach der Verkäuferin Ausschau. Sie hält gerade einer Frau in meinem Alter, um die vierzig, eine weiße Hose hin. Die Frau probiert, ob sie passt, indem sie sich die Hose einfach an die schlanke vollkommene Hüfte hält. Von irgendwelchen »grünen Bereichen« hat diese Hüfte bestimmt noch nie gehört. Was sie die Verkäuferin jetzt fragt, ist nicht schwer zu erraten. »Und, steht sie mir? Stimmt die Größe?« Die Verkäuferin nickt mit einem kriecherischen Lächeln. »Alles genau, wie es sein soll, meine Liebe.«
Ich bin dick geworden, ohne es zu merken, habe ich vorhin gesagt. Das war gelogen. Schuld sind all die Kunstfasern, aus denen Kleidung heutzutage hergestellt wird – Lycra, Elastan, Spandex. Sie sorgen dafür, dass aus Größe 44 mal eben schnell Größe 46 oder sogar 50 wird, ohne dass die Frau, die das Zeug anhat, etwas mitbekommt. Das Fett dehnt sich aus, aber Spandex hält alles schön in Form. Heimtückisch verschleiert es die Speckfalten, tarnt lässig den beginnenden Schwabbelbauch. Außerdem: Wer sieht schon öfter als nötig in den Spiegel, wenn er die vierzig überschritten hat? Und falls doch, tut die nachlassende Sehkraft großmütig das Ihre, um das Bild zu verschleiern oder ihm den Anstrich der Normalität zu verleihen.
Lügen, nichts als Lügen. Ich habe seit jeher gewusst, dass ich eines Tages dick sein würde. Schon als ich es noch gar nicht war. Papa hat versucht, mich zu warnen, und Tante Irene … Arme Tante Irene.
Bevor ich aus dem Laden fliehe, sehe ich mich noch einmal um: Heute ist Schlussverkauf, überall stehen Frauen und wühlen in Bergen aus Blüschen, T-Shirtlein und Mikro-Shorts, mit denen sie in diesem Sommer ihre Körperchen zur Schau stellen werden. Lachend unterhalten sie sich, während sie mit ihrer zusammengerafften Beute vor den Ankleidekabinen oder der Kasse Schlange stehen und sich in geheimem Einverständnis mustern – die Schwesternschaft der schönen Frauen. Bei ihrem Anblick würde ich das Kleid in meiner Hand am liebsten auf den Boden schmeißen und schreiend darauf herumtrampeln. »Ist mir doch egal, ob der Scheiß passt oder nicht«, möchte ich rufen und mit lautem Türknallen aus dem Laden rennen.
Stattdessen gehe ich langsam zur Theke und gebe das Kleid, eine unhörbare Entschuldigung murmelnd, zurück, ohne die Verkäuferinnen anzusehen, keine Lust auf ihre vielsagenden Mienen, und verlasse das Geschäft durch den Haupteingang so, als schliche ich mich eigentlich durch den Hintereingang. Draußen empfängt mich das Gedränge, und ich lasse mich von der Menge verschlucken.
Noch heute fange ich mit der Diät an.
»Ein Parkticket, bitte.«
»Sagst du mir noch deine Autonummer, Süße?«
Der Kerl glotzt mich lächelnd an. In der Bude riecht es nach Essen, hinter einem Vorhang hantiert jemand mit Töpfen und Tellern, eine Frauenstimme trällert eine Cumbia-Melodie. Mein Blick wandert von der nackten, nur knapp durch einen großen Autoreifen verdeckten Frau auf dem Wandkalender zu den Hintern, die mich von den Zeitschriften in der Auslage anspringen. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mir vorstellen, ich wäre die Schönheit hinter dem Reifen, oder ich würde auf dem Hochglanzpapier einer der Illustrierten meinen Hintern zur Schau stellen. Der Mann hinter dem Tresen starrt mir, unermüdlich lächelnd, auf die Brüste, die mein vor Jahren gekauftes Spandex-T-Shirt ausfüllen. Ich lasse den Blick weiter über die Zeitschriften und dann zurück zum Kalender wandern.
Irgendwann stütze ich den Ellbogen auf dem Tresen auf und beuge mich vor, dem Mann entgegen, der mich weiterhin lächelnd anstarrt. Ich sehe ihm in die Augen und ziehe dabei mein T-Shirt nach unten, genüsslich ziehe ich am Ausschnitt, bis eine Brustwarze fast frei liegt, ich halte kurz inne, und ziehe den Stoff dann noch ein Stückchen nach unten, und noch ein Stückchen. Der Typ hört auf zu lächeln und sieht mich nicht mehr an. Ein intensiver Geruch von Linseneintopf mit fetter Fleischeinlage dringt durch den Vorhang und nimmt alles in Beschlag.
»Die Autonummer?«, flüstert der Mann.
»AXB 1890«, diktiere ich langsam, ohne den Blick abzuwenden.
Jetzt schaut der Typ wieder, diesmal in mein Gesicht, dann blickt er zum Vorhang, und gleich darauf senkt er die Augen auf das Papier, auf dem er, plötzlich in Eile, meine Autonummer notiert.
Er reißt den Zettel vom Block. »Zehn Pesos«, brummelt er.
In aller Ruhe ziehe ich mein T-Shirt zurecht, und der Typ händigt mir das Ticket aus, nimmt den Schein entgegen und gibt mir das Wechselgeld zurück, ohne mich noch einmal anzusehen.
»Hosenscheißer.« Mit entschlossenen Schritten gehe ich hinaus, ich komme zu spät zu dem Treffen.
In der Ferne taucht das altbekannte Schild vor mir auf, »Weight-Watchers-Treffen, Mittwoch, 18 Uhr« steht dort in dicken blauen Buchstaben.
Langsam gehe ich den Gang entlang, setze zögernd einen Fuß vor den anderen. Weiter, Ursula, jetzt bloß nicht umdrehen und abhauen, du schaffst das, nimm dich zusammen, tief durchatmen. Siehst du, ist doch ganz einfach. Ein Schritt noch, und schon stehst du vor der Tür. Los, Ursula, noch einmal tief durchatmen, dann legst du die Hand auf die Klinke, drückst runter und machst auf.
Und gehst rein.
Ich weiß genau, was jetzt passieren wird, ich weiß, dass ich mir auch diesmal beim Betreten des großen Versammlungsraums ganz hinten im Pfarrzentrum Punta Carretas sagen werde, dass sie lächerlich sind, einfach grotesk, und dass ich mich fragen werde, was ich hier zu suchen habe.
Das gleiche Fremdheitsgefühl wie immer – wo hats dich hin verschlagen, Ursula? Was sind das für Leute? Und der Eindruck, dass dieses ganze Ritual die Kopie einer Kopie einer Kopie ist, dass diese Treffen für andere Länder gedacht sind, nicht für meins, für andere Menschen, nicht für mich.
Noch bevor ich die Tür öffne, weiß ich, dass alle sich übertrieben begeistert umarmen werden, um sich anschließend an den Händen zu fassen und gegenseitig tief in die Augen zu sehen. Jedes Mal das gleiche fest einstudierte Wiedersehensritual, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht getroffen, dabei ist seit dem letzten Weight-Watchers-Treffen gerade einmal eine Woche vergangen. Die Begrüßungen, die Sitzverteilung, die Vorstellungen, Fragen und Antworten, alles läuft nach einem vorgeschriebenen Drehbuch ab, einem Drehbuch für Dicke aus anderen Ländern, nicht für Dicke von hier – für uns Dicke, verbessere ich mich, während ich, die Hand immer noch auf der Klinke, heftig atmend dastehe und gegen den Widerwillen ankämpfe, gegen die Verachtung, das Gefühl der Lächerlichkeit, den Wunsch, umzukehren, rauszugehen und hinter der nächsten Ecke zu verschwinden und diese Leute und alles, was mich mit ihnen verbindet, für immer zu vergessen.
Sobald ich den großen Versammlungsraum ganz hinten im Pfarrzentrum Punta Carretas betrete, werde ich mich in einen Ball verwandeln, der von der Straße hereinrollt, in einen Ballon, der sich auf andere Bälle und Ballons zubewegt, ich werde den Eindruck haben, dass der Boden unter meinen Füßen übertrieben laut knarrt und ich viel zu viel Luft ausatme und eine gigantische Menge Raum einnehme, aber ich werde trotzdem am Ritual teilnehmen, die anderen begeistert umarmen, ihnen so tief in die Augen sehen wie sie mir, ihre pummeligen Hände in meine pummeligen Hände nehmen. Und mir sagen, dass es gar nicht so schlecht wäre, in diesem Augenblick und inmitten von so viel schwärmerischer Begeisterung zu sterben – dann bräuchte ich nie mehr eine Diät anzufangen. Nie mehr. Und alles Leid hätte ein Ende.
Schließlich nehme ich meine ganze Kraft zusammen und drücke die Tür auf. Beim Hineingehen muss ich daran denken, dass Luz mich seinerzeit hierhergeschleppt hat, vor zwei, wenn nicht drei Jahren. Ich hatte dermaßen zugenommen, dass ich mich außerstande fühlte, mich aus eigener Kraft aus der Spirale zu befreien, die mit etlichen Portionen Eis um Mitternacht und einem Extra-Schnitzel zum Mittagessen begonnen hatte.
Als ich zum ersten Mal diese Tür durchquerte, war mir klar: Hier würde ich mich sicher fühlen, aber nicht vor Schokolade und Bier an Sommerabenden, und auch nicht vor Ungeheuern in Sahnetorten- oder Hamburgergestalt. Der große Raum ganz hinten im Pfarrzentrum Punta Carretas mit seinen euphorischen Umarmungen und dem überschwänglichen Händedrücken zur Feier des Wiedersehens nach sieben langen Tagen würde eine unsichtbare und dennoch feste Mauer zwischen Ursula und der Verachtung der Welt darstellen.
Wie ich sie manchmal hasse, diese lächerlichen Treffen, und jedes Mal sind sie mir peinlich. Trotzdem brauche ich sie.
Ich komme immer wieder, lasse die endlose Reihe von Umarmungen über mich ergehen, führe die unmöglichsten Gespräche und erfülle auch sonst sämtliche Vorgaben des Rituals, das es sich einmal in der Woche von sechs bis halb acht zur Aufgabe macht, mich wiederherzustellen. Mich und meine Schwestern und Brüder.
Als Erster begrüßt mich Aurelio. Er umfängt mich mit den Armen, schmiegt sich an mich, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, weiß ich, dass er die Augen schließt. Dazu gluckst er wie ein Säugling, den die Mutter aus der Wiege hebt, um gleich darauf seufzend auszuatmen wie jemand, der den Kopf erschöpft aufs Kissen sinken lässt. Ich lasse ihn gewähren, erschnuppere das Zedernholz und die Bergamotte in seinem Parfüm, dazu eine Spur Vanille, ich höre und spüre sein Atmen und frage mich, wo ich bin und was ich hier eigentlich tue, schon will der Hass aufflackern, doch stattdessen gebe ich mich ganz den zwei Armen hin, die mich umschließen und an eine duftende und schwer atmende Brust drücken, die allen Cormillot- und Atkins-Diäten zum Trotz mollig weich ist und mich liebevoll in sich aufnimmt. Wir verschmelzen unaufhaltsam, bis wir uns zuletzt in einer langsamen Wiedergeburt voneinander lösen, die die Demütigungen einer ganzen Woche verschwinden lässt.
Dann beginnt der allwöchentliche Tanz um die Waage, begleitet von den Geschichten derjenigen, die zum ersten Mal da sind, und den im Chor gesprochenen Antworten der Gruppe – warum, zum Teufel, geht es hier zu wie in einer griechischen Tragödie?
Schließlich ergreift eine Frau das Wort, die von keiner Fluggesellschaft an Bord gelassen würde, es sei denn, sie erwirbt vorher zwei Tickets für sich allein: »Am schlimmsten war die Weihnachtsfeier in der Firma, wo mein Mann arbeitet. Ich hatte zwölf Kilo abgenommen und fühlte mich imstande, auch noch die fünfzig Kilo zu schaffen, die ich weiterhin zu viel auf den Rippen hatte, kein Blick, kein spöttisches Lächeln konnte mir etwas anhaben. Zum ersten Mal seit Jahren hatte ich mir wieder etwas zum Anziehen genäht, ein Kleid aus dunkelblauem Taft, ich hatte mich im Spiegel betrachtet und geschminkt, mich in meinem herrlichen neuen Kleid von allen Seiten bewundert und war dann mit hocherhobenem Kopf im Festsaal erschienen. Dort lächelte ich alle an und hatte das Gefühl, endlich wieder wie eine Frau und nicht wie ein aus dem Aquarium entwichener Wal angesehen zu werden. Juan Carlos und ich unterhielten uns mit seinen Arbeitskollegen, diese stellten mir ihre Ehefrauen vor, und ich fühlte mich als Teil der Festgesellschaft, war wieder ein voll gültiges Mitglied der Gattung Mensch. Jemand machte eine bewundernde Bemerkung über meine Ohrringe mit den Türkisen und meine braune Haut, ich strich mir das Haar zurück, damit sie besser zu sehen waren, brachte sie mit einer Kopfbewegung zum Klimpern, stellte mich zur Schau. Ich wurde immer selbstbewusster, erzählte von meinen Gärtnerinnenkünsten und davon, dass ich vorhatte, noch einmal etwas zu studieren. Dann gingen wir zu den Tischen, mein Mann schob mir den Stuhl zurecht, auf dem ich mich lächelnd niederließ. Das Lächeln muss schlagartig aus meinem Gesicht verschwunden sein, als auf einmal die Stuhlbeine zu zittern anfingen, ich verspürte ein seltsames Beben, das meinen Körper durchlief, dann spreizten die Beine sich, und zu dem demütigenden Geräusch von splitterndem Plastik – alle konnten es hören, mein Gott, alle, die im Saal versammelt waren! – sank ich wie in Zeitlupe schreckensstarr geradewegs in die Hölle. Von danach erinnere ich bloß die Augen, die mich anstarrten, den Ausdruck auf den Gesichtern, die sich über mich beugten, die Blicke, die sich wie Spieße in die auf dem Boden liegende Walfischfrau bohrten. Und dann nicht mal mehr das, meine Augen füllten sich mit Tränen, die mir die Sicht verschleierten, mich nichts mehr erkennen ließen.«
Dass bei einem Weight-Watchers-Treffen einmal eine Weile nichts gesagt würde, kommt nicht vor. Sobald jemand seinen Bericht beendet hat, antwortet die Gruppe ganz im Stil eines griechischen Chores oder wie bei einer satanistischen Sekte. Manchmal habe ich das Gefühl, im nächsten Augenblick erscheint Bette Davis und versucht, mich zu bekehren, wie auch den Rest der Dorfbewohner, woraufhin ich die Flucht antrete, ich stürze mich in ein riesiges Maisfeld, was aber nichts nützt, ihre Augen erwarten mich schon, wo auch immer ich wieder herauskomme.
Sie sind lächerlich, ich hasse sie, manchmal habe ich Angst vor ihnen.
Umstandslos ergreift jemand anders das Wort. Wenn er weint, trösten die Übrigen ihn. Wenn er nicht weint, löchern sie ihn mit Fragen.
Pausen gibt es nicht, niemals.
Alle trösten wir jetzt Ada, arme Ada, sechs Monate Diät, nur um zu diesem Fest gehen zu können, eine sechsmonatige Ochsentour, um auf einem Stuhl zu landen, der zum Vergnügen der Leute unter ihr zusammenbricht.
»Möchte jemand Ada ein paar Tipps für die bevorstehende Woche mitgeben?«, fragt Susana.
Brav, Susana, man sieht, du hast deine Hausaufgaben gemacht und dir für jede Situation das entsprechende Verhalten aus dem Handbuch eingeprägt.
Alle unterstützen wir Ada, lassen ihr lautstark Ratschläge zukommen.
Man braucht die Anweisungen des Handbuchs nur konsequent umzusetzen, dann funktioniert die Sache, und deswegen sind wir ja hier. Auch ich trage irgendwann meinen Teil bei, empfehle und tröste, frage und rate. Ein Mann, dem ein gewaltiger Bauch über den Gürtel hängt, verkündet, er habe zwei Kilo abgenommen, und alle gratulieren wir und klatschen Beifall. Adriana erzählt, sie habe der Versuchung einer Mousse au Chocolat mit Walnüssen nicht widerstehen können, und wir verstehen sie, bestärken sie und ermuntern sie, beim nächsten Mal entschiedener zu sein.
Irgendwann höre ich auf, ich selbst zu sein, und gehe immer mehr in den anderen auf. Verwundert höre ich meine Stimme im Chor, spüre, wie ich folgsam applaudierend die Hände aneinanderschlage und schließlich ganz Teil des Rituals werde, das ich vorher und nachher nichts als kritisiere. Wie schaffen sie das, wann und warum gebe ich meine Vorbehalte auf, wie gelingt es ihnen, mich auf ihre Seite zu ziehen? Offensichtlich bin ich manipulierbar, sage ich mir, eines Tages wird jemand wie die von Bette Davis gespielte Figur erscheinen, und ich werde widerstandslos eine der Ihren werden, mich der Dorfgemeinschaft anschließen, die den Gott der Ernten verehrt und ihm Fremde opfert, und bereitwillig ihren Hexensabbat mitfeiern, nur um den Schutz einer Gruppe empfinden zu dürfen.
Das Treffen geht zu Ende, und wir stehen auf, erneute Umarmungen, Patschhändchen ergreifen Patschhändchen, letzte Gefühlswallungen, dann ein hastiger Abschied. Nicht mehr mir selbst entfremdet und kein Ballon mehr, kein Ball mehr und befreit von Sätzen, die das Wort »niemals« enthalten – irgendwann hat die Frau in mir wieder den Platz des Walfischweibchens eingenommen. Die Gruppe, die mich aufsaugt und mir meinen Willen raubt, gibt mich, wieder ganz Mensch, der Straße zurück. Ich verlasse also einmal mehr den großen Versammlungsraum ganz hinten im Pfarrzentrum Punta Carretas, gehe durch die Tür, blinzle – und empfinde erneut voller Hass die Nichtigkeit ihrer Argumente, lache über ihren einfältigen Optimismus und verachte diese Kopie einer Kopie einer Kopie. Und fühle mich trotzdem auf geheimnisvolle Weise bestärkt.
Eilig lege ich die Strecke von der Calle Colón bis zur Plaza Zabala zurück, stehe schließlich vor der Haustür, stecke den Schlüssel ins Schloss, drehe ihn um, öffne, drücke auf den Lichtschalter – einmal, zweimal, zigmal – und muss feststellen, dass sich nichts tut. »Verdammt, kein Strom«, sage ich mir. Und als mir das Desaster bewusst wird, überläuft mich ein Schauer.
Wenn man im fünften Stock lebt und der Strom fällt aus, hat man ein Problem.
Wenn man im fünften Stock lebt, der Strom ausfällt, man viele Kilo Übergewicht hat und kein bisschen trainiert ist, darf man durchaus von einer Katastrophe sprechen.
Ich kann unten auf einer Bank warten, erinnere mich dann aber, dass schon bei anderen Gelegenheiten in unserem Gebäude der Strom ausgefallen ist und ein Elektriker gerufen werden musste, der erst nach Stunden eintraf. Was soll ich zwei, drei, ja vielleicht vier Stunden lang auf einer Bank machen? Ich kann in eine Bar gehen, um die Zeit rumzubringen, oder ins Kino und mir einen oder zwei Filme ansehen, ich kann auch in einem Restaurant zu Abend essen. Das wäre eigentlich gar nicht schlecht. Kaum habe ich mich hierzu entschlossen, fällt mir ein, dass ich ohne Kreditkarte aus dem Haus gegangen bin, und mein Bargeld reicht gerade einmal für einen Kaffee. Die Banken wiederum haben bereits geschlossen. Dann gehe ich also zu Fuß nach oben, sage ich mir. Langsam. Auf meine Art.
Ich steige die ersten Stufen hinauf, eine und noch eine und noch eine. Auf dem ersten Treppenabsatz lege ich eine Pause ein.
Ich atme tief durch, und weiter gehts, Stufe für Stufe, na, komm schon, gib dir ein bisschen Mühe. So erreiche ich in etwas mehr als einer Minute den zweiten Stock. Ich fühle mich gut, der Atem geht ein wenig heftig, aber ich halte durch. Ich werfe mich in die Brust, nehme das nächste Stockwerk in Angriff, so weit ists gar nicht mehr. Eine Stufe und noch eine und noch eine, meine Oberschenkel fangen an zu zittern, ich bleibe stehen, ruhe mich aus, ich habe es nicht eilig. Noch ein paar Stufen, aber jetzt zwingt mich das Zittern endgültig zum Anhalten, der Atem spielt verrückt, unfähig, den nächsten Schritt zu tun, ringe ich verzweifelt nach Luft. Ich muss mich setzen, fast lege ich mich hin, ich warte lange, sehr lange, bis ich allmählich wieder atmen kann. Ich stehe auf und setze den Aufstieg fort. Irgendwie erreiche ich den vierten Stock, dort breche ich zusammen. Die Lungen sind zwei schmerzende Beutel, die Luft streicht zischend zwischen meinen Zähnen hindurch, ich spüre den Herzschlag im Rachen, im Schädel.
In dem Gebäude herrscht völlige Stille, wie in der Wüste oder einem Gletscher, weder Radios noch Fernseher noch Musikanlagen sind zu hören, auch keine Warmwasserbereiter, Staubsauger oder Waschmaschinen. An Lärm gewöhnte Menschen wie wir erschrecken, wenn auf einmal kein einziges Geräusch zu vernehmen ist, in der unendlichen bezugslosen Leere verlieren wir die Orientierung, aber schon bald machen unsere Ohren sich an die Arbeit, suchen die Umgebung aufmerksam nach Hörbarem ab.
Zunächst nehme ich nichts wahr, nicht das leiseste akustische Signal dringt bis zu dem Treppenabsatz vor, wo ich in dem bisschen Licht sitze, das es durchs Oberlicht schafft. Alles, was ich höre, ist mein immer noch stoßweiser Atem, der sich jedoch allmählich normalisiert, wieder gleichmäßig wird, ruhiger, mit größeren Abständen zwischen den Atemzügen. Umso tiefer wird das Schweigen um mich herum, und das Licht immer schwächer. Dass auch keine Stimmen zu hören sind, kein Kindergeschrei, keine Unterhaltungen, ja nicht einmal Hundegebell, liegt womöglich daran, dass die Bewohner noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt sind oder aber vor Verwirrung wie gelähmt, wie immer, wenn plötzlich kein Strom zur Verfügung steht.
Ich warte also weiter und spitze die Ohren, ob sich nicht irgendwo doch etwas regt.