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Köln 1715. Giovanni Maria Farinas Aussichten sind düster. Es ist die Zeit der Hungersnöte, Kriege und Vertreibung, der Markt für Luxuswaren wie Parfüm droht völlig einzubrechen. Zudem muss sich der Erfinder des Eau de Cologne gegen skrupellose Rivalen zur Wehr setzen. Sein größter Widersacher ist der selbst ernannte Graf Gondo. Es ist der Mann von Giovannis großer Liebe Antonia – der Mann, der zwischen ihm und dem Glück steht. Der Mann, der ihn um jeden Preis vernichten will.
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Seitenzahl: 451
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Ina Knobloch lebt und arbeitet in Frankfurt und Costa Rica. Nach ihrer Promotion in Botanik hat sie bei verschiedenen Medien volontiert und erstmals publiziert. Seither arbeitet sie als Regisseurin, Produzentin und Schriftstellerin. Für ihre Recherchen hat sie die ganze Welt bereist und Medizinal- und Duftpflanzen aufgespürt, die in ihre fiktionalen wie nicht-fiktionalen Werke einfließen, von Piratengeschichten bis zum Parfümeur von Köln.
Dieses Buch ist ein Roman, basierend auf einer wahren Geschichte, der Geschichte von Johann Maria Farina (geboren 1685 in Santa Maria Maggiore, Piemont, gestorben 1766 in Köln), dem wohl größten Parfümeur der Historie. Nach »Farina– Der Parfümeur von Köln«(Emons 2015) erzählt dieser Roman die Fortsetzung der Geschichte bis 1716. Die Kundenliste der Farinas* liest sich wie das »Who is who« des18. und 19.
© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: shutterstock.com/Nejron Photo Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Christina Kuhn eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-113-0 Historischer Roman Originalausgabe
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Für meine Mutter
Nichts ist, was Gift ist,allein die Dosis macht,dass ein Ding kein Gift ist.
Frei nach Paracelsus (ca. 1493–
1. KAPITEL
BELLEJECK
Eine traditionsreiche Kölner Narrenfigur, die schon vor über 500Jahren bekannt war, auch Schellennarr(»Belle« bedeutet Klingel/Schelle und »Jeck« Narr), die inzwischen wieder eine Rolle beim Kölner Karneval spielt. Nur zu Karneval war es dem Volk erlaubt, die Obrigkeit aufs Korn zu nehmen. Dabei spielt der Bellejeck eine zentrale Rolle, trägt satirische Reime vor und macht mit seinen Schellen auf sich und sein Narrengefolge aufmerksam.
Köln, Ende Februar/Anfang März 1715
Giovanni roch das Unheil, als er auf die Straße ging. Der Schnee schmolz unter der spätwinterlichen Sonne und vermischte sich mit dem Unrat der Gassen zu hässlichem braunen Matsch. Alles in allem kein Tag, um auf die Straße zu gehen. Hätte Giovanni auch nur ansatzweise geahnt, was auf ihn zukommen würde, wäre er ganz sicher im Haus geblieben und hätte sich in sein Labor verkrochen. Er hatte es zwar gerochen, doch der junge Mann mit der einzigartigen Nase ging nicht so selbstsicher durch das Leben, wie es schien. Seine fast übernatürliche Gabe war ihm manchmal selbst unheimlich.
Es hätte doch absurd geklungen, wenn er seinem Bruder Baptist gesagt hätte, dass er das Haus nicht verließ, weil er Unheil roch. Zumal er am Tag zuvor mit Baptist gerade noch darüber gestritten hatte, dass er besser persönlich ginge und keinen Boten schicken wolle. Jetzt, da er Teilhaber der »Fratelli Farina« war, sollte er sich gefälligst Zeit für das Geschäft nehmen und nicht herumflanieren, hatte Baptist gewettert und süffisant hinzugefügt: »Jetzt kannst du deine Nase nicht mehr nur in die schönen Dinge des Lebens stecken! Vanitas, mein Lieber!«
Die Litanei war noch weitergegangen. Gerade jetzt an Karneval stünden die Leute Schlange– und zwar nicht für sein Wässerchen! Kurz: Baptist glaubte noch immer nicht so recht daran, dass Giovannis »Eau de Cologne« das Geschäft der Farinas zum Erfolg führen würde. Obwohl genau das zu Weihnachten ja der Fall gewesen war. Dickköpfig, wie Giovanni auch sein konnte, hatte er durch den Disput erst recht darauf beharrt, persönlich den Boten zu spielen, und konnte jetzt schlecht einen Rückzieher machen.
Und es war ausgerechnet Giovannis einflussreicher Freund Levallé, dem er versprochen hatte, persönlich eine Rosolie seines exquisiten Aqua mirabilis vorbeizubringen. Levallé war nicht nur ein einflussreicher Freund, sondern fast Familie, schließlich war Giovanni Taufpate von Levallés ältestem Sohn. Daher gestand er Levallé auch einen Fauxpas zu: Giovanni hatte es eigentlich untersagt, dass sein edles Duftwasser weiterhin »Aqua mirabilis« genannt wurde– viel zu beliebig, verwechselbar und keinesfalls einzigartig. Nun war Levallé eben nicht nur ein Freund seit vielen Jahren, auch die Auftragsbücher waren nicht gerade voll. Ansonsten tat Giovanni tatsächlich, als ob er nicht wüsste, wovon die Leute redeten, wenn sie nach seinem Aqua mirabilis fragten. Sein »Eau de Cologne« war ein Parfüm feinster Sorte, betonte er stets. Es war etwas völlig Neues, Musik für die Nase, und sollte auf keinen Fall mit den unzähligen und oft miserablen Wunderwassern in einem Atemzug genannt werden.
Selbstverständlich war auch Giovannis »Eau de Cologne« genießbar –hervorragend sogar–, niemand konnte einen besseren Brand destillieren als Giovanni, aber die Einzigartigkeit seines flüssigen Goldes war eine andere, eine ätherische. Es war ein ganz und gar den Körper einhüllendes, erfrischendes, belebendes Elixier, mit nichts Irdischem auf dieser Welt vergleichbar.
Auch die Kölner werden es schon noch begreifen, dass nicht jedes Aqua mirabilis Wunder bewirkt, sondern dass der Duft allein ein Wunder ist, dachte Giovanni, als er auf den Heumarkt zusteuerte und der Gestank bäuerlicher Ausdünstungen immer heftiger wurde. Giovanni zog ein Seidentuch aus der Tasche und hielt es sich schützend vor die Nase. Es war nicht irgendein edles Tuch aus feinster Seide, das fast täglich über die Ladentheke der Farinas wanderte, es war Giovannis größter Trost. Nicht, weil dem Gewebe die zarten, frischen Düfte von Bergamotte, Neroli, Jasmin, Lavendel und allen anderen Essenzen entströmten, die Giovannis »Eau de Cologne« so einzigartig machten. Das zeichnete die Tücher der Fratelli Farina neuerdings alle aus. Diese Beduftung der Tuchware hatte dem Geschäft schon einigen Erfolg beschert und war für Giovanni das selbstverständliche und unverzichtbare Odeur, das ihn stets begleitete. Das Besondere an diesem Stück Stoff, das sich Giovanni jetzt unter die Nase hielt, war der Duft einer Frau, den die Seide ventilierte. Nicht irgendeiner Frau, es war das Odeur von Giovannis großer und einziger Liebe: Antonia Brentano.
Keine Woche war es her, dass er mit diesem Tuch sanft ihren Venushügel gestreichelt und gierig ihre süßen Säfte aufgesogen hatte. Und unerträglich der Gedanke, dass sie jetzt schon bald wieder zu ihrem widerlichen Gatten zurückkehren würde. Es tröstete ihn auch wenig, dass Antonia mit den Kindern einen eigenen Flügel im Schloss Gondo bewohnte und Bernardo weniger begegnete als der Dienerschaft. Allein, dass sie mit seinem Erzfeind unter einem Dach wohnte, machte ihn ganz wahnsinnig, auch wenn es nur für ein paar Wochen im Jahr war.
Gedankenverloren drückte Giovanni sein »Zauberläppchen«, wie er das Tuch liebevoll nannte, fester an die Nase, als ihn ein närrisch gekleideter, wild umherspringender Mann von hinten anrempelte. Dabei bimmelte er mit seiner Glockenkappe so laut, dass Giovanni für den Bruchteil einer Sekunde der Schutz seiner Ohren wichtiger war als seine Nase– und das bedeutete viel bei Giovanni Maria Farina.
Dem Bellejeck folgte ein nicht minder wildes, tanzendes, singendes und vermummtes Volk. Giovanni hätte es vorher wissen müssen, er lebte nun lange genug in Köln: Der Donnerstag vor Fastnacht war kein guter Tag, um auf die Straße zu gehen. Gerade eben konnte er dem Schlag der Pritsche entgehen, mit der der närrische Bauernanführer herumwedelte. Mit der anderen Hand malträtierte er eine Pomeranze, deren feinherber Geruch Giovanni etwas besänftigte, was dem jecken Bauernführer nicht entging. »Der feine Herr liebt die Pomeranzen viel mehr als die Wanzen, sein Wunderwasser macht ihn auch nicht schöner, und für uns Bauern hat er auch nur Höhner«, sang der Jeck schief und schrill, begleitet von seinem sonderbaren Orchester.
Giovanni beeilte sich und bog in die nächste Gasse ab, obwohl die Salzgasse überhaupt nicht auf seinem Weg lag. Der Kölner Karneval hatte so wenig mit dem eleganten venezianischen Treiben zu tun, dass Giovanni sich fragte, ob er sich jemals daran gewöhnen würde. Natürlich wusste er, dass die hiesigen Bauern ihn für arrogant hielten und sein »Eau de Cologne« für völlig überteuert. Sollten sie doch bei Feminis kaufen, wenn sie billige Wässerchen haben wollten.
Darüber hatte er schon oft mit seinem Bruder Baptist gestritten, der der Meinung war, sie sollten im Laden ein Aqua mirabilis anbieten, das sich das Volk auch leisten kann. Giovanni war da ganz anderer Ansicht, billige Essenzen und schlechter Branntwein beleidigten nur die Nase. Dafür hätte er nicht in Baptists Firma einzusteigen brauchen.
Nun musste er leider zugeben, dass ohne die Hilfe der Medici die erlesene Kundschaft, die sie brauchten, vielleicht noch nicht einmal ausreichend wäre, um zumindest so viel »Eau de Cologne« zu verkaufen, dass sie wenigstens die Ingredienzien hätten bezahlen können. Aber darüber brauchte er sich den Kopf jetzt nicht zu zerbrechen, die Medici hatten zu Weihnachten so viele Rosolien gekauft, dass die Farinas unbeschwert ins Jahr 1715 hatten feiern können. Für den Moment war es auch nicht mehr weiter tragisch, dass die Gewinne aus den Investitionen in die South Sea Company noch auf sich warten ließen. Über billige Waren fürs einfache Volk brauchte er sich jetzt wenigstens keine Gedanken zu machen.
Es war verständlich, dass ihn manche Leute für arrogant hielten und leider auch einige ehrenwerte Bürger. Aber lieber arrogant als unerträgliche Gerüche, war das Credo von Giovanni, den das Odeur von Fäkalien mehr schmerzte als ein handfester Hieb. So hatte ihn auch weniger das tölpelhafte Herumgeschubse als vielmehr die Ausdünstungen und Flatulenzen des Bellejeck und seines Gefolges gestört.
Gedankenverloren, mit dem Tuch dicht an der Nase, schlenderte Giovanni weiter durch die Gassen, umringt von immer mehr lärmenden Jecken mit sonderbarem Mummenschanz. Vor allem Weibsbilder liefen kreischend durch die Stadt. Unversehens fand er sich in einer Menschenmenge vor dem Dom wieder. Ein Mob, der ihn umkreiste, stinkend, grapschend, widerlich. Überall waren Hände, schmutzige Finger, die ekelerregend zu seinem Körper fanden. Alkohol hing in der Luft, vermischte sich mit dem fauligen Atem bäuerlichen Gesindels. Giovanni schnappte nach Luft, suchte nach einem Ausweg aus der immer dichter werdenden Rotte von Leibern. Er wusste nicht, ob Männlein oder Weiblein ihn verhöhnte, und schrie jetzt aus vollem Halse. Mal waren es kleine, mal grobe, ledrige Hände, die ihn scheinbar lustvoll betatschten.
Es war ein Alptraum. Giovanni schlug jetzt wild um sich, halb benommen, halb in wilder Raserei. Sein geliebtes Tüchlein hielt er fest umklammert, und als er mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, wehte es wie eine kleine Friedensflagge in der Luft.
Weit und breit war kein Ordnungshüter zu sehen. Die Polizei ließ den Mob gewähren, Narrenfreiheit an Fastnacht. Wie sollte es auch anders sein in Köln, wenn der Bellejeck mit seinem Gefolge die närrischsten aller Tage einläutete? Noch immer schlug Giovanni um sich, doch langsam schienen die geifernden Greifer sich zu entfernen und ihm eine Gasse in die Freiheit zu gewähren. Es geschah, als Giovanni ein letztes Mal ausholte, um sich den Weg aus dem tobenden Mob zu bahnen: Seine Rosolie flog in hohem Bogen über die närrischen Köpfe und zerschellte laut klirrend auf dem harten Pflaster vor dem heiligen Dom.
Giovanni hatte nicht bemerkt, dass die grapschende Meute ihm nicht nach Leib und Leben getrachtet, sondern geschickt nach ganz irdischen Gütern gegriffen hatte. Gut, dass er keinen Beutel mit Münzen bei sich trug, den wäre er jetzt sicher auch los gewesen. Schlimm genug, dass er jetzt zu Levallé mit leeren Händen kommen würde.
Als Giovanni noch geschockt nach Luft schnappte und überlegte, ob er den Vorfall der Polizei melden solle, stieg ihm plötzlich der wohlvertraute, beruhigende Geruch seines frischen und belebenden »Eau de Cologne« in die Nase.
Und nicht nur ihm. Die Narren verharrten, der Mob blieb still, die Glocken des Bellejecks verstummten, und alle schnupperten verzückt das Odeur, das vor den Toren des heiligen Doms wie ein herrlicher Dschinn den Scherben entstieg. Betört und berauscht, beglückt, friedlich und sich umarmend löste sich die Menschenmenge auf, und Giovanni stand plötzlich fast allein vor den Scherben seines Lebenswerks. Zwar war es nur eine Rosolie, und Giovanni war der Gralshüter des Jungbrunnens, den er immer wieder zum Sprudeln bringen konnte, aber es erschütterte ihn zutiefst.
Das mit dem Gralshüter des Jungbrunnens war vielleicht ein wenig übertrieben, aber gefallen hatte Giovanni die virtuose Beschreibung seines Freundes Antonio Vivaldi schon. Vielleicht lag sein anfänglicher Schock über die eine zerbrochene Flasche daran, dass sie vor dem heiligen Dom zu Bruch gegangen war und jetzt wie Scherben zerbrochenen Glücks vor ihm lag, wie ein schlechtes Omen, wie ein Memento mori. Vor allem wenn er daran dachte, wie ihm die Rosolie entrissen worden war. Ihm wurde übel beim Gedanken an die erniedrigenden, ekelerregenden, einschüchternden Sekunden. Minuten? Stunden?
Doch das Odeur seines vaporisierten »Eau de Cologne« hatte Giovanni beruhigt und erfrischte ihn nun vollends. Der göttliche Duft hüllte auch den Kölner Dom wie eine schützende Aura ein. Strammen Schrittes setzte er jetzt seinen Weg fort zur feudalen Residenz seines lieben Freundes Levallé in der Rheingasse. Obwohl der Grund seines Besuchs im wahrsten Sinne des Wortes entfallen war, wollte Giovanni auf gar keinen Fall umkehren und sich erneut den Weg durch die Narren bahnen. Er würde sich von Levallé später die Kutsche spannen lassen und bei seiner Ankunft im Ladengeschäft der Farinas dem ehrenwerten treuen Kutscher eine oder vielleicht auch zwei Rosolien anvertrauen, die er sicher und unbeschadet in die Rheingasse zurückkutschieren würde. Levallé würde das verstehen, sie kannten sich nun lange genug.
Levallé verstand nicht nur, er amüsierte sich auch köstlich. »Wie konntest du dich nur am heutigen Tag zu Fuß auf die Straße wagen? Das ist närrisch! Die Welt steht heute kopf, gut ist böse, böse ist gut, oben ist unten, und die Weiber haben das Sagen. Das ganze Jahr gehen ihnen die Männer an die Wäsche, und sie fügen sich geduldig, und einmal im Jahr dürfen sie es eben den Mannsbildern zeigen. Dafür geben sie dann wieder den Rest des Jahres Ruhe. Lass den Bauerntölpeln doch auch ihr Vergnügen. Aber was mischst du dich da ein?«
Giovanni lehnte sich zurück und schwenkte die klare Flüssigkeit in seinem Glas. Bevor er einen Schluck nahm, inhalierte er den frischen leicht bitteren Geruch, der dem Genever entstieg. Langsam breitete sich der Alkohol in seinem Körper aus, und als die wohltuende Wirkung des Wacholders einsetzte, war er bereit zu antworten. »Ich weiß, ich bin schon so viele Jahre in Köln und sollte wissen, dass dies der einzige Tag im Jahr ist, an dem man ganz sicher nicht auf die Straße gehen sollte. Zumindest unsereins nicht. Aber trotzdem vergesse ich immer, wie es hier zugeht. Für mich gehört der Karneval immer noch zu Venedig– herrlich! Ausgelassen und trotzdem nonchalant, und zu keiner anderen Jahreszeit triffst du so viele interessante Menschen aus aller Welt. Und hier begrapschen dich die Barbaren wie Freiwild und rauben dich obendrein noch aus.«
»Stopp, stopp, stopp.« Lavalle hob beschwichtigend die Hand. »Die Kölner sind feine Bürger und die Bauern kein Gesindel!« Und bevor er fortfuhr, nippte er ein wenig theatralisch an seinem Genever. »Wenn das Volk einmal im Jahr den Adel aufs Korn nimmt, kann das auch sehr amüsant sein. Aber was du schilderst, klingt beunruhigend.«
»Allerdings!«, erwiderte Giovanni empört. »Amüsant war an dem Vorfall gar nichts, und ich überlege immer noch, ob ich die Sache nicht melden soll.«
»Würdest du die Täter denn wiedererkennen?«
»Wenn andere vom Wiedererkennen sprechen, meinen sie stets das Antlitz mit den Augen, ich würde allerdings meine Nase benutzen und mich im Zweifelsfall lächerlich machen.«
Levallé verdrehte die Augen. »Man könnte meinen, deine Gabe wäre eine Behinderung, wenn man dich so reden hört.«
»Nun, eine Bürde ist sie jedenfalls oft.«
»Mag sein, aber wenn du mit deiner schweren Bürde…«, Levallé zwinkerte seinem Gegenüber amüsiert zu, bevor er ernst fortfuhr, »…also, wenn du recht hast, dann waren die Übergriffe alles andere als normal. Das sind Unruhen, und wenn du mich fragst, können das nur die Protestanten gewesen sein.«
Giovanni setzte sich erstaunt auf. »Wieso die Protestanten? Die hat der Rat doch gerade erst aus der Stadt getrieben?«
»Gerade deshalb! Und zwei ihrer Kirchen haben sie auch noch abgefackelt, wer immer das auch war, die Protestanten selbst sicher nicht.«
»Und du meinst, sie haben sich gerächt? An mir unschuldigem Bürger?« Giovanni begann erst langsam zu verstehen, was Levallé sagte, und er musste zugeben, dass er bislang die Ausführungen des Christoph Andreae zur Vertreibung der Protestanten aus Köln für eine etwas übertriebene theatralische Inszenierung gehalten hatte. Aber Giovanni musste eingestehen, dass er sich nie sonderlich für die Tuchhändlerfamilie und die anderen, die aus Köln gejagt worden waren, interessiert hatte, obwohl sein Bruder und seine Mutter dauernd davon geredet und beide ja auch geholfen hatten, dass der Pfälzer Kurfürst die Vertriebenen in Mülheim aufgenommen hatte.
»Ich habe es gesehen, Giovanni, wie die Häscher die Protestanten durch die Gassen gejagt und gedemütigt haben. Die Andreaes haben es noch gut getroffen und schnell gehandelt, wer länger blieb, wurde wie Freiwild gejagt. Es sind deine Landsleute, Giovanni, du hast Glück, dass du in die richtige Kirche gehst.« Levallé lachte. »Das ist ja auch nicht schwierig hier in Köln, so viele Kirchen habe ich selbst in Rom nicht gesehen.«
Giovanni hatte keine guten Erinnerungen an die Flüchtlinge aus seiner Kindheit, was aber vor allem daran lag, dass die armen Menschen unter erbärmlichen Umständen durchs Land gezogen waren und selbstverständlich kein florales Odeur vaporisiert hatten. Das heißt, die meisten hatten erbärmlich gestunken, als sie in seinem Heimatort Santa Maria Maggiore ankamen. Und im Jahr seiner Geburt muss es besonders schlimm gewesen sein. Mit dem Edikt von Fontainebleau hatte LudwigXIV. Hunderttausende Hugenotten in die Flucht geschlagen, und es kamen jedes Jahr neue. Bei einem Verbrechen wurde in katholischen Städten und Gemeinden vorzugsweise Protestanten und Juden die Schuld in die Schuhe geschoben und umgekehrt.
Als Giovanni nichts erwiderte, gab Levallé zu bedenken: »Solange der Sonnenkönig lebt und regiert, wird sich die Situation auch nicht verbessern, zumindest nicht für die Protestanten. Aber ihr seid ja glücklicherweise Katholiken, und du solltest meine Beziehungen an den Hof nutzen, solange der König noch lebt– und das wird nicht mehr lange sein.«
»Nichts wäre mir lieber als das, mein verehrter Freund– aber gegen den Hofparfümeur habe ich keine Chance, auch wenn mein ›Eau de Cologne‹ viel edler und raffinierter ist als alles, was der König unter die Nase gehalten bekommt.«
»An Überzeugungskraft mangelt es dir jedenfalls nicht, du solltest mich nach Paris begleiten und meine Cousine mit deinem Duft bezirzen, alles Weitere wird sich ergeben. Aber erst nach meiner Kur in Aachen. Daher bat ich auch nur um das eine Fläschchen. Ich werde nach der Kur nicht nach Köln zurückkehren, sondern direkt nach Paris weiterreisen.«
Giovanni, der noch immer ein wenig benommen war von den Ereignissen am Dom, kramte, statt zu antworten, seine Uhr aus dem Rock. »Ich weiß nicht, Levallé, es ist schon spät.«
Als einzigen seiner Freunde nannte er Levallé nicht bei seinem Vornamen Bernard. Es war eine Mischung aus Respekt, weil Levallé mit dem französischen König indirekt verwandt war, und einer Abneigung dem Namen gegenüber, denn seit seiner Kindheit war ihm niemand mehr verhasst als Bernardo, der das eheliche Bett mit seiner geliebten Antonia geteilt hatte und noch immer mit ihr unter einem Dach wohnte.
Levallé kannte Giovanni nun schon seit so vielen Jahren, und die manchmal zerstreute Art seines Freundes amüsierte ihn. Geduldig wartete er, bis Giovanni fortfuhr. »Gib mir ein wenig Zeit, ich muss mit Baptist sprechen, er beschwert sich ohnehin schon, dass ich mich nicht genug um das Geschäft kümmere. Und die Messe in Frankfurt darf ich auf keinen Fall versäumen, vor allem wegen Antonia.«
Bei dem Gedanken an Antonia zog Giovanni das Seidentuch aus seinem Rock und hielt es sich sehnsüchtig unter die Nase. Levallé wechselte taktvoll das Thema, und die beiden parlierten noch ein wenig über Gott und die Welt– vor allem über die Welt, um die es zurzeit nicht zum Besten bestellt war. Die Bauern rebellierten, weil sie sich von dem Eiswinter 1709 und den darauffolgenden Missernten und Hungersnöten noch nicht richtig erholt hatten und sich von der Obrigkeit mit den Folgen alleingelassen fühlten; sie sprachen über die Bauern, die rebellierten, den Frieden von Utrecht, der nicht den rechten Freihandel ermöglicht hatte und den Spaniern nach wie vor die Handelsherrschaft über die lukrativen Kolonien in Südamerika gewährte, und die Pest, die wieder zurückgekehrt war. Und natürlich die Giftmorde, dem Lieblingsthema von Levallé, der die Hinrichtungen der Brinvilliers und der Tufania als »Köpfung der Hydra« bezeichnete, der längst zahlreiche Köpfe gefolgt waren. Alles in allem keine erbaulichen Themen, aber sie lenkten Giovanni von seinen eigenen, vergleichsweise geradezu lächerlichen Problemen ab.
Giovanni steckte sein trostspendendes Taschentuch wieder in den Rock und zog noch einmal seine Uhr heraus, woraufhin er hektisch aufsprang und sich zum Gehen anschickte. »Levallé, mein Freund, es ist höchste Zeit. Den Kutscher schicke ich umgehend mit einer, nein, besser mit zwei Rosolien zurück. Ich hoffe, wir sehen uns bald.«
»Denk an Paris! Aber vorher solltest du mich unbedingt in Aachen besuchen. Ich möchte dir gern jemanden vorstellen. Die Medici und der Kurfürst haben sich dort auch für die Fastenzeit avisiert. Du bist herzlich eingeladen, Antonia natürlich auch.«
Giovanni fröstelte noch auf dem ganzen Heimweg, obwohl er bequem in der Kutsche saß. Nach Antonias Abreise hatte er sich derart in die Arbeit gestürzt, sich ganz in seinen Düften verloren, um die Leere in seiner Brust zu füllen. Nur einen einzigen Brief hatte er Antonia geschrieben und nie daran gedacht, dass Antonia vielleicht in Gefahr sein könnte– nach allem, was im letzten Jahr geschehen war. Bernardo besaß Mittel, Macht und Ingredienzien, um fast jeden unauffällig zu beseitigen, wenn er es wollte. Aber nein, dachte Giovanni, Antonia hatte ihm glaubhaft versichert, dass er sich das nicht trauen würde. Wenn ihr etwas zustieße, würden ihre Eltern und vor allem die Medici –er selbst natürlich auch
2. KAPITEL
PAULLINIS »HEILSAME DRECK-APOTHEKE«
Das Werk des Arztes und Universalgelehrten Christian Franz Paullini erschien 1696 im Verlag Friedrich Knoche, Frankfurt am Main. Darin verbreitete er die Lehre der »heilsamen« Wirkung von Kot, Urin, Knochen, Speichel und sonstiger unappetitlicher tierischer oder menschlicher Auswürfe. Die »Heilsame Dreck-Apotheke« avancierte zu einem wahren Bestseller.
Genfer See, Anfang März 1715
Die noch winterkalte Sonne warf messerscharfe Strahlen auf die vielen bunten Butzenscheiben des Schlosses Gondo. Antonia, die nur ungern in dem meist finsteren Gemäuer weilte, empfand ausnahmsweise einmal Freude in den Hallen ihres verhassten, aber leider vor Gott anvertrauten Gatten. Ihre Freude lag weniger an den bunten Strahlen, die über den Schlossflur tanzten, als vielmehr an der Tatsache, dass sie –bis auf die Dienerschaft– mit den Kindern ganz allein im Schloss weilte, was an den wenigen Tagen im Jahr, die sie tatsächlich im Schloss verbrachte, äußerst selten vorkam. Und wenn Antonia recht überlegte, war es bis jetzt überhaupt noch nicht vorgekommen, jedenfalls nicht, seit sie Giovanni wiedergetroffen und die dunklen Machenschaften ihres »ehrenwerten« Gatten entlarvt hatte. Noch immer wurde ihr übel, wenn sie daran dachte, wie sie auf Bernardos gestreute Lügen hatte hereinfallen können, Giovanni würde sie nicht lieben und fühle sich zu Männern hingezogen. Aber am schlimmsten war, dass er es dann auch noch geschafft hatte, sie mit seinem Reichtum zu blenden und so zu bezirzen, dass sie schließlich seinem Werben nachgegeben und ihn geheiratet hatte. Schon als Kinder waren Giovanni und Bernardo Erzfeinde gewesen, und Bernardo hatte alles darangesetzt, Giovanni zu zerstören, und ihm das Wichtigste seines Lebens genommen: seine große Liebe. Es hatte Jahre gedauert, bis sie das Spiel durchschaut und wieder zueinandergefunden hatten. Das Einzige, was Antonia noch bei ihrem verhassten Gatten hielt, waren ihre gemeinsamen Kinder, die bedauerlicherweise auch ihren Vater abgöttisch liebten.
Jedenfalls hatte Antonia riesigen Spaß, mit ihren Kindern und Cecilia, die schon Antonia großgezogen hatte und sich jetzt um deren Kinder kümmerte, in dem weitläufigen Schloss mit seinen unzähligen Erkern, Kammern und Nischen Verstecken zu spielen. Gerade waren sie im Ostflügel des Erdgeschosses angelangt, und Antonia stand am Anfang des Korridors, hielt sich die Augen zu und zählte, während Cecilia sich mit Anna und Anton versteckte. Während Anna die schon ein wenig erschöpfte und schnaufende Cecilia hinter sich herzog und nach einigen Metern in einen Wandschrank bugsierte, in den sie sich ebenfalls quetschte, suchte Anton nach einem eigenen Versteck und war fast erschrocken, als sich ausgerechnet die größte Tür öffnen ließ. Außer in ihrem eigenen Westflügel –und dort auch nur in den oberen Etagen, die Antonia mit den Kindern, Cecilia und ihren Hausmädchen bewohnte– waren die Türen zu den Zimmern und Sälen stets verschlossen oder bewacht. Bernardo wollte das edle Mobiliar angeblich vor schmutzigen Kinderfingern schützen.
Allerdings war Anton nicht nur erstaunt, als sich die riesige Tür quietschend öffnete, sondern vor allem neugierig. Zwar hatte er die meisten Säle des Schlosses in Anwesenheit seines Vaters bereits gesehen, aber was sich hinter dieser Tür verbarg, davon hatte er keine Ahnung. Vorsichtig schloss er die Tür von innen und achtete darauf, dass sie möglichst leise wieder ins Schloss fiel. Anton brauchte ein paar Minuten, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen, und wäre beinahe die breite, ausladende Treppe hinabgestürzt. Zum Glück hatte er gerade in dem Moment, als er nach vorn schleichen wollte, bemerkt, dass er sich auf dem oberen Absatz einer Treppe befand. Es war nicht so eine Kellertreppe, wie er sie vom Westflügel kannte, die schmal und staubig und von mancher Spinnwebe durchzogen hinabführte. Die Köchin hatte sie manchmal mit in die düsteren Gewölbe genommen, wenn sie Vorräte holen musste. Im Gegensatz dazu war diese Treppe hochherrschaftlich aus Marmor.
Anton schlich neugierig hinab. Die Darstellungen nackter Frauen, Männer und Kinder in eindeutigen Posen, mit und ohne Gewalt, sah er zunächst nicht. Seine Augen waren ganz im Bann der unzähligen Folterinstrumente, die fein säuberlich an den Wänden aufgereiht waren oder von der Decke hingen. Die furchterregenden Folterinstrumente umrahmten ein riesiges Bett, das in der Mitte des Saals aufgebahrt war wie ein Altar. Anton war gelähmt vor Schreck. Noch nicht einmal ein leiser, heiserer Schrei drang aus seinem weit aufgerissenen Mund.
Antonia suchte noch immer scherzhaft nach ihren Kindern und Cecilia, obwohl sie längst das Kichern aus dem Wandschrank gehört hatte. Übermütig rannte sie über den Korridor, rief immer wieder: »Anna, Anton, Cecilia, wo seid ihr nur? Ich kann euch gar nicht finden!« Sie öffnete hier eine Tür und dort, ohne zu schauen, was sich dahinter verbarg. Hauptsache, die Suche machte ordentlich Geräusche und die Kinder hatten ihren Spaß daran, wie sich ihre Mutter vermeintlich abmühte, um sie zu finden. Als Antonia die meisten Türen schon zweimal geöffnet hatte, ging sie endlich zu dem Wandschrank, um mit gespielt großem Erstaunen festzustellen, dass sich die Kinder ja so gut versteckt hätten, dass sie sie beinahe überhaupt nicht gefunden hätte.
Als sie jedoch feststellen musste, dass sich in dem Versteck nur Anna und Cecilia befanden und von Anton keine Spur war, musste sie ihren Schreck nicht spielen. »Wo ist Anton?«, schrie sie, ohne zu wissen, weshalb sie plötzlich von Panik erfasst war. Antonia wusste selbst, dass sie nirgends richtig gesucht hatte, da sie sicher war, alle in diesem einen Wandschrank zu finden. Trotzdem konnte auch Cecilia sie nicht beruhigen. Nachdem sich das etwas in die Jahre gekommene Kindermädchen mühsam aus dem engen Wandschrank geschält hatte, legte sie beruhigend eine Hand auf Antonias Arm. »Du hast doch bestimmt nicht richtig gesucht und weißt, dass Anton viel besser stillhalten kann als Anna.«
Antonia nickte und versuchte, ihre Unruhe zu unterdrücken. Es dauerte eine Weile, bis Antonia mit Cecilia und Anna im Schlepptau alle Räume, Nischen und Erker durchkämmt hatte und schließlich zu der großen Tür kam, die sich auch zu Antonias Verwunderung öffnen ließ. Immer wieder rief Antonia so laut sie konnte nach Anton, und auch Anna und Cecilia riefen nach ihm. Noch bevor Antonia etwas sehen konnte, umgab sie eine düstere Beklemmung. Während Anton die nackten Leiber auf den Gemälden am Treppenabgang nicht bemerkt hatte, waren die orgiastischen Darstellungen das Erste, was Antonia förmlich ansprang, als sich ihre Augen langsam an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Fast im selben Augenblick hörte sie leises Gewimmer. Wie ein Häufchen Elend hockte Anton am Fuße der Treppe. Antonia stürzte fast die Treppe hinunter, nahm ihren Sohn sofort in die Arme und drückte sein Köpfchen an ihre Brust. Die Utensilien des Horrorkabinetts konnte sie noch aus den Augenwinkeln sehen. Ihr Herz raste, während sie die Treppe hinaufging.
Auch um sich selbst zu beruhigen, redete Antonia besänftigend auf Anton ein. »Du Versteckkünstler! Beinahe hätten wir dich gar nicht gefunden. Jetzt brauchen wir aber erst mal eine Pause.« Als Antonia den Korridor erreicht hatte, küsste sie ihren Sohn sanft auf die wuscheligen Haare und setzte ihn ab. Cecilia sah die Leichenblässe in Antonias Gesicht und wusste das Stichwort »Pause« sofort richtig zu deuten. Mit Anna an der Hand, gefolgt von Antonia und Anton, steuerte sie zielsicher auf die Küche zu und gab der Magd die richtigen Anweisungen.
Als wenig später der Duft von Kaffee, Kakao, Vanille und Zimt durch die Küche zog, kehrte langsam Farbe in Antonias Gesicht zurück. Als die gute alte Cecilia das Märchenbuch von Giovanni Straparola aus der Rocktasche zog und mit ihrer sonoren Stimme anfing, vorzulesen, beruhigte sich Antonia auch langsam wieder. Schon als Kind hatte sie Cecilias Märchenstunde geliebt und sich fast immer damit beruhigen lassen. Dabei konnte Cecilia gar nicht richtig lesen, sie kannte die Geschichten viel mehr auswendig und entfernte geschickt allzu bedrohliche Szenen. Und so kam es auch, dass Cecilia manchmal aus Straparolas Buch Märchen von Giambattista Basile »vorlas«. Anna liebte vor allem –genau wie Antonia, als sie klein war– »La gatta cenerentola«, während Anton lieber das Märchen »Die drei Zitronen« mochte.
Für einen Moment hatte Antonia die Kammer des Schreckens vergessen, doch als Cecilia das Buch lautstark zuklappte, waren die Bilder wieder in ihrem Kopf, vor allem die Mordinstrumente umkreisten ihre Gedanken wie der Teufel die armen Seelen. Sie bat Cecilia, die Kinder für einen Mittagsschlaf ins Bett zu bringen, und versuchte dabei, so sorglos wie möglich zu klingen. Cecilia verstand und schaffte es mal wieder glänzend, die zunächst maulenden Kinder mit Keksen und Kapriolen zum Lachen zu bringen und mit der Aussicht auf eine lange Ballnacht zum Mittagsschlaf zu überreden.
Eigentlich hatte sich Antonia auf den Abend gefreut, Bernardo hatte ein paar Familien aus den Landgütern der Umgebung eingeladen und extra für die Kinder einen Mummenschanz organisiert und für die Erwachsenen zahlreiche ausgefallene venezianische Masken. Es kam selten vor, aber manchmal empfand Antonia trotz allem Zuneigung für ihren angetrauten Gatten. Er schien all das Glück und Vergnügen, das er in seiner Kindheit nie gehabt hatte, für seine Kinder doppelt und dreifach zu wünschen und gab sich auch allergrößte Mühe, es Anna und Anton zu geben. Wobei sein Verständnis von Glück und Vergnügen vor allem ein materielles und frei von den Schlägen war, die seine Kindheit geprägt hatten. Wärme und Geborgenheit kannte Bernardo nicht.
Den Kindern schien diese Fürsorge zu genügen, Wärme und Geborgenheit bekamen sie mehr als genug von Antonia, Cecilia und den Großeltern, sodass sie den Vater, der sie verwöhnte wie Prinz und Prinzessin, trotzdem abgöttisch liebten. Was für Antonia auch der einzige Grund war, weshalb sie noch gelegentlich in das Schloss und zu ihrem Gatten zurückkehrte. Doch jetzt zitterte sie am ganzen Leib bei dem Gedanken daran, in welches Horrorschloss sie ihre Kinder geführt hatte, und lauschte dem leisen Schnarchen von Cecilia, die mit dem Märchenbuch auf dem Schoß zwischen den Kindern eingeschlafen war.
Auch Anna und Anton waren die Augen inzwischen zugefallen, und ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Nur Antonias Herz raste noch immer, und an Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gedanken kreisten um die Folterwerkzeuge im Keller und den seltsamen Geruch in dem Gewölbe, der sie mindestens ebenso erschauern ließ. Und obwohl sie genau wusste, dass der Horror sie für Wochen umklammern würde, konnte sie nicht anders, als zu dem Hort des Schreckens zurückzukehren.
Das Quietschen der riesigen Tür schien ihr jetzt noch lauter als am Morgen, aber es war wahrscheinlich nur die Stille, die sie ansonsten umgab, die dem Geräusch dämonische Dimensionen verlieh. Höllenschlund, dachte Antonia, als sie langsam die Marmortreppe hinabstieg und ihr ein ekelerregender Geruch entgegenschlug, der ihr schon vorher aufgefallen war. Es war ein Odeur von Verwesung und Fäkalien, durchsetzt von Rose, Ambra und Moschus. Der Geruch war nicht stark, aber deutlich genug, um bei Antonia Übelkeit zu erregen.
Dieses Mal ignorierte sie die kopulierenden Leiber, Leichen und Schänder, die sie auf den Bildern an der Wand hinabbegleiteten. Die winterliche Sonne stand inzwischen deutlich im Westen, schickte ihre Strahlen durch die schmalen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und tauchte den Saal in ein schaurig schummeriges Licht.
Jetzt konnte sie das schwere, hohe Eisenbett deutlich erkennen. Blutroter Samt hüllte das riesige Lager ein. Eiserne Ketten mit massiven Hand- und Fußfesseln entsprangen den Pfosten und lagen sorgsam aufgebahrt auf dem Samt. In einem offenen Kasten auf dem Bettrahmen waren Stapel von Hostien und zahlreiche Altarkerzen aufbewahrt. Antonia hatte von den schwarzen Messen der Montespan, der Mätresse des Sonnenkönigs, und unzähligen anderen Aristokraten gehört. Als sie die Utensilien jetzt sah, erschauerte sie. Aber das war ja längst noch nicht alles, überall waren Handschellen, Ruten und Peitschen in allen Varianten, von der Decke hingen Galgen, an den Wänden standen Folterbänke, und blutverschmierte dicke Knüppel lagen achtlos auf dem Boden. Jetzt konnte Antonia auch die Reste von Fäkalien erkennen, die den Gestank dominierten. Obwohl das Gröbste und Übelste wohl weggewischt war, klebten in den Ecken noch Zeugnisse der schrecklichen, grausamen Orgien, die hier wohl stattgefunden hatten.
Antonia, die das alles immer noch nicht glauben konnte und wollte, näherte sich jetzt zaghaft einem Bücherregal. Zahlreiche Ausgaben von Paullinis Werk »Heilsame Dreck-Apotheke« sprangen Antonia als Erstes ins Auge. Jetzt erinnerte sie sich, dass Bernardo ihr erzählt hatte, er würde in einen Frankfurter Verlag investieren, der ein medizinisches Werk fürs Volk von dem Gelehrten Friedrich Paullini herausbrachte. Inzwischen hatte Antonia auch mitbekommen, was für ein »Gelehrter« Paullini war, erzählte er den armen Leuten doch, dass, wenn sie sich nur genug Exkremente auf ihre Krankheiten schmieren würden, sie schon gesund würden. Unfassbar, was die Menschen alles so glaubten und mit was sich die gelehrten Quacksalber die Taschen füllten.
Natürlich brauchte es dafür auch noch skrupellose Helfer, und dafür war Bernardo genau der Richtige. Durch seine Finanzierung konnte Paullini so viele Bücher drucken lassen, dass der Preis für jedes einzelne so günstig wurde, dass es sich fast jeder Bürger leisten konnte. Und die »Dreck-Apotheke« hatte sich buchstäblich wie Mist verbreitet. Bernardo hatte damit ein glänzendes Geschäft gemacht, und Antonia hatte ihn auch noch heimlich bewundert– bis sie einen Blick in das Buch geworfen hatte.
Aber Bernardo hatte mal wieder gezeigt, dass er selbst aus Scheiße ein Vermögen machen konnte, darüber hatte selbst Antonia heimlich geschmunzelt. Doch jetzt gefror ihr das Lächeln im Gesicht. Die angeblich medizinische Schrift, die sich wie ein Lauffeuer in die Haushalte einfacher Leute verbreitet hatte, war umgeben von Büchern über schwarze Messen, Erotik, satanische Riten, Hexenwerke, aphrodisische Rezepturen, Alchemie und Magie. Hinter der »Dreck-Apotheke« steckte noch viel mehr als Scharlatanerie. Unter dem Deckmantel der Medizin wurden widerliche Orgien veranstaltet.
Die Illustrationen in den Büchern, die die »Dreck-Apotheke« umgaben, stellten Dinge dar, die Antonia nie für möglich gehalten hatte: Menschen, die sich über Tiere und andere Völker stellten, trieben Dinge miteinander, die fern jeglicher normaler Vorstellungskraft lagen. Selbst niederste Tiere taten sich gegenseitig so etwas nicht an, von den blasphemischen Akten ganz zu schweigen. Auch Säuglinge waren dargestellt, die auf widerlichste Art den Trieben und Ritualen geopfert wurden. Urinieren auf Gesichter und nackte Leiber zum puren Vergnügen, zur Steigerung der Lust, waren noch die harmlosesten Darstellungen.
Antonia schüttelte sich, ihr wurde so schlecht, dass sie sich beinahe übergeben musste. Nur mühsam konnte sie sich die Treppe wieder hinaufschleppen. Sie war sich jetzt gewiss, was sie zuvor nur in einer sehr viel harmloseren Variante geahnt hatte: Ihr Haus war ein Hurenhaus, ein Folterzentrum, hier wurde Satan gehuldigt, es wurde gequält, geschändet und Gott gelästert.
Antonia musste an die frische Luft. Irgendwie musste sie den Abend überstehen. Am nächsten Morgen würde sie mit den Kindern sofort nach Frankfurt abreisen und nie wieder in dieses Horrorschloss zurückkehren. Ja, sie hatte lernen müssen, dass Bernardo ein liederlicher Kerl war, der sie und Giovanni bitterböse hinters Licht geführt hatte, und sie hatte auch geahnt, dass es in dem Schloss Räume gab, die wie in einem Bordell genutzt wurden. Aber Mord, Totschlag, Blasphemie, Kot und Urin zur Befriedigung? Niemals wäre sie hierher zurückgekehrt, wenn sie davon gewusst hätte. Da konnten die Kinder ihren Vater noch so lieben, später würden sie es verstehen.
3. KAPITEL
COLOGNY
Cologny ist eine kleine politische Gemeinde in der Schweiz am Genfer See, heute bekannt als Zentrum des Weltwirtschaftsforums(WEF). Kulturhistorisch ist sie aber vor allem berühmt durch die Villa Diodati, wo Mary Shelley ihren späteren Bestseller »Frankenstein« entworfen haben soll. Die Villa existierte bereits zu Giovanni Maria Farinas Zeit.
Genfer See, Anfang März 1715
Obwohl Bernardo alles andere als feinfühlig war, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Mit Antonia hatte er zumindest so etwas wie einen Waffenstillstand erreicht, und ihre Konversationen bezogen sich meist auf das Wohl der Kinder und fanden stets in einem unterkühlten, aber nicht feindseligen Ton statt. Was jetzt aus ihren Augen sprühte, als er sie kurz begrüßte, waren allerdings purer Hass und Entsetzen. Bernardo ahnte, was passiert sein musste. Noch bevor er den Mantel abgelegt hatte, kontrollierte er die Türen zum »Tempel«-Abgang und wusste sogleich, dass er mit seiner Ahnung recht gehabt hatte. Das Portal war unverschlossen und schien höhnisch zu quietschen und zu knarzen, als er die Klinke hinunterdrückte und die Tür nur einen Spalt öffnete.
Bernardo trug den Schlüssel stets bei sich, und außer ihm hatte nur noch Chantal, seine angebliche Cousine, die ebenfalls im Schloss residierte, einen. Erzürnt schloss er ab, drehte den Schlüssel dreimal um, rüttelte noch einmal an der Tür und stürmte in den Salon von Chantal. Wütend hielt er ihr den Schlüssel unter die Nase und schnaubte: »Wie konnte das passieren? Außer dir hat sonst niemand einen Schlüssel!«
Angewidert schob Chantal die Hand mit dem Schlüssel zur Seite. »Hör auf, dich lächerlich zu machen. Du traust mir nicht mehr, dabei solltest du dir lieber selbst nicht trauen: Du warst zuletzt unten und wolltest alles noch mal kontrollieren.«
Bernardo schnaubte noch immer vor Wut und musste sich doch eingestehen, dass er selbst einen Fehler begangen hatte. Ohne weiter darauf einzugehen, befahl er Chantal: »Verlege die Einladung für heute Abend nach Cologny! Wir müssen sofort alles rausschaffen.«
Amüsiert zog Chantal die Augenbrauen hoch. »Oh, haben wir nicht aufgepasst, und dein entzückendes Weib hat mal wieder die Nase in Dinge gesteckt, die sie nichts angehen? Ich könnte mir gut eine einfachere Lösung vorstellen. War Antonia nicht schon immer kränklich? Die Ärmste würde ein paar Tage das Bett hüten, und der ehrenwerte Dr.d’Emiris würde leider feststellen, dass er nichts mehr machen kann, und du würdest dich nach ein paar weiteren Tagen tragisch trauernd von deiner geliebten Gattin verabschieden und hättest die Kinder für immer für dich.«
Bernardo schlug wütend mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die fast randvoll gefüllte Teetasse gefährlich ins Wanken geriet. Das feine Geschirr nicht beachtend, schrie Bernardo Chantal an: »Soll ich meine Kinder vielleicht von einer Hure großziehen lassen?«
Chantal, die sich schon lange durch nichts mehr aus der Ruhe bringen ließ und schon gar nicht von Bernardo, schrak theatralisch zusammen, bevor sie ganz gelassen antwortete: »Du eiferst doch bei allem den Gepflogenheiten des Hofstaats von Versailles nach– wohldosierte Vergiftungen gehören dort noch immer zum guten Ton, ebenso, dass Huren Königskinder großziehen, wobei sie Mätressen genannt werden.« Dabei lächelte Chantal Bernardo überlegen an, bevor sie mit scharfem Ton fortfuhr: »Hör auf, so mit mir zu reden, jeden Moment kann einer von deinen Lakaien hereinkommen und den Tee abräumen. Vielleicht steht auch schon einer vor der Tür und horcht. Du kannst nicht alle vier Wochen die Bediensteten austauschen. Weißt du, wie spät es ist? Niemals werden wir die Utensilien und erst recht nicht die Gäste heute noch nach Cologny verfrachtet bekommen, wir brauchen mindestens sechs Stunden über den See, nicht zu reden von der Zeit, bis wir das Schiff beladen haben. Wen meinst du eigentlich alles mit den Gästen? Deine herzallerliebsten Kinder und ihre goldigen Freundinnen und Freunde?«
Chantal wusste genau, wen Bernardo meinte und was er vorhatte, und es fiel ihm sehr schwer, die Provokationen zu überhören. So fuhr er sie nur unwirsch an: »Du weißt ganz genau, um was und wen es geht– und lass meine Kinder gefälligst aus dem Spiel! Beschäftige die Herren heute Abend meinetwegen auf dem Kahn und bring sie morgen rüber nach Cologny.«
»In Cologny ist das Labor noch nicht einmal fertig, die ganze Villa ist noch nicht richtig ausgestattet, und den Tempel willst du schon umsiedeln? Ich weiß, dass wir hier nicht mehr lange weitermachen können, die Tufania hat unter Folter wohl auch meinen Namen genannt. Aber so schnell geht das nicht mit dem Umzug.«
Bernardo sah besorgt durch das Fenster auf die immer tiefer sinkende nachmittägliche Sonne, die den leicht bewölkten Himmel schon fast rosa färbte. »Nicht alles! Wir machen den Tempel heute zu einem richtigen Spielzimmer. Verwandel das Bett in eine Bühne für den Mummenschanz. Dann stellen wir überall Stühle hin und verteilen wohlriechendes Potpourri auf dem Boden. Hilf mit deinen Essenzen noch ein wenig nach: Neroli, Jasmin, Veilchen, was weiß ich! Alles, was blumig-lieblich ist.«
Bernardo lief besorgt und nachdenklich in Chantals Salon auf und ab. Chantal ahnte schon, dass die Neuinszenierung im Tempel nicht alles sein würde, was Bernardo wieder einmal ausheckte. Darüber musste sie sich allerdings keine weiteren Gedanken machen, denn Bernardo fuhr ausnahmsweise einmal zügig und enthusiastisch fort. »Und nimm Feminis Aqua mirabilis, und zwar genau das Wunderwässerchen, das so ähnlich riecht wie Farinas ›Eau de Cologne‹. Stopp, warte! Wir haben ja auch noch ein paar Flaschen ›Eau de Cologne‹ von Farina. Verteil beides unten großzügig. Wenn einer fragt, sag, das wäre ›Eau de Cologny‹. Und ja, wir werden mit der Herstellung eines Duftwassers beginnen, und zwar genau in Cologny, in der Villa Diodati. Auf Feminis ist ja kein Verlass mehr, und eine bessere Tarnung für die Villa gibt es nicht.«
Chantal fröstelte. Ihr wurde die ganze Sache zu groß. Bernardo war mittlerweile in so viele verschiedene Geschäfte verwickelt, dass sie es kaum mehr durchschauen konnte. Wobei das Spinnennetz, das sie durch den Hochadel gesponnen hatten und mit dem sie immer mehr »Beute« an Land zogen, Chantal durchaus gefiel. Adlige Edelmänner, die gierig auf Chantals außergewöhnliche Dienstleistungen im Tempel warteten, waren der Quell des lukrativen Handels. Zusammen mit der Goldmine und dem Alchemielabor wäre dieses Geschäftsfeld mehr als ausreichend gewesen. Aber Bernardo konnte nicht genug bekommen. Chantal wurde ganz schwindelig, wenn sie daran dachte, in was Bernardo alles neu investierte, jetzt also auch noch in Asphalt und Parfüm, Mumien aus Ägypten, verschiedene Villen und Schlösser, als wären Gold, Drogen und Mätressen nicht schon lukrativ genug. Es schien, als hätte Bernardo inzwischen überall seine Finger im Spiel. Ein riskantes Spiel, das hoffentlich gut ausging, und Chantal hatte keineswegs vor, ihr luxuriöses Leben aufs Spiel zu setzen.
Sie war noch ganz in Gedanken, als Bernardo mit seinen Anweisungen fortfuhr. »Die Galgen und Seile, die von der Decke hängen, nutzen wir für die Darsteller. Sie sollen in ihren Kostümen über Zuschauerköpfe schweben, singen und musizieren. Statt der Peitschen hängen wir überall venezianische Masken auf. Die Bibliothek bleibt, wir tauschen nur die meisten Bücher aus. Paullini und die anderen Honoratioren werden nicht ausgetauscht, alles andere schon. Lass aus der Bibliothek alles zusammentragen, was zurzeit gerade gelehrt und gelesen wird, und nach unten bringen. Hörst du mir überhaupt zu?«
Chantal nickte ausnahmsweise brav, und fast im Gehen hauchte sie verführerisch in Bernardos Richtung: »Ich weiß, Absinth und Laudanum für deine Frau. Nur nicht zu stark, sonst merkt sie’s. Keine Bange, ›die grüne Fee‹ ist schon unterwegs.«
Weg war sie. Bernardo sah ihr hinterher und schüttelte den Kopf. Er zweifelte stark daran, dass sie den Ernst der Lage erkannt hatte. Das Schloss Gondo durfte auf keinen Fall in Verruf geraten. Er hatte schon genug zu tun mit Dr.d’Emiris, der Villa Diodati, dem Labor und dem »Kinderheim« und »Lazarett« auf Burg Frankenstein, und dies waren ja keineswegs seine einzigen Unruheherde. Es fehlte gerade noch, dass jetzt auch noch auf seinem Stammsitz alles aus dem Ruder lief.
Doch als Bernardo einige Stunden später den Tempel noch einmal kontrollierte, konnte er es selbst schwer glauben, wie Chantal den Saal verwandelt, ja fast verzaubert hatte. Er konnte es kaum abwarten, Antonias Augen zu sehen, und war sich fast sicher, dass sein Plan aufging.
Wie erwartet hatte Antonia große Schwierigkeiten, sich beim Diner auf belanglose Plaudereien zu konzentrieren. Am liebsten hätte sie sofort ihre Sachen gepackt und wäre mit den Kindern zu ihren Eltern nach Frankfurt gefahren. Aber zum einen war es viel zu spät gewesen, um aufzubrechen, und zum anderen hätte sie nicht gewusst, wie sie es den Kindern hätte erklären können. Ganz abgesehen davon wollte sie das Schloss auch nicht als Rückzugsort verlieren. Die Gedanken kreisten schwer in ihrem Kopf, der auch immer schwerer zu werden schien. Als die Pest zwei Jahre zuvor Frankfurt wieder heimgesucht hatte, waren ihr das Schloss am See und die saubere Bergluft wie ein Paradies vorgekommen. Was vielleicht auch daran gelegen hatte, dass sie in dieser Zeit Bernardo so gut wie nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber auch bei dem großen Brand der Judengasse in Frankfurt vor wenigen Jahren war das Schloss ein willkommener, sicherer Rückzugsort gewesen. Wo war Giovanni eigentlich gewesen, als all das passierte? Antonia wusste es nicht mehr. Vielleicht hätte sie ihn einfach nur um Hilfe bitten sollen.
Es gab fast in jedem Jahr Wochen und Monate, in denen die Kinder hier sicherer als in Frankfurt gewesen waren. Selbst ihre Mutter kam manchmal mit in die Schweiz. Lange genug hatte es gedauert, bis die Eltern Antonias Liaison mit Giovanni akzeptiert und den wahren Charakter von Bernardo erkannt hatten. Antonia hatte ihnen von Bernardos teuflischen Machenschaften sofort erzählt, als sie diese entdeckte. Doch es hatte einige Zeit gedauert, bis sie wirklich begriffen. Inzwischen unterstützten die Brentanos ihre Tochter jedoch, so gut es ging, und räumten ihr Freiräume ein, damit sie Giovanni so oft wie möglich treffen konnte. Oder standen ihr einfach nur bei und begleiteten sie.
Heute wäre so ein Tag gewesen, an dem Antonia sich sehnlichst den Beistand ihrer Eltern gewünscht hätte, mehr noch, als sie sich nach Giovanni sehnte. Doch sie selbst hatte abgelehnt, dass ihre Mutter sie begleitete. Zu anstrengend für die paar Tage, hatte sie gemeint, dabei wäre sie froh über die Begleitung gewesen. Denn es war nicht allein das Vergnügen der Kinder und das Wiedersehen mit ihrem Vater, das Antonia veranlasst hatte, in die Schweiz zu reisen. In Basel wollte sie die Ware überprüfen, die sie für die Frühjahrsmesse in Frankfurt bestellt hatten, und von dort mit der Ware nach Frankfurt weiterreisen. Die Kinder freuten sich schon auf die Schifffahrt, und sie hätte die Unterstützung der Eltern wirklich gut gebrauchen können. Dann wäre sie auch jetzt auf diesem Horrorschloss nicht so allein gewesen.
Gedankenverloren nippte Antonia an ihrem stark nach Zimt riechenden Gewürzwein und wechselte ein paar belanglose Floskeln mit ihrer Nachbarin. Den edel gedeckten Tisch mit den üppigen Speisen und dem raffinierten Dekor würdigte sie kaum eines Blickes. Ihr elegantes Kleid, an dem sich die smaragdgrüne Seide wie ein rauschender Wasserfall über ihre schmale Taille und die Hüften ergoss, trug sie mit Anmut und Eleganz, aber nicht mit dem für sie so typischen koketten Charme. Ihre Kinder hingegen schienen den Vorfall am Nachmittag vergessen zu haben und waren überglücklich mit ihren ausgefallenen Kostümen und Masken.
Als die Mummenschanztruppe laut musizierend, tanzend und gestikulierend hereinspaziert kam, sprangen alle Kinder jubelnd und klatschend auf. Bernardo gab den ebenfalls verkleideten Bediensteten unauffällig ein Zeichen, die Gäste aufzufordern und zu einer Polonaise zu führen. Nach und nach folgten alle den Bediensteten und Schaustellern durchs Schloss. Wären die Kinder nicht gewesen, wäre Antonia einfach sitzen geblieben, hätte sich etwas Luft zugefächert und eine kleine Unpässlichkeit vorgetäuscht. Aber so blieb ihr nichts anderes übrig, als der Truppe zu folgen. Obwohl Cecilia direkt bei den Kindern war, wollte Antonia sie heute einfach nicht mehr aus den Augen lassen.
Halbherzig tanzte sie hinterher und versuchte dabei, die Kinder stets im Auge zu behalten, was ihr meist auch gelang. Als sie schon kreuz und quer durchs Schloss getanzt waren, belustigt und erheitert durch kleine Einlagen der Artisten und Jongleure, gelegentlich auch vom Mummenschanz erschreckt, erreichten sie schließlich das Parterre des Ostflügels. Schon als die ersten Gäste um die Ecke bogen, zuckte Antonia unwillkürlich zusammen. Als sie aber sah, dass die Gäste, allen voran die Kinder, in dem »Schlund zur Hölle« –wie es ihr vorkam– verschwanden, schrie sie laut: »Neiiiiin! Neiiiin! Neiiin!« Sie versuchte, sich einen Weg zu den Kindern zu bahnen. Doch Musik, Gesang und fröhliches Geschrei waren jetzt so laut, dass Antonias Hilferuf unterging. Auch kam sie nicht so recht vorwärts, ständig schien sie jemand daran hindern zu wollen, dass sie einschritt. Bis Bernardo sie barsch am Arm packte und ihr zuraunte: »Bist du verrückt geworden? Willst du allen den Abend verderben und den Kindern keinen Spaß lassen?«
Antonia war so perplex, dass sie fast erstarrte. Bernardo konnte unmöglich die Gäste in dieses Sodom und Gomorra führen, schon gar nicht die Kinder. Aber instinktiv wusste Antonia, dass Bernardo so etwas tatsächlich nie tun würde. Sie fühlte sich wie in Trance, als Bernardo sie zur weit geöffneten Tür führte, und konnte nicht glauben, was sie am Fuße der Treppe sah: einen wunderschönen, mit unzähligen Kerzen hell erleuchteten Saal. An den Wänden waren lange Fackeln angebracht, dazwischen Bilder aus aller Herren Länder mit interessanten exotischen Landschaften, Blumen, Tieren und Früchten. Wo keine Bilder hingen, zierten venezianische Masken die Wände. In der Mitte des Saals befand sich eine Bühne, auf die der Mummenschanz schon hinaufgeklettert war und mit seinen artistischen Darbietungen begonnen hatte. Auf beiden Längsseiten der Bühne waren Stühle aufgereiht, die inzwischen schon fast alle besetzt waren. Am Ende des Saals stand ein Cembalo, und der Spieler begleitete die Darbietungen. Der dunkle Boden war über und über mit wohlriechenden getrockneten Blüten bedeckt, und der zarte Geruch von Giovannis erfrischendem »Eau de Cologne« stieg ihr in die Nase. Jetzt wurde Antonia tatsächlich schwindelig, die Farbe wich ihr aus dem Gesicht, und hätte Bernardo sie nicht aufgefangen, wäre sie wahrscheinlich die Treppe hinabgestürzt.
4. KAPITEL
JUNGBRUNNEN
Seit der Antike sucht die Menschheit nach einem Jungbrunnen, oft als Quelle oder Bad dargestellt. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit wurde der Jungbrunnen mehr und mehr zu einem Produkt der höchsten Kunst der Alchemie, ähnlich wie der Stein der Weisen.
Aachen, März 1715
Levallé hatte sich noch nie so reif für die Fastenzeit gefühlt wie dieses Mal. Die Kölner lernten langsam so zu feiern, wie er es aus Venedig und Paris kannte, auch wenn Giovanni das anders sah, und das war leider auch mit einer gewissen Völlerei verbunden. Die Knöpfe seiner Weste versuchte Levallé erst gar nicht mehr zu schließen. Als er sich zur Kur nach Aachen begab, fühlte er sich im wahrsten Sinne des Wortes überreif.
Es war zwar jedes Jahr dasselbe, aber in diesem Jahr besonders schlimm. Fast jeden Tag war ein Maskenball gewesen, und Levallé hatte keinen auslassen können, denn es gab keine bessere Möglichkeit, wichtige Kontakte zu pflegen und zu knüpfen, als bei diesen Veranstaltungen. Nun hätte er es bei dem geschäftlichen Teil und einem kleinen Aperitif bewenden lassen können, aber dafür war Levallé leider zu sehr ein Genießer. An einigen Tagen hatte er sogar zwei Veranstaltungen besucht und bei keiner den kulinarischen Verlockungen widerstehen können.
Er bewunderte Giovanni für seine Disziplin, niemals würde sein lieber Freund so über die Stränge schlagen wie er. Etwas verschroben wirkte Giovanni zwar immer, vor allem wenn er alle Speisen beschnupperte und einen Kommentar dazu abgab. Falls seine Nase die Zutaten dann nicht für frisch oder erlesen genug befand, ließ er sie ohnehin stehen. Beim Wein war er mindestens ebenso wählerisch– nicht immer zur Freude der Gastgeber. Was den einen arrogant erschien, kam den anderen allerdings gelegen: Sie engagierten Giovanni, um ihre Einkäufe zu prüfen. Das wiederum erzürnte so manchen Händler und damit die zünftige Konkurrenz in Köln.
Giovannis Nase war eine durchaus heikle Gabe, und Levallé freute sich schon auf die Kommentare seines Freundes zu dem kargen Fastenmahl, das sie im Aachener Kurhotel allabendlich zu sich nahmen. Vor allem war Levallé auf Giovannis Urteil über die Aachener Heilwässer gespannt, die eine wahre Panazee sein sollten, aber doch ziemlich gewöhnungsbedürftig schmeckten. Nach Rosen roch und schmeckte das Wasser der Rosenquelle keinesfalls, aber es roch zumindest edel und klar und nicht nach Schwefel wie die anderen.
Auf jeden Fall war Levallé nach drei Wochen Kur mit seinem Antlitz wieder deutlich zufriedener als bei seiner Ankunft. Das lag vielleicht nicht unbedingt an dem Heilwasser, sondern einfach nur daran, dass er von den ohnehin kargen Speisen sehr wenig zu sich genommen und sich von Bier, Wein und Brand ferngehalten hatte. Und er hatte sich fest vorgenommen, auch an dem heutigen Abend darauf zu verzichten, was vielleicht etwas schwieriger würde, da sich die ganze Gesellschaft in der Redoute versammeln würde und es bekannt war, dass das »Eau de vie« dort weder den thermischen Quellen Aachens entsprang noch den diätischen Vorschriften entsprach, aber ganz hervorragend sein sollte.
Dafür hatte sich Levallé zu Mittag nur eine wässrige Gemüsebrühe gegönnt und war nach der –zwar sehr angenehmen– Thermaldusche nicht mehr so sicher, ob er sich an seine Vorsätze halten würde. Es waren eigentlich nicht nur seine Vorsätze, sondern auch die Anweisungen seines Arztes. Schon sein Vorgänger, der berühmte Dr.Franciscus Blondelius