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Hübsch, intelligent und extrem ehrgeizig – das ist Lily Bancroft. Allerdings scheint ihr neuer Lehrer Mr Reiner nicht so überzeugt von ihrem Talent. Ständig verpasst er ihr schlechte Noten. Lily könnte ihn erwürgen. Bis eines Morgens ihr Rachetraum zur schrecklichen Realität wird: Mr Reiner liegt leblos neben dem Pult. Und jeder denkt, den Mörder zu kennen. Mit den Horror- und Thriller-Büchern aus der Fear Street schuf Bestsellerautor R.L. Stineeine Reihe, die inzwischen zu den Klassikern derHorrorliteratur für Jugendliche zählt. Seit über 20 Jahren gibt es seine Geschichten schon auf Deutsch und seitdem begeistern sie gleichermaßen Jungs und Mädchen ab 12 Jahren und alle Fans von Gruselgeschichten. Ab 2021 zeigt Neflix den Klassiker Fear Street als Horrorfilm-Reihe!
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Seitenzahl: 147
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Kapitel 1 – Lily Bancroft strich …
Kapitel 2 – „Ist noch was?“ …
Kapitel 3 – „Nein!“, dachte Lily …
Kapitel 4 – „Ich will nicht …
Kapitel 5 – Lilys Angstschrei übertönte …
Kapitel 6 – Als der Morgenbus …
Kapitel 7 – Am Tag nach …
Kapitel 8 – „Hey, Lily!“, sagte …
Kapitel 9 – Die massiven Rollen …
Kapitel 10 – „Du warst …
Kapitel 11 – „Neiiiin!“ Lily kreischte …
Kapitel 12 – Lily kreischte …
Kapitel 13 – Mit einem heiseren …
Kapitel 14 – „Was hast du …
Kapitel 15 – Lilys Unterlippe zitterte …
Kapitel 16 – Als Lily nach …
Kapitel 17 – Lily fuhr sich …
Kapitel 18 – Am Montag schrieb …
Kapitel 19 – „Du weißt was?“ …
Kapitel 20 – Lily verbarg das …
Kapitel 21 – Während Lily mit …
Kapitel 22 – „Lily?“, rief Julie …
Kapitel 23 – Der Raum begann …
Kapitel 24 – Julies Augen starrten …
Kapitel 25 – Lily sprang auf …
Alle Einzelbände der Reihe „Fear Street“ als eBook
Über den Autor
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Impressum
Lily Bancroft strich sich das dichte schwarze Haar zurück und zwang sich, tief Luft zu holen. „Wenn du dich nicht beruhigst“, sagte sie sich, „erreichst du gar nichts.“
Sie starrte über den Tisch hinweg ihren Sozialkundelehrer an. „Wie kann ich ihn bloß überzeugen?“, fragte sie sich. „Was kann ich sagen, um ihn umzustimmen?“
„Ach bitte, Mr Reiner“, begann sie so höflich wie möglich, „hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich?“
Der gut aussehende junge Lehrer nahm seine Nickelbrille ab und richtete seine blaugrauen Augen auf sie. Die Neonlampe an der Decke flackerte und warf ein gespenstisches grünes Licht auf ihn.
„Also gut, Lily“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich höre.“
Lily legte ihr Testheft auf seinen Schreibtisch und zeigte auf den oberen Rand der Seite, wo der Lehrer eine große rote Zwei eingetragen hatte.
„Ich – ich verstehe meine Note einfach nicht. Ich hab den ganzen Test durchgesehen“, sagte sie zu Mr Reiner. „Die ersten zehn Multiple-Choice-Fragen sind alle richtig.“
„Das stimmt“, sagte der Lehrer ruhig.
„Und bei den anderen fünf Fragen – den Aufsatzfragen – habe ich alles beantwortet, wonach Sie gefragt haben. Sie haben nirgendwo markiert, dass ich etwas falsch beantwortet hätte.“
„Auch das stimmt“, sagte Mr Reiner mit ausdrucksloser Miene.
„Aber wenn nichts falsch war, warum haben Sie mir dann nur eine Zwei gegeben?“
„Du hast Recht damit, dass du die Aufsatzfragen nicht falsch beantwortet hast“, gab Mr Reiner zurück. „Und deine Lösungen sind gut – eine Zwei. Aber du hast dir nicht die Mühe gemacht, besonders gut zu sein. Du hast keine sehr guten Antworten gebracht – Antworten, die eine Spitzennote verdient hätten.“
Lily runzelte die Stirn. Die meisten der anderen Mädchen in der zwölften Klasse der Shadyside Highschool waren in den gut aussehenden jungen Lehrer verknallt. Aber Lily nicht. Sie fand ihn eingebildet und arrogant.
Und schwierig! Bevor sie in Mr Reiners Klasse übergewechselt war, hatte sie noch nie mit einem Lehrer Probleme gehabt.
Frustriert starrte sie auf die geschwungene rote Zahl in ihrem Heft. „In Ihrem anderen Kurs hat Alana Patterson fast das Gleiche geschrieben wie ich, und der haben Sie eine Eins gegeben.“
„Aber du, Lily, hast dich im Gegensatz zu Alana in meinen Leistungskurs eingetragen“, betonte er. „Ich habe der ganzen Klasse am Anfang des Schuljahrs gesagt, dass dieser Kurs anspruchsvoller als die meisten anderen sein wird. Für meine Leistungskurse setze ich ein höheres Niveau an. Ich erwarte mehr von meinen Schülern und benote ihre Leistungen entsprechend.“
„Aber das ist nicht fair!“, protestierte Lily mit schriller Stimme.
Mr Reiner zuckte die Schultern. „Wer hat behauptet, das Leben sei fair?“
„Mr Reiner“, sagte Lily bittend, „ich habe das ganze Jahr über hart für diesen Kurs gearbeitet. Das wissen Sie genau. Ich habe fast die ganze Nacht über auf diesen Test gebüffelt. Und wenn ... wenn es bei einer Zwei bleibt, kriege ich in diesem Kurs auf keinen Fall mehr eine Eins.“
„Wird das jetzt die Mitleidstour?“, fragte er. „Du tust ja gerade so, als sei das das Ende der Welt für dich!“
Das Licht über ihren Köpfen flackerte und summte.
Mr Reiner verzog das Gesicht. „Die Lampe geht schon wieder kaputt“, murmelte er. Dann stand er auf, um die Neonlampe genauer in Augenschein zu nehmen.
„Wen kümmert schon eine doofe Lampe?“, dachte Lily wütend. „Was ist los mit ihm? Das Wichtigste ist jetzt meine Note – und er hört mir noch nicht mal zu!“
Am liebsten hätte sie den Tacker auf Mr Reiners Schreibtisch genommen und nach der Deckenlampe geschmissen. Dann hätte sie sicher seine ganze Aufmerksamkeit gehabt!
„Es muss doch irgendwas geben, was ich tun kann“, fuhr Lily fort und versuchte vergeblich, gelassen zu klingen. „Irgendwas, damit ich eine bessere Note kriege.“
Mr Reiner rückte seine Brille zurecht und sah sie mit eisigem Blick an. „Der Sinn und Zweck eines Leistungskurses liegt schon in seinem Namen. Es wird erwartet, dass ihr mehr Leistung bringt als Durchschnittsschüler. Es tut mir Leid, aber dein Testergebnis“ – er klopfte mit dem Zeigefinger auf ihr Heft – „reicht einfach nicht aus für eine Eins.“
Die Lampe fing wieder an zu summen. Mr Reiner warf einen genervten Blick an die Decke. „Ich habe dem Hausmeister schon vor drei Tagen Bescheid gesagt“, klagte er. „Wenn er nicht bald kommt, hole ich eine Leiter und repariere das dämliche Ding selber.“
„Bitte, Mr Reiner“, flehte Lily wieder. „Können Sie mir nicht wenigstens eine Eins minus geben? Dann käme mein Notendurchschnitt gerade noch auf eine Eins in Ihrem Kurs.“
„Ich gebe keine Einser, Lily“, sagte er kühl. „Ich verleihe sie nur – wenn sie verdient sind.“
Wütend starrte sie ihn an und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Was für ein gemeiner Kerl“, dachte sie. „Wie kann er so herzlos sein? Er will mir unbedingt das Leben schwer machen.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“, fragte sie.
„So ist es“, gab Mr Reiner lächelnd zurück.
Er lächelte sogar! Für ihn war das Ganze nur ein guter Witz.
Lily kniff die Augen zu und unterdrückte die Tränen, die in ihr hochstiegen. Aber dann gewann ein anderes Gefühl die Oberhand – Hass.
„Ich kann nicht zulassen, dass er mir das antut“, dachte sie. „Das kann er nicht mit mir machen, nicht mit mir!“
Sie stürzte sich quer über den Schreibtisch auf ihn.
„Hey – was ist –?“, stieß der Lehrer überrascht aus und hob abwehrend die Hände.
„Das war Ihre letzte Chance!“, schrie Lily schrill. Sie stieß seine Arme weg und legte ihre Hände auf seine Kehle.
Wutentbrannt drückte sie zu, so fest sie nur konnte. Immer fester und fester ...
Der Lehrer griff nach ihren Händen und versuchte, sich zu befreien.
Es war zwecklos.
Seine Augen quollen aus den Höhlen, sein verzerrtes Gesicht lief dunkelrot an. Aus seiner Kehle kamen erstickte, heisere Laute.
„Sie hätten meine Note ändern sollen!“, schrie Lily.
Sie ließ erst los, als Mr Reiner mit dem Oberkörper vornüber auf den Schreibtisch sackte. Tot.
„Ist noch was?“
„Wie bitte?“
„Lily, du stehst regungslos vor mir und starrst mich an. Willst du noch irgendwas fragen?“
Lily riss die Augen auf. Mr Reiner saß an seinem Schreibtisch und sah sie selbstzufrieden an.
Sie schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und wich ein paar Schritte zurück.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass ich zu so was fähig bin. Ich habe mir tatsächlich vorgestellt, dass ich ihn erwürge!“, dachte sie.
Der Lehrer starrte Lily an und wartete auf eine Antwort. Doch sie brachte kein Wort heraus. Sie griff nach ihrem Testheft und rannte aus dem Klassenzimmer.
Sie wollte weg, weg von Mr Reiners stechenden Augen.
Ahnte er, was in ihr vorgegangen war?
Als sie über den überfüllten Flur rannte, rief jemand ihren Namen: „Lily! Hey, Lily!“
Sie drehte sich um. Ihre beste Freundin Julie Prince kam auf sie zu. In ihren braunen Augen lag Besorgnis. „Alles in Ordnung, Lily? Du siehst schrecklich aus.“
Lily schüttelte den Kopf. „Ich ... ich hätte ihn am liebsten umgebracht.“
„Sag so was nicht!“, rief Julie. Dann senkte sie die Stimme. „Wen hättest du am liebsten umgebracht?“
Zu spät fiel Lily ein, dass diese Worte für Julie nicht nur den Charakter einer Floskel hatten. Vor vier Jahren war Julies großer Bruder bei einem Raubüberfall auf den Lebensmittelladen, in dem er gearbeitet hatte, getötet worden.
Julie redete dauernd über ihn. Sie konnte die Erinnerung an seinen grauenhaften Tod nicht loswerden.
„Es tut mir Leid“, entschuldigte Lily sich und drükkte die Hand der Freundin. „Du weißt doch, dass ich so was nicht ernst meine. Ich bin einfach so verdammt sauer auf Mr Reiner.“
Julies Gesichtsausdruck wurde weicher. „Was ist denn passiert?“
„Er hat mir eine Zwei im Sozialkundetest gegeben. Kannst du dir das vorstellen? Es ist kein einziger Fehler drin, aber er hat mir trotzdem bloß eine Zwei gegeben.“
Julie zuckte mit den Schultern. „Es ist doch nur ein Test, Lil.“
„Du hast leicht reden“, erwiderte Lily verbittert. „Wenn ich ihn nicht dazu bringe, meine Note zu ändern, kriege ich wahrscheinlich eine Zwei in diesem Semester, und dann kann ich das Stipendium fürs College vergessen.“
„Auch ohne eine Eins in Sozialkunde hast du Supernoten“, erinnerte Julie sie. „Wahrscheinlich werden dir sowieso jede Menge Stipendien angeboten. Deine Eltern werden immer noch stolz auf dich sein.“
Lily schüttelte den Kopf. „Es gibt nur ein Stipendium, das meinen Eltern und mir wirklich etwas bedeutet: das Ehrenstipendium von Shadyside. Aber das wird nur an den Klassenbesten vergeben.“
„Ach, das Halbjahr ist doch noch lange nicht vorbei“, tröstete Julie sie. „Du kannst immer noch eine Eins schaffen. Komm, begleite mich zur Bücherei.“
Lily folgte ihrer Freundin durch den langen, menschenleeren Gang zur Schulbücherei. Sie gingen schweigend nebeneinander her, ihre Schritte hallten auf dem harten Boden. Lily konnte an nichts anderes als an Mr Reiner und die schreckliche Fantasie denken, die sie in seinem Klassenzimmer gehabt hatte.
Sie hätte sich gern weniger den Kopf über ihre Noten zerbrochen, aber sie konnte es einfach nicht. Sie wollte unbedingt Klassenbeste werden und das Shadyside-Stipendium bekommen. Es war ihre einzige Hoffnung, nach dem Schulabschluss auf ein wirklich gutes College gehen zu können.
Ihre beiden älteren Schwestern, Becky und Melinda, waren auf der Shadyside Highschool gewesen – und beide waren als Klassenbeste abgegangen. Als Nummer eins. An der Spitze der Klasse.
Genau das wollte Lily auch erreichen.
Der Druck war enorm! Ihre Eltern erwarteten es von ihr – und sie selbst auch. Jetzt war sie im zweiten Halbjahr der Abschlussklasse. Und bisher hatte sie in allen Kursen glatte Einser bekommen.
Warum verstand Mr Reiner nicht, dass er ihr mit dem Zweier ihr ganzes Leben ruinieren konnte? Warum konnte er sich nicht sein blödes Grinsen verkneifen und ihr einfach eine bessere Note geben?
„Es dauert bloß eine Minute“, unterbrach Julie ihre Gedanken, als sie die Bücherei erreicht hatten. „Ich muss diese Krimis zurückgeben. Sie sind längst fällig.“
Trotz ihrer schlechten Laune musste Lily lächeln. Julie trug einen Riesenstapel Bücher unter dem Arm. Seit ihr Bruder tot war, verschlang sie alle Kriminalromane, die sie in die Finger bekam. Während andere Jugendliche MTV anschauten, fraß Julie sich durch Detektivgeschichten, als seien es Popcorntüten.
„Ich warte hier“, sagte Lily. Missmutig betrachtete sie ihr Spiegelbild im Schaufenster neben dem Eingang zur Bücherei.
Normalerweise gefiel sie sich ganz gut, doch heute war das anders. Unter ihren dunklen Haaren wirkte ihr Gesicht blass, und sie hatte Ringe unter den blauen Augen.
„Ich hab so auf den Sozialkundetest gebüffelt“, dachte sie verbittert. „Und trotzdem bloß eine Zwei gekriegt.“
Lily fuhr zusammen, als eine Hand sie am Nacken packte.
„Alex!“, stieß sie schrill aus.
Ihr Freund Alex Crofts grinste sie an. „Hab ich dich endlich!“ Er schüttelte sich eine dunkle Locke aus der Stirn und zuckte mit den Schultern. „Ich konnte einfach nicht widerstehen, Lil. Du warst so in Gedanken versunken.“
Sein Gesicht wurde ernst, als er Lilys düstere Miene bemerkte. „Hey, was ist los? Bist du sauer auf mich, oder was?“
„Quatsch.“ Lily wurde ruhiger und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber auf Mr Reiner. Ich kann ihn nicht dazu überreden, die Testnote zu ändern, von der ich dir erzählt habe.“
„Mist“, murmelte Alex.
„Ja, das kann man wohl sagen“, erwiderte Lily. „Ich habe mit ihm geredet. Es war – es war, als würde es ihm Spaß machen, mir eine schlechte Note zu geben.“
„Jetzt bleib mal auf dem Teppich“, ermahnte Alex sie. „Reiner ist zwar streng, aber gerecht.“
Lily starrte Alex einen Augenblick lang an. War sie etwa die einzige in ihrer Klasse, die Mr Reiner für ein echtes Schwein hielt?
„Ich kann es nicht erklären“, sagte sie schließlich. „Ich hab bei ihm so ein komisches Gefühl ...“
„Ich habe ein paar neue Krimis gefunden“, unterbrach sie Julie. Sie tauchte mit einem Arm voller Bücher auf. Ihre fröhliche Miene veränderte sich schlagartig. „Ach, hallo Alex.“
Lily runzelte die Stirn. Im letzten Jahr waren Julie und Alex ein paar Wochen lang miteinander gegangen. Beide sagten, es sei nichts Ernstes gewesen, bloß ein paar Dates. Und vor sechs Monaten, als Alex und Lily anfingen, sich zu treffen, hatte Julie gesagt, sie würde sich für die beiden freuen.
„Warum verhält Julie sich dann plötzlich so komisch?“, fragte Lily sich verwundert.
Sie fühlte sich befangen und hasste dieses Gefühl.
„Da seid ihr ja!“, dröhnte Scott Morris’ laute, fröhliche Stimme durch den Flur. Scott war der Herausgeber der literarischen Schulzeitung Forum. „Fast meine versammelte Mannschaft. Warum seid ihr nicht im Büro? Wir haben übermorgen Abgabetermin.“
„Wir sind schon auf dem Weg“, sagte Alex.
„Hey, Scott“, warf Julie ein. „Ich habe eine Superidee für eine Buchkritik. Ich hab letzte Woche einen echt coolen Krimi gelesen.“
„Einen Krimi?“, fragte Scott und gab vor, geschockt zu sein. „Kannst du zur Abwechslung nicht mal was Normales lesen, Julie? Also komm schon, dann reden wir darüber.“
Er bog um die Ecke in Richtung Büro der Schulzeitung. Dann warf er einen Blick zurück, und seine grünen Augen sahen Lily an. „Kommst du mit?“
„Ach, nein.“ Lily zögerte und wandte den Blick ab. Sie mochte Scott sehr gern, aber er konnte manchmal so ernst sein. Das machte sie ganz nervös. „Ich muss heute Nachmittag arbeiten.“
„Ich dachte, du hast mittwochs frei“, protestierte Alex.
„Eigentlich schon. Aber Agnes ist krank, und ich habe versprochen, für sie einzuspringen.“
„Was ist mit dem Aufsatz, den du für die nächste Ausgabe schreiben wolltest?“, fragte Scott.
„Er ist fast fertig. Ich verspreche dir, dass ich ihn rechtzeitig abliefere. Also bis später.“
Sie winkte, als ihre Freunde um die Ecke bogen. Seufzend ging sie in die entgegengesetzte Richtung zum Schulausgang.
Das Letzte, was Lily heute wollte, war, im Geschäft ihres Onkels zu arbeiten. Aber sie konnte unmöglich einen Tag fehlen. Sie arbeitete dort seit zwei Jahren, seit dem Schlaganfall ihrer Mutter.
Weil ihre Mutter krank und damit arbeitsunfähig war, musste Lily das Geld fürs College selbst verdienen. Auch falls sie das Ehrenstipendium von Shadyside bekommen sollte, brauchte sie Geld für solche Dinge wie Bücher und Klamotten.
Als Lily die Straße erreicht hatte, verließ der Bus nach North Shadyside gerade die Haltestelle vor der Schule. Sie fing an zu rennen, doch der Bus fuhr ihr vor der Nase davon.
„Verflucht!“, stöhnte sie. Lief heute denn alles schief?
Sie blieb einen Augenblick stehen und überlegte, ob sie auf den nächsten Bus warten oder die zwei Meilen zum Laden laufen sollte. In jedem Fall würde sie sich verspäten.
„Lily!“
Sie drehte sich um und erblickte Graham Prince, der am Steuer des meergrünen Porsches seines Vaters saß.
„Hey – was liegt an?“ Er zeigte sein bestes Graham-Prince-Lächeln: blendend weiße Zähne und strahlend blaue Augen. „Soll ich dich mitnehmen?“
Gewöhnlich ging Lily Graham aus dem Weg. Sie kannte ihn schon seit der Grundschule, doch sie hatten sich nie besonders gemocht. Graham sah super aus und war sehr intelligent – und das wusste er ganz genau. Doch er war auch Julies Cousin, deswegen musste sie sich manchmal mit ihm abgeben.
Heute war sie beinahe froh, ihn zu sehen. Sie brauchte ihn als Chauffeur. „Danke.“ Sie machte die Beifahrertür auf und setzte sich auf den Sportsitz aus weißem Leder. „Das kann ich jetzt gebrauchen.“
„Wohin soll’s gehen?“, fragte Graham.
„Bobs Drugstore. In der Altstadt“, sagte sie.
„Der Laden deines Onkels, stimmt’s?“ Graham gab Gas und fädelte sich geschickt in den Verkehr ein. „Der gute alte Onkel Bob. Alle nennen ihn Onkel Bob, was? Ich hab früher immer gedacht, Onkel sei sein Vorname.“
„Ha, ha“, gab Lily trocken zurück.
„Also, was gibt’s? Wie läuft die Schule? Was macht das Leben?“
„Alles okay“, sagte Lily.
Ihre Gedanken wanderten zu der Zwei zurück, die sie im Sozialkundetest bekommen hatte. Davon würde sie Graham nichts erzählen.
Schließlich war er ihr Hauptkonkurrent um die Position des Klassenbesten. Eigentlich wetteiferte sie schon seit der sechsten Klasse mit ihm um die besten Noten.
„Bloß okay?“ Graham zog eine Grimasse. „Mann, du bist heute aber gesprächig!“
Lily versuchte, das Thema zu wechseln. „Und wie geht’s dir?“, fragte sie und betrachtete im Vorbeifahren die Vorgärten. „Was machen deine Kurse?“
„Überall Topnoten“, erwiderte er mit einer lässigen Handbewegung. „In Geschichte, Wirtschaftsmathe, Bio – lauter Einser. Ich nehme an, wir haben immer noch Gleichstand.“
„Ich glaube schon“, murmelte Lily. „Hast du dich schon auf den Wissenswettbewerb vorbereitet?“
In der folgenden Woche fand an der Schule die erste Runde eines Wissenswettbewerbs statt. Der Gewinner würde gegen andere Schüler aus der Gegend und später vielleicht sogar auf bundesstaatlicher Ebene antreten.
Der endgültige Gewinner würde einen Preis von fünfhundert Dollar bekommen.
Lily hoffte, den Wettkampf zu gewinnen. Sie konnte das Geld dringend fürs College gebrauchen.
„Bei Trivial Pursuit verliere ich nie“, prahlte Graham. „Ich habe diesen Wettbewerb schon so gut wie in der Tasche.“
Sie schaltete auf Durchzug, als er damit fortfuhr, was für ein Superspieler er in Trivial Pursuit war.