Feindliche Übernahme – Das Ende der Demokratie - Sebastian Klarzyk - E-Book

Feindliche Übernahme – Das Ende der Demokratie E-Book

Sebastian Klarzyk

4,9

Beschreibung

Leben wir noch in einer Demokratie? Oder leben wir in einer Zeit, in der eine Transformation der politischen Systeme stattfindet? In der neue Strukturen in der Politik entstehen, die als eine Art Bypass demokratische Strukturen umgehen? Wodurch private Akteure die politische Bühne betreten, Prozesse und Inhalte zu ihren Gunsten beeinflussen und die Politik einer massiven Ökonomisierung aussetzen? Konsequenz dieser Transformation, die gemeinhin als Neoliberalismus beschrieben wird, ist die Entfaltung eines finanzkapitalistischen Repräsentationssystems. In politischen Entscheidungen werden immer häufiger Marktakteure repräsentiert, die zur Finanzierungsgrundlage der Politik geworden sind. Der Wähler dient nur noch als Quelle zum Machterwerb. Für das neue Repräsentationssystem bilden sich neue Institutionen im politischen System, während Parlamente auf Marktkonformität getrimmt werden - oder demokratische Institutionen ganz verschwinden. Durch Freihandelsabkommen sollen diese neuen Strukturen implementiert werden. Dadurch entziehen sich Wirtschaft und Finanzen endgültig einer demokratischen Regulierung. Die Folge ist eine soziale Ungleichheit, die wieder ein Niveau wie zu vordemokratischen Zeiten erreicht. Demokratische Mitbestimmung über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands droht, eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts zu bleiben.

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Vorwort

Das vorliegende Buch wurde mit der Absicht verfasst, ein Bewusstsein für die vielfach zu beobachtende Erosion demokratischer Prozesse zu schaffen. Vielerorts lassen sich vereinzelte Symptome einer schleichenden Entdemokratisierung erkennen, doch eine Einordnung in ein Gesamtbild fehlt. Die mediale Berichterstattung zu diesem Thema findet aufgrund der Funktionslogiken der Massenmedien nur am Rande statt, etwa wenn es um das Freihandelsabkommen TTIP geht. Währenddessen laufen im Hintergrund nicht geheime, aber von der Öffentlichkeit doch weitgehend unbemerkte Prozesse. Aber eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Öffentlichkeit eine Kontrolle über die Politik ausübt. Doch ohne die nötigen Informationen, wird Kontrolle unmöglich. Diesem Umstand soll dieses Buch Abhilfe schaffen, indem es auf eine bereits seit Jahrzehnten andauernde, evolutionär bedingte, Transformation der politischen Systeme hinweist. Obwohl ich mich wissenschaftlicher Erkenntnisse bediene, verfolgt dieses Buch keinerlei wissenschaftlichen Anspruch. Ich äußere hier lediglich meine Meinung. Meine Absicht ist es nicht, neues Wissen zu generieren, sondern durch vorhandenes Wissen aufzuklären. So stützen sich die Ausführungen und die genannten Beispiele die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft werden, auf Werke anderer Autoren, Blogs, Reportagen, Zeitungsartikel und auf die Arbeit von diversen NGO‘s. Ohne die vorangegangenen ausführlichen Recherchen von anderen Autoren und Journalisten, wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Daher gilt mein besonderer Dank Norbert Häring (www.norberthaering.de), Hans-Martin Tillack (Die Lobbyrepublik), Sascha Adamek & Kim Otto (Der gekaufte Staat), Thilo Bode (Die Freihandelslüge), Wolfgang Streeck (Gekaufte Zeit), Wigbert Loer & Oliver Schröm (Geld Macht Politik), Matthias Weik & Marc Friedrich (Der größte Raubzug der Geschichte), Joseph Vogl (Der Souveränitätseffekt) und den Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen wie Corporate Europe Observertory, Lobbycontrol und Abgeordnetenwatch für zahlreiche Anregungen, umfangreiche Recherchen und konstruktive Denkanstöße. Sie sind es, die mit ihrer täglichen Arbeit Informationen darüber liefern, was in den politischen Systemen falsch läuft und dadurch eine gewisse Kontrollfunktion ausüben. Da die geschilderten Ursachen, Strukturen und Prozesse vielfältig in einem Zusammenhang miteinander stehen, erschienen mir Wiederholungen an einigen Stellen unumgänglich, um die Aussagekraft einer Beobachtung zu unterstreichen. Besonderer Dank gilt Carolin Arns, für die nötige Geduld und die enorme Unterstützung, die sie mir während diesem Projekt zuteilwerden ließ.

Inhalt

Einleitung

I. Ursachen

Globalisierung

Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft

Der Rückzug des Staates

Der Niedergang der Sozialdemokratie

II. Symptome

Zusammenhang Demokratie und Kapitalismus

Die Plutokratischen Staaten von Amerika

Deutschland – auf dem Weg zu amerikanischen Verhältnissen?

Der institutionalisierte Lobbyismus

Legale Korruption

Die Verschmelzung von Wirtschaft und Politik

Die Finanzierung der Politik durch das Kapital

Privatisierung öffentlicher Güter durch die Hintertür – oder wie öffentliches Vermögen zu privatem Vermögen wird

Technokraten – die neuen Herrscher

Die Repräsentation des Marktes durch die EU

Neue Institutionen für ein finanzkapitalistisches Repräsentationssystem

Die Troika als Instrument der finanzpolitischen Intervention

TTIP und CETA - Die Verfassung des selbstregulierenden Kapitalismus

No taxiation but represetentation

Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung

Mediendemokratie

Stell Dir vor, es ist Demokratie und niemand geht hin

Konsequenzen für Gesellschaft und Umwelt

III Gegenmaßnahmen

There is an alternative

Verwendete Quellen

Einleitung

Alles im Universum unterliegt der Veränderung. So wie die Welt heute existiert, ist sie das Ergebnis eines 13,7 Milliarden Jahre andauernden evolutionären Prozesses, der weiterhin voranschreitet. Galaxien driften auseinander oder kollidieren mit anderen Galaxien, Sterne werden geboren und sterben, Planeten entstehen, Kontinente wandern und Gebirge wachsen oder erodieren. Menschen, Gesellschaften und Technologien entwickeln sich ebenso weiter wie politische Systeme. Nichts bleibt, wie es ist. Alles unterliegt dem Prozess der Veränderung. Manche Veränderungen passieren ruckartig, wie die Französische Revolution oder der Fall der Berliner Mauer. Andere Veränderungen geschehen langsam, über Jahrzehnte, Stück - für Stück und sind deshalb im Moment der Veränderung kaum als solche zu identifizieren. Das Ende des Römischen Reiches ist dafür ein ebenso eindrucksvolles Beispiel wie das Ende der Maya. In gewisser Weise gilt das auch für unsere offizielle Staatsform, die parlamentarische Demokratie. Auch sie unterliegt einem evolutionären Prozess, denn es wäre naiv, anzunehmen, dass sich wirtschaftliche, soziale und technologische Veränderungen in der Gesellschaft nicht auf die Staatsform oder die Politik auswirken. So werden neue Strukturen, Prozesse und Inhalte im politischen System gebildet, um auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu reagieren. Das führt zu einer Umwälzung des politischen Systems, zu einer Art Reform, in der alte Gesetzmäßigkeiten durch neue ersetzt werden. Gäbe es in Deutschland einen Putsch durch das Militär oder würde die Kirche die Macht an sich reißen, so würde ein Aufschrei der Empörung durch das Land gehen. Doch in einer lethargischen Gesellschaft, die irgendwo zwischen Selbstverwirklichung und massenmedialer Unterhaltung hin und her oszilliert und die sich von politischen Inhalten und politischer Beteiligung weitestgehend losgelöst hat, bleibt ein langsamer generationenübergreifender Prozess der Veränderung des politischen Systems von der großen Mehrheit unbemerkt. Scheinbar ändert sich nicht viel. Aber bei genaueren Hinsehen erkennt man, dass eine Transformation von Strukturen und Prozessen stattfindet, die wiederum eine gewaltige Veränderung für das Leben der Bevölkerung mit sich bringt. Die Staatsform wird zwar auch weiterhin noch mit dem Label der Demokratie versehen sein, es gibt keine Einschränkungen im Wahlrecht, Wahlen werden auch weiterhin frei und geheim sein und man wird auch weiterhin Volksvertreter für eine bestimmte Amtszeit wählen können, welche durch dieses Verfahren für das Treffen von allgemeinverbindlichen Entscheidungen legitimiert werden. Doch diejenigen, die wir wählen, sind nicht mehr die, die alleine diese allgemeinverbindlichen Entscheidungen fällen. „Die gewählten sind nicht diejenigen, die entscheiden und diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt.“1 Das sagt niemand Geringeres als Horst Seehofer, amtierender bayerischer Ministerpräsident und ehemaliger Bundesminister für Gesundheit sowie ehemaliger Bundesminister für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, ein Mann, der es wissen muss. Im politischen System lässt sich die Entstehung von neuen Strukturen beobachten, die demokratische Prozesse umgehen. Man kann zwar ein Parlament oder eine Regierung wählen, doch diese demokratisch legitimierten Institutionen haben immer weniger zu entscheiden. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist Griechenland, dessen Bürger sich in einem Referendum mehrheitlich gegen die Austeritätspolitik der Troika ausgesprochen haben. Genützt hat es nichts, die Reformen mussten trotzdem umgesetzt werden. Diese politische Entscheidung ignorierte das „Wahlvolk“ und bevorzugte das „Marktvolk“ (Streeck 2013), oder anders ausgedrückt: Das demokratische Repräsentationssystem musste in dieser Sache einem finanzkapitalistischen Repräsentationssystem weichen. Repräsentiert wurden in dieser politischen Entscheidung nicht die griechischen Wähler, sondern internationale Investoren.

Doch worin äußern sich die sozialen und technologischen Veränderungen in der Gesellschaft? Wie sehen die neuen Strukturen, Prozesse und Inhalte des politischen Systems aus? Und welche Auswirkungen haben diese für die Entwicklung der Demokratie? Es wird sich zeigen, dass die Demokratie einer massiven Transformation unterworfen ist. Neue Akteure aus dem Wirtschafts- und Finanzsystem, die Einzug in das politische System halten, sind für die Entstehung von Strukturen verantwortlich, die eine Erosion demokratischer Prozesse nach sich ziehen, in dem sie als eine Art Bypass demokratische Strukturen umgehen. Sie erhalten einen exklusiven Zugang zum politischen System aufgrund ihrer Expertise, denn sie liefern dem politischen System das nötige Wissen, damit es komplexe systemfremde Sachverhalte regulieren kann. Allerdings verändert sich politischer Zugang durch Expertise von einer beratenden Funktion hin zu einer gestaltenden. Konsultationen hat es in der Politik immer schon gegeben. Kein Herrscher konnte je alles Wissen in sich vereinen, um sein Territorium effektiv regieren zu können. In der jüngeren Vergangenheit gab es im politischen System immer mehr Konsultationen von privater Expertise, wie etwa bei CO2Abgasen, Luftverkehrssicherheit, Fracking oder Finanzprodukten wie Credit Default Swaps, Hedgefonds und dergleichen. Doch im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist aus der Konsultation von Expertise Beeinflussung durch Expertise geworden. Insbesondere Akteure des Wirtschafts- und Finanzsystems nutzen die Wissensasymmetrie zwischen Politik und Wirtschaft, um bewusst gestaltenden Einfluss auf die Politik auszuüben. Der Bedarf an Expertise ist parallel zu der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen Anstieg von Komplexität stetig gewachsen, da diese Entwicklungen die Kapazitäten des politischen Systems überfordern. Es kann die jeweiligen Bereiche, die es zu regulieren hat, kaum noch überblicken. Die Beeinflussung der Politik durch Akteure aus dem Wirtschafts- und Finanzsystem ist also das Resultat eines evolutionären systemischen Prozesses, namentlich der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen Anstieg von Komplexität. Damit sie bei komplizierten Sachverhalten und Entscheidungen beratend zur Seite stehen, werden externe Akteure ins politische System berufen. Diese privaten Marktakteure aus dem Wirtschafts- und Finanzsystem nutzen ihren exklusiven politischen Zugang jedoch dahingehend, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Sie erkannten politischen Zugang als Produktionsfaktor. Seitdem beeinflussen sie die Strukturen und Prozesse des politischen Systems in eine Richtung, die ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Profite durch geringstmögliche Regulierung oder gar Selbstregulierung steigern soll. Der Zweck der Beeinflussung besteht darin, die jeweiligen Interessen der Akteure bei deren Regulierung zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung von verschiedenen Interessen, oder, anders gesagt, Pluralismus, ist ein Kennzeichen der Demokratie und an sich noch keine Veränderung. Im Idealfall konkurrieren die verschiedenen Interessensgruppen mit Argumenten um die Mehrheit. Doch politischer Zugang ist für das Wirtschafts- und Finanzsystem zu einer Ressource geworden, die Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten erzielen kann. Deshalb unterliegt die Ressource politischer Zugang selber dem Wettbewerb. Wer mehr bezahlt, erhält exklusiveren Zugang. Die Mehrwertsteuersenkung für Hotels durch die FDP ist ein klassisches und vielzitiertes Beispiel für diese Art der Klientelpolitik. Dabei wird der juristische Begriff der Korruption geschickt umgangen durch teilweise neue Methoden, die ebenfalls strukturelle Veränderungen im politischen System darstellen. Bezahlt wird der politische Zugang über Umwege, zum Beispiel durch die legale Parteienfinanzierung, durch Parteiensponsoring oder durch das Anbieten einer Anschlussbeschäftigung nach dem Ende der politischen Karriere. Die Lobbyindustrie2 (Tillack 2015) sorgt dafür, dass aus der Politik die Fortsetzung des Wettbewerbs mit anderen Mitteln wird3. Dadurch wird nicht nur das demokratische Prinzip des egalitären Zugangs ausgehebelt, sondern es werden auch Inhalte und Entscheidungsprozesse verändert. Diesen liegen nicht mehr demokratischen Verfahren zugrunde, sondern partikularen Interessen. Die Politik wird durch Parteiensponsering, Parteispenden, Lobbyismus und durch das Anbieten von gutbezahlten Anschlusstätigkeiten in der Wirtschaft ökonomisiert. Das hat zur Folge, dass ein zweites Repräsentationssystem neben dem demokratischen Repräsentationssystem entsteht. In marktkonformen politischen Entscheidungen, sei es Austeritätspolitik, Privatisierungen von staatlichen Leistungen, Bankenrettungen, Wirtschaftsunion oder Flexibilisierung von Arbeitsmärkten findet die globale Finanzelite ihre Repräsentation. Politische Entscheidungen orientieren sich nicht mehr am Allgemeinwohl, sondern an den Präferenzen des Marktes. Gleichzeitig wird immer mehr politische Macht aus dem politischen System an private Marktakteure delegiert und private Marktakteure besetzten selber exekutive Ämter im politischen System. Die Akkumulation von Kapital verbindet sich hier mit politischer Macht. Auf der anderen Seite verstärkt sich die soziale Ungleichheit. Die Reallöhne der unteren und mittleren Einkommen sinken, während die Einkommen der oberen zehn Prozent stark steigen. Diese steigende soziale Ungleichheit hängt direkt mit der Erosion demokratischer Prozesse und Strukturen im politischen System zusammen.

Ein weiteres Merkmal dieses Transformationsprozesses ist, dass sich der Staat immer weiter zurückzieht. Aufgaben, die zuvor noch fest in der Hand des Staates waren, werden vermehrt von privaten Akteuren übernommen. Prominentes Beispiel ist hier die private Rentenvorsorge, aber auch immer mehr Teile der Daseinsvorsorge werden von privaten Akteuren geleistet. Staatliche Akteure der obersten Hirarchiestufen wie Bundeskanzler, Bundesminister, Landesminister, Abgeordnete und selbst Parlamentarische Staatssekretäre unterliegen nicht nur zunehmend dem Einfluss privater Marktakteure, sondern wechseln in einem wachsenden Ausmaß die Seiten, von der Politik in die Wirtschaft. Dort fungieren sie dann als Vermittler zwischen politischen System und Wirtschaft. In den Parteien werden „Wirtschaftsräte“ geschaffen, die private Marktakteure strukturell in die Parteipolitik mit einbeziehen. Die Grenzen zwischen diesen beiden Systemen beginnen zu verschwimmen.

Gleichzeitig bewirken Prozesse wie die Globalisierung, dass neue Governance-Regime auf der supranationalen Ebene jenseits des Staates entstehen. Durch die Globalisierung verlieren die Staaten die Möglichkeit, regulierend auf nun grenzüberschreitende Prozesse einzugreifen, wie etwa die Kapitalströme oder Steuerflucht. Um diese im Zuge der Globalisierung entstandene Regulierungslücke4 (Black) zu kompensieren, schließen sich die Staaten in supranationalen Regulierungsregimen wie etwa der Europäischen Union zusammen. Gerade supranationale Regime und Institutionen unterliegen im besonderen Maße dem Einfluss privater Akteure, da der zu regulierende Raum hier um ein Vielfaches größer ist, das öffentliche Interesse aber geringer. Hier werden vormals demokratische Entscheidungsfindungsprozesse zu einer Angelegenheit von geschlossenen Eliten, die weitestgehend losgelöst von demokratischem Zugriff den Gesetzen des Marktes folgen. Die Übertragung ehemals staatlicher demokratischer Verfahren auf supranationale Regulierungsregime folgt dem Subsidiaritätsprinzip und bewirkt damit eine Umwandlung demokratisch legitimierter politischer Institutionen in ungewählte Expertengremien wie beispielsweise der Troika oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Entstanden sind diese Strukturen, um grenzüberschreitende Prozesse zu regulieren. Dazu gehören vor allem jene Prozesse, die durch ein globales Finanz- und Wirtschaftssystem verursacht werden. Die Konsequenz, die sich aus dem Versuch der politischen Regulierung dieser Prozesse, teilweise mit und durch Experten aus Wirtschafts- und Finanzsystem, ergibt, ist, dass Politik marktkonform wird. Dadurch folgt die Regulierung durch die Politik der standardökonomischen Theorie und damit den Interessen der Märkte, was zu einer Abkopplung der Wirtschaft von massendemokratischem Zugriff führt. Denn geht es um Finanz- oder Wirtschaftspolitik werden immer häufiger demokratische Verfahren umgangen oder blockiert. Bei politischen Entscheidungen wird nicht mehr auf potenzielle Wähler zugerechnet, sondern auf die Regeln internationaler Märkte. Dieser Prozess der Entdemokratisierung der Wirtschaft5 (Streeck 2013) gipfelt in sogenannten Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP, deren Zweck in einer Art hayekanischen Verfassung des Marktes besteht, die Wirtschafts- und Finanzsystem gegenüber demokratischen Zugriff immunisieren soll und damit die Selbstregulierung des Kapitalismus institutionalisiert.

Die Konsequenz, die sich aus einem selbstregulierenden Kapitalismus ergibt, der durch bezahlten politischen Zugang ermöglicht wird, ist, dass demokratische Verhandlungssysteme wie etwa Gewerkschaften, Tarif- und Lohnpolitik, eine progressive Besteuerung und umfangreiche Arbeitsrechte, wie es sie über weite Teile des 20. Jahrhunderts gegeben hat und die zur Umverteilung des erwirtschafteten Wohlstands dienten, einer Erosion unterliegen. Diese Phase der Postdemokratie6 (Crouch 2013) markiert eine langsame Transformation des politischen Systems von einer Demokratie hin zu einer Defacto-Plutokratie, in der diejenigen am meisten von der Politik profitieren, die politische Entscheidungsprozesse durch bezahlten Zugang in ihrem Sinne beeinflussen. Das Resultat ist eine Ordnung der ökonomischen Eliten, die durch diese Ordnung ihren Profit institutionalisieren. Dabei handelt es sich nicht um eine Verschwörung der Wohlhabenden gegen den Rest der Bevölkerung, sondern um einen evolutionären Prozess, der seine Ursachen in tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft hat. In einem ersten Schritt werden diese bereits angedeuteten Ursachen im ersten Kapitel dieses Buches skizziert. Das zweite Kapitel widmet sich den Symptomen, die sich durch eine Transformation der Demokratie hin zu einer Defacto-Plutokratie beobachten lassen. Es muss gefragt werden, in was von einer Art von Gesellschaft wir leben wollen. In einer halbwegs egalitären Gesellschaft, in der die Bevölkerung an der Verteilung des Wohlstandes mitwirkt und über ihr Schicksal mitentscheidet, oder einer unegalitären Gesellschaft, in der diejenigen über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands bestimmen, die ihn für sich beanspruchen? Ob es möglich ist, sich gegen diese Entwicklung, sich gegen den Lauf der Zeit zu stellen und welche Gegenmaßnahmen dazu erforderlich wären, wird abschließend im letzten Kapitel erörtert. Zunächst werden die Veränderungen, denen die Gesellschaft in den letzten 40 Jahren unterworfen war und dem Prozess, der eine Anpassung des politischen Systems an diese Veränderungen beschreibt und gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird, dargestellt.

I. Ursachen

Globalisierung

Was im Allgemeinen mit dem Begriff des Neoliberalismus beschrieben wird, umreißt einen seit mittlerweile fast vierzig Jahre andauernden Transformationsprozess der politischen Systeme. Dieser Transformationsprozess, welcher demokratische Entscheidungsfindungsverfahren auf nahezu allen Ebenen des Regierens, der lokalen Ebene, der nationalen Ebene und der internationalen bzw. transgouvermentalen Ebene, beeinflusst, ist nicht aus einer bewussten Steuerung bestimmter Akteure hervorgegangen. Vielmehr bezeichnet der Neoliberalismus eine Anpassung der Gesellschaften und ihrer politischen Systeme an veränderte Umweltbedingungen innerhalb der letzten vier Jahrzehnte. Hervorgerufen wurden diese Veränderungen der Gesellschaften durch eine Vielzahl von Faktoren, manche sind unabhängig voneinander, doch in vielen Fällen überschneiden sie sich und verstärken einander. Gemeinsam haben sie, dass sie in der Summe eine grundlegende Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik bewirken.

Eine der bekanntesten Ursachen ist wohl der Prozess der Globalisierung. Der Begriff der Globalisierung beschreibt die Intensivierung des grenzüberschreitenden Austausches von Gütern, Dienstleistungen und Kommunikation. Dazu zählen auch grenzüberschreitende Kapitalströme. Wie das Wort „grenzüberschreitend“ bereits signalisiert, bewirkt der Prozess der Globalisierung, dass nationale Regierungen ihre vormals nationalen Ökonomien nicht mehr regulieren können. Die klassische Ordnungsfunktion des Staates wird dadurch einer grundlegenden Transformation unterzogen. Kam der Rolle des Staates in der Geschichte seit dem Westfälischen Frieden eine unangefochtene Steuerungsfunktion für die Gesellschaft innerhalb seines Territoriums zu, so sorgt ein Anwachsen grenzüberschreitender Prozesse dafür, dass der Staat nicht mehr auf alle Vorgänge innerhalb seiner Grenzen Einfluss ausüben kann, da die Ursachen dafür nicht auf seinem Territorium zu finden sind. Dazu zählen ebenso die Operationen eines global agierenden Finanzsystems, global agierende Konzerne wie auch Überfischung der Weltmeere oder Flüchtlingsströme. Ein Staat alleine kann beispielsweise nicht das Finanzsystem regulieren. Ebenso wenig kann eine Regierung verhindern, dass ein Konzern mit Niederlassungen in zahlreichen Ländern seine Gewinne in dem Land besteuern lässt, indem die Steuersätze am günstigsten sind. Dank neuer Kommunikationstechnologien, die eine globale Kommunikation in Echtzeit ermöglichten, wurden nicht nur neue Märkte in einem unglaublichen Tempo erschlossen, sondern auch globale Produktions- und Zulieferketten gebildet. Weltweite Vernetzung der Wirtschaft, weltweite Absatzmärkte und weltweite Produktionsmöglichkeiten hatten zur Folge, dass für die Wirtschaft die Grenzen des Staates immer mehr an Bedeutung verloren. Neue Referenz waren nun globale Märkte und Produktionsstandorte, die Wirtschaft drängte aus nationalen Grenzen heraus. Die Gesetzgebungsmöglichkeiten des Staates enden aber an seinen Grenzen, denn nur innerhalb der Staatsgrenzen wird die Politik durch Wahlen zum Fällen allgemeinverbindlicher Entscheidungen berechtigt. Globalisierung bewirkt also, dass sich die Operationen von Wirtschafts- und Finanzsystem auf eine globale Ebene verlagern, während die Staaten und ihre Regulierungskompetenz auf eine nationale Ebene beschränkt bleiben. Wie viele andere Systeme auch, werden Wirtschafts- und Finanzsystem zu globalen Systemen, Politik verharrt dagegen in vielen kleinen nationalen Einheiten. Die Tatsache, dass auf globaler Ebene kein übergeordneter Weltstaat existiert, der eine Ordnungsfunktion im globalen Raum erfüllen könnte, oder die Tatsache, dass die Möglichkeiten von Staaten, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, auf ihr Territorium beschränkt bleiben, trägt dazu bei, dass auf transgouvermentaler Ebene ein Steuerungsvakuum entstanden ist, was nach und nach von privaten Marktakteuren ausgefüllt wird. Es lassen sich neue Modelle und Instrumente jenseits des Nationalstaates erkennen, die in einer Art und Weise dazu in der Lage sind, Bereiche zu regulieren, die sich dem Zugriff des Nationalstaates entziehen. Es kam zu der Entstehung von informellen Regulierungsregimen, Verfahren, Verträgen, Normen und Gremien privater Akteure, die teils mit staatlichen Akteuren, teils selbstständig eine Koordination von globalen politischen Strukturen und globalen ökonomischen Prozessen vornehmen. Gerade weil sie undemokratisch sind, da sie nicht von einem territorial gebundenen Wahlvolk legitimiert werden, sind sie dazu in der Lage, globale Sachverhalte zu regulieren. Das einzige was sie dazu legitimiert ist ihre Expertise. Diese Regulierungsregime stellen im globalen Raum Güter zur Verfügung, die auf dieser Ebene von Staaten nicht erbracht werden können. Dazu gehören in erster Linie Regelwerke für die jeweiligen Sachverhalte und Rechtssicherheit. So gibt der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht in Zusammenarbeit mit privaten Banken teilweise Richtlinien für das globale Finanzsystem vor. Eine diese Richtlinien besteht aus BASEL II, welches Eigenkapitalvorschriften für Banken vorgibt. Diese Richtlinien sind in Zusammenarbeit mit privaten Marktakteuren entstanden und bekommen durch die Implementierung in nationales Recht einen gouvermentalen Charakter. Ein anderes Beispiel ist die ISDA, die International Swaps and Derivates Association, die mit dem ISDA Master Agreement einen standardisierten rechtlichen Rahmen für alle Arten von Swap-Verträgen vorgibt.7 Die ISDA setzt sich ausschließlich aus privaten Marktakteuren zusammen, kann aber aufgrund ihrer Expertise im Derivate-Bereich mit ihren Richtlinien eine Anpassung in nationales Recht und damit eine Änderung der jeweiligen staatlichen Rechtspraxis erwirken.8 (Vogl 2015) Ähnlich wie die FIFA die Richtlinien für den Weltfußball vorgibt, geben diese teils halb, teils komplett privaten Regulierungsregime die Richtlinien für ein globales Finanzsystem vor. Das Problem dabei aber ist, dass diese Regulierungsregime anders als Staaten keinem Wähler und keinem Allgemeinwohl verpflichtet sind, da sie aus keinem demokratischen Verfahren hervorgegangen sind. Folglich müssen sie bei ihren Entscheidungen auch nicht eine mögliche Widerwahl berücksichtigen. Sie sind nur gegenüber partikularen Interessen Rechenschaft schuldig. Und diese Rechenschaft besteht darin, ein möglichst effizientes Funktionieren eines globalen Finanzsystems zu ermöglichen. Staaten erlangen ihre Legitimation durch die Wähler, private Regulierungsregime, oder anders formuliert die darin vertretenen Finanzinstitute, erlangen ihre Legitimation durch ihre Anleger, also einer Art partikularen Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich ein alternatives Repräsentationssystem gegenüber einem herkömmlichen, demokratisch durch Wahlen legitimierten, Repräsentationssystem.9 Bei den Entscheidungen, die von solchen privaten Regulierungsregimen gefällt werden, wird auf ein internationales Marktvolk zugerechnet, nicht auf ein nationales Wahlvolk. Formal sind diese privaten Regulierungsregime nicht mit politischen Entscheidungskompetenzen ausgestattet, doch aufgrund ihrer Expertise in den jeweiligen Sachverhalten werden ihre Empfehlungen und Richtlinien nicht nur im privaten Bereich umgesetzt, sondern auch in politischen Systemen implementiert. So hat die europäische Union ganz im Sinne des ISDA eine Richtlinie zu Finanzsicherheiten (Directive on Financial colletaral Arrangements) erlassen, die sowohl „die Effizienz und die Integration der europäischen Finanzmärkte“ fördern sowie die „grenzüberschreitenden Geschäfte und die Wettbewerbsfähigkeit“ erhöhen soll und die Mitgliedsstaaten dazu „verpflichtet die Rechtssicherheit für Finanzsicherheiten“ zu verbessern.10 Ein weiteres Beispiel für ein Regulierungsregime auf globaler Ebene bildet die International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use, kurz ICH. Mitglieder bei der ICH sind neben politischen Regulierungsbehörden wie der FDA (Federal Drug Association), der US-amerikanischen Regulierungsbehörde, und der EMA, der europäischen Arzneimittel Agentur, auch private Branchenverbände wie die PhRMA (Pharmaceutical Research and Manufacures of America) und der EFPIA (European Federation of Pharmaceutical Industires and Associations). Daneben partizipieren in diesem globalen Regulierungsregime der Pharmabranche noch rund 33 weitere Verbände und zahlreiche Unternehmen. Aufgabe der ICH ist die Festlegung von Standards für die Sicherheit und Qualität von Medikamenten. Das funktioniert dann folgendermaßen: Eine Expertengruppe des ICH entwirft Richtlinien, die anschließend den politischen Mitgliedern und Regierungsvertretern vorgelegt werden. Diese können die Richtlinien in ihren Ministerien überprüfen, bei Bedarf kommentieren -und anschließend wird ein neuer Konsens erarbeitet. Am Ende beschließt dann der Lenkungsausschuss die Richtlinien. Obwohl diese Richtlinien keine rechtliche Bindung haben, werden viele dieser Richtlinien in nationale Gesetzte gegossen, auch von Regierungen, die gar nicht Mitglieder bei der ICH sind. Aufgrund ihrer Expertise in dem jeweiligen Bereich werden diese Art von Regulierungsregimen quasi zu privaten Autoritäten und entscheiden, was in ein Gesetz gehört und was nicht. Jedes einzelne Regulierungsregime wirkt wie eine globale Legislative für den jeweiligen Bereich, wie beispielsweise Finanzen (ISDA) oder die Pharmabranche (ICH). Auf diese Weise werden nicht nur bestimmte partikulare Interessen im legislativen Prozess privilegiert, sondern auch mit einer politischen Entscheidungskompetenz ausgestattet, die allgemeinverbindliche Regeln und Gesetze formen kann, ohne eine demokratische Legitimation aufweisen zu können. Diese teils halb staatlich, halb privaten aber auch unabhängige private Regulierungsregime wie ISDA, IWF, WTO oder Baseler Ausschuss, betreiben durch die Koordination von ökonomischen Prozessen auf globaler Ebene eine Regierungspraxis, die im allgemeinen mit dem Begriff des Global Governance bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine globale Ordnungspolitik, die durch die teilweise Verflechtung mit politischen Institutionen eine Selbstregulierung eines globalen Wirtschafts- und Finanzsystems ermöglicht. Es findet eine Delegierung von zuvor klassischen öffentlichen Aufgaben wie dem Bereitstellen von kollektiven Gütern an private Marktakteure statt. Internationale Organisationen, wie die Welthandelsorganisation (WTO) als Steuerungsregime für das globale Wirtschaftssystem oder Basel II als Steuerungsregime für das globale Finanzsystem, ermöglichen diesen Systemen, sich selbst zu regulieren. Entsprechende Selbststeuerungsregime gibt es auch für das globale Gesundheitssystem, etwa die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder das globale Sportsystem (IOC). Diese Regulierungsregime wie das ISDA oder das ICH können für den globalen Markt Güter bereitstellen wie Rechtssicherheit, Standardisierung und Normierung oder Vertragsfreiheit - also insgesamt allgemeinverbindliche Regeln. Diese Güter können von Staaten im globalen Raum nicht zur Verfügung gestellt werden. Was Staaten aber nach wie vor können, ist allgemein verbindliche Gesetze und Regeln zu erlassen, weil Parlamente in einer Demokratie die einzigen legitimierten Institutionen sind, die Gesetze verabschieden können. Private Regulierungsregime können das nicht, von daher sind sie auf die Politik angewiesen, solange die von ihnen aufgestellten Richtlinien über die Anwendung im privaten Bereich hinausgehen und allgemeinverbindlich sein sollen. Staaten werden so zu Implementierungsmaschinen partikularer Interessen degradiert. Für die globalen Regulierungsregime wird die Politik nur noch zum Implementieren von Experten-Richtlinien genutzt, da es nur dort eine legitime Basis dafür gibt. Da Wirtschafts- und Finanzsystem aber für ihre Akteure auf diese Weise weltweite allgemeinverbindliche Regeln aufstellen können, sich also selber regulieren, überrascht es nicht, wenn diese Regeln den Funktionslogiken dieser Systeme folgen. Abstrakte Gebilde wie beispielsweise Allgemeinwohl oder soziale Gerechtigkeit sind Bedürfnisse, die im politischen System formuliert werden. Wirtschafts- und Finanzsystem unterliegen dagegen den Gesetzen des Marktes. In einem alternativen Repräsentationssystem sind sie nur den Akteuren aus dem Wirtschafts- und Finanzsystem gegenüber verpflichtet. Hier gibt es nur betriebswirtschaftliche Betrachtungsweisen. Da geht es nicht um Bürger, sondern um Profit, Wettbewerbsfähigkeit, Freihandel, Anerkennung von Standards und um Investorenschutz.

Globalisierung bewirkt also, dass sich Wirtschafts- und Finanzsystem im zunehmenden Maße selber regulieren, was zu einem sich selbst regulierenden Kapitalismus führt, der sich jeglicher staatlichen Kontrolle entzieht. Politik soll nur noch die legitime Basis für den selbstregulierenden Kapitalismus bilden. Eine demokratische Regulierung des Marktes wird so verhindert. Denn „der Rahmen internationaler Steuerung, der durch WTO, die OECD, den internationalen Währungsfonds (IWF) und – für uns Europäer – durch die Europäische Union vorgegeben wird, bewegt sich genau in die entgegengesetzte Richtung. So gut wie alle Maßnahmen internationaler ökonomischer Reformen und Liberalisierungen dienen dazu, die Schranken der unternehmerischen Freiheit niederzureißen.“ (Crouch 2013) Ein sich selbst regulierender Kapitalismus sieht bestehende Regulierungen wie Arbeitsrechte oder Umweltschutz als Hindernisse, die möglichem Profit im Weg stehen. Aus diesem Grund werden diese Regulierungen, die aus demokratisch legitimierten Entscheidungskompetenzen von nationalen Regierungen hervorgegangen sind, von einem sich selbst regulierenden Kapitalismus mithilfe des Schlagwortes der Wettbewerbsfähigkeit beseitigt und durch eigene Regeln ohne Profitbehinderungen ersetzt.

Hinzu kommt, dass der Prozess der Globalisierung Nationalstaaten selber dem Wettbewerb unterwirft. Die Staaten wurden nun selber Teil eines globalen Marktes, einem Standortwettbewerb, in dem sie dem Prinzip von Angebot und Nachfrage unterliegen. Staaten sehen sich nun gezwungen, für Unternehmen und Investoren günstige Bedingungen zu schaffen, damit diese nicht in einen anderen Staat investieren. Das Rennen um die Wettbewerbsfähigkeit wurde eröffnet und damit ein neues Paradigma in der Politik eingeführt. Um zu verhindern, dass Unternehmen in andere Staaten abwandern und um zu gewährleisten, dass weiterhin in ihrem Staat und nicht in wettbewerbsfähigere Staaten investiert wird, müssen sich die Staaten dem Druck der globalen Ökonomie anpassen. Dieser Druck besteht im Paradigma der Wettbewerbsfähigkeit, die sich aus Infrastruktur, Rechtssicherheit, Lohn-, Sozial- und Produktionskosten sowie qualifizierten Arbeitskräften zusammensetzt. Die Antwort der Staaten besteht darin, die nationale Wirtschaft gegenüber den Kräften der globalen Ökonomie wettbewerbsfähig zu halten und den Ansprüchen internationaler Investoren mit attraktiven Deregulierungs-Offerten gegenüberzutreten. Eine politische Dynamik entsteht, die den Gesetzen des Marktes folgt. Es entsteht ein Race-to-the-Bottom, in dem Regierungen im Konkurrenzkampf untereinander ihre Sozialstandards und Unternehmenssteuern so weit wie möglich senken, um die Abwanderung von Industrie, Produktion und Kapital in noch weniger regulierte Staaten zu verhindern und andererseits attraktiv für Investoren und internationale Anleger zu werden. Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2010 senkte Italien seine Unternehmenssteuer von 41,3 Prozent auf 31,4 Prozent, Deutschland von 51,6 Prozent auf 29,8 Prozent, England von 30 Prozent auf 28 Prozent, Portugal von 35,2 Prozent auf 26,5 Prozent Griechenland von 40 Prozent auf 24 Prozent, Polen von 30 Prozent auf 19 Prozent und Irland von 24 Prozent auf 12,5 Prozent.11 Bis auf das ohnehin schon liberale England senkten diese Staaten also innerhalb von zehn Jahren ihre Unternehmenssteuern um ein Drittel bzw. fast um die Hälfte. Denn zum einen ist es für transnational operierende Unternehmen durch uneingeschränkte Kapitalmobilität und technologischen Fortschritt in Kommunikationstechnologien und internationalem Handel möglich, ihre Produktion dort anzusiedeln, wo sie die geringsten Steuern zahlen, die geringsten Löhne gezahlt werden müssen und es die geringsten Regularien und Sozialstandards gibt, die damit die Produktion möglichst billig und damit möglichst wettbewerbsfähig im internationalen Konkurrenzkampf machen. Zum anderen werden Staaten von privaten Ratingagenturen für ihre Kreditwürdigkeit benotet. Je liberaler die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ist, je weniger Ausgaben der Staat hat, ermöglicht zum Beispiel durch reduzierte Sozialsysteme und Privatisierung von Staatsaufgaben, desto investitionsfreundlicher ist ein Staat und dementsprechend auch kreditwürdig. Die Ratings sind ein entscheidendes Kriterium dafür, zu welchen Konditionen sich die Staaten in Form von Staatsanleihen Geld leihen können. Institutionen des Finanzsystems wie Standard & Poors, Moody´s und Fitch etikettieren in gewisser Weise Staaten mit Preisen, nämlich zu welchem Preis sie ihre Politik finanzieren können. Damit hat das Finanzsystem eine Struktur gebildet, mit dem es nicht nur Druck auf Nationalstaaten ausüben kann, sondern diesen Druck auch dazu einsetzt, um weniger kreditwürdige, also weniger wettbewerbsfähige und weniger investitionsfreundliche Staaten mit schlechten Rankings zu benoten und sie so zu Reformen ihrer Arbeitsmärkte und Sozialsysteme zu zwingen. Wettbewerbshemmende Politik ist also ein Nachteil für Staaten, da sie so höhere Zinsen für die aufgenommen Kredite zahlen müssen. Die Politik von Staaten wird dadurch gezwungen, sich an Marktpräferenzen auszurichten. Die beiden größten Rating-Agenturen, Standard & Poors und Moody´s, sind zum Teil in der Hand derselben Aktionäre. Diese setzen sich zusammen aus Fondsfirmen und Finanzkonzernen wie Black Rock, Morgan Stanley und die Bank of New York12. Eine zu starke Regulierung des Wirtschafts- und Finanzsystem ist für Regierungen also kostspielig, da diese zu schlechten Rankings führt. Aber zu starke Regulierung ist auch noch aus anderen Gründen problematisch: weil so Investoren und Unternehmen vergrault werden, was sich negativ auf das Wirtschaftswachstum ausübt. Private Rating-Agenturen diktieren durch die von ihnen aufgestellten Finanzierungsbedingungen die Regeln zum Umbau politischer Strukturen,13 die den Bedürfnissen des Marktes gerecht werden und somit dem kapitalistischen Repräsentationssystem gegenüber einem demokratischen Repräsentationssystem den Vorzug geben. Was der Wähler wählt, ist nicht relevant, am Ende entscheidet der Markt. Diese Umstände wurden von der Politik durch Liberalisierung und Deregulierung gefördert und durch die technologische Entwicklung von Kommunikationsmöglichkeiten begünstigt. Zusätzlich produzieren die daraus neu entstandenen Prozesse und Strukturen im Wirtschafts- und Finanzsystem eine systemeigene Komplexität, welche den Selbststeuerungsbedarf von Wirtschaft und Finanzen fördert, da es der Politik an der nötigen Expertise mangelt.

Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft

Aus der Globalisierung ergibt sich also eine hohe Komplexität. Mit Komplexität ist hier die Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten gemeint. Immer mehr Interaktion und Kommunikation rund um den Globus in Echtzeit bewirkt demnach nicht nur eine Zunahme von Informationen, sondern auch eine Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsprozessen. Um sich das zu veranschaulichen, hilft es, sich das Beispiel der gesteigerten Kommunikation vor Augen zu führen. Wie viele Briefe bekam ein Manager 1960 am Tag und auf wie viele davon hat er umgehend geantwortet? Wie viele Anrufe bekam er? Wie viele Informationen über globale wirtschaftliche Zusammenhänge konnte er zu einem beliebigen Zeitpunkt in Sekunden abrufen? Heute sieht sich ein Manager mit Hunderten von Informationen täglich konfrontiert, von denen eine Vielzahl umgehende Beantwortung und damit schnelle Entscheidungen verlangt. Es wird eine Flexibilität gefordert, die schnell auf komplexe, eng vernetzte globale wirtschaftliche Zusammenhänge reagieren muss, deren Informationen allgegenwärtig sind. Der Anstieg der Komplexität bewirkt damit auch eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Ausdifferenzierung der Gesellschaft bedeutet, dass sich die Gesellschaft in allen Bereichen ausbreitet. Mehr Menschen, mehr Produkte, mehr technologiebasierte Prozesse, mehr Kommunikation und dadurch auch mehr Informationen sorgen wiederum für eine Steigerung von Entscheidungsmöglichkeiten und damit für einen weiteren Anstieg der Komplexität. Wie viel Kaffeesorten konnte man beispielsweise in den 60er Jahren in einem Supermarkt kaufen? Heute sind die Supermärkte voll von Dutzenden verschiedener Kaffeeprodukte. Wie viele verschiedene Modelle hat ein Automobilkonzern in den 60er Jahren produziert? Heute hat jeder Automobilhersteller eine Vielzahl von unterschiedlichen Modellen im Angebot, die in immer kürzer werdender Abfolge auf den Markt geworfen werden. Konzerne haben sich als Organisationen erheblich ausdifferenziert, mit riesigen Forschungsabteilungen, Marketingabteilungen, die eine intelligente Bewerbung der Produkte ermöglichen, Kommunikationsabteilungen, die das Image des Konzerns in der öffentlichen Darstellung und im Internet kontrollieren und Public-Affairs-Abteilungen, die den Zugang zum politischen System ermöglichen. Gleichzeitig werden die Produkte global von Unmengen von Zulieferern produziert und auch global verkauft - mit unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Grad der Komplexität des Wirtschaftssystems ist gewachsen, doch im Finanzsystem ist noch ein viel höherer Grad an Komplexität entstanden. Liberalisierungen im Finanzsektor durch die Reagan-Regierung in den USA in den 80er Jahren und durch den sogenannten „Big Bang“ der Regierung Thatcher in Großbritannien haben zu einer ungeheuren Menge von Finanzprodukten und globalen Vernetzungen der Finanzinstitute geführt, die in Echtzeit gehandelt werden, teilweise stark untereinander in Verbindung stehen und von einer Vielzahl von externen globalen Faktoren abhängig sind. Aufgrund dieser echtzeit-orientierten Operationsweise des Finanzsystems hat es eine so hohe systemeigene Komplexität, dass selbst Akteure aus dem Finanzsystem nicht in der Lage sind, dieser Komplexität zu überblicken. Wie sollen es dann externe Akteure aus dem politischen System schaffen, das Finanzsystem zu regulieren? Die Politik besitzt zu wenig Expertise, zu wenig Kapazitäten, um noch regulierend in die undurchsichtigen Prozesse und Strukturen des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems eingreifen zu können. Aus diesem Grund ist sie auf Experten aus den jeweiligen Systemen angewiesen, wenn es darum geht, diese Systeme zu regulieren. Bei Basel II, dem Selbststeuerungsinstrument des globalen Finanzsystems, regulierten sich die zu Regulierenden bereits selber. Diese Selbststeuerungsregime setzen die Staaten unter Druck. Denn zum einen haben die Staaten keine Möglichkeit mehr, auf die Systeme regulierend einzugreifen, weil sie sich ihres territorialen Machtbereiches entziehen und weil die Systemkomplexität außerhalb des Wirtschafts- und Finanzsystems nicht mehr greifbar ist. Zum anderen haben die Regulierungen, die von diesen Selbstregulierungsregimen geleistet werden, immense Auswirkungen auf Staaten und deren Gesellschaften. Man denke nur an die Finanzkrise. Aus diesem Grund sind die Staaten darauf angewiesen, sich die Expertise aus den Systemen zu holen. Mit anderen Worten: Diejenigen, die reguliert werden sollen, sind diejenigen, die wissen, wie reguliert werden kann und deshalb regulieren sie auch mit. Die Wissenskapazitäten des Staates sind längst an ihren Grenzen gekommen. Was gab es beispielsweise in der Metallindustrie in der Mitte des 20. Jahrhunderts außer Arbeitsrechten und Arbeitsschutz groß zu regulieren? Was musste der Staat in den 50er Jahren an Know-how aufbringen, um den Lebensmittelhandel zu regulieren? Heute ist der Regulierungsbedarf der Systeme um ein Vielfaches höher. Heute gibt es Unmengen von Entscheidungen, die das Allgemeinwohl betreffen. Heute gibt es Konzerne, die Patente auf genmanipulierte Pflanzen anmelden und Genmais weltweit als Futtermittel verkaufen. Hier besitzt der Staat gegenüber den Unternehmen nicht genug Wissen. Die Forschungsabteilungen, bzw. die durch Unternehmen privat finanzierte Wissenschaft, generiert eine Wissensasymmetrie, einen Wissensvorsprung gegenüber politischen Systemen. Statt wie früher Arbeitsrechte für die produzierende Industrie zu verabschieden, sieht sich der Staat heute mit hochkomplexen Finanzprodukten und Gentechnologie konfrontiert. Durch die Wissensasymmetrie entsteht eine regulative Dialektik. Erlässt der Staat Gesetze, welche beispielsweise den Handel mit Derivaten einschränken, werden neue Finanzprodukte entworfen, die nicht von diesen Gesetzen betroffen sind.

Früher, während des demokratisch regulierten Kapitalismus Mitte des 20. Jahrhunderts, gab es vor allem auch große gesellschaftliche Gruppen, die an der staatlichen Regulierung der Wirtschaft ein Interesse hatten und dieses in Form von Gewerkschaften auch in das politische System einbrachten - weil Löhne, Arbeitsrechte und Arbeitsschutz ein Teil der Lebenswelt der Arbeiterschaft waren. Wer hat heute ein Interesse daran, Credit Default Swaps oder Derivate zu regulieren oder nicht zu regulieren? Zu wessen Lebenswelt gehören diese Finanzprodukte? Wer ist von diesen betroffen? Die breite Bevölkerung sicher nicht, jedenfalls nimmt sie ihre Betroffenheit nicht wahr. Und wenn das von keinem wahrgenommen wird, außer denjenigen, zu dessen Alltag und Wahrnehmung diese Finanzprodukte gehören, interessiert es auch keinen, wie diese Finanzprodukte reguliert werden, außer denjenigen, deren täglich Brot sie sind. Aus diesem Grund wird Selbstregulierung in der öffentlichen Meinung kaum bis gar nicht wahrgenommen. Allerdings unterliegt die Selbstregulierung des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems einer ökonomischen Perspektive und nicht mehr der Perspektive des Allgemeinwohls, wie es noch bei staatlicher Regulierung der Fall war. Selbstregulierung reguliert nur für sich selbst. Aber sie betrifft auch andere Bereiche der Gesellschaft.

Da die Politik nicht mehr regulieren kann, aufgrund einer Beschränkung auf ihr Territorium und einer durch Komplexität hervorgerufenen Wissensasymmetrie, drängen Wirtschafts- und Finanzsystem in Form von Lobbyismus, Experten und selbst durch die Übernahme politischer Ämter in das politische System hinein. Sie werden selber zu politischen Akteuren. Denn nur im politischen System gibt es den gesetzlich legitimierten Raum für Regulierung. Zwar können Konzerne und Branchen seit jeher auch untereinander Abmachungen treffen, die dann gegenseitig anerkannt werden. Aber sie besitzen keine allgemeine Gültigkeit wie etwa Gesetze. Aus diesem Grund muss die Regulierung weiterhin mit Hilfe der Politik durchgeführt werden. Wirtschafts- und Finanzsystem können zwar aufgrund ihrer Expertise oder ihrer globalen Zuständigkeit regulieren, aber diese Regulierung findet nur allgemeine Verbindlichkeit innerhalb des politischen Systems. Aus diesem Grund ist es für die Selbstregulierung des Wirtschafts- und Finanzsystems notwendig, sich vom politischen System zu immunisieren, sich dem demokratischen Zugriff durch Regulierung unabhängig zu machen. So wären sie nicht mehr auf das politische System angewiesen. Dazu ist es notwendig, dass sich entsprechende Strukturen ausbilden. Wie an späterer Stelle noch gezeigt wird, sind Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP solche Strukturen, die mit Hilfe von regulatorischer Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik, einer eigenen Rechtsprechung durch Schiedsgerichte und einem vertraglich abgesicherten Einfluss durch die Partizipation in politischen Gremien es dem Wirtschafts- und Finanzsystem ermöglichen, die Herstellung von allgemeinverbindlichen Entscheidungen in Form von Gesetzen zu beeinflussen und darüber hinaus privaten Akteuren einen völkerrechtlich verbindlichen Platz innerhalb des politischen Systems einzunehmen. Politische Entscheidungen, die das Wirtschafts- und Finanzsystem betreffen, werden auf diese Weise nicht mehr einer demokratisch legitimierten Politik überlassen. Dadurch entziehen sich Wirtschafts- und Finanzsystem einer demokratischen Regulierung.

Die Abkopplung des Kapitalismus von massendemokratischem Zugriff ergibt sich aus der durch die Globalisierung entstandene Regulierungslücke im globalen Raum, die nicht von Staaten ausgefüllt werden kann und deshalb von privaten Marktakteuren gefüllt wird, welche auf diese Weise die Steuerungsfunktion in globalen Regulierungsregimen ausüben. Eine weitere Ursache besteht in der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen Anstieg von Komplexität. Eine Wissensasymmetrie zwischen Politik und Wirtschafts- und Finanzsystem entstand, welche Türöffner wurde für Lobbyisten und Experten, die auf diese Weise ins politische System kamen. Diese neuen privaten Marktakteure im politischen System ziehen eine weitere strukturelle Änderung der Politik nach sich: Der Staat zieht sich immer mehr von seinen klassischen Aufgaben wie der Bereitstellung von kollektiven Gütern und seiner Ordnungsfunktion insgesamt zurück.

Der Rückzug des Staates

In der Nachkriegszeit bildeten die Staaten Europas und die USA sogenannte Interventionistischen Staaten. Der Begriff „interventionistisch“ beschreibt die regulativen Eingriffe in die Wirtschaft, mit denen die Staaten die Wohlfahrtsverluste des Kapitalismus versuchten einzudämmen. Diese regulativen Eingriffe wurden charakterisiert durch flächendeckende Tariflöhne, durch die Steuerung wirtschaftlich bedeutender Politikfelder wie beispielsweise die Kohle- und Stahlindustrie, die Kontrolle über die Kapitalströme und durch die Regulierung der Wechselkurse. Die Wirtschaftsmodelle dieser interventionistischen Staaten nannten sich aufgrund der staatlichen Eingriffe gemischte Ökonomien (mixed economys), in Deutschland fand eine gemischte Ökonomie ihren Ausdruck in der Sozialen Marktwirtschaft. Bereits Ende der 60er Jahre begann der Staat, sich an die beginnende Ausdehnung der Gesellschaft in immer mehr Teilbereiche anzupassen. Paradoxerweise wurden die Grundvoraussetzungen für den heutigen Staat, der klassische staatliche Aufgaben der Daseinsvorsorge wie beispielsweise die Bereitstellung von öffentlichen Gütern wie Bildung, Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung oder Altersvorsorge an private Marktakteure auslagert und ebenfalls private Marktakteure in den Ministerien an Gesetzestexten mitformulieren lässt, in der Regierungserklärung von Willy Brandt, die unter dem Motto „Ein wenig mehr Demokratie wagen“ stand, am 28. Oktober 1969 gelegt. Diesem Leitsatz entspringt das Konzept der „bürgernahen Verwaltung“. Dahinter steckt die Idee, dass die Bürger nicht bloß Empfänger von Verwaltungsleistungen sein sollen, sondern als demokratischer Akteur an der Gestaltung der Politik mitwirken. Durch Input von unten, also von Bürgern und Interessensgruppen, in den politischen Prozess soll das politische System demokratischer werden. Diese Idee wagt in der Tat mehr Demokratie. Die bürgernahe Verwaltung ist ein Programm, mit dem sich das politische System an die gewachsene gesellschaftliche Komplexität anpasst.

Knapp zehn Jahre später entstand ein weiteres Programm. Der sogenannte „informale Rechtsstaat“ der 80er Jahre war ein weiterer Schritt in der Entwicklung zu weniger Staat. An die Stelle starrer Hierarchien trat ein gemeinsamer Lern-, Aushandlungs- und Verhandlungsprozess innerhalb netzwerkartiger Beziehungen.14 Zeitgleich wurde in vielen westlichen Staaten wegen einer gestiegenen Komplexität, welche die Steuerung insbesondere des Wirtschafts- und Finanzsystems erschwerte, aber auch aufgrund eines durch die Globalisierung verschärften Wettbewerbs eine Liberalisierungs- und Deregulierungswelle losgetreten. Viele staatliche Aufgaben wurden privatisiert, der Finanzsektor und weitere Bereiche wurden liberalisiert, die Arbeitsmärkte und Sozialsysteme reformiert. Der sogenannte „Big Bang“, die Liberalisierung des Finanzsektors durch die Regierung Thatcher 1986 in Großbritannien, ermöglichte es nun auch Banken und Versicherungen, am Handel mit Wertpapieren teilzunehmen. Ähnlich wie beim physikalischen „Big Bang“, dem Urknall, der die Expansion von Raum und Zeit in Gang setzte, expandierte nun auch das Finanzsystem. Verlief die Entwicklung des Finanzsystems in den Jahrzehnten zuvor relativ geradlinig und homogen, so wurde innerhalb weniger Jahre daraus eine chaotische Struktur. Wie die Begriffe schon sagen, bewirkt Liberalisierung eine Befreiung und Deregulierung eine Entregelung durch das politische System. Das leitete das Ende der gemischten Ökonomien ein, die nun durch freiwillig abgetretene Steuerungsverluste des Staates gekennzeichnet waren. Das Wirtschafts- und Finanzsystem wurde entfesselt. Die Fesseln, welche die Demokratie dem Kapitalismus angelegt hatte, wurden ein Stück weit gelockert. Die Öffnung der Märkte setzte Regierungen unter Druck, da sie die Angebotsbedingungen für Unternehmen verbessern mussten, was zu Steuersenkungen für die Wirtschaft führte. Die daraus resultierenden Ausfälle bei den Staatseinnahmen schlugen sich in dem Anstieg der Staatsverschuldung nieder. Nicht ein „über die Verhältnisse leben“ der Bürger und die Kosten der Wohlfahrtsstaaten führte zu einem raschen Anstieg der Staatsverschuldung, sondern die Vermeidung, das Kapital entsprechend dem wirtschaftlichen Wachstum zu besteuern. „In der Tat lässt sich beobachten, dass der Beginn der Verschuldung der reichen Demokratien in den 1970er Jahren mit einem Zurückbleiben des Anstiegs der Steuereinnahmen hinter den Staatsausgaben zusammenfällt.“15 (Streeck 2013)

Schon wenige Jahre später, zum Beginn der 90er Jahre, wählte der Staat die Wirtschaft zum Vorbild für die Organisation der eigenen Verwaltung. Das „New Public Management“ sollte eine Binnenmodernisierung von Regierung und Verwaltung durch betriebswirtschaftliche Effizienzsteigerung bewirken. Bürokratie sollte abgebaut und Kosten gesenkt werden. Dieser Paradigmenwechsel hin zu einer ökonomischen Perspektive auf politische Prozesse und Programme wurde durch die hohen Staatsverschuldungen ausgelöst. Ende der 90er Jahre setzt sich dieses ökonomische Denkmuster in dem Konzept des „aktivierenden Staates“ fort. Ziel dieses Konzepts war das Zusammenwirken staatlicher, halbstaatlicher und privater Akteure zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Dieses Programm ist eine direkte Antwort des politischen Systems, die durch Globalisierung und Komplexität hervorgerufene reduzierte Regulierungskompetenz des Staates durch Beteiligung der zu regulierenden Akteure aus Wirtschaft und Finanzen einzudämmen. In der Folge kam es zu immer mehr Delegation von Regulierungsaufgaben an private Marktakteure, wie beispielsweise bei Basel II. Doch eine Delegation von Regulierungsaufgaben ist immer auch eine Delegation von politischer Macht – mit der Folge, dass die Steuerungsfunktion des Staates von einer ökonomischen Steuerung abgelöst wurde. Es kam zu einer Ökonomisierung des Regierens durch die Anwendung betriebswirtschaftlicher Managementmethoden bei der Koordinierung öffentlicher Aufgaben und dem Einsatz marktkonformer Steuerungselemente.16 Das beste Beispiel dafür lieferte der sogenannte Emissionshandel, der durch handelbare Emissionsrechte die Probleme bei der Regulierung von ökologischen Sachverhalten reduzieren sollte.

Während die bürgernahe Verwaltung der 1970er Jahre das Ziel der Dienstleistungsorientierung kennzeichnete und New Public Management der 90er Jahre das Ziel der Effizienz ausmachte, ist das „netzwerken“ staatlicher und privater Akteure Merkmal vom Governance der 2000er Jahre.17 Subsumieren lässt sich diese Politik unter dem Begriff des „Schlanken Staates“ in Anlehnung an das Konzept des schlanken Managements (lean management). Diese Entwicklung hin zu einem „schlanken Staat“ mündete in dem vom damaligen Innenminister Otto Schilly zusammen mit der Deutschen Bank entwickelten Programm „Seitenwechsel“, in dem Akteure aus der Wirtschaft und aus der Finanzwelt für einen begrenzten Zeitraum in die öffentliche Verwaltung wechseln sollten, damit die Politik von deren Expertise profitiert. Auf der anderen Seite sollten staatliche Akteure für einen begrenzten Zeitraum aus der Verwaltung in die Wirtschaft wechseln. Doch mit diesem Programm war die Entwicklung immer noch nicht abgeschlossen. Das Konzept der Public Private Partnerships (PPPs) Anfang der 2000er Jahre hatte das Ziel, die Finanzierung und das Betreiben öffentlicher Güter wie etwa Autobahnen, Straßen, Verwaltungsgebäuden bis hin zu Gefängnissen und Schulen, in England sogar die Verwaltung ganzer Kommunen, an private Akteure auszulagern. Der Staat würde nur noch als Mieter dieser Leistungen fungieren. Allein in den USA wurden zwischen 1999 und 2002 50.000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut, gleichzeitig stieg im selben Zeitraum der Umfang der im Regierungsauftrag arbeitenden Kontraktoren und Konzessionisten um mehr als eine Million.18

Der Rückzug des Staates ist ein Prozess, der schon seit über 45 Jahren andauert und der vor allem durch Globalisierung, Komplexitätssteigerung und Staatsverschuldung getrieben war. Dieser Prozess verlief parallel zu der Entwicklung des Wirtschafts- und Finanzsystems. In dem Maße, wie die Komplexität in der Gesellschaft anstieg, war der Staat auf „netzwerkartige Beziehungen“ zu Akteuren aus diesen Systemen angewiesen. Die Deregulierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik war ein Versuch, die Grenzen der Steuerbarkeit hochkomplexer Prozesse zu überwinden. Zudem sollten die Privatisierungen die immer stärker verschuldeten öffentlichen Haushalte entlasten. Die in den OECD-Ländern losgetretene Privatisierungswelle, bei der sich die Privatisierungen im Schnitt auf 6,7 Prozent19 des Bruttoinlandsproduktes beliefen, resultierte also aus der gestiegenen Staatsverschuldung, die wiederum eine Folge kapitalseitiger Steuersenkungen etwa bei der Unternehmenssteuer, war. Anders ausgedrückt war die Veräußerung von Staatsvermögen an private Marktakteure eine direkte Folge einer sinkenden Besteuerung dieser Akteure. Der Wohlfahrtsstaat als Garant sozialer Absicherung wurde durch private Anbieter ersetzt, beispielsweise in Bereichen der Sozialpolitik wie etwa durch kapitalgedeckte Rentenvorsorge oder private Jobcenter.20

Begleitet wurde der Rückzug des Staates von einer Internationalisierung der Politik. Um auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren zu können, sahen sich Staaten dazu gezwungen, bei Regulierungen mit anderen Staaten in supranationalen Organisationen zu kooperieren, was wiederum eine Einschränkung nationaler Politik mit sich brachte. Die Transformation des Staates von einem demokratischen interventionistischen Staat mit einer gemischten Ökonomie hin zu einem ökonomisch integrierten Staat, gekennzeichnet durch Delegation von Regulierungsaufgaben an private Marktakteure, Privatisierung und einer Verbesserung der Angebotsbedingungen für private Marktakteure, sowie die Verlagerung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Supranationale Ebene, gleichbedeutend mit der Verlagerung demokratischer Politik in die Hände von Experten und Technokraten, eröffnete einen Zugang für private Marktakteure zu politischen Entscheidungen und ermöglicht dadurch einen selbstregulierenden Kapitalismus, der sich politischer Regulierung immer weiter entzieht. Mit Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA wird der lange Rückzug des Staates abgeschlossen. Damit wird der Grundstein gelegt, um Wirtschafts- und Finanzsystem fast vollständig vom Zugriff staatlicher Regulierung zu befreien. Innerhalb eines Zeitraums von 40 Jahren wurde aus einem interventionistischen Staat, der durch demokratische Verfahren die Wohlfahrtsverluste des Kapitalismus reduzierte, indem er in wirtschaftliche bedeutenden Politikfelder steuernd eingriff, die Wechselkurse regulierte und die Kapitalströme kontrollierte, aufgrund von externen (Globalisierung) und internen (Ausdifferenzierung der Gesellschaft und Anstieg der Komplexität) Veränderungen ein Staat, der seine Regulierungskompetenz an private Marktakteure delegierte, in supranationalen Organisationen auf die Kooperation mit anderen Staaten und die Expertise von privaten Expertengremien angewiesen war, der weite Teile seines Staatsvermögens privatisierte, der regulierende Eingriffe in die Wirtschaft auf ein Minimum reduzierte, kapitalseitige Besteuerung drosselte und in Folge dessen eine enorm hohe Staatsverschuldung zu verzeichnen hatte. Diese Transformation des Staates bewirkte in ihrer Gesamtheit einen massiven Verlust an demokratischer Steuerungsfähigkeit, der wiederum ausschlaggebend war für einen starken Anstieg von sozialer Ungleichheit. Dieser Prozess entsprang keinem parteipolitischen Ideal. Er ließ sich in nahezu allen OECD-Ländern beobachten, in manchen stärker, in manchen schwächer. Auch sozialdemokratische Regierungen fügten sich der Ökonomisierung der Politik und passten sich dem Rückzug des Staates an.

Der Niedergang der Sozialdemokratie

Neben dem Rückzug des Staates lässt sich parallel auch ein Niedergang der Sozialdemokratie beobachten. Bemerkenswert ist, dass die Transformation des Staates von großen Teilen der Bevölkerungen wahrgenommen wurde. Denn die bereits erkennbaren neoliberalen Umwälzungen führten zu Wahlsiegen von sozialdemokratischen Parteien Mitte und Ende der 90er Jahre wie New Labour in England oder der SPD in Deutschland und im weitesten Sinne auch der Demokraten in den USA. Doch ausgerechnet diese Parteien intensivierten den Transformationsprozess und die ökonomische Integration des Staates aber noch. Es wurde zwar sozialdemokratisch gewählt, doch heraus kam eine andere Politik. Clintons Sozialreform von 1996 zerstörte das ohnehin kaum vorhandene soziale Netz in den USA, indem sie Sozialleistungen befristete und Arbeitslose durch Zwang aktivierte. Innerhalb von drei Jahren wurde in den USA so fast sechs Millionen Menschen die staatliche Unterstützung entzogen. Dies hatte das Aufkommen einer neuen sozialen Klasse in den USA zur Folge, den sogenannten Working Poor, deren Angehörige trotz zwei oder drei Jobs im Niedriglohnsektor nicht der Armut entfliehen konnten. Die europäischen sozialdemokratischen Parteien, allen voran New Labour in England und die SPD in Deutschland, rückten mehr in die Mitte der Gesellschaft und drehten ihre Politik um 180 Grad. Die Hartz-IV-Gesetzte sowie die Senkung des Spitzensteuersatzes von der SPD sind dafür genauso Beleg wie das Verbot für die Öffentlichkeit und die Presse, an Sitzungen der Kommunen teilzunehmen, das New Labour 1997 implementierte. Während das Ziel der Sozialdemokraten zuvor war, soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu erreichen, zeugte ihr Politikstil nun von Entscheidungen, die konservative Parteien nicht besser hätten treffen können. Das System ließ ihnen keine Wahl. Die USA, Deutschland und England mussten Reformen umsetzen, um sich und ihre Wirtschaft unter den veränderten Bedingungen wettbewerbsfähig zu machen. Der Druck eines globalen Marktes wurde zu groß. Zusätzlich sorgte die Expertise der privaten Marktakteure für deren politischen Zugang, mit dessen Hilfe sie Entscheidungen in ihrem Sinne beeinflussen konnten.

Möglich wurde dieser Paradigmenwechsel in der europäischen Sozialdemokratie aber auch aufgrund einer tiefgreifenden Veränderung in der Gesellschaftsstruktur. Die Entwicklung der Gesellschaft von einer Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft hatte für sozialdemokratische Parteien in Europa zur Folge, dass sie den größten Teilen ihrer traditionellen Wählerschaft, den Arbeitern, beraubt wurden. Während zuvor große Teile der Gesellschaft ihr Lohn und Brot als Arbeiter in der Industrie verdienten, fragmentierte sich nun die Gesellschaft in immer mehre soziale Umwelten. Plötzlich gab es immer mehr Beschäftigungsverhältnisse in Dienstleistungssektoren wie IT-Berufen, PR-Berater, Veranstaltungsmanager, Servicekräfte, medizinische Fachangestellte und dergleichen mehr. Hatte es zuvor noch einen einigermaßen homogenen sozialen Horizont für weite Teile der Gesellschaft mit homogenen Lebensentwürfen und homogenen Massenmedien gegeben, gab es nun viele unterschiedliche soziale Horizonte. Die politischen Anliegen von wenigen großen sozialen Gruppen ließen sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf wenige Plakate drucken. Heute stehen auf vielen unterschiedlichen Plakaten vieler unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen viele unterschiedliche Forderungen. Die einen wollen die Macht der Banken eindämmen, die anderen wollen keine dritte Startbahn oder Stromtrassen vor der Haustür, wieder andere wollen den Umbau eines Bahnhofes verhindern und ganz andere wollen die Zuwanderung stoppen. Auf diese Fragmentierung der Gesellschaft mussten sozialdemokratische Parteien reagieren, indem sie, anstatt weiterhin die traditionell linke Wählerschaft anzusprechen, nun die Mitte der Gesellschaft adressierten. Sie mussten ihre Parteiprogramme generalisieren, zum kleinsten gemeinsamen Nenner machen, um für möglichst viele gesellschaftliche Gruppen attraktiv zu werden. Zuvor hatten Wählergruppen wie die Arbeiterschaft oder deren Organisationen, die Gewerkschaften, welche nicht von der gesellschaftlichen Veränderung verschont blieben, verhindert, dass eine neoliberale Politik möglich war. „Percieved class interests had once set the limits to what marked forces could expect either patry to do in office (…) a „corporated takeover“ had occured that would have been unthinkable while those barriers remained.“21 (Leys 2001) Zuvor reichte es aus, wenn einheitliche gesellschaftliche Ansprüche alle vier Jahre zur Wahl standen. Heute stehen andauernd heterogene Ansprüche zur Debatte. Daraus folgte, dass die sozialdemokratischen Parteien auf dem politischen Markt für ihre Parteiprogramme kämpfen mussten. Sie konnten sich nicht mehr auf die Parteitreue ihrer bröckelnden Wählerschaft verlassen, sondern mussten nun auf Leistung und Effizienz ihrer „Produkte“ setzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verabschiedete sich die Ideologie aus der Sozialdemokratie. Manifestiert wurde dieser Paradigmenwechsel in dem sogenannten Schröder-Blair-Papier 1999 in London. Der Inhalt dieses Programms beschrieb unter anderem eine wirtschaftsfreundliche Ausrichtung der Parteien, die Reform der Sozialsysteme und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Es sollte von nun an eine pragmatische und keine ideologische Wirtschaftspolitik geben. Begründet wurde diese Ausrichtung mit dem durch die Globalisierung hervorgerufenen Konkurrenzdruck zwischen den Volkswirtschaften. Aber ein weiterer Grund für diesen neoliberalen Kurswechsel der Sozialdemokratie war, dass auch die von ihr angeheuerten Experten nur eine Antwort auf den Druck der Märkte kannten - die marktkonforme standardökonomische Theorie. In England verkaufte New Labour diesen Paradigmenwechsel der Bevölkerung als „Third Way“, in Deutschland propagierte die SPD die „Neue Mitte“. Politische Entscheidungen der SPD, wie etwa die Senkung der Spitzen-Einkommenssteuersätze oder der Körperschaftssteuer, aber auch die Agenda 2010, sorgten für eine Spaltung der Partei. Diese Spaltung resultierte vor allem aus einer Politik, die nicht mehr sozialdemokratisch war. Aus einem Teil der SPD wurde die WASG, welche später mit der PDS zu der Linkspartei fusionierte. Nach der Spaltung setzte die SPD ihre neue Marschrichtung fort. Zwar führte sie zu Beginn 2015 maßgeblich durch Arbeitsministerin Nahles den Mindestlohn ein, auf der anderen Seite verabschiedete sie aber auch das Tarifeinheitsgesetz, wonach Tarifverträge in Betrieben nur noch von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern ausgehandelt werden dürfen. Ein deutlich von der Wirtschaft gefordertes und durch Lobbyismus eingebrachtes Gesetz, das faktisch eine Einschränkung des Streikrechts kleiner Gewerkschaften bedeutet. Innerhalb der SPD-Fraktion stimmten von 193 Abgeordneten 175 für das Gesetz, wobei nur ein Abgeordneter dagegen stimmte, drei sich enthielten und 14 nicht abgestimmt haben. Zum Vergleich: In der Fraktion der CDU/CSU stimmten 16 von 311 Abgeordneten mit Nein. Bei einem Gesetz, welches die Macht der Gewerkschaften einschränkt, wäre es vor 30 Jahren undenkbar gewesen, dass anteilsmäßig mehr SPD-Abgeordnete dafür stimmen als CDU/CSU-Abgeordnete. Allein in der Abstimmung zum Tarifeinheitsgesetz drückt sich die gesamte Transformation der Sozialdemokratie aus.

II.Symptome

Zusammenhang Demokratie und Kapitalismus

Wir haben gesehen, welche Ursachen dafür verantwortlich sind, dass demokratische Prozesse erodieren und neue Prozesse und Strukturen im politischen System eine Veränderung der Demokratie bewirken. Doch worin äußert sich diese Transformation? Was bewirken diese neuen Prozesse und Strukturen? Momentan sieht es ganz danach aus, als dass sie eine Abkopplung des Kapitalismus von der Demokratie ermöglichen. Vielerorts wird behauptet, dass Demokratie und Kapitalismus in einem engen Zusammenhang stehen. Besonders zu Zeiten des Kalten Krieges herrschte die Meinung vor, dass nur der Kapitalismus im Gegensatz zum Kommunismus ein freies Leben der Menschen und damit auch eine Demokratie ermöglicht. Ebenso vertrat man die Ansicht, dass nur eine Demokratie dazu in der Lage sei, einen freien Wettbewerb zu gewährleisten. Sowohl Kapitalismus als auch Demokratie haben gemeinsam, dass sie beide auf Freiheit basieren, allerdings unterscheiden sie sich deutlich im Prinzip der Gleichheit. Während es ein entscheidendes Merkmal der Demokratie ist, dass jede Stimme gleich viel zählt, ist Ungleichheit ein Charakteristikum des Kapitalismus. Zumindest die Auffassung, dass der Kapitalismus ein demokratisches System benötigt, ist überholt. China stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass ein kapitalistisches System keiner Demokratie bedarf. Das ist der Pfad, auf dem sich der Kapitalismus heute befindet. Der heutige Kapitalismus benötigt keine Demokratie. Im Gegenteil, sie steht ihm sogar im Weg. Um sich dessen bewusst zu werden, empfiehlt es sich, einen Blick auf den evolutionären Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie zu werfen.

Zu Zeiten des sogenannten Manchester Kapitalismus während der industriellen Revolution in Großbritannien gab es keine demokratischen Instrumente und Institutionen, welche die negativen Auswirkungen des Kapitalismus wie beispielsweise der Verelendung der Arbeiterschaft, Arbeitszeiten von zwölf bis 18 Stunden am Tag, fehlendem Arbeitsschutz, Kinderarbeit sowie Armut von Alten und Kranken regulierten. Der Wohlstand war extrem ungleich verteilt. Dem reichsten einen Prozent der Bevölkerung von Ländern wie Großbritannien und Frankreich gehörten 70 bis 80 Prozent des Nationaleinkommens. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung besaß praktisch nichts. Zudem war im 19. Jahrhundert das Zensuswahlrecht in Europa keine Seltenheit. Beim Zensuswahlrecht handelt es sich um ein Wahlrecht, dass nur für bestimmte vermögende Gruppen vorgesehen ist. In Frankreich wurde das Zensuswahlrecht ironischerweise nach der französischen Revolution mit der Verfassung von 1791 verankert. Demnach waren nur Männer ab 25 Jahren wahlberechtigt, die eine Steuerleistung von mindestens drei Arbeitstagen nachweisen konnten. Diese wählten wiederum Wahlmänner, die eine Steuerleistung von zehn Arbeitstagen vorweisen konnten. Mit diesem Wahlrecht waren de facto fünf Sechstel der französischen Bevölkerung von Wahlen ausgeschlossen. Auch in Großbritannien gab es ein Zensuswahlrecht. Dort wurde aber zumindest mit dem Reform Act von 1832 die Gruppe der Wahlberechtigten auf etwa 500 000 Bürger ausgeweitet, womit sich die Zahl der Wahlberechtigten verdoppelte. Ebenso gab es in Deutschland ein Zensuswahlrecht zwischen 1850 und 1918. Bei den Wahlen zum Preußischen Parlament galt das Dreiklassenwahlrecht, in dem die Wahlberechtigten in drei Klassen nach Besitz unterteilt wurden. Zwar konnten ab 1871 alle Männer auf Reichsebene wählen, jedoch wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer in Deutschland erst 1918 eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Länder Europas von einer enormen Ungleichheit in der Verteilung des Nationaleinkommens gekennzeichnet. Ein Umstand, der seine Ursache auch im Zensuswahlrecht fand, da nur Wohlhabende wählen und damit die politischen Rahmenbedingen mitbestimmen konnten. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts konnte sich der Kapitalismus frei entfalten. Das Zensuswahlrecht verhinderte eine massendemokratische Regulierung des Kapitalismus, weil die überwiegende Mehrheit der Wahlberechtigten zu dem kleinen Teil der Gesellschaft gehörte, der von dem unregulierten Kapitalismus profitierte. Staatliche Regulierung hätte nur bedeutet, dass diese Gruppe mit Profiteinbußen zu rechnen hätte.