Schneewalzer - Birgit Ebbert - E-Book

Schneewalzer E-Book

Birgit Ebbert

4,9

Beschreibung

Die elfjährige Hanna verschwindet spurlos aus der Hagener Innenstadt. Sie hatte versucht, ihr Taschengeld als Straßenmusikerin aufzubessern. Zwei Freundinnen des Mädchens verteilen in der Stadt Suchplakate, eines davon in der Buchhandlung von Anja Henke. Als die Krimiliebhaberin und Hobbykriminalistin von der Vermissten Hanna erfährt, macht sie sich auf die Suche nach der Verschwundenen. Dabei stößt sie auf mafiaähnliche Strukturen, die die Hagener Vorweihnachtszeit trüben.

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Birgit Ebbert

Schneewalzer

Ein Weihnachtskrimi

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Sven Lang,

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © bit.it / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4738-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Teil I

Kapitel 1

Jeder ist verantwortlich für das Instrument, das ihm übergeben wird!

»Ich hätte nicht gedacht, dass man an Mordfällen so gut verdienen kann!«

Anja Henke sah ihren Mann Oliver, der für die Finanzen ihrer kleinen Krimibuchhandlung zuständig war, erstaunt an. »Du hast hier im November mehr verdient als mit deinen Online-Verkäufen im ganzen Jahr«, erklärte er und klappte das Notebook zu, das in Ermangelung eines Tisches auf einem Bücherstapel lag. Auf einem Krimistapel besser gesagt, denn in dem kleinen Ladengeschäft, über dessen Tür das Schild »Mord & Ortschlag« prangte, gab es nur Krimis.

Gerade wollte Anja zu einer Antwort ansetzen, da klopfte es an der Glastür, die noch immer den Charme der 50er-Jahre ausstrahlte. Wie der gesamte Reisepavillon, in dem ihre kleine Buchhandlung Unterschlupf gefunden hatte.

Anja seufzte. »Wir haben geschlossen«, rief sie. Nach dem anstrengenden Samstag war sie irgendwie froh, dass sie an den Adventssonntagen trotz des Weihnachtsmarktes nicht öffnen durfte. Die Ausstellung mit ihren eigenen Fotos über »Hagen früher und heute« am Abend zuvor war ein voller Erfolg gewesen. Sie hatte aber auch ein kleines Chaos und viele ungespülte Gläser hinterlassen. Es klopfte erneut, dieses Mal etwas eindringlicher.

»Mama, da stehen zwei Mädchen«, rief Anjas Sohn Tobias, der zusammen mit seiner kleinen Schwester Ida die Gläser spülte.

Anja seufzte noch einmal. Das war der Nachteil ihres Standortes. Der Laden befand sich mitten zwischen den Weihnachtsmarktständen auf dem Adolf-Nassau-Platz und dieser war natürlich vier Wochen vor dem Fest auch sonntags geöffnet. Sie wollte den beiden Mädchen gerade erklären, dass sie geschlossen hatte, da sah sie ihre Gesichter. Statt der sonst üblichen Freude über den Weihnachtsmarkt in nahezu allen Kindergesichtern las sie Sorge und Angst.

»Was wollt ihr denn?«, fragte sie freundlicher, als sie es im ersten Moment vorhatte.

»Sie kennen sich doch aus mit Mord.«

Überrascht sah Anja das Mädchen an, das sie auf elf Jahre schätzte, soweit der violette wattierte Anorak und die bis auf die Augenbrauen gezogene Mütze das erlaubten. Das zweite Mädchen war kaum weniger vermummt. Bei Minusgraden nicht weiter verwunderlich.

Sie lachte. »Ich verkaufe Krimis«, entgegnete sie. »Damit kenne ich mich aus.«

Das Mädchen deutete auf die Leuchtreklame über dem Eingang. »Aber da steht doch Mord«, sagte sie, und Anja meinte, einen verzweifelten Unterton zu erkennen. Vielleicht war der Name ihrer Krimibuchhandlung »Mord & Ortschlag« doch nicht so gut gewählt. Dabei fand sie, dass er zu ihrem Konzept passte. Sie verkaufte Krimis, organisierte Reisen an Krimischauplätze und fotografierte Krimi-Orte. Immerhin hatte sie lange Zeit als Fotografin gearbeitet, ehe sie Oliver kennengelernt hatte und zu ihm nach Hagen gezogen war.

Die beiden Mädchen wirkten nun wirklich verzweifelt. Erst jetzt fiel Anja auf, dass die größere der beiden in ihren Händen eine Mappe hielt.

»Was wollt ihr denn überhaupt?« Anja bat die Mädchen in den kleinen Laden.

Sichtbar erleichtert folgten die beiden. Die Größere öffnete die Mappe, zog ein Blatt heraus und reichte es Anja.

»Wo ist Hanna?«, las Anja leise und als sie das Bild eines etwa zehnjährigen Mädchens unter den großen Buchstaben sah, bekam sie eine Gänsehaut.

»Was ist mit Hanna?«, erkundigte sie sich.

Als hätte Anja auf einen Knopf gedrückt, sprudelten die Sätze aus den Kindern heraus. Beide sprachen gleichzeitig in einer Hast, die auch Oliver, Tobias und Ida aufmerken ließ.

Anja wartete, bis die Mädchen mit ihren Erklärungen fertig waren. »Mmh, das war jetzt ein bisschen durcheinander«, sagte sie vorsichtig. »Wenn ich das richtig verstanden habe, ist eure Freundin Hanna seit einigen Tagen verschwunden, und ihr glaubt, dass ihr Geigenlehrer ihr etwas getan hat. Ist das richtig?«

Die beiden nickten heftig. »Genau, sie hat bei Facebook geschrieben, dass er sie immer so komisch anguckt«, bestätigte die Kleinere in dem violetten Anorak.

»Dann müsst ihr das der Polizei melden.« Was sollte Anja den Mädchen sonst auch sagen. »Ich bin Buchhändlerin und keine Polizistin oder Detektivin.«

Aus dem Augenwinkel sah Anja, wie die Augen von Tobias bei dem Gedanken an eine Detektiv-Mutter aufleuchteten. Er war von Anfang an Feuer und Flamme gewesen, als sie ihm ihre Idee geschildert hatte, eine Krimibuchhandlung zu eröffnen. Da sie beide die ersten 14 Jahre seines Lebens allein in Oldenburg gelebt hatten, ehe sie Oliver kennengelernt hatten, waren sie sich besonders vertraut. Anja legte großen Wert darauf, dass Tobias mit ihren Entscheidungen einverstanden war. Sonst hätte sie sich auf die Beziehung zu Oliver gar nicht erst eingelassen. Aber Tobias war begeistert. Als klar war, dass er eine Schwester bekommen würde, hatte er darauf gedrängt, dass Oliver ihn adoptierte. »Sonst heiße ich ja anders als meine Schwester«, hatte er mit 15 erklärt, und damit war das Thema Adoption für ihn beschlossene Sache. Für Oliver zum Glück auch. Ihre beiden Männer verstanden sich gut. Auch jetzt zwinkerten sie sich zu.

»Aber du könntest neben der Buchhandlung ein Detektivbüro gründen«, flachste Tobias.

Die Mädchen in dem kleinen Laden nickten eifrig, auch ihre sechsjährige Tochter Ida, die gerade erst in die Schule gekommen war.

»Ihr spinnt«, antwortete Anja nur und wandte sich wieder den kleinen Besucherinnen zu.

»Habt ihr der Polizei von dem Mann erzählt, der Hanna immer so anschaut?«, fragte sie.

Die Mädchen nickten. »Die glauben uns nicht.«

»Warum denn nicht?« Anja konnte sich nicht vorstellen, dass die Polizei einen solchen Hinweis unbeachtet ließ. Ihre Hagener Freundin Dorothee arbeitete bei der Polizei und erzählte gelegentlich von ihrer Arbeit.

Die Mädchen wanden sich. »Nun ja«, druckste die Kleinere herum. »Sie sagt nicht genau, dass es der Geigenlehrer ist.«

»Sie sagt, dass der Mann sie beim Geigespielen immer so komisch anguckt«, fuhr das andere Mädchen dazwischen. »Wer schaut sie wohl beim Geigespielen an? Der Geigenlehrer!«

»Aber.«

Anja sah, dass die Kleine im violetten Anorak ihren Satz nicht weiterführte, nachdem die Größere ihr einen leichten Rippenstoß versetzt hatte.

»Was aber?«, fragte sie streng.

»Na ja, Hanna hat auch auf dem Weihnachtsmarkt gespielt«, stieß die Größere trotzig hervor. »Aber trotzdem war es der Geigenlehrer.«

Mit viel Geduld entlockte Anja den beiden Mädchen die ganze Geschichte. Ihre Freundin Hanna spielte ohne Wissen ihrer Eltern auf dem Weihnachtsmarkt Geige, um sich Taschengeld hinzuzuverdienen.

»Der Vater ist doch voll krass!«, schnaubte die Größere. »Sie darf nichts. Obwohl sie schon elf ist, muss sie ständig zu Hause sitzen und lernen oder üben. Sogar WhatsApp hat er ihr verboten.« Sie grinste. »Deshalb haben wir auch den Facebook-Chat eingerichtet. Vom Handy können wir da kostenlos rein und chatten.«

Ihre Freundin nickte. Sie zog ein Smartphone aus der Tasche, das Anja vor Neid fast erblassen ließ. Sie telefonierte weiterhin mit ihrem altertümlichen Handy. Kein Tag verging, an dem Tobias oder Ida nicht darüber lästerten. Stattdessen hatte sie lieber Geld für die neueste digitale Fototechnik ausgegeben. Man muss Prioritäten setzen, fand Anja. Vielleicht nicht solche wie Hannas Vater, der seine Tochter ziemlich kurz hielt, wie sie dem Chat entnehmen konnte, den die Kleine im violetten Anorak ihr zeigte.

»Okay!« Anja fand es an der Zeit, das Gespräch zu beenden, zumal Tobias und Ida, statt die Gläser zu spülen, neugierig zuhörten und gelegentlich kurze Kommentare einwarfen. »Ich bin keine Detektivin, aber ich kann das Plakat ins Schaufenster hängen. Vielleicht weiß jemand was.«

Die Mädchen sahen zufrieden aus. »Wir haben unsere Facebook-Adresse aufgeschrieben. Da können die Leute sich melden«, erklärte die Kleinere und erntete ein lautes Lachen von Oliver.

Anja warf ihrem Mann einen tadelnden Blick zu und übersetzte seine Botschaft in freundliche Worte: »Nicht alle Leute sind bei Facebook.« Als sie die enttäuschten Gesichter sah, bot sie an: »Aber wer hier das Plakat sieht, kann mir sagen, was er weiß. Ich gebe das dann an euch weiter.« Mit einem Seitenblick auf ihre Familie fügte sie grinsend hinzu: »Ich bin bei Facebook!« Dass sie sich erst vor Kurzem angemeldet hatte, mussten die Mädchen nicht wissen.

»Und wem hast du es zu verdanken, dass du bei Facebook bist?« Tobias lachte, als die Mädchen gegangen waren und sie über das verschwundene Kind sprachen. »Ich finde die Idee gut, ein Detektivbüro einzurichten«, meinte er und tippte auf den Touchscreen seines Tablets, um wenig später zu verkünden: »Hier gibt es sogar eine Fortbildung für angehende Detektive.«

Anja stupste gegen seine Schulter. »Eines kann ich dir versprechen: Detektivin werde ich nicht. Niemals! Mir reicht es, mit den literarischen Detektiven zu ermitteln.«

Ihr Sohn grinste, ohne zu ahnen, dass sie dieses Versprechen nicht einhalten würde.

Kapitel 2

Saubere, ordentliche und nicht zu moderne Kleidung ist Pflicht.

Kurz vor der Öffnung ihrer Krimibuchhandlung klebte Anja Henke das Suchplakat für Hanna in das Fenster zur Bushaltestelle hin.

»Da sehen es die meisten Leute«, murmelte sie und überflog den Text, der unter der Fotografie stand. »Hanna wurde zuletzt in der Innenstadt gesehen. Sie stand mit einer Geige an der Ecke Hohenzollernstraße und Kampstraße, ganz in der Nähe der Feuerzangenbowle.«

Sie setzte sich an ihren Laptop, ein stationärer Computer hätte zu viel Platz weggenommen in dem kleinen Laden. Irgendwo mussten die Fotos von ihrer Weihnachtsmarkt-Runde sein. Seit ihrem Umzug nach Hagen ging sie an jedem ersten Adventssonntag um 11 Uhr mit ihrer Kamera über den Markt. Dann war er noch nicht so überlaufen und sie konnte in Ruhe alle Stände fotografieren. Vermutlich konnte sie sich mit ihrem Archiv um einen Eintrag ins Buch der Rekorde bewerben. Sicher gab es niemanden, der außer ihr so verrückt war, ein solches Projekt durchzuziehen. Aber sie liebte nun einmal das Fotografieren und den Hagener Weihnachtsmarkt.

Als sie hierher gezogen war, hatte sie gehofft, wie in Oldenburg als selbstständige Fotografin zu arbeiten. Aber in einer neuen Stadt war das schwerer, als sie gedacht hatte. Ihr Mann Oliver besaß als Geschäftsführer einer Stiftung gute Kontakte, aber eines wollte sie ganz gewiss nicht, von den Beziehungen ihres Mannes profitieren. Stattdessen hatte sie nach der Geburt ihrer Tochter Ida, die kurz nach ihrem Umzug auf die Welt gekommen war, eine Online-Buchhandlung für Krimis gegründet.

Eher zufällig hatte sie vor einigen Monaten dieses Ladenlokal entdeckt und sich gleich in den kleinen Pavillon am Ende der Fußgängerzone in Sichtweite des Volksparks verliebt. Hier verkaufte sie nun ihre Krimis und dank der Krimireisen, die sie bereits seit Gründung des Internetshops für Kriminalistisches aller Art anbot, konnte sie mit einer kleinen Stammkundschaft beginnen. Das war hier in Hagen wichtig, wo sich viele trotz der Größe der Stadt kannten.

Ihre Krimireisen würde sie auch neben dem Buchladen weiterführen. Bisher war sie einmal im Jahr mit 15 Krimifans und ihren Kameras losgezogen, um Schauplätze von Kriminalromanen zu erkunden. So waren sie auf den Spuren von Commissario Brunetti durch Venedig gegondelt, hatten sich in London auf die Wege von Sherlock Holmes gemacht und fotografiert, wo Irene Huss in Göteborg ermittelte. Sogar eine Kreuzfahrt auf dem Nil im Gedenken an Hercule Poirot war in einem Jahr zustande gekommen.

Anja räumte die Bücher ein, die die Besucher der Ausstellung am Samstagabend betrachtet und nicht gekauft hatten.

Ihre Fotografien zu »Hagen früher und heute« lagen bereits im Keller. Für eine Dauerausstellung war kein Platz in dem Lädchen; lediglich ein Bildpaar stand im Schaufenster, umgeben von Büchern. Es zeigte das Krematorium in Delstern Mitte des letzten Jahrhunderts und heute. Anja war stolz darauf, dass sie es geschafft hatte, exakt den gleichen Bildausschnitt zu fotografieren wie ihr Kollege vor mehr als einem halben Jahrhundert.

Anja zuckte zusammen, als sie die Klänge des »Kriminaltangos« hörte, die erschollen, wenn die Ladentür geöffnet wurde. Diese Idee hatte Anja von Lena Lensing übernommen, einer Kollegin, die in der Nähe der holländischen Grenze eine Krimibuchhandlung betrieb. Anfangs war die Melodie erklungen, sobald die Tür sich bewegte. Keine gute Idee in einem stürmischen Winter bei einer Tür, die aus den 50er-Jahren stammte.

Anja legte einige Bücher beiseite, um sich der alten Dame zu widmen, die durch die Tür trat.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Anja bei der Frau, die so ganz anders aussah als ihre sonstigen Kundinnen. Sie trug einen dunkelgrünen Mantel, der gut und gerne so alt sein mochte wie der Reisepavillon, der 1954 erbaut worden war und unter Denkmalschutz stand. Anja erinnerte der Mantel an die Mode aus den 50er-Jahren. Unter dem Pelzkragen schaute ein gestrickter Schal hervor und auf dem Kopf trug die Frau einen jener Filzhüte, die aussahen, als hätte jemand einen Kochtopf mit Filz bezogen.

»Ich habe das Plakat gesehen«, begann die Frau und setzte vorsichtig mit beiden Händen ihren Hut ab. »Warm ist es hier«, kommentierte sie die Bewegung und sah sich nach einer Fläche um, auf der sie den Hut ablegen konnte.

Ehe Anja ihn der Frau abnehmen konnte, platzierte diese ihre altertümliche Kopfbedeckung neben der Kasse. Zu gerne hätte Anja den Hut angehoben, um zu überprüfen, ob ein Topf unter dem Filz verborgen war. Doch sie hielt sich zurück und fragte: »Haben Sie das Mädchen gesehen?«

Die alte Frau schaute sich suchend um. »Kann ich mich hinsetzen?«, lautete ihre Gegenfrage.

Rasch nahm Anja die Abbildungen einiger Krimicover vom Sitzwürfel, den sie von einem Verlag zur Eröffnung ihrer Buchhandlung bekommen hatte.

Die Frau setzte sich umständlich und mit einem wichtigen Gesicht hin. »Ich kenne das Mädchen«, sagte sie bestimmt, und Anja fragte sich kurz, ob die Frau Lehrerin gewesen war. Sie klang genau wie ihre Grundschullehrerin und sah so ähnlich aus.

»Ich bin jeden Tag in der Stadt, wissen Sie?« Die Frau beugte sich zu Anja vor, die neben dem Sitzwürfel in die Hocke gegangen war.

Anja seufzte innerlich, wenn das in diesem Tempo weiterging, konnte sie den Vormittag vergessen.

»Und ich mache jeden Tag eine Runde über den Weihnachtsmarkt. Ich finde ihn zwar schrecklich, aber da komme ich wenigstens unter Leute.«

Wie schön für dich, dachte Anja, setzte jedoch ein interessiertes Lächeln auf. Ihre Gedanken waren bei der elfjährigen Hanna, die vielleicht irgendwo lag und sich nicht helfen konnte. Wenn das ihre Tochter wäre, würde sie sich über jede Hilfe freuen.

»Und da haben Sie Hanna gesehen?« Anja versuchte, den Bericht der Frau zu beschleunigen.

Erleichtert sah sie, wie die Frau nickte und anhob: »Ja. Jeden Tag. Aber erst am Nachmittag. Vormittags war sie ja in der Schule.« Anscheinend kannte die Frau das verschwundene Mädchen nicht nur vom Sehen.

»Ich habe sie gefragt, warum sie in der Kälte steht und Geige spielt«, fuhr die Frau fort und öffnete die Knöpfe ihres Mantels. Darunter kamen ein bordeauxfarbener Pullover mit Rüschen über der Brust und ein dunkelgrüner Rock zum Vorschein. Auf jeden Fall war die Frau in dem Alter, in dem Frauen selten Hosen trugen.

Anja ging in Gedanken die Frauen in ihrem Umfeld durch. Selbst ihre Mutter und ihre Schwiegermutter trugen Hosen. Vor allem bei der Kälte, die sie in diesem Winter gefangen hielt.

»Wissen Sie?«

Anja staunte darüber, wie gut die Frau Kunstpausen beherrschte, und war sich nun sicher, dass sie früher Lehrerin war. Diese rhetorischen Fragen klangen danach.

»Die Kleine hat immer den ›Schneewalzer‹ gespielt.« Die Frau lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Dabei lächelte sie und wiegte sich im Walzertakt, als sähe sie sich selbst im Tanz. »Mein Lieblingslied. Darauf haben wir bei unserer Hochzeit getanzt, mein Egon, Gott hab ihn selig, und ich.«

Anja spürte, wie ihre Geduld langsam schwand. Zum Glück fand die Frau von allein zurück aus ihrer Erinnerung.

»Sie stand immer an der Ecke, wo die Kampstraße in den Friedrich-Ebert-Platz mündet. Bei dem kleinen Schmuckladen, in der Nähe des Blumengeschäfts.«

Anja erhob sich enttäuscht. Sie streckte ihre Beine aus und schüttelte sie. Dieser ganze Zinnober für eine Information, die nicht neu war. Wenn sie weiter solche Gespräche führte, würde das Weihnachtsgeschäft darunter leiden.

»Vielen Dank, das ist wirklich eine wichtige Information. Haben Sie das schon der Polizei gesagt?« Anja gab sich viel Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen und war froh, als der »Kriminaltango« neue Kunden ankündigte, die hoffentlich etwas kauften. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«, wandte sie sich an ein Paar, das den Laden betrat. Eine hochgewachsene Mittfünfzigerin im langen Nerzmantel und ein kleinerer Mann, der mit seiner beschlagenen Brille kämpfte.

»Wir suchen Weihnachtsgeschenke«, erklärte die Frau und sorgte dafür, dass Anjas Stimmungsbarometer in die Höhe schnellte. Weihnachtsgeschenke, das war eindeutig Plural und bedeutete einen größeren Umsatz.

»Haben Sie bestimmte Vorstellungen?«, erkundigte Anja sich und nahm erfreut den Zettel zur Kenntnis, den die Frau aus der Tasche mit dem auffälligen Markenlabel holte.

»Wir verreisen in diesem Jahr und müssen alle Geschenke verschicken«, leitete die Frau ihren Wunsch ein.

»Da sind Bücher ja bestens geeignet«, stimmte Anja ihr zu und war ihrem Chef in Oldenburg dankbar, dass er sie nach der Fotografen-Ausbildung auf einen Verkaufslehrgang geschickt hatte. Sie hörte den Trainer noch: ›Loben Sie Ihre Kunden. Positiv gestimmt kaufen sie mehr. Schaffen Sie eine gemeinsame Basis.‹

»Wir dachten, wir schenken unseren Freunden Krimis, die in ihrem Wohnort oder in ihrer Heimatstadt spielen.« Die Frau reichte Anja mit wohlmanikürten Händen den Zettel. Da standen mindestens 15 Namen mit Orten versehen, in denen die Krimis spielen sollten. Bereits beim Überfliegen der Liste war klar, dass sie von Sylt bis Garmisch-Partenkirchen für jeden das Passende hatte und selbst für jenen Paul Kollenkamp, der derzeit in Paris lebte, hatte sie einen Geheimtipp: Nestor Burma, der im Auftrag von Leo Malet im Paris der 30er- und 40er-Jahre ermittelte.

»Möchten Sie die Krimis sofort mitnehmen oder soll ich Sie Ihnen heraussuchen, während Sie einen Eierpunsch auf dem Weihnachtsmarkt trinken?« Anja sah, dass das Paar sehr angetan war von dem Vorschlag, ihnen eine kleine Krimi-Auswahl zusammenzustellen, während sie über den Weihnachtsmarkt bummelten. Sie empfahl ihnen den Eierpunsch-Stand an der Konzertmuschel und machte sich an die Arbeit, passende Krimis für die Freunde des Paares herauszusuchen.

»Ich will dann auch mal!«

Vor lauter Freude über den lukrativen Auftrag hatte Anja die Besucherin im grünen Mantel völlig vergessen.

Die Frau saß still auf dem Sitzwürfel und hielt Anja einen Agatha-Christie-Krimi hin. »Den nehme ich und wenn Sie weitere Bücher mit Miss Marple oder Hercule Poirot haben, dann nehme ich die auch«, sagte sie und erhob sich erstaunlich gewandt von dem Sitzwürfel, mit dem selbst junge Leute manchmal kämpften. »Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Wissen Sie?«

Anja riss sich zusammen, um nicht mit der Frage nach ihrem früheren Beruf herauszuplatzen, konnte es sich aber doch nicht verkneifen.

»Ich war Grundschullehrerin«, antwortete die Frau. »In der Grundschule Kückelhausen, die vor einigen Jahren geschlossen wurde.« Für einen Moment zog ein Schatten über ihr Gesicht, dann sah sie auf das Cover des Krimis. »Wissen Sie, als ich jung war, habe ich mir vorgestellt, dass ich später wie Miss Marple Mordfälle löse.« Sie lachte und steckte damit Anja an.

»Vielleicht können wir wenigstens den Fall der kleinen Hanna lösen«, sagte Anja leichthin in ihrer guten Laune, ohne zu ahnen, was sie sich damit einbrockte.

Kapitel 3

Essen in der Öffentlichkeit ist verboten und zieht einen Entzug des Instruments nach sich.

»Hey, Anja!« Britta Jansen, die Aushilfskraft, die ihr unter mehreren Bewerbern als verheißungsvollste erschienen war, riss Anja aus den Gedanken, als sie mit ihrem rot-weiß gepunkteten Schirm in der Hand den Laden betrat.

Anja grüßte erleichtert zurück und blickte Britta nach, die ihre Jacke und den Schirm über die Wendeltreppe in den Lagerkeller brachte. Gut dass ihre Mitarbeiterin rechtzeitig erschienen war, so musste sie die Bücher, die sie für das Paar mit der Geschenkeliste herausgesucht hatte, nicht selbst einpacken. Geschenke zu verpacken empfand sie als lästigste Tätigkeit in ihrem kleinen Laden. Sie hasste Ringelbänder, Schleifen und derlei Schnickschnack, wusste aber, dass die meisten Kunden großen Wert darauf legten. Zum Glück war ihre Aushilfe da ganz anders. Wenn sie Britta gewähren ließe, würde diese eine halbe Stunde für das Verpacken eines Buches benötigen – und hier ein Knickchen und dort ein Sternchen anfügen.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin ging die Tür auf und die Nerz-Frau mit ihrem Brillen-Partner trat ein. Die beiden kamen Anja leicht angetrunken vor und sie fragte sich, ob es wirklich bei einem Eierpunsch oder Glühwein geblieben war. Doch das konnte ihr gleichgültig sein, solange sie in der Lage waren, den PIN für die EC- oder Kreditkarte richtig einzugeben.

»Da sind Sie ja wieder«, empfing sie das Paar und stellte den beiden die Bücher vor, die sie ausgewählt hatte.

»Das ist ja wunderbar«, säuselte die Frau Anja ins Gesicht.

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht vor der leichten Alkoholfahne zurückzuzucken.

»Meine Kollegin packt Ihnen die Bücher gerne als Geschenk ein«, bot Anja an. Als sie sah, wie Britta strahlte, schmunzelte sie. Das war eine Aufgabe nach Brittas Geschmack und solange keine weiteren Kunden kamen, konnte sie sich ruhig austoben. Mittags, wenn in den Banken und in den Büros der Innenstadt alle Mittagspause hatten, würde sich das ändern. Bis dahin wollte Anja wenigstens kurz im Internet nachforschen, was sich über das Verschwinden der kleinen Hanna herausfinden ließ.

»Haben Sie eigentlich den wunderbaren Backfisch nebenan probiert?«, erkundigte sich Anja. Einen weiteren Stand mit alkoholischen Getränken wollte sie lieber nicht empfehlen, schließlich sollten ihre Kunden wiederkommen und nicht während der Heimfahrt am nächsten Baum landen.

Als die beiden einträchtig, wie alte Ehepaare manchmal waren, den Kopf schüttelten, schlug sie ihnen vor, einen Backfisch zu essen, während Britta die 15 Bücher verpackte. Sie versprach hoch und heilig, jedes Päckchen mit einem Geschenkanhänger und dem Namen des Empfängers zu versehen, damit nichts durcheinandergeriet.

Die Kunden verließen beschwingt den Laden.

Britta machte sich strahlend vor Glück an die Arbeit und Anja setzte sich an den Laptop, weniger glücklich als ihre Mitarbeiterin, weil sie bei der Recherche ständig an ihre kleine Tochter denken musste. Am liebsten hätte sie in der Schule angerufen, um sich zu vergewissern, dass Ida sicher dort saß und nicht draußen herumlief, wo derjenige auf sie lauern konnte, der für Hannas Verschwinden verantwortlich war.

Die Polizei tappte weiterhin im Dunkeln. Laut Bericht aus der »Westfalenpost« gab es keine Anzeichen für eine Entführung. Hanna schien von einem Moment auf den nächsten wie vom Erdboden verschluckt worden. Zuletzt war sie an der Stelle gesehen worden, die auch die pensionierte Grundschullehrerin beschrieben hatte. Danach verlor sich ihre Spur, kein Busfahrer, keine Passanten, niemand hatte sie später gesehen.

»Wir können uns nicht erklären, was mit Hanna geschehen ist«, las Anja die Stellungnahme des Polizeisprechers. »Wir bitten weiterhin um Hinweise, wo das Kind gesehen wurde. Es trug zuletzt eine knallrote Mütze mit weißen Sternen, eine rote Jacke mit einem weißen Streifen auf dem Rücken, Jeans und blaue Moonboots. Auffällig ist der Geigenkasten, den es bei sich trug. Auf der Vorderseite klebten Aufkleber von Justin Bieber und David Garrett.«

Anja musste nun doch lachen. Ihre Tochter Ida hätte vermutlich die gleichen Aufkleber auf ihrem Geigenkoffer, wenn sie einen besäße. Erstaunlich, wie David Garrett es geschafft hatte, selbst kleine Mädchen zur Geigenmusik zu bringen.

Bei Hanna war die Begeisterung nicht durch den coolen jungen Geiger geweckt worden, entnahm Anja einer Stellungnahme der Eltern im Regionalfernsehen.

»Unsere Tochter hat das Zeug zu einer großen Violinistin«, betonte der Vater, ohne auf das Verschwinden Hannas einzugehen.

Anja hörte kein Wort des Bedauerns darüber, dass seine Tochter unauffindbar war. In dem ganzen Beitrag wirkte er gefasst und völlig emotionslos. Im Gegensatz zu Hannas Mutter, deren Augen verquollen waren und die zwischendurch immer wieder ihre Nase putzte und Tränen abwischte. Lag das nur daran, dass er ein Mann war, dass er keine Gefühle zeigte?

»Ich wäre selbst ein guter Violinist geworden, wenn die Umstände das erlaubt hätten«, erklärte der Vater und kam dann endlich zum Verschwinden seiner kleinen Tochter. »Bitte helfen Sie uns, Johanna zu finden. Jeder weitere Tag ohne sie, ist ein verlorener Tag.«

Hannas Mutter schluchzte bei dem Satz laut auf.

Anja spürte, wie sich ihre Härchen unter dem dicken wollenen Winterpullover aufstellten. Die arme Mutter, dachte sie und hätte wieder am liebsten zum Telefon gegriffen, um sich zu vergewissern, dass es ihrer Ida gut ging. Sie hörte sich den Satz des Vaters erneut an. Erst jetzt wurde ihr die doppelte Bedeutung bewusst, sprach er von dem verlorenen Tag in seinem Leben oder in Hannas Leben auf dem Weg zur berühmten Geigerin.

»Anja, guck mal, ist das so okay?«

Anja war froh, dass Britta sie aus ihren Überlegungen riss. Das änderte sich allerdings, als sie sah, dass ihre Mitarbeiterin in der ganzen Zeit erst ein einziges Buch eingepackt hatte. Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte ihr, dass fast 20 Minuten vergangen waren und das beschwipste Paar bald zurückkommen würde.

»Du, man braucht höchstens 15 Minuten, um einen Backfisch zu essen«, erinnerte Anja Britta dezent.

Diese schien den Zusammenhang zwischen ihrer Aufgabe und dem Backfisch nicht zu verstehen, sodass Anja deutlicher werden musste. »Das Päckchen ist schön, aber du solltest schneller einpacken.« Das kam ihr doch zu barsch vor und so empfahl sie: »Schlag am besten erst alle Bücher in Geschenkpapier ein und binde die passenden Geschenkanhänger daran.« Sie sah, wie Britta blass wurde, und war nun froh, dass sie erst ein Buch verpackt hatte.

»Den Geschenkanhänger habe ich vergessen«, gab Britta kleinlaut zu.

Anja seufzte, sie nahm die Liste und schaute die unverpackten Bücher an, um den Empfänger des verpackten Buchs ausfindig zu machen.

»Das ist für Angelika«, sagte sie und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie sauer war. »Und jetzt husch, husch«, fügte sie hinzu, falls Britta immer noch nicht verstanden haben sollte, dass sie Gas zu geben hatte. Die wirkte denn auch erleichtert, als der »Kriminaltango« einen neuen Besucher ankündigte.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Die beiden Mädchen, die am Vortrag das Suchplakat gebracht hatten, standen in der Tür.

Anja sah auf die Uhr. »Habt ihr schon Schulschluss?«

Die beiden nickten eifrig. »Wir verteilen jetzt weitere Zettel«, erklärte die Größere.

»Das ist sehr gut. Aber sagt mir doch erst einmal, wie ihr heißt«, schlug Anja vor. »Ich bin Anja Henke.«

Die Mädchen nickten. »Das haben wir an der Tür gelesen.«

»Ich bin Emily«, stellte sich die Kleinere vor, die wieder in ihren violetten Anorak gehüllt war, allerdings die Kapuze abgenommen hatte, sodass ihre blonden Locken und die Stupsnase mit einer grünen Brille zum Vorschein kamen.

»Und ich heiße Giulia, meine Eltern kommen aus Italien«, erklärte das andere Mädchen stolz und schüttelte das lange schwarze Haar so, dass es wie ein Fächer über ihre rote Jacke mit den weißen Sternen fiel.

Anja baute sich in Gedanken eine Eselsbrücke, sie ahnte bereits, dass die Kinder häufiger vorbeikommen würden. Aber daran war sie selbst schuld, sie hatte ihnen so etwas wie einen Freifahrtschein gegeben, als sie sich bereit erklärt hatte, Informationen über Hanna zu sammeln.

Giulia ist die Größere, dachte Anja gerade, als die Tür erneut aufging.

»Unerhört!« Die Stimme kam Anja bekannt vor und als sie aufblickte, sah sie die alte Frau, die sie gleich am Morgen mit ihrer wenig hilfreichen Information über Hannas Verschwinden aufgehalten hatte.

»Stellen Sie sich vor«, die Frau achtete nicht darauf, dass sie nicht allein war und polterte weiter: »Nun steht da ein Mann mit einer Klarinette und spielt den ›Schneewalzer‹ furchtbar schlecht. Ich hätte dem am liebsten sein Geld vom Hocker genommen.«

Emily und Giulia sahen die Frau an, und Anja merkte, dass sie fasziniert waren von dem Hut, dem alten Mantel und der Stimme, die sich in dem kleinen Raum wie Nebel ausbreitete.

»Wie Minerva McGonagall in Harry Potter«, flüsterte Emily ihrer Freundin zu und starrte auf das seltsame Outfit, das selbst Anja wieder zum Schmunzeln brachte. Dennoch warf sie den Mädchen einen Blick zu, der deutlich zeigte, dass sie sich ruhig zu verhalten hatten.

»Äh, Frau«, Anja erinnerte sich nicht, dass die Frau ihr ihren Namen genannt hatte, »gnädige Frau, beruhigen Sie sich doch. Wie kann ich Ihnen denn helfen?«

Die Frau sah Anja an. »Na, indem Sie die Polizei rufen. Es ist doch wohl klar, dass dieser Typ die Kleine aus dem Weg geräumt hat, um ihren Platz einzunehmen.«

Emily und Giulia zuckten zusammen und tuschelten.

Anja konnte nur »Hanna« hören und sehen, dass die Größere den Mund öffnete, um die Frau anzusprechen. Das fehlte gerade, dass die alte Frau die Kinder noch mehr verunsicherte. Um das Thema abzuschließen, lachte Anja. »Das kann ich mir nun wahrlich nicht vorstellen«, rief sie. »Plätze für Straßenmusiker gibt es in dieser Stadt nun wirklich genug.« Sie zeigte auf den Platz vor ihrem Laden. »Da steht auch jeden Tag ein anderer Musiker.«

Wie aufs Stichwort baute ein Mann einen blauen Campinghocker auf und holte ein Akkordeon aus dem Koffer.

Anja sah, wie er verstohlen in ein Brötchen biss und einen Schluck aus einem Coffee-to-go-Becher nahm, ehe er sich aufrecht hinstellte und begann »Vom Himmel hoch, da komm ich her« zu spielen.

»Ach, das habe ich als Kind gerne gesungen«, ließ die alte Frau verlauten und ging mit einem letzten »Kriminaltango« aus der Buchhandlung.

Anja seufzte erleichtert. »Das müsst ihr nicht so ernst nehmen, was die Frau sagt«, wandte sie sich an die Mädchen.

»Ach, die hat doch keine Ahnung«, meinte Giulia. »Die ist doch komisch und weiß nicht, dass der Geigenlehrer Hanna entführt hat.«

»Bestimmt hat er Hanna irgendwo eingesperrt, damit er nur für sie spielt«, mutmaßte Emily.

Giulia nickte. »Sie kann wirklich gut spielen«, stimmte sie zu. »Sie wird bestimmt mal eine berühmte Geigerin.«

»Aber zu DSDS kann sie damit nicht«, merkte Emily an. »Das ist auch besser, da melde ich mich nämlich an, wenn ich alt genug bin. Wäre ja blöd, wenn wir gegeneinander kämpfen müssten.«

Erstaunt nahm Anja wahr, wie schnell die Mädchen zwischen den Themen hin und her wechselten. Fast sah es so aus, als wollte Emily gleich hier eine Kostprobe ihres Gesangstalentes geben. Doch das verhinderte Giulia, die sie auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte. »Und wenn er sie umgebracht hat, damit sie nicht verrät, was er mit ihr gemacht hat?«

Emily sackte in sich zusammen und auch Anja spürte wieder dieses unangenehme Gefühl. Sie sah auf die Uhr. Ihre Tochter hatte in wenigen Minuten Schulschluss. Dann begann zwar die heiße Zeit hier im Laden, aber das musste Britta eben ausnahmsweise allein schaffen. Sie würde nur schnell zur Schule fahren und Ida abholen. Sonst hätte sie ohnehin keine Ruhe, das wusste sie. Sie verabschiedete die beiden Mädchen mit dem Versprechen, sich auf jeden Fall bei ihnen zu melden.

Im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie den vollen Namen Hannas nicht wusste.

Giulia gab ihr nicht nur die Adresse der Eltern, sondern auch die des Geigenlehrers. »Den müssen Sie unbedingt überprüfen!«, sagte sie eindringlich, ehe sie mit Emily den Laden verließ.

Kapitel 4

Grüßen verbindet und ist ausdrücklich erwünscht.

Als Anja ihre Tochter in der Schule abholen wollte, reagierte diese empört. »Ich will mit den anderen in die Betreuung«, sagte sie und sah betrübt den Kindern aus ihrer Klasse nach, die fröhlich hinter der bunten Tür verschwanden, die zur Ganztagsbetreuung führte.

Anja kämpfte mit sich. Sie war sonst froh, dass Ida gerne in die Schule ging und mit Freude über Mittag dort blieb. Aber heute hätte sie sie lieber in der Nähe gehabt. Das Bild der verschwundenen Hanna ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Bitte!« Ida stand vor ihr und verzog den Mund zu der Bitt-Schnute, die sie sich als kleines Kind angewöhnt hatte. Der Blick wirkte immer bei ihrem großen Bruder und ihrem Vater und fast immer bei ihrer Mutter.

Anja ging in Gedanken den Nachmittag durch. Es war ihre erste Adventszeit als Buchhändlerin, aber sie konnte sich gut an die letzten Weihnachtsfeste erinnern. Die Innenstadt wurde voller, je näher Weihnachten rückte, und vielleicht kamen weitere Kunden wie das Paar vom Vormittag.

»Na gut«, ließ sie sich von Ida erweichen, die vor Freude hüpfte und ihr einen Kuss auf die Brust gab, weil sie nicht höher kam. Lachend beugte Anja sich zu ihr herunter, um sie zu umarmen. »Aber du musst mir versprechen, dass du nicht allein nach Hause gehst. Papa oder Toby holen dich ab.«

Ihre Tochter schaute leicht verwundert, weil sie sonst immer mit ihren Freundinnen den Heimweg antrat, nickte aber schnell. Sie drehte sich um, ehe sie die Tür zur Betreuung öffnete, und verschwand.

Anja seufzte. »Das waren Zeiten, als die Kinder das gemacht haben, was ich wollte.« Aber wenn sie ehrlich war, freute sie sich darüber, dass ihre Kinder selbstständig waren und selbstbewusst ihren Weg gingen. Sie hoffte nur, dass niemand ihren Weg kreuzte, der ihnen schadete.

»Wer hat Hannas Weg gekreuzt?«, fragte sie sich auf dem Weg zum Ausgang. Der Gedanke an das Mädchen hatte sie gefangen genommen. Sie wusste, er würde sie nicht loslassen, ehe sie Gewissheit hatte, was mit dem Mädchen passiert war. Wie ein Buch, dessen Figuren sie fesselten und mit denen sie mitfieberte. Als Teenager hatte sie sogar Verabredungen abgesagt, weil sie wissen musste, ob die Helden gerettet wurden. Bis zum heutigen Tag las sie weder Bücher noch schaute sie Filme an, die ein offenes Ende hatten.

Aber in Hannas Schicksal konnte sie nicht vorblättern und schauen, ob alles gut ausging. Sie konnte nur abwarten, aber Warten war nicht ihre Stärke. Sie holte den Zettel mit der Adresse von Hannas Eltern und der des Geigenlehrers hervor und stellte fest, dass sie auf dem Weg zur Buchhandlung fast am Haus des Lehrers vorbeikam.

»Zwei Kilometer Umweg sind doch nichts«, zerstreute sie ihre Bedenken und versuchte zu verdrängen, dass der Pavillon vermutlich voller Kunden war.

»Das ist ein gutes Omen«, fühlte sie sich bestätigt, als sie direkt vor dem Haus einen Parkplatz fand. Sie stieg aus, verschloss das Auto und ging auf das Gebäude zu. Ein altertümliches Haus, wie es ein Regisseur sich für einen schrulligen Geigenlehrer ausgedacht hätte. Anja lachte, sie hatte eindeutig zu viele Barnaby-Krimis gesehen.

»Hieronymus Doll«, las sie auf dem Schild neben der einzigen Klingel. »Ob der hier allein wohnt?«, fragte sie sich und schalt sich gleich für diese dumme Frage. Eine Klingel stand für einen Bewohner, es sei denn, er hatte eine Frau, deren Namen nicht auf der Klingel erschien. Aber warum sollte sie nicht auf dem Klingelschild stehen? Gab es das überhaupt noch, dass nur der Mann darauf stand? Das war das Erste, was Oliver getan hatte, nachdem sie und Tobias zu ihm gezogen waren. Er hatte die Klingelschilder um beide Namen ergänzt.

Das laute, altmodische Schrillen der Glocke klang unangenehm, fast bösartig in ihren Ohren. Wie gut, dass Hannas Freundinnen es nicht gehört haben, es hätte sie in ihrem Verdacht nur bestärkt, dachte Anja, ohne dass sie den Geigenlehrer gesehen hatte. Kaum öffnete dieser die Tür, fragte Anja sich, ob die Mädchen den Mann kannten. Er sah genauso aus, wie sie sich immer das personifizierte Böse vorgestellt hatte: groß und hager, mit einem schmalen weißen Haarkranz und einem stechenden Blick, der etwas milder wurde, nachdem der Mann seine Brille aufgesetzt hatte. Vermutlich konnte er einfach ohne Brille nicht gut sehen und fixierte sein Gegenüber deshalb so stark.

»Guten Tag!« Anja ärgerte sich, dass sie sich keinen Grund für ihren Besuch zurechtgelegt hatte. Sie konnte schlecht danach fragen, ob er Hanna bei sich eingesperrt hatte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, das bei dem Mann ebenfalls ein Lächeln hervorrief. »Mein Name ist Anja Henke«, stellte sie sich vor und trat auf die oberste der fünf Stufen der Eingangstreppe, um dem Mann zu zeigen, dass sie gewillt war, ins Haus zu kommen.

»Kuno, Besuch!«, rief der Mann in den Flur und Anja fragte sich, ob er homosexuell war. Dann hätte sich der Verdacht der Mädchen bereits erledigt. Ehe sie sich umwenden konnte, tauchte neben den Beinen des Mannes ein Schäferhund auf, der sie freundlich ankläffte.

»Ich hoffe, Sie haben keine Angst vor Hunden.« Der Mann sah Anja fragend an.

Statt einer Antwort streckte sie die Hand aus und streichelte den Hund. Der Weg zum Herzen der Menschen geht über ihre Tiere. Dieser Geheimtipp aus ihrer Zeit als Fotografin hatte ihr oft gute Dienste geleistet.

»Was kann ich denn für Sie tun?«, erkundigte sich der Mann.

»Ich suche einen Geigenlehrer für meine Tochter«, erklärte Anja. »Sie ist ein Fan von David Garrett und ich würde ihr zu Weihnachten gerne ein paar Probestunden schenken.« Sie staunte über sich, dass ihr diese Geschichte so spontan eingefallen und so flüssig über die Lippen gekommen war.

»Eine schöne Idee«, lobte der Geigenlehrer sie und knöpfte die Weste zu, die er über einem beigefarbenen Hemd trug, das er mit einer karierten Fliege kombiniert hatte. »Kommen Sie doch..« Er hielt Anja die Tür auf und stellte sich vor. »Hieronymus Doll!«

Anja folgte ihm durch den Flur. Vorsichtig setzte sie ihre Füße auf einen uralten Flurläufer, wie sie ihn aus dem Haus ihrer Großeltern kannte. Der Läufer war nicht das Einzige, das sie an die Einrichtung der Großeltern erinnerte. Auch der altmodische Schirmständer und die Wandgarderobe mit Hutablage, auf der sogar ein einzelnes Hütchen lag, ließen sie an eine frühere Zeit denken.

Anja nahm auf einem der altmodischen Stühle Platz und beobachtete den Mann. Er hatte eine widersprüchliche Ausstrahlung. Wenn er mit seinem Hund sprach, wirkte er freundlich und gütig. Sein Aussehen ließ einen jedoch zurückschrecken und die Kleidung schien aus einem anderen Jahrhundert zu stammen.

»Oh, Entschuldigung, ich habe Ihnen gar nichts angeboten.« Nun sprang er wieder auf und kam wenig später mit zwei Gläsern und einer Karaffe zurück.

»Das ist nur Wasser, aber ich lege großen Wert auf Etikette«, erklärte er. »Flaschen gehören einfach nicht auf den Tisch«, führte er aus.

Anja fühlte sich ertappt. Bei ihnen stand das eine oder andere Mal eine Wasserflasche auf dem Esstisch. Schnell beugte sie sich zu dem Hund hinunter, der neben ihrem Stuhl stand und sie abwartend anhechelte.

»Die Mutter von Hanna hat mir den Tipp gegeben«, sagte sie, während Hieronymus Doll das Wasser aus der Karaffe in die Gläser goss.

Die Hand mit der Karaffe zitterte, als sie Hanna erwähnte, da war sie sich ganz sicher, wie sie sich auch sicher war, dass Hannas Freundinnen recht hatten. Hundefreund hin oder her, der Mann war merkwürdig. Nun sprang er auf, um die Untersetzer für die Gläser zu holen, die er vergessen hatte.

Anja traute ihren Augen nicht, als er mit kleinen Glastellerchen zurückkam, die von gehäkelten Deckchen bedeckt waren. Es wirkte für sie so, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Zuerst diese Lehrerin und nun dieser nicht weniger denkwürdige Geigenlehrer. Es wurde Zeit, dass sie aufwachte und sich wieder in den wahren Alltagstrubel stürzte. Doch vorher lauschte sie darauf, was Hieronymus Doll über Hanna zu sagen hatte.

»Das arme Mädchen. Eine echte Begabung, aber dieser Vater. Menschen sind keine Tiere, man kann sie nicht dressieren und keiner lernt ein Instrument, wenn ein Dompteur mit der Peitsche hinter ihm steht.«