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Ein Unbekannter wendet sich per E-Mail an Karina Bessling. Er ist angeblich im Besitz von bisher unveröffentlichten Tagebüchern von Anne Frank und möchte diese nun gewinnbringend veräußern. Karina glaubt zuerst an einen Scherz, bietet jedoch aus Neugier ihre Hilfe an. Kurz darauf steht die Polizei vor ihrer Tür und erklärt ihr, dass der Unbekannte ertrunken ist. Als Karina dennoch eine weitere Mail erhält, beschließt sie, den Verfasser zu suchen und dem Fall auf den Grund zu gehen.
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Seitenzahl: 325
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Birgit Ebbert
Falsches Zeugnis
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Roger Viollet / Getty Images
ISBN 978-3-8392-4668-9
»Fuck«, entfuhr es ihm, als die alte Frau seinen Händen entglitt. Das war ihm nie zuvor passiert.
Der kurze Moment, in dem er zögerte, Hilfe zu rufen, entschied über das Leben der Greisin und über seins. Er musste nicht einmal fest drücken. Er musste die Frau nur sanft unter den Badeschaum schieben und warten. Und hoffen, dass seine Chefin nicht in der Tür erschien. Schon war er diese lästige Person los, die ihn zu ihrem persönlichen Betreuer auserkoren hatte. Nie wieder ihre Windeln wechseln. Nie wieder hören, dass ihr längst verstorbener Mann ihr Leben zerstört hatte. Nie wieder dieses lauernde: »Beim nächsten Mal zeige ich dir das Tagebuch!« Eine Frechheit, dass sie ihn einfach duzte.
Er überlegte, ob er es wagen konnte, die Frau loszulassen, um die Badezimmertür abzuschließen. Da hörte die Alte auf zu zucken. Als wüsste sie genau, dass er vor Neugier fast zerplatzte, seit sie ihn mit ihren Andeutungen über das Tagebuch geködert hatte.
Probehalber ließ er ihre Schultern los. Keine Reaktion. Der leblose Körper rutschte lediglich ein paar Zentimeter nach oben, als wolle er sein Gleichgewicht herstellen.
Er wischte seine Hände an dem hellgrünen Kittel ab, der ihn vom Pflegepersonal unterschied und als Aushilfskraft kennzeichnete, und sah sich um. Wo bewahrte sie das Tagebuch auf?
Draußen auf dem Flur ertönten Stimmen. Sie kamen näher. Er konnte Renate Lansmann, seine Chefin, ausmachen. Sie stritt mit einer Frau. Die andere klang jung. »Ich will sofort zu meiner Großmutter!«, herrschte sie.
Die beiden Frauen blieben vor der Tür des Apartments stehen, in dem er sich aufhielt.
»Bitte, lass sie weitergehen«, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel. Er wusste, dass er nicht umhinkam, den Unfall zu melden. Oder das, was wie ein Unfall wirkte. Vorher brauchte er dieses Tagebuch.
Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür, die vom Badezimmer zum Etagenflur führte, froh, dass es statt eines Schlüssels einen Knauf gab, der kein Geräusch von sich gab, während er ihn langsam drehte.
An seinem ersten Tag, noch als Buftie, als er seinen Bundesfreiwilligendienst hier abgeleistet hatte, hatte er sich gewundert, dass es in diesem Seniorenheim nirgendwo Schlüssel gab. Stattdessen besaßen die Türen nur diese Knöpfe wie in Restaurant-Toiletten. Inzwischen hatte er mehrfach erlebt, dass ein solcher Knauf Leben rettete. Der Türknopf erlaubte es, mit einem Ein-Euro-Stück das Zimmer von außen zu öffnen, selbst wenn die Tür von innen verriegelt wurde. So hatten die Bewohner ihre Privatsphäre und das Pflegepersonal konnte im Notfall seiner Aufsichtsfunktion nachkommen. Im Notfall.
Niemand wusste, dass die alte Frau Goldmann in ihrem Appartement war. Sie hatte sich mit ihrer nörgelig-fröhlichen Kleinmädchenstimme im Gemeinschaftsraum verabschiedet, um mit ihrer Enkelin einen Ausflug zu unternehmen. Dann war ihr vor Aufregung beim Warten ein Missgeschick passiert und sie hatte ausgerechnet ihn aufgefordert, ihr beim Baden zu helfen, statt eine Pflegerin zu rufen.
Jemand rüttelte an der Badezimmertür. »Meine Oma muss hier sein«, erklang die Stimme der jungen Frau, schrill und nervös, als könnte sie durch die Tür den leblosen Körper ihrer Großmutter in der Wanne sehen.
Er huschte in den Wohnteil des Appartements und drehte lautlos auch diesen Knauf an der Tür, die zum Flur führte, um die Frauen erst einmal auszusperren.
»Ich habe Ihnen gesagt, Ihre Großmutter hat sich verabschiedet und wartet draußen auf Sie!« Wider Willen musste er über den resoluten Ton seiner Chefin lachen. Nicht, dass er ihn besonders mochte, aber jetzt kam er ihm gerade recht. Zumal er seine Wirkung nicht verfehlte und die Schritte der beiden Frauen, das Klackern von Pumps und das Schlurfen der Gesundheitslatschen des Personals, sich entfernten.
Erleichtert atmete er auf und begann, das Zimmer systematisch zu durchsuchen. Im Kleiderschrank fand er lediglich diese rosa und hellblauen Synthetik-Pullover, die die alte Frau sich mit Vorliebe über ihre mit einem altertümlichen Korsett justierte Brust zog. Diese merkwürdigen Stoffhosen, die weder Leggings noch Jeans waren. Alte-Frauen-Hosen eben. Er schüttelte sich, als er die riesigen beigefarbenen Unterhosen mit den Spitzen anhob. Nichts! Im Nachtschrank lagen eine Bibel, eine Mappe mit Sparbüchern, die er unberührt ließ, und ein kleines schwarzes Büchlein. Er frohlockte, bis er es aufschlug und sah, dass es lediglich Adressen und Telefonnummern enthielt. Sogar unter der Matratze, hinter dem Bett und in ihrer Handtasche forschte er nach.
Nirgendwo lag etwas, das nur annähernd als Tagebuch durchgehen konnte. Das Tagebuch, von dem die alte Marianne in lichten Momenten erzählt hatte, war nicht vorhanden. Er hörte noch ihre Piepsstimme, die berichtete, dass sie sich wie Anne Frank vor den Nazis versteckt und dass sie ebenso wie die junge Jüdin ein Tagebuch geschrieben hatte.
Seit sie den Film über Anne Frank im Fernsehen gesehen hatte, sprach sie von nichts anderem. Anfangs hatte er aus Höflichkeit zugehört und aus Bequemlichkeit. In der Zeit, die er mit Marianne Goldmann verbrachte, konnte er nicht anders eingeteilt werden und musste keinem Opa den Hintern abwischen. Dann hatte er diese Idee gehabt und genauer nachgefragt. Die alte Frau schien zu spüren, dass hinter seiner Frage mehr stand als höfliches Interesse. Sie begann, ihn mit dem Versprechen zu ködern, ihm das Tagebuch zu zeigen.
Zornig schüttelte er jedes Rätselheft aus, zog sogar das Laken von der Matratze, um nichts zu übersehen. Nichts. Gar nichts. Wo bewahrte die alte Frau das Tagebuch auf?
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er das nicht mehr klären konnte. In wenigen Minuten würden seine Chefin und die nervöse Enkelin die Einrichtung erfolglos durchsucht haben. Renate Lansmann würde zweifellos zur Notfall-Maßnahme greifen und die verschlossenen Türen von außen öffnen. Besser, er trat die Flucht nach vorn an.
Leise entriegelte er beide Türen. Von der Badezimmertür aus starrte er ein letztes Mal auf die tote Frau in der Wanne. Mit einem entsetzten Schütteln des Kopfes schob er seine Brille hoch und zog die dämliche Haube ab, die er bei der Arbeit tragen musste. Er zerrte das Gummiband weg, mit dem er seine langen Haare zusammenhielt, und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkelblonde Mähne. In dem Wissen, dass er wild wie sein Kindheitsidol Catweazle wirkte, lief er schreiend auf den Flur.
»Hilfe!«, brüllte er und sah zufrieden, wie aus allen Ecken die Pflegekräfte in ihren weißen Kitteln herbeirannten. »Sie wollte, dass ich ihr beim Baden helfe und dann hat sie sich auf einmal nicht mehr bewegt!« Er verlieh seiner Stimme den hysterischen Ton, den er von jemandem in einem solchen Moment erwartete. Dankbar schickte er einen Gruß an den Leiter der Theatergruppe seines Gymnasiums, der ihm diesen Trick beigebracht hatte. Ob es übertrieben war, die Haare noch einmal wild zu zerzausen?
Von Weitem sah er die Heimleiterin mit der Enkelin der Toten über den Flur laufen, so schnell die Pumps der jungen Frau das erlaubten.
Auf diese Begegnung konnte er gut verzichten. Hier waren ohnehin genug Profis am Werk. In einer Stunde würde niemand mehr so genau wissen, wer die Tote entdeckt hatte.
Zeit, sich dünnzumachen und darüber nachzudenken, wo die Alte dieses Tagebuch versteckt hatte. Sie war so überzeugend in ihrer Schilderung gewesen. Es musste einfach irgendwo sein. Sie brauchten es dringend. Wo nur hatte sie es versteckt?
Freitag, 4. August 1944
Liebe Kitty!
Nun ist es also so weit. Ich verabschiede mich von dir, weil ich nicht weiß, ob ich noch einmal Gelegenheit habe, dir zu schreiben. In letzter Minute konnte ich Bleistifte, einige leere Hefte, die Bep vor Kurzem besorgt hat, und ein Buch in meine Tasche packen. Eines der Hefte trägt noch die Aufschrift ›Markenfrei erhältlich‹. Das Papier ist grau, leider nicht so schön weiß wie meine Hefte früher. Und die Linien sind eng und schief, aber ich bin froh, dass ich es habe. Das Tagebuch habe ich zurückgelassen. In der Aufregung.
Was geschehen ist? Um halb elf hörten wir, wie jemand von der Opekta aus den Drehschrank öffnete. Pim war oben bei van Pels, um mit Peter Englisch zu lernen. Wir wussten gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn Miep, Bep, Herr Kleiman oder Herr Kugler kamen, waren sie immer leise und besorgt, dass niemand sie bemerkte. Jetzt waren unbekannte Männerstimmen zu hören, die herumbrüllten. Wie eine Horde Elefanten trampelten sie die schmale Treppe hinauf. Wir konnten nichts machen. Wohin sollten wir auch fliehen. Ich kam mir vor wie die Maus, die Moortje vor langer Zeit in eine Ecke unseres Speisezimmers gedrängt hat. Was wohl aus Moortje geworden ist? Ob sie es bei ihrer neuen Familie gut hat?
Vier Männer kamen herein, drei waren von der Polizei, der andere trug die Uniform der Gestapo. Sie brüllten uns an und wir mussten uns ruhig verhalten. Ein Mann ging weiter zu van Pels. Wenig später kam er mit Vater und Peter zurück. Er hielt eine Pistole in der Hand und fragte, wo die Wertsachen seien. Vater zeigte auf den Wandschrank, in dem er seine Kassette aufbewahrte. Der Mann nahm Papas Aktentasche, in der ich immer mein Tagebuch versteckte, schüttete sie aus und tat die Wertsachen aus der Kassette hinein. Mein Tagebuch und alle meine Notizen flogen herum.
Was mag aus dem Tagebuch werden? Der Nazi hat es nicht beachtet, er hat die Tasche ausgeleert und ist mit seinen Stiefeln über die Hefte und Blätter gegangen. Er hat mein Leben mit Füßen getreten. Ob Miep oder Bep das Tagebuch retten können? Von anderen Untertauchern wissen wir, dass nach der Verhaftung die Wohnung von einer Nazi-Spedition geräumt wird. Ach, Kitty, wenn sie meine Gedanken an dich lesen!
»Fertig machen!«, riefen die Männer und wir hatten nur wenige Minuten Zeit, unsere Sachen zusammenzusuchen. Zum Glück hatten wir schon lange ein Notköfferchen mit den wichtigsten Dingen gepackt. Und Brustsäckchen hatten wir uns genäht, um unser Geld mitzunehmen.
Als wir fertig waren, sah einer von den Männern die Kiste, die Vater noch aus dem Krieg besaß. Pim unterhielt sich mit einem Mann und erzählte, dass wir seit zwei Jahren im Hinterhaus lebten. Der Gestapo-Mann wollte das nicht glauben. Vater hat ihm die Stelle gezeigt, an der er markiert hat, wie viel ich gewachsen bin.
Meine Sammlung von Filmpostern und mein Tagebuch interessierten sie zum Glück nicht. Was heißt zum Glück? Ich musste alles zurücklassen und im Augenblick sieht es nicht danach aus, als würde ich meine Schätze jemals wiedersehen.
Wir mussten in einen Polizeiwagen ohne Fenster steigen. Die ganze Fahrt über hat keiner etwas gesagt. Jetzt sind wir im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes in der Euterpestraße. Das hat mir einer der Polizisten zugeflüstert, als sie uns hier in einem Raum eingeschlossen haben. Von ihm weiß ich auch, dass wir besonders hart bestraft werden sollen, weil wir uns den Nazis vorenthalten haben. Was soll das heißen? Und was geschieht mit Herrn Kleiman und Herrn Kugler? Sie haben uns alle zusammen hier eingeschlossen – mit anderen Gefangenen.
Pim flüstert Herrn Kleiman zu, wie leid es ihm tut, dass er unseretwegen hier sitzen muss. Herr Kleiman beruhigt ihn und sagt, dass er es nicht bereut, dass er uns geholfen hat. Doktor Dussel sitzt da wie eine Statue und starrt vor sich hin. Ich kann ihn verstehen. Seine Frau weiß nicht, wo er ist, und er weiß nicht, was aus ihr wird. Van Pels und wir sind zusammen. Er ist allein. Und keiner weiß, was werden wird.
Ich habe Angst, aber ich bin froh, dass wir hier alle zusammen sind.
Deine Anne
Karina zögerte kurz, den Anhang der merkwürdigen E-Mail zu öffnen. Ein fast anonymes Fanschreiben, wenn sie von dem Kürzel ›TH‹ neben dem Abschiedsgruß absah, das Karina nur überflogen hatte.
Wie eine Spam-Mail wirkte das Schreiben nicht, selbst die anhängende PDF-Datei hatte eine sinnvolle Dateibezeichnung. Tagebuch_1. Sie beschloss, das Risiko einzugehen, und klickte auf den Anhang.
Ein Textdokument erschien. »Liebe Kitty«, las sie. Die Anrede kam ihr vage bekannt vor. Ein früherer Freund hatte sie so genannt. Cornel, der die Straßenköterfarbe ihrer Haare stets als gülden bezeichnete und ihr nach der Schilddrüsen-OP den Tipp mit dem Nicki-Tuch gegeben hatte, um die Narbe zu verdecken. Sie hatte ewig nichts von ihm gehört. Schade eigentlich. Es wäre interessant zu wissen, was aus ihm geworden war. Aber warum sollte er ihr anonym schreiben?
Die nächsten Zeilen des Textes machten sie noch ratloser. Was hatte sie mit einer Firma Opekta zu tun? Oder ihre ehemalige Mitschülerin Anne? Wieso sollte sie ihr eine solch unsinnige Nachricht schicken? Mit dieser mysteriösen Begleitmail?
Karina druckte E-Mail und Anhang aus und überflog beides erneut. Sie bedauerte, dass sie in Düsseldorf war, 100 Kilometer entfernt von ihrem Lebensgefährten Martin. Mit ihm als Sparringspartner fand sie häufig schneller eine Antwort als allein. Aber er war nun einmal Pfarrer im Münsterland und sie arbeitete in Düsseldorf als Bauingenieurin. Und wenn er seine Pflichten bei Presbyter-Treffen oder im Seniorenkreis erfüllte, konnte sie genauso gut in der Rheinmetropole bleiben. Bei 30 Grad im Schatten war die Autofahrt ohnehin kein Zuckerschlecken und im Münsterland war die Hitze nicht weniger anstrengend als in Düsseldorf. Zumal sie in Gemen nie entspannt im Garten sitzen konnte, weil sie ständig damit rechnen musste, dass ein Gemeindemitglied unangemeldet hinter den Sträuchern auftauchte.
Sie sah auf den Ausdruck. ›TH‹ sagte ihr gar nichts, und woher Anne, die sie seit ihrer Schulzeit nicht mehr gesehen hatte, von Cornels Kosename für sie wissen sollte, erschloss sich ihr erst recht nicht. Das war so lange her, dass selbst Cornel vermutlich nicht mehr wusste, dass er ihr beim Sex immer »Kitty« ins Ohr geflüstert hatte.
Und warum trugen die Begleit-E-Mail und das PDF unterschiedliche Anreden?
Die E-Mail war eindeutig an sie gerichtet. »Liebe Karina Bessling«, las sie. »Ich bin sehr beeindruckt, was Sie über Ihre Großtante herausgefunden haben. Ich war bei der Veranstaltung am 10. Mai. Vielleicht können Sie mir helfen. Ich habe wie Sie Briefe gefunden, allerdings keine Ahnung, von wem sie sind. Auf jeden Fall sind sie von 1944. Haben Sie einen Tipp für mich? Herzlichen Dank im Voraus, TH.«
Am 10. Mai hatte sie in Martins Pfarrgemeinde aus dem Buch mit den Postkarten ihrer Großtante Katharina gelesen, die ihr die Bekanntschaft mit ihrem Lebensgefährten eingebracht hatten.
Die Veranstaltung vor drei Monaten war mäßig besucht gewesen. Natürlich waren ihre beiden alten Beraterinnen Josefa Reinermann und Elisabeth Oenning anwesend. Selbst Albrecht Krämer, der bei der Recherche über ihre Großtante so zugeknöpft gewesen war, hatte sich eingefunden. Sie musste Martin fragen, ob jemand mit den Initialen ›TH‹ dort gewesen war.
Sie war ein großer Fan sämtlicher digitalen Medien und ihrer Möglichkeiten und weit vom Jammer-Alter entfernt, dennoch nervte Karina diese Unsitte, die sich in die Kommunikation eingeschlichen hatte. Diese Angewohnheit vieler Leute, ihre E-Mails nur noch mit den Initialen oder gar mit kryptischen Fantasienamen zu unterschreiben. Meist konnte man zumindest an der E-Mail-Adresse, am Absender der Mail oder der Signatur erkennen, von wem die Nachricht stammte. Hier stand überall ›TH‹, [email protected]. Kein Hinweis auf die Identität des Absenders. Die Mail-Adresse ließ zwar darauf schließen, dass ›TH‹ Jahrgang 1982 war, also 32 Jahre alt. Sie konnte jedoch kaum alle Menschen weltweit suchen, deren Namen mit T und H begannen und die 1982 geboren waren.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut dem Anhang zu.
»Liebe Kitty«, sie wusste genau, dass ihr das kürzlich begegnet war. Spontan fiel ihr nur Hello Kitty ein, aber die Katze in dem rosa Kleidchen hatte es 1944 sicher noch nicht gegeben.
Mit einem kleinen Seufzer rief sie den Browser auf. Sie hatte nur eben kurz ihre Mails checken wollen, ehe sie ins Schwimmbad fuhr, um sich einen freien Nachmittag zu gönnen. Die Neugier hatte ihr schon als Kind oft den Zeitplan durcheinandergebracht.
Sie strich ihre Haare aus dem Gesicht und ärgerte sich, dass sie der Idee ihrer Freundin Jenny gefolgt war, den Pony wachsen zu lassen. Ständig fielen ihr die dunklen, halb langen Fransen ins Gesicht. Da konnte sie noch so oft den Haarreif zurechtschieben. Wieso musste sie ausgerechnet im Sommer auf diese Idee kommen?
Energisch schob sie alle Haarsträhnen hinter die Ohren und gab ›Opekta‹ in das Suchfeld bei Google ein. Vielleicht brachte sie das weiter.
»Ein Geliermittel?«, entfuhr es ihr, als sie die Suchergebnisse für ›Opekta‹ las. Was hatte sie mit einem Frankfurter Unternehmen, das Geliermittel produzierte, zu tun?
»Dann eben nicht«, grummelte sie und beschloss, einige Schlüsselbegriffe aus dem Brief in die Suchmaschine einzugeben. ›Kitty‹, ›Tagebuch‹, begann sie.
Gleich als zweites Suchergebnis, umrahmt von Werbung für ein Hello-Kitty-Tagebuch, sprang ihr der Hinweis auf das Tagebuch der Anne Frank ins Auge.
Klar, dachte sie und wusste nun, wo sie den Namen kürzlich gehört hatte.
Anlässlich des 85. Geburtstags von Anne Frank hatte sie bei einer Feierstunde aus Tante Katharinas Karten gelesen und vorher hatten Schülerinnen und Schüler Auszüge aus dem wohl berühmtesten Tagebuch rezitiert.
Sie überflog den Artikel über Anne Frank und stutzte. Dort war davon die Rede, dass Anne bis zum 1. August 1944 Tagebuch geführt hatte. Der Text aus der E-Mail war auf den 4. August 1944 datiert. Wenn sie dem Wikipedia-Artikel glaubte, dann konnte es sich nur um eine Fälschung handeln. Wieso sollte ihr ein Unbekannter einen gefälschten Tagebuch-Eintrag schicken? Oder hatte sie einen Fehler in einem Wikipedia-Beitrag gefunden und es gab tatsächlich weitere Aufzeichnungen?
»Nun lass dich nicht so hängen, Knolle!«, fuhr er den Freund an, der in seinem kleinen Zimmer im Seniorenheim saß und sich über das Leben beklagte. Der Spitzname Knolle hatte sich wie sein Nickname Spocky über die Schulzeit hinaus gehalten. Jeder, der sie zusammen sah, wusste, wie es zu den Namen kam. Die Knubbelnase seines Freundes war ebenso markant wie seine eigenen Ohren, die denen von Mr. Spock locker Konkurrenz machen konnten. Als Kind hatte es ihn genervt, wenn sie ihm »Spocky« nachgerufen hatten, inzwischen fand er es witzig. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die jedes Mal zusammenzuckten, wenn ihn jemand so ansprach, und sich Gedanken darüber machten, wie das sein würde, wenn er Kinder hätte. Als ob er jemals Kinder haben wollte. Er hatte ein großes Ziel und daran arbeitete er gerade. Zusammen mit Knolle, wenn der nicht seine depressiven fünf Minuten hatte.
»Du hast gut reden«, fauchte Knolle ihn an. »Du hast ein Dach über dem Kopf, das nichts kostet außer ein paar Schnacks mit den alten Knackern, und du verdienst genug, um dir eine Konzertkarte für die Toten Hosen zu leisten.« Knolle wies auf die Pinnwand, an der die Karte für das Konzert in Münster hing, auf das er sich seit Langem freute. Das hatte er sich redlich verdient. Der Job mit den Alten war echt kein Zuckerschlecken, auch wenn ihn diese alte Kuh nicht mehr belästigen konnte. Stattdessen nervte seine Chefin, und zu allem Überfluss war die Polizei auf der Bildfläche erschienen.
»Wir werden bei jedem Todesfall gerufen, der keine natürliche Ursache hat«, hatte der Beamte versucht, seine aufgebrachte Chefin zu beruhigen.
»Für unser Personal lege ich meine Hand ins Feuer«, hatte sie in diesem beißenden Ton verlauten lassen, den sie sonst nur anschlug, wenn es galt, die Bufties zurechtzuweisen.
»Du hättest mich wenigstens fragen können, ob ich mit will!«, nörgelte Knolle weiter. Manchmal konnte der einem fast so auf die Nerven gehen wie die Alten. Dabei war er sonst ganz in Ordnung und hatte gute Ideen.
»Ey, Alter!« Er hoffte, dass ein Anranzer Knolle zur Ruhe bringen würde. »Erst laberst du mir die Ohren voll, dass du pleite bist, und dann nölst du, weil ich dich Pleitegeier nicht gefragt habe, ob du mit zu den Hosen gehst. Was willst du?«
»Wenn du so fragst: Knete!«, entgegnete Knolle mit einem Grinsen. »Meine Eltern haben mir mitgeteilt, dass ich von ihnen keine Puseratze mehr zusätzlich bekomme. Du kannst bei uns wohnen und brauchst kein Zimmer in Münster, haben sie mir erklärt. Und meinen Bock halten sie ohnehin für überflüssig.«
»Wie wär’s mit arbeiten?« Er starrte Knolle herausfordernd an. »Für einen Psychostudenten wird sich ja wohl ein Job finden.« Er schuftete schließlich auch nicht zum Vergnügen in diesem Heim. »Oder sparen. Du bist es doch, der die Kohle nur so raushaut. Teures Motorrad, Marken-Klamotten, vom Gras nicht zu reden. Hast du ein Pferdchen am Start oder woher kommen die Moneten?«
Knolle grinste. »Ganz so ist es nicht.« Was musste er jetzt wieder so rätselhaft tun? Der Typ ging ihm heute echt auf den Sack. »Aber damit ist jetzt Schluss. Es gab Probleme.« Knolle schüttelte sich, als wollte er die Probleme zurechtrücken.
Sollte er doch sehen, wie er damit klarkam. Sein Leben war auch kein Ponyhof. Nach dem Abi hatte er in dem Pflegeheim hier als Buftie gearbeitet und als er später Geld und eine Bleibe in Münster gebraucht hatte, hatte er gefragt, ob er dort arbeiten konnte. Renate Lansmann war ihm fast um den Hals gefallen vor Begeisterung und Dankbarkeit. Seither wohnte er oben unter dem Dach und übernahm vor allem Nacht- und Wochenendschichten. Das sparte die Miete und er konnte in der Woche die nötigsten Vorlesungen besuchen und seine Jobs durchziehen. Er wollte endlich fertig werden, um an das ganz große Geld zu kommen. Als Moderator. Er sah sich schon als neuer Thomas Gottschalk auf allen Kanälen, süße Mäuse um ihn herum und Knete in Massen.
»Was ist eigentlich mit der Alten? Hat die sich gemeldet?« Von wem sprach Knolle da. Er starrte seinen Freund verständnislos an.
»Na, du weißt schon, der wir die E-Mail geschickt haben?« Knolle schüttelte den Kopf, als zweifelte er am Verstand seines Freundes.
Durch das Theater mit der Toten und der Polizei hatte er die E-Mail völlig vergessen, die Knolle vor ein paar Tagen von seinem Rechner aus an Karina Bessling geschickt hatte.
»Sie hat noch nicht geantwortet«, sagte er, da war er sich ganz sicher. Seine Mails hatte er erst vor ein paar Stunden gecheckt. Er musste schließlich prüfen, ob Renate Lansmann sich meldete. Sie hatte ihn nach dem Tod der alten Frau vorläufig in den Urlaub geschickt. So ein Aufriss um die alte Schrapnelle, die ohnehin kurz vor dem Grab stand, fand er deutlich übertrieben. Es schürte aber auch seine Angst.
Seit dem Tag hatte er kein Seminar mehr besucht. In den Semesterferien war ohnehin wenig los an der Uni, er hatte jedoch zwei wichtige Block-Veranstaltungen, die er ziemlich schleifen ließ. Die meiste Zeit lag er auf dem Bett und ging in Gedanken das Zimmer der Alten durch. Gab es versteckte Kameras, die ihn gefilmt hatten?
»Hey, was ist? Sollen wir das Ganze canceln?« Knolle riss ihn aus seinen Sorgen. Der hatte gut reden. Dem fehlte nur ein bisschen Geld.
»Lass mich in Ruhe!«, fuhr er Knolle in einem Ton an, dass dieser zurückzuckte und eine abwehrende Bewegung mit den Händen machte.
»Ist ja gut!«, versuchte Knolle, seinen Freund zu beruhigen. »Dann lassen wir das eben. Du bist ja völlig durch den Wind. Was ist denn?«
Er konnte sich nicht entschließen, Knolle einzuweihen. Ein Mitwisser war ein Mitwisser zu viel. Noch durfte er darauf hoffen, dass die Polizei den Tod Marianne Goldmanns als Unfall deklarierte.
»Was ist eigentlich aus dem Tagebuch der Alten geworden?« Knolle lehnte sich zurück und sah ihn neugierig und beruhigend zugleich an. »Wenn wir das nicht haben, kommen wir ohnehin nicht weiter. Der erste Brief hat mich Stunden gekostet.«
Ein Themawechsel war ja okay. Aber musste Knolle ausgerechnet das Tagebuch ansprechen? Er hatte ihm vor einigen Wochen davon erzählt. Kurz nachdem er Marianne Goldmann kennengelernt hatte. Immer wieder hatte sie darauf herumgeritten, dass sie im Krieg Tagebuch geschrieben habe.
Er hatte nachgerechnet. Sie war 89 Jahre alt gewesen, 13, als der Krieg ausbrach. Unmöglich war es nicht, dass sie in dem Alter ihre Erlebnisse aufgeschrieben hatte.
Inzwischen glaubte er allerdings nicht mehr daran. Er hatte ihr Appartement in der Nacht nach ihrem Tod erneut auf den Kopf gestellt. Da war nichts.
Letztlich hatte das Tagebuch ihn auf die Idee mit den Briefen gebracht. Er hatte Knolle eingeweiht, weil er zufällig mitbekommen hatte, dass er sich für diese Zeit interessierte. Bei der der Lesung der Postkarten aus den 30er-Jahren war er damit herausgerückt, weil er total begeistert von dem Buch war.
Als er Knolle die Idee mit den Briefen schilderte, hatte dieser einen Brief verfasst, den er nie hinbekommen hätte. Sie hatten ihn an die Autorin geschickt, die sie bei der Lesung kennengelernt hatten. Doch die ließ mit einer Antwort auf sich warten.
Er suchte nach einem Thema, mit dem er Knolle auf eine andere Fährte locken konnte. »Was ist eigentlich mit deinen Eltern?«
Knolle verdrehte die Augen. »Frag lieber nicht. Sieht so aus, als wollten sie sich trennen, nachdem die Agentur nicht mehr richtig läuft. Die Leute sind knickerig geworden und schließen nicht mehr für jedes Pillepalle eine Versicherung ab.«
Er sah seinen Freund mitleidig an. Kein Geld war das eine, Trennung, Streit und kein Geld, das war verschärft. Wie gut, dass er sich früh darum gekümmert hatte, unabhängig zu sein.
Ein Grinsen schlich sich auf Knolles Gesicht. Er zog einen Zettel aus der Hosentasche. »Guck mal hier!«, verlangte er und hielt seinem Freund das Papier unter die Nase.
Er beschloss, das Geldthema ebenso wie das Elternproblem ruhen zu lassen und stattdessen lieber das neuste Werk aus Knolles Feder zu lesen.
Sonntag, 6. August 1944
Liebe Kitty!
Schnell ein Gruß. Wir sind inzwischen ins Gefängnis an der Weteringschans verlegt worden. Keiner sagt uns, was als Nächstes kommen wird und wie es mit uns weitergeht.
Manchmal holen sie Pim und verhören ihn. Sie wollen wissen, ob er andere Untertaucher kennt, und ihre Adressen haben. Er hat ihnen erklärt, dass er in den 25 Monaten im Hinterhaus keinen Kontakt hatte. Aber sie glauben ihm nicht.
Wir sitzen meist eng bei einander. Manchmal lese ich den anderen aus ›De dochter van Joop ter Heul‹ vor. Das neuste Buch von Cissy van Marxveldt. Das durfte ich behalten. Ich bin so froh. Die ersten vier Bände habe ich verschlungen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ich das fünfte Buch verpasst hätte.
Ich liebe Joop ter Heul und alles, was Cissy van Marxveldt schreibt. Allein den Band ›Sommertorheit‹ habe ich bestimmt viermal gelesen. Wenn ich Kinder habe, gebe ich ihnen die Bücher. Ganz sicher. Wenn ich je Kinder haben werde. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wir hoffen. Die Russen sind schon weit in Polen vorgedrungen. Der Krieg kann bald zu Ende sein. Mit dem Buch geht es mir im Augenblick gerade trotz der ungewissen Zukunft gut.
Hoffentlich bis bald
Deine Anne
Karina saß an ihrem Büro-Schreibtisch und blickte auf die Düsseldorfer Skyline. Der Job in diesem Ingenieur-Büro war ein Glücksfall. Sie war in überschaubarer Entfernung von Borken, wo ihr Lebensgefährte Martin Kleine sein Pfarramt bekleidete, und sie konnte Großstadtluft schnuppern. In Stuttgart aufgewachsen tat sie sich mit dem Leben in der Kleinstadt schwer, und sie war froh, dass sie gelegentlich in die Anonymität Düsseldorfs abtauchen konnte. Selbst die Arbeit stimmte. Ihr Chef zog interessante Projekte an Land und ließ ihr freie Hand bei der Umsetzung. Und wenn sie Privates zu erledigen hatte, war das kein Problem. »Mir ist wichtig, dass gut gearbeitet wird, wann und in welcher Zeit ist mir egal«, lautete das Motto ihres Vorgesetzten. Das ließ ihr Raum, um die Lesungen aus den Briefen ihrer Großtante zu organisieren und tagsüber zwischendurch ohne schlechtes Gefühl die privaten E-Mails abzurufen.
Da war wieder eine E-Mail dieses ominösen TH1982. Was sollte das? Karinas Finger schwebte über der Entfernen-Taste, dann beschloss sie, einige Minuten in das Schreiben zu investieren. Die Daten für das Projekt, mit dem sie betraut war, ließen ohnehin auf sich warten. Statt den vierten Kaffee an diesem Tag zu trinken, konnte sie eine Runde surfen.
Sie lehnte sich gemütlich in ihrem Schreibtischsessel zurück und zog die Tastatur zu sich heran. Sie überflog den Anhang der E-Mail und gab ›Weteringschans‹ und ›Anne Frank‹ in die Suchmaschine ein.
»Na super, alles auf Holländisch«, stöhnte sie kurz darauf. Die wenigen Daten, die sie finden konnte, zeigten ihr, dass Anne Frank tatsächlich mindestens zwei Tage im Amsterdamer Gefängnis an der Weteringschans gewesen war. Wenn sie alles richtig verstand, war das vom 5. oder 6. bis zum 8. August 1944.
Ihr Blick fiel auf das Datum des Schreibens, das wieder als PDF in Computerschrift der E-Mail beigefügt war. ›6. August 1944‹. Konnte das Zufall sein?
Sie las die E-Mail genauer.
»Liebe Karina Bessling,
vielleicht ist meine erste E-Mail nicht angekommen oder Sie haben den Brief für eine Fälschung gehalten. Hier ist ein weiterer. Inzwischen glaube ich, es handelt sich um Tagebucheinträge von Anne Frank. Die Texte hat mir eine inzwischen verstorbene Frau gegeben, als ich in einem Pflegeheim gearbeitet habe. Sie kam aus Norddeutschland. Keine Ahnung, wie sie daran gekommen ist. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie mir helfen könnten.
Herzlichst Ihr TH«
Immerhin vermutete der Absender selbst, dass die Briefe von Anne Frank stammten. Merkwürdig blieb das Ganze. Andererseits, das veröffentlichte Tagebuch endete am 1. August 1944. Was, wenn Anne danach weitere Aufzeichnungen gemacht hatte?
Karina spürte, wie sich der Neugier-Virus in ihr ausbreitete. Wenn sie die Mail nicht unverzüglich löschte, würde sie sich nicht davon lösen können. So sehr sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, die Entfernen-Taste zu drücken.
Ergeben sandte sie eine E-Mail an ihre kleine Buchhandlung und bestellte die Gesamtausgabe der Anne-Frank-Werke, die, wie sie mit Erstaunen feststellte, erst im letzten Jahr erschienen war. Sie war sich sicher, dass bei ihnen zu Hause ein Exemplar des Tagebuchs herumstand. Wieso eine neue Ausgabe?
Diese Antwort fand sie schnell. Wie konnte es anders sein – wenn nicht Drugs, dann wenigstens Sex. Der Vater von Anne Frank hatte vor der Herausgabe einige Zeilen aus den Tagebucheinträgen gestrichen. Das kam ihr bekannt vor. Als sie die Postkarten ihrer Großtante für das Buch zusammengestellt hatte, hatte sie genau überlegt, was Tante Katharina posthum schaden könnte und was nicht. Sicher war es Otto Frank genauso ergangen. Mit Staunen las sie, dass er aus diesem Grund in den Verdacht geraten war, er hätte die Tagebücher gefälscht.
Sie suchte, was sie darüber finden konnte. Würde angesichts dieser Vermutung, die lange im Raum gestanden hatte, wirklich jemand wagen, Briefe von Anne Frank zu fälschen?
Karina las die beiden Texte, die sie erhalten hatte, ein weiteres Mal. Die Daten stimmten ohne Zweifel mit der Lebensgeschichte der Familie Frank überein. Sogar die Katze Moortje hatte es gegeben.
»Hier sind die Unterlagen!« Karina sah überrascht, dass ihr Kollege René Oberländer vor dem Schreibtisch stand und einen Stapel Papier neben die Tastatur legte.
»Danke!«, antwortete sie leicht verwirrt.
Ihr Kollege grinste und beugte sich über ihren Schreibtisch. »Was machst du denn gerade? Du hast auf mein Klopfen nicht reagiert. Gib es zu, du kannst dich in andere Welten versetzen.«
Wie gut, dass sie ihren Schreibtisch strategisch geschickt gegen neugierige Kollegen ausgerichtet hatte. René konnte lediglich die Rückseite ihres Bildschirms sehen und müsste sich schon auf den Schreibtisch werfen, um einen Blick darauf zu werfen, woran sie arbeitete. Eigentlich war das ein Schutz vor Betriebsspionage, man konnte nie wissen, wer durch die Glaswände schaute, die das Büro vom Flur trennten. Gegen aufdringliche Kollegen half die Möblierung ebenso gut. Sie war eine der wenigen, die mit dem Gesicht zur Glaswand saß. Die meisten fühlten sich von dem Gewusel auf dem Flur gestört. Ihr machte das nichts aus. Eben weil sie beim Arbeiten äußere Einflüsse gut ausblenden konnte.
Karina lachte. Wenn du wüsstest, wie recht du hast, dachte sie. Sobald sie in einem Projekt steckte, vergaß sie alles um sich herum. Sie dankte ihrem Kollegen und griff nach dem Aktenstapel, um ihm zu signalisieren, dass sie keine Zeit hatte.
»Bis später«, verabschiedete er sich, nicht ohne einen letzten Versuch, etwas auf ihrem Bildschirm zu lesen.
Ehe sie sich den Akten widmete, suchte sie rasch, was die Suchmaschine zu ›Anne Frank Joop de Heul‹ ausspuckte. Ohne dass sie eine der Seiten öffnen musste, sah sie, dass Anne Frank ein großer Fan der Romanfigur von Cissy van Marxveldt gewesen war. Der Gedanke, dass sie das neueste Buch ihrer Lieblingsreihe zu retten versucht hatte, war nicht abwegig.
Sobald Karina die Daten zu ihrem Bauprojekt eingearbeitet hatte, würde sie weitere Nachforschungen anstellen.
Dunkel erinnerte sie sich daran, dass sie die Premiere eines Films besucht hatte, den die Film-AG ihrer Schwester über Anne Frank gedreht hatte. Je länger sie über Anne Frank nachdachte, umso mehr fiel ihr zu dem Mädchen ein. Sogar die Talkshow am Sonntagabend, die anlässlich des 85. Geburtstages das Leben der jungen Frau beleuchtete und bei der auch eine Freundin des Mädchens zu Gast war. Sollte sie wirklich dank ihrer Großtante mehr über Anne Frank erfahren, als bisher bekannt war?
Tante Katharinas Postkarten hatten Jahrzehnte auf dem Dachboden gelegen. Hätte ihr Vater ein Unternehmen mit der Haushaltsauflösung beauftragt und hätte sie nicht zwischen Studienabschluss und erstem Job den Nachlass gesichtet, hätte keiner jemals von den Postkarten erfahren.
Warum sollten nicht irgendwo in einem Koffer oder Keller unbekannte Briefe von Anne Frank liegen?
Als er das Seniorenheim durch den Personaleingang verließ, bemerkte er die Einsatzwagen der Polizei vor der Tür. Was wollten die hier? Die alte Marianne war längst unter der Erde. Er hatte sich davor gedrückt, an der Trauerfeier teilzunehmen. Sehr zum Unmut der Heimleiterin, aber er hasste Beerdigungen. Sie waren nicht echt, fand er. All die Menschen, die sonst in der Kirche davon sangen, dass der Tod die wahre Erlösung sei und dann jammerten sie, wenn jemand diese wahre Erlösung erreicht hatte. Pah! Das brauchte er nicht. Erst recht nicht in diesem Fall.
»Da sind Sie ja!«, erklang in dem Augenblick die Stimme der Heimleiterin. »Frau Uphoff möchte Sie gerne sprechen.«
Neben Renate Lansmann stand eine Frau mit einem dunklen Pagenschnitt in einem modischen, türkisfarbenen Kostüm. Sie wirkte trotzdem wie eine Polizistin in Zivil. Als umgebe sie eine Aura der Macht oder als trüge sie einen Polizeistempel auf der Stirn. War es diese lockere Selbstgewissheit, die ihr diese Aura verlieh?
»Hauptkommissarin Petra Uphoff«, stellte sich die Frau vor. »Können wir uns ein paar Minuten unterhalten?«
Was sollte er darauf sagen? Nein, mit Ihnen spreche ich nicht? Er nickte nur und folgte der Kommissarin zurück ins Haus. Vor dem Aufenthaltsraum verabschiedete sich Renate Lansmann. »Sie melden sich, wenn Sie etwas brauchen?«, bat sie die Kommissarin und nickte ihm aufmunternd zu. Immerhin. »Das ist alles nur Routine«, sagte sie beruhigend. Für sie vielleicht.
»Dann erzählen Sie genau, wie das war, als die alte Frau Goldmann unter Ihren Händen gestorben ist«, forderte Kommissarin Uphoff ihn auf.
Wie sich das anhörte? Unter Ihren Händen? War er ein Chirurg, der an der Frau herumgeschnippelt hatte?
Er schwieg und überlegte, was er sagen konnte, ohne in Verdacht zu geraten. Sein Blick fiel auf Packpapier, das die Küchenmitarbeiterinnen achtlos in den Aufenthaltsraum geworfen hatten. Es sah alt aus. Wie oft das wohl genutzt worden war?
»Ja?« Die Kommissarin schwieg ebenfalls, bis auf das fragende Ja, mit dem sie ihm signalisierte, dass sie notfalls bis Mitternacht auf seine Antwort warten würde.
Er holte tief Luft und berichtete, wie die Frau sich eingekackt und von ihm verlangt hatte, sie sofort zu baden. Als er das Gesicht der Kommissarin sah, wusste er, dass er das Einkacken nicht hätte erwähnen sollen. Nicht so.
»Das Waschen der Bewohner ist nicht Ihre Lieblingstätigkeit hier, was?«, fragte die Ermittlerin und sah ihn an, als wolle sie seine Gedanken lesen.
Was sollte er darauf sagen? »Das machen sonst die Pflegerinnen.« Eine sehr gute Antwort. »Vor allem die Frauen genieren sich vor uns jungen Männern.« Oh, er lief zu Hochform auf. »Nur Frau Goldmann wollte immer, dass ich sie bade. Sie mochte mich.« Perfekt. Es gab wirklich keinen Grund, dass er der Frau etwas antat.
»Und Sie, mochten Sie Frau Goldmann?«
Puh, diese Kommissarin wusste, wie man Leute in die Enge trieb. Aber darauf hatte er sich vorbereitet. »Sie war nett, manchmal etwas anstrengend, sie hat mir jedoch oft Trinkgeld gegeben.« Das stimmte sogar, selbst wenn es meist ein kärglicher Betrag gewesen war. Er hätte jedenfalls keinen Grund gehabt, sie beiseitezuschaffen.
Die Kommissarin schien das genauso zu sehen. Sie nickte und notierte etwas in ihrem iPhone. »Wenn Sie mir Ihre Heimatanschrift und Ihre Mobilnummer geben würden, dann können Sie gehen!«, bat sie zum Abschied.
Lass dir deine Erleichterung nur nicht anmerken, dachte er und diktierte der Kommissarin die Mobilnummer und die Anschrift seiner Eltern. Zufrieden sah er der Frau nach, als sie mit wippenden Schritten auf hohen Absätzen, die er bei einer Polizistin nicht erwartet hätte, den Aufenthaltsraum verließ.
Er ging zu dem Papier, das sich vor der Durchreiche zur Küche häufte. »Was ist das, Leonie?«, erkundigte er sich bei dem blonden Küchenmädchen, das ihn wie immer durch die Öffnung zur Küche anstrahlte, als wäre er sein Lebensretter. Eine süße Maus.
»Die Verwandten eines Bewohners haben uns Kisten voller Geschirr gespendet!«, berichtete das Mädchen. »Das ist uralt. Die haben das im Keller gefunden. Stammt wohl aus dem Krieg.«
Aus dem Krieg? Das ließ ihn aufhorchen. Papier aus dem Krieg, das war genau das, was sie für ihr Projekt brauchten. Bisher hatte sich diese Autoren-Tusse nicht gemeldet, aber er hatte einen Plan B, falls sie nicht antwortete. »Kann ich das Papier haben?«, fragte er rasch und lachte, als er in Leonies verständnisloses Gesicht blickte. »Meine Mutter arbeitet gerade an einem Kunstprojekt mit Papier. Du weißt doch, sie ist Künstlerin.« Wenn seine Mutter das gehört hätte, wäre sie vor Stolz geplatzt. Sie wollte gerne Künstlerin sein, über ein paar Basteleien für Advents- oder Ostermärkte brachte sie es allerdings nicht hinaus. Das Papier erinnerte ihn an eine Kunsthausaufgabe in der Schulzeit, ganz aus der Luft gegriffen war die Ausrede also nicht.
»Das ist mir echt egal, wofür du das brauchst«, antwortete Leonie und strahlte ihn an. Ein Grübchen zeigte sich auf ihrem Kinn, das ihn fast seine Idee vergessen ließ. »Wir sind froh, wenn wir das nicht entsorgen müssen«, rief das Mädchen ihn in die Wirklichkeit zurück. Er nahm sich vor, Leonie zu treffen, wenn er wieder einen Überblick hatte. Die blöde Geschichte mit der Alten und die aufregende Geschichte mit den Briefen – mehr verkraftete er gerade nicht. Er faltete das Papier zusammen, nicht ohne Leonie gelegentlich einen Blick zuzuwerfen, klemmte es unter den Arm und trug es hinauf in sein Zimmer. Was Knolle wohl zu seiner neuen Idee sagen würde?
Dienstag, 8. August 1944
Beste Kitty!
Entschuldige, wenn meine Schrift nur schwer lesbar ist! Wir sitzen im Zug. Das Abteil ist ziemlich voll, aber wir sind alle zusammen. Draußen ziehen die Getreidefelder an uns vorbei.
Wie lange habe ich keine Felder, Kühe und Schafe mehr gesehen? Und wann habe ich zum letzten Mal in den endlos weiten Himmel geschaut? So sehr ich meinen Kastanienbaum vor dem Fenster geliebt habe und so sehr ich mich sorge, wie es mit uns weitergeht, freue ich mich über die Felder. Wie die Halme sich wiegen. Die ersten zarten Ähren sind zu erkennen. Es ist so schön, wieder die Natur zu sehen. So lange musste ich darauf verzichten.
Ich muss dankbar sein für das, was ich habe. Viele unserer Freunde leben nicht mehr. Nie wieder können sie den Himmel betrachten. Wir haben uns und die Natur.
Deine Anne