Fernnahe Liebe - Nikolaus Kuster - E-Book

Fernnahe Liebe E-Book

Nikolaus Kuster

4,9

Beschreibung

Niklaus von Flüe, der Nationalheilige der Schweiz, ist undenkbar ohne Dorothea, seine starke Frau, mit der er gern "zu Tanze ging" und mit der er seinen Weg gemeinsam errungen hat. Dieses Buch lässt Dorothea sprechen. Sie erzählt vom Leben einer großen Bauernfamilie in der Zentralschweiz im 15. Jahrhundert, von 20 glücklichen Ehejahren, von Niklaus' überraschender Lebenswende mit 50 und von ihrem eigenen Werden. Dabei zeigt sich das Bild zweier kantiger Persönlichkeiten und ihrer Lebenswege, die sich verbunden haben und die trotz Trennung untrennbar geblieben sind. So geht es nicht nur um Mystik und Politik des Heiligen, sondern ebenso um eine Ehe- und Liebesgeschichte, die um Verantwortung, Bindung und Freiheit weiß.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Inhalt

So fern – so nahHinführung

1JugendzeitBlicke über den Sarnersee

2EhejahreIm Haus der Familie

3KrisenzeitSchritte in die Lebenswende

4Aufbruch und AbstiegÜber Liestal in den Ranft

5AngekommenWunderfasten und reiche Nahrung für Besuchende

6Kraft aus der TiefePolitik im Ranft und Besucher im Flüeli

7Zwei HeiligeVollendung und Verehrung

8Impulse ins HeuteWozu Niklaus und Dorothea moderne Menschen ermutigen

Chronologie

Literatur

Anmerkungen

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

So fern – so nah

Hinführung

Im Mai 1474 besucht der sächsische Kaufmann Hans von Walt­heym den Ranft.1 Sein Tagebuch beschreibt uns anschaulich die Begegnungen mit Bruder Klaus, der seit sieben Jahren in der Melchaaschlucht lebt, und mit dessen Eremitenfreund Ulrich von Memmingen. Der frühere Bürgermeister aus Halle an der Saale reist nicht weiter, ohne Dorothea zu treffen. Er schildert die Ehefrau des Aussteigers – »noch keine 40 Jahre alt« – und lernt auch den kleinen Niklaus kennen, den siebenjährigen jüngsten Sohn des Paares.2 Das Interesse des deutschen Besuchers an Niklaus wie Dorothea, an dem Gottesmann und seiner Angetrauten, dem Einsiedler und seiner bäuerlichen Familie inspiriert dieses Buch, das seine Aufmerksamkeit beiden schenkt.

Seit sechs Jahrhunderten widmen sich Bücher über den Schweizer Nationalheiligen hauptsächlich ihm, Niklaus. Doro­thea kommt meist nur am Rande vor. Erst Heinrich Wölflin nennt 1501 ihren Vornamen,3 und ihren Familiennamen Wyss erfahren wir 1529 aus der Chronik des Valerius Anshelm. Seit Hans von Waltheym4 fragen Menschen aller Generationen jedoch auch nach der starken Frau, mit der Niklaus gern »zu Tanze ging« und der er seine zehn Kinder verdankt. Seit Jahrhunderten wird auch Dorothea im Volk verehrt, und Papst Johannes Paul II. betete am 14. Juni 1984 bei seinem Besuch am Grab des Heiligen ebenso zu »seiner heiligmäßigen Frau Dorothee«.5 1995 versuchte der Kapuziner Anselm Keel in einem kleinen Taschenbuch eine Annährung an das »nicht alltägliche Ehepaar«.6 Das wachsende Interesse an der Frau und Mutter der von Flüe stößt darin und bis heute an eine Mauer: Nur wenige Quellen erzählen uns Näheres von Dorothea.7

1982 schrieb Klara Obermüller ein Hörspiel, das Dorothea aus dem Schatten der Geschichte treten lässt. Die Journalistin spricht darin als moderne Single mit der verlassenen Ehefrau, fragt nach ihren Erfahrungen und Gefühlen, ihren Zweifeln und Klarheiten. Das Gespräch unter Frauen trägt den Titel »Ganz nah und weit weg« – ein Motiv, das sich sowohl auf die äußere Lebenssituation wie auch auf die innere Verbundenheit des speziellen Paares bezieht.8 Das im Hörspiel wiederholte Motiv erinnert zugleich an eine Mystikerin, die Niklaus vorausging. Die französische Begine Margarete Porète erfährt Gott selbst als den »Loin-Près« – einen fernnahen Liebhaber.9

Dieses Buch über Dorothea und Niklaus knüpft an beides an: Es lässt Dorothea sprechen und beleuchtet den persönlichen Weg des Bauern, Familienmannes und Eremiten aus der Sicht seiner Frau. Es interessiert sich über die menschlichen Lebenswege der beiden hinaus auch für ihre Gottesgeschichte.

Anders als im Hörspiel geht es nicht um ein Gespräch unter Frauen. Das schreibende Duo vereint zwei unterschiedliche Optiken: eine weibliche und eine männliche, die Sicht eines Bruders, der sich als Franziskaner ebenfalls Niklaus nennt, und die Wahrnehmung einer Frau nahe der Lebensmitte, die mit den Wegen der Liebe vertraut als Single lebt. Glücklich darüber, in diesem Buch weit mehr Raum zu haben als den eines Hörspiels, lassen wir Dorothea zwei Lebenswege nachzeichnen, den eigenen und den ihres Gatten.

Ihr Erzählen lässt die damalige Zeit lebendig werden: Obwalden im 15. Jahrhundert, das Leben einer Bauernfamilie auf dem Sachslerberg, Niklaus’ prägende Jugenderfahrungen und Karriere in seinem Tal, 20 glückliche Ehejahre, Dorotheas Sorge für die Groß­familie und Niklaus’ überraschende Lebenswende mit 50. Die Ehe der beiden blieb bestehen, auch wenn der Familienvater fortan im Ranft lebte und seine Frau mit den Kindern keine zehn Minuten entfernt wohnte. Dorothea erlebte und trug Niklaus’ neue Erfahrungen in »Mystik und Politik« mit10 – fernnah. Sie überlebte sowohl ihren Mann wie den jüngsten Sohn Niklaus als eine eindrückliche Frau, über welche die Verehrungsgeschichte mehr aussagt als die Quellen zu ihrem eigenen Leben.

Die literarische Freiheit, die sich in Dorotheas Erzählen zeigt, verbindet sich mit der Gewissenhaftigkeit, die bekannten Fakten und unser heutiges Wissen über Land und Leute Obwaldens im 15. Jahrhundert zu einem sensiblen und plausiblen Gesamtbild zu vereinen.11

Damit unser Nachzeichnen der Geschichte überprüfbar ist, weisen wir die verwendeten Quellen und die maßgebende Literatur in den Endnoten aus.

Das Buch skizziert das Bild zweier Personen und ihrer Lebenswege, die sich verbunden haben und die untrennbar geblieben sind. Niklaus wäre ohne Dorothea nicht zum Friedenstifter und weisen Ratgeber geworden, als der er weit über die Schweiz hinaus verehrt wird. Dorothea wurde durch ihn nicht nur Mutter von zehn Kindern, sondern auch eine Frau, deren bewegte Paarbeziehung und durchbrochene Lebensgeschichte aus dem späten Mittelalter in Biographien und Partnerschaftswege von heute spricht. Nicht nur Mystik und Politik des Heiligen sind daher von Interesse, sondern ebenso eine Ehe- und Liebesgeschichte, die von Verantwortung, Bindung und Freiheiten spricht. Niklaus und Dorothea gaben Gott in ihrer Paarbeziehung besonderen Raum und erfüllten dann auf spezielle Weise, was Papst Franziskus in »Amoris laetitia« schreibt: Das größte Werk der Liebe sei, dem und der anderen zu helfen, das Beste in seiner und ihrer Person zu entfalten.12

Wir widmen dieses Buch,

das einer bewegenden Familiengeschichte gilt,

unseren eigenen Familien:

unseren Eltern,

die uns sorgsam auf ein beherztes Leben

in dieser Welt vorbereitet haben,

unseren Geschwistern,

mit denen wir zu teilen lernten

und die uns fern-nah verbunden bleiben,

allen Freundinnen und Freunden,

mit denen wir vertraut geworden sind,

und all unseren Gefährten und Gefährtinnen,

die gemeinsame Wege mitgehen.

Flüeli-Ranft, 25. September 2016

am Fest des Niklaus – und der Dorothea

Br. Niklaus Kuster Nadia Rudolf von Rohr

1Jugendzeit

Blicke über den Sarnersee

Dorothea schaut mit modernen Menschen von der Schwendi hinüber zum Sachslerberg und überblickt das ganze Tal der Sarner Aa. Die überschaubare Welt ihrer eigenen Kindheit und der Jugend ihres künftigen Mannes ist Obwalden zwischen den markanten Felswänden des Pilatus und dem sanften Brünigpass.

Es ist lieblich und überschaubar, das Tal, in dem Niklaus und ich auf die Welt gekommen sind. Die Sarner Aa durchfließt es von der Brünighöhe bis zum Alpnachersee. Der Pilatusberg, der zu unserer Zeit noch Fräkmünt oder »gespaltener Berg« hieß, schützt es gegen Norden. Als Bäuerin hörte ich erstmals die Sage, der Statthalter Pilatus habe in seinem französischen Exil nach dem Tod keine Ruhe gefunden und seine gehetzte Seele wohne nun in einem kleinen See hoch oben auf der Luzerner Seite des Berges. Damit erklärte sich die Stadt denn auch Überschwemmungen, wenn bei heftigen Unwettern der Krienbach über die Ufer trat: eine Mahnung des unglücklichen Richters über Jesus, inständiger für ihn zu beten.1 Auf dem Wasserweg reisten unsere Leute in die Stadt Luzern für alles, was auf unseren dörflichen Märkten nicht käuflich war. Das Korn für unser Brot kam aus dem Aargau und fand über die Leuchtenstadt in unsere Haushalte.2 Über den alten Passweg des Brünig gelangten wir südwärts nach Meiringen und gegen Bern oder über die Grimsel und den Nufenen nach Norditalien. Dorthin trieben unsere jungen Männer das Vieh, das wir in der Lombardei verkaufen konnten. Wenn der Schnee im Frühsommer weg war, stiegen unsere Herden auf die Alpweiden, die sich auf den sonnigen Höhen der Seitentäler ausbreiteten: des Tals der Großen Schliere im Westen sowie des Kleinen und des Großen Melchtals, das sich hinter dem Flüeli bis zu den Ausläufern des ewig weißen Titlis erstreckt.3

Du, Niklaus, bist auf der rechten Seite unseres Tales aufgewachsen. Ich auf der linken, der sonnigen Seite. Meine Familie wohnte auf der lieblichen Terrasse der Schwendi über dem Sarnersee. Deine Wiege stand auf der Schattenseite des Tales. Ob das auch unsere Seelen geprägt hat? Schon als Junge hattest du den Ruf, ernsthaft und nachdenklich zu sein, manchmal auch etwas schwermütig. Dein pflichtbewusstes Wesen hat früh Anteil genommen an dem, was die Welt bewegt. Dunkles legte schnell seine Schatten auf dein Gemüt. Unrecht konntest du nur schwer ertragen. Ich bin da heiterer und freue mich an allem Schönen und Geglückten.

Vielleicht war das auch ein Privileg von uns Frauen. Unsere Aufgaben bezogen sich auf Haus und Garten, die Kinder und die Familie. Verantwortungsvolle Pflichten, jedoch in naher Verbundenheit mit der Schöpfung. Und die Frucht von unserer Hände Arbeit ließ sich unmittelbar sehen und genießen. Politisches hingegen war den Männern vorbehalten. Mein Vater Ruedi Wyss war Ratsherr, wie du es später auch geworden bist.4 Auch wenn er zu Hause nicht viel aus dem Rat berichtete, so war doch spürbar, dass dieses Amt manches Mal schwer wog. Auch dich hat Politisches früh schon bekümmert. Und dein tiefer Glaube zusammen mit deinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat dich als verantwortungsbewussten jungen Mann schwer gefordert.

Du hast dir immer viel abverlangt. Deine Jugendfreunde Erni Anderhalden und Erni Rohrer erzählten mir öfter, wie du schon damals immer wieder die Stille suchtest und dich zurückgezogen hast. Du brauchtest das regelmäßige Gebet und die Rückbesinnung auf deinen Schöpfer mehr als ausgelassenes Spiel mit deinen Freunden und Entspannung nach getaner Arbeit. Deine Freunde registrierten befremdet und fasziniert zugleich, dass du schon als kleiner Junge angefangen hast, am Freitag zu fasten und nichts weiter zu essen als ein wenig Brot und ein paar gedörrte Birnen.5 Davon hast du kein Aufhebens gemacht, wie grundsätzlich nie von etwas, das dich betraf. Ein weiterer Wesenszug von dir, der mir sehr lieb ist. Ein stiller Mensch bist du, Niklaus, der die Dinge gern in Ruhe und Abgeschiedenheit in seinem Herzen bewegt. Da kommt dir die Natur in unserem Tal entgegen! 6

Unterwalden ob dem Wald. Stich von Matthäus Merian

Topographia Helvetiæ, Rhætiæ et Valesiæ, 1642

Reprographie © Kapuzinerbibliothek Wesemlin Luzern

Fast die Hälfte von Obwalden ist von Wald bedeckt. Damals war es noch mehr. Wir hießen denn auch »Waldleute« in der Eidgenossenschaft. Noch heute teilt der ausgedehnte Kernwald Unterwalden in die beiden Teile »nid dem Wald« und »ob dem Wald«. Wir lebten in zwei eng verbundenen, doch politisch eigenständigen Talschaften mit je eigener Landsgemeinde. Diese versammelte jeden Frühling die wehrfähigen Männer, um in einer offenen Auseinandersetzung alle wichtigen Fragen zu besprechen und demokratisch zu entscheiden. Die Landsgemeinde wählte jeweils Anfang Mai auch den Landammann, der dem regierenden Rat vorstand und die Freiheit unseres Volkes zu verteidigen hatte. Selten noch gab es gemeinsame Landsgemeinden von ganz Unterwalden. Die letzte trat 1484 zusammen.7

Als ich eben erst zur Welt gekommen war, hast du bereits mitgestimmt an der Landsgemeinde. Während ich noch an Mutters Brust hing und meine Lebenswelt erst zu entdecken begann, warst du mit deinen 15 Jahren schon ein junger Erwachsener und voll stimmberechtigt. Deine Meinung in dieser Form öffentlich kundgetan hast du erstmals 1432, als du deinen Vater an die gemeinsame Landsgemeinde von ganz Unterwalden zur Wisserlen bei Kerns begleitet hast.8 Du hast die politischen Geschicke der Gemeinschaft von da an mitbestimmt und aktiv Anteil genommen an der Gestaltung des Miteinanders. Du sahst es als gegeben an, dass du deine gemeinschaftlichen Pflichten wahrnimmst, obwohl es dir stets zuwider war, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Du hast dich engagiert für das Dorfleben, und das friedliche Miteinander war dir immer ein Herzensanliegen. Schnell hast du dich bei Konflikten unter Bauern und bei Spannungen in der Gemeinde verdient gemacht als besonnener, verständiger und umsichtiger Mann. Kein Wunder, dass dir später auch politische Aufgaben und Ämter anvertraut wurden. Dein Streben galt dabei stets dem Frieden als höchstes Gut, das es zu wahren gilt – wenn nötig auch mit Waffengewalt.

In unserer Lebenszeit wurde Obwalden nie von äußeren Gegnern angegriffen. Niklaus zog als junger Mann allerdings wiederholt los, wenn unsere Bundesgenossen draußen im Mittelland zu den Waffen greifen mussten.

Wir wussten damals nicht, wer die ersten Siedler in unserem Tal waren. An unseren Herdfeuern erzählten die Alten noch viele Sagen über die Frühzeit. Wie sehr liebte ich die Geschichte des Beatus: Er sei zur Zeit der Apostel durch Barnabas, der zuvor Begleiter des heiligen Paulus und dann Missionar war, im fernen England für Christus gewonnen worden. Nach Rom gereist, habe er da Petrus kennengelernt und sei von ihm über die Alpen gesandt worden. Er bekehrte unsere Vorfahren an der Aare und beendete sein Leben wie die heilige Magdalena als Ein­siedler.

Auch meine Familie pilgerte in einem Jahr, als eine Viehkrankheit in unserem Tal wütete, über den Brünigpass zur Höhle des Drachentöters. Sie findet sich bei Interlaken am Thunersee: Dort habe ein furchtbarer Lindwurm gehaust, der vom furchtlosen Missionar gebannt und in den Thunersee getrieben worden sei. Beatus sei als Einsiedler in die Drachenhöhle eingezogen und habe dort Menschen und Tiere von Krankheiten geheilt, bis er mit 100 Jahren starb. Ich erinnere mich an das leise Schaudern, das uns alle in der Höhle hinter der Klause befiel.9 Heute wissen wir, dass der christliche Glaube erst später zu den Kelten kam, die unser Land damals besiedelten. Doch immer wieder folgten Männer in der ganzen Eidgenossenschaft dem Beispiel des Heiligen und wurden selbst Einsiedler. Niklaus wird einer von ihnen werden, wenn auch ein ganz besonderer.

Ich war schon in jungen Jahren an der Geschichte unseres Landes interessiert. Gingen wir nach Sarnen in die Kirche, schaute ich fasziniert zur Burg Landenberg. Wer sie wohl lange vor der Bundesgründung der Eidgenossen gebaut haben mochte?10 Heute ermöglichen alte Funde im ganzen Tal unseren Nachfahren, klarere Blicke in die Vergangenheit zu werfen. Und die Besiedlung beginnt weit früher als in der Zeit des legendären Beatus und reicht weit vor die Geburt Jesu zurück: Am Vierwaldstättersee zu Füßen des Bürgenstocks fand man im Wasser Reste von Pfahlbauten, die 4000 Jahre vor Christus bewohnt waren. Auf dem Plateau von Kerns, oben in Lungern und am Sarnersee müssen in der frühen Bronzezeit Jäger und Sammler gelebt haben. Davon zeugen ein Grab und Funde von Dolchen und Beilen, deren Alter bis 2000 v. Chr. zurückreicht. Im Alpnach wurde ein römischer Gutshof gefunden. Die Alamannen wanderten ab 700 n. Chr. in unser Tal ein und siedelten zuerst an den Seen, um allmählich durch Rodung auch die waldigen Hänge des Tales für Viehzucht und Ackerbau nutzbar zu machen.

Kurz darauf wurden die ersten Kirchen gebaut. Die Peterskirche von Sarnen wurde zur Zeit der Karolinger errichtet und diente als Talkirche. Junge Mütter kamen in stundenweiten Märschen, um neugeborene Kinder da zur Taufe zu bringen. Weitere Pfarreien wurden dann in Alpnach, Kerns, Sachseln und Giswil errichtet. Lungern kam im 13. Jahrhundert zu einer eigenen Kirche. Kurz vor Niklaus’ Geburt, um 1415, errangen diese Pfarreien ihre Eigenständigkeit. Fortan bestimmten nicht mehr die auswärtigen Klöster Luzern und Engelberg, das Stift Beromünster oder die Habsburger unsere Pfarrer. Weil Sachseln in dieser erkämpften Ablösung über drei Jahrzehnte ohne Pfarrer blieb,11wurde Niklaus 1417 in der Pfarrkirche Kerns getauft.

Die genannten Klöster hatten auch kleine wehrhafte Turmburgen in unserem Land errichtet, in denen ihre Dienstleute wohnten. Die Kirche war reich in Obwalden. Zugleich suchte um 1300 Habsburg von Luzern her die politische Kontrolle im Land zu erringen. Dies geschah über lokale Adelige: in Sarnen die Kellner, in Giswil die Herren von Hunwil und die Meier, in Lungern die Herren von Vittringen. 1309 nahm der deutsche König Heinrich VII. aus dem Haus Luxemburg ganz Unterwalden unter seinen Schutz. 1315 verbündeten sich unsere Vorfahren mit den lantlüte und eidgenoze von Uri und Schwyz.

In der Zeit unserer Großeltern organisierten sich die selbstbewussten Großbauern Obwaldens entschlossen gegen die Herren von Hunwil, welche meistens den Landammann stellten. Sie erreichten an den Landsgemeinden in den Jahren vor 1400, dass der eingesessene Adel von den Ämtern ausgeschlossen wurde und auswärtige Klöster keinen Landbesitz erwerben durften. Zugleich schlossen sich unsere Leute in Korporationen und in sechs Kilchgängen zusammen, wie die Kirchgenossengemeinden hießen. Sarnen und Kerns entsandten fortan je sechs Ratsherren, Sachseln, Alpnach, Giswil und Lungern je vier. Ein Teil von ihnen amtete auch als Richter, während seit 1373 der Landammann Obwalden politisch und militärisch leitete. Er stand auch dem Landesgericht vor, das zu unserer Zeit aus 14 weiteren Richtern bestand. Niklaus wird einer von ihnen sein, von den Sachsler Kilchgenossen entsandt.

Mit dem Erwachsenwerden wurde Niklaus als gesunder und kräftiger Jungbauer auch wehrpflichtig. Wenn der Landammann zur Verteidigung unseres eigenen Tales oder zur Hilfe­leistung an Bundesgenossen rief, hatten die Aufgebotenen dem Ruf zu den Waffen zu folgen. Dazwischen brachen auch nicht amtlich verordnete Kriegszüge los. Die Mehrheit unserer Krieger waren blutjunge, unverheiratete Draufgänger. Strafexpeditionen und Freischarenzüge gegen irgendwelche Gegner waren ihnen eine willkommene Gelegenheit, Abenteuerlust und Kampffreude mit schneller Beute und Bereicherung zu verbinden. Niklaus folgte nur Aufrufen, die vom Landammann und vom Rat erlassen wurden. Und auch auf solchen Expeditionen war es ihm ein Gräuel, Gehöfte abzufackeln, Getreidefelder zu zerstören, Vorräte zu vernichten, über wehrlose Frauen herzufallen oder den Gegner blindwütig zu schädigen.

1436 brach ein langer Krieg gegen Zürich und Habsburg aus. Der Toggenburger Graf Friedrich VII. war gestorben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Schwyz und Zürich stritten sich um das Erbe, das bis an den oberen Zürichsee und über den Walensee hinaus tief in die Nordbündner Täler reichte. Gegen die übermächtige Limmatstadt riefen unsere Waldstätter Verbündeten Uri, Luzern und Unterwalden zu Hilfe. Auch Niklaus rückte mehrmals zu Angriffen auf das Zürcher Herrschaftsgebiet aus. Erste Gefechte gingen 1439 am Etzel und 1440 unweit davon beim Schwyzer Pfäffikon siegreich für uns aus. Eine Reihe kleiner Scharmützel trieben die Limmatstadt 1442 zu einem Bündnis mit Habsburg, unserem Erzfeind. Dessen Herzog war seit kurzem als Friedrich III. deutsch-römischer König und sandte Zürich militärische Unterstützung. Der Krieg wurde immer hässlicher und erbitterter. Niklaus mochte später nicht über die blutigen Feldzüge gegen Zürcher und Habsburger Landstriche sprechen. Er fand nichts Rühmenswertes an Gewalttaten.

Ich erinnere mich, wie ein junger Kämpfer aus unserer Schwendi von der siegreichen Schlacht im Frühling 1443 am Hirzel prahlte,12 welcher in den folgenden zwölf Monaten die Eroberung der kleinen Landstädte Bremgarten, Regensberg und Grüningen, der Sieg vor Zürichs Toren bei St. Jakob an der Sihl und die Belagerungen von Rapperswil, Greifensee und Zürich folgten. Das grausame Strafgericht nach der Übergabe der Feste Greifensee ließ Niklaus noch viele Jahre später schaudern: Dank den Unterwaldnern wurde die Besatzung nicht lebendig verbrannt, sondern vom Berner Scharfrichter enthauptet: 62 Mann! Ihre Köpfe wurden aufgereiht, einer nach dem anderen, und alle siegreichen Belagerer mussten, zu einem trutzigen Ring versammelt, dem himmelschreienden Massaker zuschauen.13

Beim größten Gemetzel waren zum Glück keine Obwaldner dabei: Im August 1444 kämpfen bei St. Jakob vor den Toren Basels 1300 eidgenössische Krieger gegen 20.000 französische Söldner. Trotz aussichtloser Lage schlugen sich die Innerschweizer heldenhaft und wurden, im alten Siechenhaus verschanzt, vom überlegenen Feind bis zum letzten Mann niedergemacht.14 Damals tagte in Basel ein großes Konzil der ganzen Kirche, und dieses hatte sich einen eigenen Papst gewählt. Weil Felix V. sich aber gegen den Papst in Rom nicht durchsetzen konnte, trat er Jahre später zurück und starb als einfacher Kardinal in Genf.15 – Im offenen Feld waren die Unsrigen im fortdauernden Krieg gegen Zürich und Habsburg meist stärker. Bei Belagerungen jedoch hatten sie selten Erfolg. Niklaus war im Hochsommer 1444 unter den 18.000 Eidgenossen, die Zürich selbst vergeblich einschlossen. Obwohl auch Rapperswil und Wil erfolglos ausgehungert und die Schwyzer Ende Oktober 1445 in einer Seeschlacht bei Männedorf besiegt wurden, sah Zürich sich nach der Niederlage bei Bad Ragaz im Frühling 1446 zu Friedensverhandlungen genötigt. Diese zogen sich bis 1450 hin und festigten das Bündnis neu. Erstmals waren nun alle Acht Orte,16 wie die Bundesmitglieder hießen, miteinander direkt verbündet.

Ich habe mich oft gefragt, wie das als junger Mann für dich war. Immer wieder musstest du in all diesen Jahren dem Ruf des Landammanns folgen und bei kriegerischen Angelegenheiten mittun.17 Du hast dich ausgerüstet als Kämpfer und Haus und Hof deiner Eltern verlassen im Bewusstsein, dass der Abschied auch einer für immer sein könnte. Während deine Brüder, bereits verheiratet, nicht mehr eingezogen wurden,18 musstest du bis zu deiner späten Heirat immer wieder an die Front. Es muss dir zuwider gewesen sein, auch wenn du die Notwendigkeit gesehen hast! Dein ganzes Wesen war doch so ein anderes. Du, der du dich als Knabe jeweils zum Beten hinter den Gaden zurückgezogen und als junger Mann immer wieder die Stille und Einsamkeit im Ranft gesucht hast, um ganz bei Gott und bei dir zu sein, du musstest dich nach tagelangen Märschen zusammen mit jungen, abenteuerlustigen Draufgängern mitten ins Schlachtengetümmel stürzen, Mann gegen Mann. Ich will mir nicht vorstellen, wie oft du dabei auch töten musstest, wolltest du am Leben bleiben. Du mochtest später nicht über die blutigen Feldzüge sprechen. Die erlebten Gewalttaten haben dich eher traumatisiert denn stolz gemacht.

Dein besonnenes und verantwortungsbewusstes Wesen hat aller­dings schnell die Aufmerksamkeit der Führungsequipe auf sich gezogen, und deinem Widerwillen zum Trotz wurdest du als Hauptmann selbst zum Anführer von Obwaldner Truppen.19 Wo immer du konntest, hast du auch in diesem Amt mit viel Bedachtsamkeit und Vernunft gehandelt. Erni Anderhalden, der damals mit dir zog, sagte, du habest deine Mannen stets dazu angehalten, Gnade vor Recht walten zu lassen, und den Feind, einmal geschlagen, zu schonen. Gegen Plündereien, Brandschatzungen und andere Unsitten unter den Soldaten habest du dich stets aufs Entschiedenste verwahrt. Dabei ging es dir nie um Ansehen und Ehre. Das war dir nicht wichtig, im Gegenteil. Es war eine Erlösung für dich, als wir endlich heirateten und du als Familienvater nur noch ausnahmsweise als Soldat zur Verfügung stehen musstest! Wie glücklich legtest du in unserem Haus das Schwert tief in eine Truhe – in der Hoffnung, es nie wieder zu gebrauchen. Unsere Söhne sollten es später fest in die Hand nehmen, sich im Waffenhandwerk üben und die Kriegskunst für ihre Karriere nutzen. Du aber warst zufrieden, ein einfacher Bauer zu sein, der sein Tagwerk im Einvernehmen mit Gott, sich selbst und den Mitmenschen verrichtet.

Schon unsere Eltern waren Bauern. Niklaus’ Vater Heini von Flüe arbeitete sich zu den vermögenden Viehzüchtern auf. Anders als die Großbauern auf der sonnigen Talseite musste seine Familie an den Talflanken den Bergwäldern nutzbaren Boden entreißen. Heini rodete dazu mit seinen Söhnen Wald am Sachslerberg, steiles Weideland hinunter an die Melchaa und eine Alp im Melchtal, das Chlisterli, wohin ich später als junge Ehefrau muntere Ziegen und übermütige Rinder zur Sömmerung trieb.

Ich lag allerdings noch in der Wiege, als Niklaus bereits mit seinem Vater die Äcker auf der ebenen Terrasse des Flüeli bestellte, in den steilen Wäldern Holz schlug und das Vieh auf die Wiesen am Berg brachte. Solche Arbeiten blieben mir allerdings auch als erwachsener Frau erspart. Die Verantwortlichkeiten waren klar getrennt und schon von Kindesbeinen an wurden wir in unsere Rollen eingeführt. Als Mädchen ging ich der Mutter so früh wie möglich zur Hand und lernte alles, was ich können und wissen musste, um einmal selbst einen Hof zu führen und für eine Familie zu sorgen.

Der Aufgaben und Arbeiten waren da viele! In unserer Zeit betrieben wir Bauern vor allem Viehzucht, angepflanzt haben wir mehrheitlich, um uns selbst zu versorgen. Der Garten war denn auch das Hoheitsgebiet der Frauen! Mir gefiel es, im Einklang mit den Jahreszeiten dafür zu sorgen, dass unser Tisch möglichst reich gedeckt war. Einen Teil der Obsternte verarbeiteten wir Frauen zu Most und Schnaps. Beim Jäten im Garten oder beim Ernten auf dem Feld konnte ich wunderbar meinen Gedanken nachhängen. Wissbegierig, wie ich war, fand meine Mutter in mir eine aufmerksame Zuhörerin. Ehrgeizig strebte ich danach, eine verständige junge Frau zu werden und meinen Eltern alle Ehre zu machen, auch wenn das bäuerliche Leben kein Honigschlecken war und manchmal echt hart. Es brachte viel körperliche Arbeit mit sich. Obwohl die Viehzucht Aufgabe der Männer war, halfen wir tatkräftig im Stall, und dazu gab es einen Haushalt zu verrichten, mit all den Dingen, die damals dazugehörten: Kochen, putzen, waschen, flicken und auch nähen und stricken. Was immer wir konnten, haben wir selbst hergestellt und möglichst vielseitig alles verwendet, sei es Essbares oder Stoffe und andere Rohmaterialien. Auf dem Markt besorgten wir uns nur das Nötige. Dazu gehörten neben Korn auch Salz, Töpfe und verschiedene Werkzeuge, für die eine Reise auf den städtischen Markt von Luzern nötig war. Für mich war es allerdings schon großartig, wenn ich mit meiner Mutter jeweils an den Wochenmarkt nach Sarnen durfte, wo wir eigenes Gemüse, Kräuter, Obst, Käse und Schnaps verkauften. Was wir im Überfluss hatten, boten wir feil, und die Gespräche am Marktstand waren auch für Kinderohren belebend!

Manchmal erhaschten wir in Sarnen auch einen Blick auf seltsam gekleidete Männer und Frauen: Nur mit einem langen Mantel, Hut oder Haube und einem Stock ausgerüstet, füllten sie ihr Trinkgefäß am öffentlichen Brunnen, deckten sich mit Nahrung ein und zogen verstaubt weiter. Es waren Pilger, die manchmal von weither kamen und in unverständlicher Sprache nach dem Weg oder dessen Beschaffenheit fragten oder herauszufinden versuchten, wie die politische Lage an gewissen Orten wohl sei. Auf mich übten diese Bußgänger eine eigenartige Faszination aus und gleichzeitig fand ich sie furchteinflößend. Es überstieg mein Vorstellungsvermögen, weiter zu reisen als ins nächste Tal, und Unbekanntes lockte mich kaum. Meine Mutter erklärte mir, dass es selten die Abenteuerlust war, welche solche Pilger von zuhause aufbrechen ließ. Das Ziel oft monatelanger Fußwege war meist das Einlösen eines Versprechens oder das Abbüßen einer verhängten Strafe.

Nicht alle mussten dafür in andere Länder und über lange, unsichere Strecken pilgern. Pilgerstätten gab es damals auch in der Schweiz schon viele. Rege besucht waren die schwarze Madonna in Einsiedeln oder die Beatushöhlen am Thunersee, zwei Tagesetappen von uns entfernt. Bei allen Eidgenossen beliebt war Saint-Maurice im unteren Wallis, wo die Gebeine der 10.000 Märtyrer der Thebäischen Legion verehrt wurden. Auch Jakobspilger aus vielen Gegenden zogen durch unser Tal. Über tausend Meilen entfernt, lockte sie das Sternenfeld mit dem Grab des Apostels – Santiago de Compostela.20 Nicht wenige nahmen die gefährliche Reise auf sich, weil sie sich davon Segen, Heil oder neue Gesundheit versprachen. Mich hat es beeindruckt, dass Menschen aus ihrem Glauben heraus solch beschwerliche Reisen auf sich nehmen. Ich erinnere mich aber, dass ich mir in kindlichem Eifer vorgenommen habe, stets brav und gehorsam zu sein, damit ich nie zur Buße eine solche Reise machen muss! Mir war die vertraute Umgebung lieb und ich bewegte mich gern in unserer überschaubaren Welt.

Was es auf dem Markt zu sehen gab, bot aber eine willkommene Abwechslung zum Gewohnten und ließ einen von der eigenen Zukunft als Bauernfrau träumen. Obwohl es ein hartes und manchmal entbehrungsreiches Leben war, konnte ich mir nichts anderes vorstellen.

Du, Niklaus, hast dieses Leben ebenfalls von Kindesbeinen an gekannt und geliebt. Bereits mit sieben – wie es damals üblich war – bist du zu deinem Vater in die Lehre. Er hat dich und später deine Brüder mitgenommen, wenn es zum Holzen in die Bergwälder oder mit dem Vieh auf die Weide ging. Was mir das Gemüse, die Kräuter und meine Salben waren, bedeuteten für dich der Wald und die Tiere. Als junger Mann hast du zusammen mit andern die überzähligen Rinder über die Alpenpässe in die Lombardei gebracht und sie dort auf den Märkten verkauft. Zu Fuß und nur mit dem Nötigsten unterwegs habt ihr die Herden unzählige Meilen weit in andere Gefilde getrieben. Es hat deinen Horizont weit gemacht, dass du aus unserem Tal heraus und in fremde Städte gekommen bist.