Feuersetzen - Tom Wolf - E-Book

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Tom Wolf

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Beschreibung

Goslar 1552: Pietro Paolo Volpi aus Padua, Botaniker und Jurist hat von seinem Mäzen den Auftrag erhalten, das "nordische Rom" in einem Gedicht zu verherrlichen. Welch schöner Auftrag ... würde ihn nicht eine schreckliche Schreibblockade lähmen! Als Volpi, der im Haus des Wandschneiders Jobst Unterkunft gefunden hat, die Feuerglocke zum ersten Male läuten hört, sucht er gemeinsam mit Ratsarchivar Bartholdi zu retten, was zu retten ist. Doch die beiden kommen zu spät: Otto Herbst, der Feuerhüter des Rammelsberges, und die "Schwalbe", seine Geliebte, finden bei dem Brand den Tod.Betört von der Schönheit Sibylle Herbsts, der Witwe, erlangt Volpi seine poetische Schaffenskraft wieder. Er und Bartholdi werden zu Verfolgern des Feuerteufels, der mit Brandbriefen den Rat erpresst. Sie sind der Lösung ferner denn je, als Herzog Heinrich mit großer Streitmacht zur Belagerung heranrückt ... Goslar brennt!

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TOM WOLF

Feuersetzen

Ein Hansekrimi

Die Hanse

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014

Umschlag: Fotografie von Gerhard Weigert

ISBN 978-3-86393-516-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Akteure (historische Personen erscheinen kursiv)

Montag, 16. Mai 1552

Dienstag, 17. Mai 1552

Donnerstag, 19. Mai 1552

Freitag, 20. Mai 1552

Montag, 23. Mai 1552

Mittwoch, 25. Mai 1552

Freitag, 27. Mai 1552

Sonnabend, 28. Mai 1552

Mittwoch, 1. Juni 1552

Donnerstag, 2. Juni 1552

Montag, 13. Juni 1552

Epilog

Historische Stichworte

Feuersetzen

Maße und Gewichte

Dichtung und Wahrheit

Sprache

Historie am Rande: Goslar und der Herzog 1527–1552

Bedrohung Goslars durch herzogliche Mordbrenner

Brandstiftung und Pyromanie

Feuer in der mittelalterlichen Stadt

Feuer in Aberglaube und Brauchtum

Pietro Paolo Volpi

Obduktionen

Bier in Goslar

Wandschneider – Worthgilde – Worth

Rat

Rauschdrogen – venerisches Gift – hansische Syphilis-Gewinnler

Köppelsbleek

Goslar 1552: Pietro Paolo Volpi aus Padua, Botaniker und Jurist auf Deutschlandreise, hat von seinem Mäzen den Auftrag erhalten, das »nordische Rom« in einem Gedicht zu verherrlichen. Welch schöner Auftrag … würde ihn nicht eine schreckliche Schreibblockade lähmen! Gerade hat Volpi im Haus des reichen Wandschneiders Jobst Unterkunft gefunden, als die Feuerglocke zum ersten Mal läutet. Gemeinsam mit Ratsarchivar Bartholdi sucht er zu retten, was zu retten ist. Doch die beiden kommen zu spät: Otto Herbst, der Feuerhüter des Rammelsberges, und die »Schwalbe", seine Geliebte, finden bei dem Brand den Tod. Betört von der Schönheit Sibylle Herbsts, der Witwe, findet Volpi seine poetische Schaffenskraft wieder. Er und Bartholdi werden zu Verfolgern des Feuerteufels, der vom Goslarer Rat mit Brandbriefen eine Menge Silber erpresst. Sie sind der Lösung ferner denn je, als Herzog Heinrich mit großer Streitmacht zur Belagerung heranrückt … Goslar brennt!

Tom Wolf, geboren 1964 in Bad Homburg, wurde 2005 mit dem Berliner Krimipreis »Krimifuchs« ausgezeichnet. In der Reihe »Hansekrimi« erschienen von ihm »Die Bestie im Turm« (Goslar) und »Der Bierkrieg« (Salzwedel).

Dem Andenken des Brandinspektors

Akteure (historische Personen erscheinen kursiv)

Adener, Henning – Bergmeister des Herbst’schen Schachts „Venus“

Baader, Damian – Arzt, Stadtchirurgus

Bartholdi, Gerhard – Großarchivar des Goslarer Rates

Borngräber, Sebastian – Bogenbauer und Pfeilmacher

Brandt, Martin – vom Rat eingesetzter Bergrichter des Rammelsberges

Eck, Wolter – Stephani-Küster

Geismar, Hans – Privat-Chronist, Tuchmacher

Groenewold, Andreas – Stephani-Türmer und „Feuerreiter“

Heinrich der Jüngere – Herzog, Fürst; Brand- und Mordanstifter; Betrüger

Herbst, Hans – Bergwerks- und Hütten-Besitzer

Herbst, Otto – Feuerhüter des Rammelsberges, Bruder des Vorstehenden

Herbst, Sibylle – Frau von Otto Herbst

Immhoff, Rainer – Erster Bürgermeister des Neuen Rats

Jobst, Daniel – Unruh-Erbe, Wandschneider, Volpis Gastgeber

Papen, Zacharias – Wandschneider, Ratsmitglied

Richter, Adelbert – Zweiter Bürgermeister des Neuen Rats

Stechow, Balthasar von – herzoglicher Auftrags-Kidnapper und -Mörder

Stobeken, Günter – Bürger und Brauer; Sohn von Vera und Eitel Stobeken

Stobeken, Vera – die „Schwalbe“

Tilling, Johann – Ratsmitglied, Wandschneider, Besitzer des „Brusttuchs“

Volpi, Pietro Paolo – Humanist aus Padua, Auftragsdichter, Hobbydetektiv

Warbeck, Veit – Feuerhütergehilfe und Nachfolger Otto Herbsts

Es grüne die Tanne, es wachse das Erz, Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz!Bergmannswunsch

Leben und Glas, wie bald bricht das, Leben und Gras, wie bald verwelkt das, Leben und ein Has, wie bald verlauft

Der Vollmond überstrahlte die Venus. Heiß war es tagsüber und grell. Auch nachts kühlte es kaum ab. Noch immer drückte die Hitze, eine Stunde vorm Tag. Das Gras auf der schrägen Heidfläche über der Stadt gilbte, alles verblich. Kein Grün mehr sah man, es versiegten die Bäche. Durchs schluchtartige Bett der Wasserbreke, die bloß noch ein Rinnsal war, konnten sie in diesem Juli bergauf über die Braune Heide laufen, ohne gesehen zu werden. Hier oben waren die schütteren Vogelbeerensträucher trocken wie Reisigbesen, die Heidelbeeren am Boden wurden zu braunem Pulver, wenn man auf sie trat. Die Welt ringsum verkümmerte, nur ihre Liebe sprudelte als frischer Springquell – Balsam, die schnöde Welt zu ertragen. Entflammt und vernarrt waren sie, sich so fremd und trotzdem so nah, ganz unterschiedliche Menschen. Und konnten nicht voneinander lassen. Wie Vogelflug, so leicht, so hoch, fühlte die Lust sich an. Sie flogen viel höher, als selbst der gewaltige Trumm von Berg war, an dessen Flanke sie lagen – beieinander, einander bei. Er neckte sie wegen ihrer Heftigkeit, scherzhaft erst. Sie wehrte ab: Da ist keiner! Aber er legte den Finger auf die Lippen. Denn … da ging doch einer den dürren Hang entlang, im fahlen Wald. Sie bemerkte ihn jetzt auch, den Schatten, es gab keinen Zweifel … Sie bedeckte ihre Blöße. Er dagegen lachte nur … trat im Geiste kurz aus sich heraus und sah sich selbst mit ihr am Hang liegen und den Waldgänger sich entfernen. Der war längst weiter abgedriftet. Freilich, der könnte, ja musste sie gehört haben! Ob er sie auch gesehen hatte? Nicht richtig … obwohl … Sie richtete sich auf und blickte zum vollen Mond. Ihr weißer Leib schimmerte in Lunas Licht. Er nahm sie in die Arme. Sie schmiegte sich an ihn und wurde wieder ruhiger.

»Was immer er gehört oder gesehen haben mag, der Nachtwanderer«, flüsterte er ihr ins Ohr , »das hat er mitgenommen ins Zwielicht. Mag auch sein, dass er uns gar nicht bemerkt hat. Ist möglicherweise taub! Dann wird er schwerlich hergesehen haben! Selbst fühllos trunken und berauscht könnte er sein …«

Er drückte sie an sich.

»Ich hoffe es, Liebster … denn, denk nur, wenn …«

Er küsste sie und sagte: »Vielleicht war’s ein Bergmann oder ein Fremder … am ehesten aber noch ein Landstreicher. Konnten wir ihn genau sehen? Nein! Dann hat er uns auch undeutlich gesehen und kann uns nicht beim Namen nennen. Und wenn’s ein Fremder ist, kennt er uns sowieso nicht …«

»Aber er könnte uns morgen in der Stadt sehen, erkennen … und davon erzählen …«, befürchtete sie.

»Was man in der Nacht gesehen, sieht meist am Tag ganz anders aus … Und würdest du einen Nackten, den du in der Nacht sahst, bekleidet bei Tag erkennen?«

Sie lachte. »Dich schon!«

In ihrem Kopf spukten tausend Ängste … Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, besonders in einer kleinen Stadt. Viele, viele Wölfe gab es da, und sie schlichen umeinander herum, zum Biss bereit, im gleichen Zwinger … Was sie taten, war weder gott- noch menschengefällig. Strafen würde man sie und lebenslang ächten, wenn es herauskäme. Die Lust war jetzt noch größer als zuvor, er war wie ein Teufel und sie wie eines Teufels Braut …. Sie hatten sich mit gehauchten Beschwichtigungen die schützende Nacht wieder herbeizitiert … Wenn schon geächtet, dann aus gehörigem Grund … Und nur der Mond hielt sein großes Auge auf sie, der ewig stumme … vergaß sie bestimmt im Abnehmen schnell …

Montag, 16. Mai 1552

Pietro Paolo Volpi aus Padua, groß und schlank, wiewohl nicht dürr, sprach nach den vielen Monaten seiner Reise schon sehr gut Deutsch. Schwarze Ringellocken umspielten seine Stirn. Er war es gewohnt, dass man ihn mit Tomaso, der in Paris lehrte, in einen Topf warf.

»Nein, Tomaso ist mein Bruder!«, sagte er zu Gerhard Bartholdi, dem Wesen mit der hohen Stimme und dachte: Wenn Rosenkohl sprechen könnte, würde es sich wohl so anhören … Der Attendorner Augustiner-Prior Hanno hatte ihm eine Empfehlung an den Großarchivar des Goslarer Rates mitgegeben, denn das Chorherren-Stift auf dem Riechenberg lag zu weit draußen vor der Stadtmmauer. Das war nichts für Volpis Zwecke, sollte er doch Goslar kennen lernen, die Stadt erleben, um … sie … beschreiben zu können … in diesem … Auftragsgedicht … Ein Nebelstreif zog ihm über Stirn und Seele, als er wieder daran denken musste. Er, dem die Sätze immer zugeflogen waren, verzweifelte schier bei dem Bemühen, auch nur die kleinste Silbe anzulocken. Die Fähigkeit, mit Worten zu malen, war ihm gänzlich abhanden gekommen … Angesichts von Tinte und Feder versiegte der Fluss der Ideen, und die Sterne der Beredsamkeit flohen das Firmament seines Geistes, wenn das weiße Blatt sich zeigte. Seit ihn die schöne Johanna kurz vor der geplanten Hochzeit zugunsten eines anderen verlassen hatte, verhielt sich das schon so.

Weder Strapazen noch Gefahren hatte Volpi auf seiner Forschungsreise in die Nordländer gescheut, um sich von diesem Übel abzulenken. Für den an Venus Verzweifelnden waren die unwegsamen Wälder der Germanen der ideale Zufluchtsort gewesen, denn wahrlich: Volpi hatte die transalpinen Bezirke noch ebenso wild vorgefunden, wie Tacitus vor fast 1500 Jahren. Wüste, Landstriche, rauhe Berge und Urwälder mit ein paar hochkultivierten und vor Geist und Entwicklung glänzenden Perlen darin. Die Alpenpässe hatte er bei Schnee und Eis überquert, rheinabwärts war es im Kahn gegangen bis Mainz, dann durch die Wetterau nach Marburg. Beim berühmten Dryander hatte Volpi lehrreiche Wochen verbracht, war anschließend mit Pferd und Wagen quer durch Westfalen, Mark und Berg nach Köln und weiter durch den Burgundischen Kreis gefahren, hatte Jülich, Limburg, Lüttich, Brabant, Utrecht gesehen, ja selbst Den Haag und Leiden, die berühmten Städte Hollands. Im Bogen durch Geldern nach Münster war er gekommen, über Hamburg und Lübeck an die Ostsee. Entschlossen, an Bord einer Kogge bis Wisby zu segeln, hatte er auf stürmischem Meere Schiffbruch erlitten und nur durch Gottes gnädiges Eingreifen lebendig Rügens Kreidefelsen erreicht. Und war wieder glücklich aufs Festland gelangt, war über Anklam, Stettin, Berlin, Brandenburg, Mägdeburg, Halberstadt gen Goslar geritten … Das viel gepriesene Rom des Nordens, mit seinen mehr als 40 Gotteshäusern und einer Stadtmauer mit unzähligen Türmen war näher und näher gekommen … Doch desto mehr hatte den Reisenden wieder Beklemmung umfangen. Schwer war es Volpi ums Herz geworden. Die Aussicht, über Erfurt und Nürnberg wieder auf die Alpen zusteuern zu müssen, erschien ihm wie ein drohendes Todesurteil. Drunten wartete bloß das alte Elend. So hatte er, um die Zeit zu dehnen, ausgiebig die unwegsamen Harzwälder erkundet, war mit zwei Maultieren durchs wilde Tal der Oker gestiegen, bis er vom Bergsattel aus den öden Brackenberg oder Bracken in der Ferne gewahrte … Nach anfänglichem Zögern ob der Erzählungen der Einheimischen – von Geistern und Monstren –, hatte er sich flugs selbst dort noch hinaufbegeben. Ohne indes bösem Spuk und leider auch keiner wilden Frau zu begegnen, hatte er in vier Tagen bewältigt, was selbst Euricius Cordus, der große Harzreisende, vor drei Jahrzehnten nicht gewagt … Einsam, in einer Erbsensuppe aus Nebel kauernd, hatte er einen Tag in der Höhe auf die Fernsicht gewartet und war über Gebühr für alle Unbill entschädigt worden. Bis zum Mägdeburger Dom hatte er blicken können und sich ausgemalt, auf diesem weltfernen Steinbrocken einen Garten mit Alpenpflanzen anzulegen … Volpis Rücken schmerzte noch vom letzten steilen Maultierritt bergab – die Heerstraße von Osterode und Clausthal herunter war es gegangen –, und sein Magen erinnerte ihn knurrend daran, nach dem faden Rübenmus im Auerhahn-Krug nichts mehr gegessen zu haben.

In der Sakristei der Goslarer Marktkirche Sankt Cosmas und Damian stand er nun also vor dem Adressaten seiner Empfehlung. Im typischen Wackelschritt der kleinen Leute bewegte sich dieser Bartholdi durch die Folianten-Schluchten des Ratsarchivs … Archivare solcher Größe dünkten Volpi für Goslar sehr passend, denn sie waren platzsparend. Diese stolze Stadt krankte an der Schmalheit. Von allen Städten in Deutschland, durch die Volpi gekommen war, besaßen Marburg und Goslar die engsten Gassen. Er hatte bereits Stellen gesehen, an denen sich Dächer überlappten!

»Gibt es denn zwei Volpis?«, fragte der Gnom aufblickend. Er erkannte die Handschrift des Freundes und einstigen Mentors und fügte hinzu: »Ich stehe in Hanno Schuld – er hat mich im Schreiben und Archivieren unterwiesen!«

»Warum habt Ihr das Attendorner Stift verlassen?«, fragte Volpi.

»Ich hatte keinerlei Weihe, ich war nur Schreiber und Kopist. Ich wollte aber noch nicht mit dem Leben abschließen, ich wollte erst die Welt sehen! Nach meiner Zeit bei den Chorherren bin ich erst lange herumgezogen, hab etwa gegen Geld für die Illiterati Liebesgedichte und Briefe geschrieben oder mich von fahrenden Wunderdoktoren als Kuriosität vorführen lassen … Auch mit Artisten bin ich herumgezogen! Eine Zeit lang … Schließlich landete ich in Goslar. Nach zwei Jahren als Bergschreiber in der Grube des Stifts Neuwerk hatte ich Glück im Unglück … im Bergunglück, wenn man so will. Bei einem Unfall wurde ich verletzt, und unter den Bergherrn, die sich ein Bild der Lage machten, war Daniel Jobst, Goslars reichster Wandschneider, der am Neuwerk Anteile besaß. Wir freundeten uns an – über die Literatur … Herr Jobst hat mich dem Rat empfohlen. Daraufhin durfte der alte Ratsarchivar endlich seinen Dienst quittieren und auf den Turm von Sankt Stephani ziehen …«

Bartholdi lächelte über diesen Erinnerungen und musterte Volpi aufmerksam. Diese Italiener waren von Natur aus dunkler, so schien es … Die schiere Höhe einmal außer Acht gelassen … Reisende Humanisten, fahrende Weltmänner – wie beneidete er sie! Sehr glücklich sah der Große aber nicht aus. Etwas schien ihm über die Leber zu laufen … Sah ganz nach einer Laus aus …

»So ist der Traktat über den Hedonismus gar nicht von Euch?«

»Nein, bedaure …«, sagte Volpi. »Und Tomaso schrieb zudem die Traktate über das Glück, über die Spektren und den Witz. Aber von mir sind das Botanologicon und die Traktate über die Zahlen, die Blumen, den Urin und die Heuschrecken.«

»Ach? De urinis … Das schätze ich sehr!«, sagte Bartholdi, und seine Augen leuchteten.

Volpis Lächeln war wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, der durchs Gewölk stach.

»Lasst mich in eurem Harn lesen, und ich sage Euch, ob Ihr den Steinschneider braucht …«

Bartholdi schüttelte sich leicht pikiert und sagte:

»Über die Heuschrecken? … Davon habe ich noch nie gehört!«

»Diese Abhandlung ist auch noch ungedruckt«, sagte Volpi. »Vielleicht bleibt sie’s sogar … Ich habe darin Regio-Albanus angegriffen, der ein zwölftes Stück von Aristophanes entdeckt haben will – eben Die Heuschrecken –, das doch offenkundig von ihm selbst stammt … Ich für meinen Teil lehrte bis vor einem halben Jahr in Padua die Rechte. Zudem Logik, Kasuistik und Naturlehre, vor allem Medizin und Botanik.«

Bartholdi gluckste erstaunt.

»Was verschlägt Euch dann hierher? Mit Logik oder Kasuistik ist in Goslar kein Brot zu verdienen. Nennt mir etwas, das weniger mit Logik zu tun hätte, als die Ratschlüsse des Goslarer Rates, und ich trete Euch sofort meine gut dotierte Stelle ab! Und wie wollt Ihr in einer Stadt wie dieser je die Morallehre kasuistisch auf den Einzelfall anwenden, wo Moral den Hiesigen so gänzlich abhold ist? Für die Bergwerke seid ihr zu groß, und um die Rechte schwirren Syndici wie Schmeißfliegen. Wir können uns nicht retten vor Rechtsverdrehern! Botanik und Medizin … Das wär zwar auch kein lohnendes Gewerbe für Euch hier, doch zwei interessierte Gesprächspartner hättet Ihr. Otto Herbst, der Feuerhüter des Rammelsberges, ist ganz verrückt nach der Botanik. Ihm gehört der schönste Garten weit und breit, drüben am Steinberg, gleich neben der Kupferhütte seines Bruders Hans …Und auch Damian Baader, unser Medikus und Stadtchirurgus, zöge sicher gerne Gewinn aus einem Gedankenaustausch mit Euch. Er hat in Paris studiert, bei Winter von Andernach.«

Bartholdi hielt inne und besann sich. Dieser Volpi hatte Hanno als Fürsprech. Aber bevor er einen Gelehrten auf die Stadt losließ, musste er doch wissen, wie es um dessen Liquidität bestellt war? Davon hinge schließlich auch ab, wen man um Beherbergung bitten könnte …

»Woher habt Ihr das Geld, in unserer armen, aber teuren Stadt Quartier zu nehmen? Jetzt dämmert mir’s: Ihr seid gar kein Magister, sondern ein Kaufmann, der aus unserer Misere Kapital schlagen will! Billig einkaufen wollt Ihr hier, wo alles die Abzucht runtergeht, gebt’s zu! Da denkt Ihr, man könnte uns jeden Preis nennen, für Tuche, für Silber, für Kupfer … Wir müssten ja doch akzeptieren. Wenn Ihr Euch da mal nur nicht täuscht! Es stimmt zwar, dass der Handel Einbußen erlitten hat. Und er wird zweifellos durch den Herzog noch weitere erleiden … Aber all die Kaufleute, die bis heute durchhielten, werden auch die stärkste Krise, die noch kommen mag, überstehen!«

Der Kleine hatte sich kampfeslustig in die Brust geworfen. Volpi schüttelte belustigt den Kopf. »Kein Gedanke an Handel, ich darf Euch beruhigen. Für mein Auskommen sorgt der Hauptmäzen des Botanischen Gartens in Padua, dem sehr an meinem Wohlergehen und an meinem Auftrage gelegen ist. Er will mich heil wiedersehen mit all meinen Sämereien, denn ich soll ihm in Padua einen deutschen Garten anlegen. Das ist der Hauptgrund meiner Reise durch die nördlichen Provinzen Germaniens … ich meine Euer schönes, wildes, heiliges deutschrömisches Reich … Ich sammele auch Pflanzenbeschreibungen und sende alles an botanischen Büchern, was ich irgend kriegen kann, meinem Herrn. Außerdem … wünscht er, Bartholomeo von Bacchiglione, für seine Gemahlin, die schöne Monika … ein längeres … Gedicht …«

Er stockte. Bartholdi bemerkte, wie Volpis Adamsapfel eine Berg- und Talfahrt am feinen Hals vollführte …

»… über Goslar, denn sie wurde in dieser wunderschönen Stadt geboren und wuchs hier auf. Das wird die meiste Zeit meines Aufenthalts in Anspruch nehmen.«

Im Grunde schätzte Volpi, wenn er ehrlich war und die Hartnäckigkeit seiner Schreibhemmung in Rechnung stellte, dass es ein Aufenthalt für immer werden würde …

»Monika von Bacchi… Bacchiglione?«, fragte Bartholdi. »Aus Goslar?«

Volpi reichte als Erklärung nach: »Ihr Geburtsname ist Borngräber, ihr Vater Gerhard hat das Glockengießen beim großen Henrich Schellhorn gelernt.«

Bartholdi merkte auf:

»Ist sie eine Schwester des Buchdruckers? Der letztes Jahr mit 54 gestorben sein soll, in Köln?«

Volpi zuckte die Achseln: »Sie ist auch schon über Fünfzig. Ich weiß nur, dass ihre Mutter Gundel Borngräber, geborene Schellhorn war und nach der Geburt ihres dritten Kindes dreißigjährig am Kindbettfieber starb. Monika kam mit ihrem Vater und einem ihrer beiden Brüder nach Rom. In der ewigen Stadt lernte sie Bartholomeo von Bacchiglione kennen. Da sie seither die Sehnsucht nach der Stadt, in der sie ihre Jugendjahre verbrachte, in ihrem Herzen trägt, soll ich zu ihrer Erbauung das alte Goslar in einem Poem wiedererstehen lassen.«

Bartholdi lachte. »Eine schöne Aufgabe. Ich wünsche Euch die nötige Muße zu einem solch ehrbaren Unterfangen! Bei der Gelegenheit könnt Ihr all das, was inzwischen nicht mehr steht, wieder aufbauen – das Bergdorf, das Kloster Sankt Peter und das Georgenkloster, die Reepervorstadt und die Grabeskirche.«

Bartholdis Lächeln wurde hämisch. Ein Poem über Goslar? Der Arme, da wollte er nicht mit ihm tauschen … Auch die Großen hatten es nicht leicht. Beruhigend und erhebend zu wissen.

»Ich brauche also eine Bleibe für eine gewisse Frist …«, sagte Volpi. »Eine Unterkunft, in der ich einigermaßen ungestört meinen Gedanken nachhängen und dichten kann. Wenn’s geht mit Zugang zu einer Bibliothek wie der Euren.Wie könnte ich je ohne die Bücher sein, ohne die Lichter in meiner Einsamkeit? Gibt es einen belesenen gastfreien Mann am Ort, der bereit ist, mich ab und an mit einem Buch zu unterstützten? Und wenn’s nur etwas Livius wäre … Meiner Heimatstadt größter Sohn, vor mir … Ich vermisse seine Römische Geschichte über die Maßen, auch wenn ich das meiste auswendig kann …«

Er lachte und war froh, dass Bartholdi einstimmte. Niemand lernte auch nur eines der 142 Bücher Ab urbe condita von Titus Livius auswendig … Bartholdi hatte eine Entscheidung getroffen. Und sie war ihm, wie es aussah, am Ende gar nicht schwer gefallen …

»Ich schicke Euch zu meinem guten Freund und Worthgildebruder Daniel Jobst ins Unruh-Haus.«

»Unruhe ist nicht gerade das, was ich suche …«, wandte Volpi ein.

Bartholdi lächelte. »Das Haus ist bloß nach dem Erbauer so genannt, Jobsts Oheim: Unruh! Es steht zwar an der lautesten Mühle, der Daniel- oder Kehlmannmühle, an der Ecke von Abzucht und Unterer Mühlenstraße, aber es hat dicke Mauern. Jobsts Bibliothek ist weit besser ausgestattet, als meine hier … Er sitzt schon seit 25 Jahren im Rat. Wenn es eine erste Adresse für Euch gibt, Magister Volpi, dann ist es die! Ich werde später einmal kommen und nachsehen, ob meine Wahl für Euch die richtige war …«

Von der Breite seines Grinsens her schien sich Bartholdi seiner Sache jetzt sehr sicher zu sein.

»Doktor Volpi, wenn ich bitten darf!«

Bartholdi nickte eilfertig und verlachte zuinnerst die Eitelkeit der Gelehrten. Von ihm aus auch Doktor …. Gelehrter hin, Gelehrter her – Gelehrter fort war jetzt am besten. Ein neuer Stoß Akten vom Reichskammergericht war gekommen … Dutzende von Mappen, vollgestopft mit beschriebenem Papier, ein heilloses Chaos, Kraut und Rüben … Aus reiner Schikane hatten herzogliche Schergen irgendwo auf dem weiten Weg von Speyer nach Goslar die Sendung durchwühlt. Er, Bartholdi, musste das viele Papier wieder ordnen, die Schriftstücke in Registern erfassen, Blatt für Blatt auffindbar ablegen. Wozu das alles? Das wusste keiner mehr. Der Rechtsstreit war seit Langem bloß ein Klumpfuß für die Verwaltung. Der Streit um den Rammelsberg hatte eine Abraumhalde an beschriebenem Papier hervorgebracht. In Bartholdis Träumen brannte es unentwegt. Das Ratsarchiv in hellen Flammen – das wäre seine Erlösung! Doch es müsste gewissermaßen ein selektiver Brand sein, einer, der nur die nervtötenden Akten dieses unseligen Bergprozesses erfassen, das übrige Archiv und die Bücher aber unangetastet lassen würde … Andererseits … oh nein! Er liebte seine Arbeit ja doch! Was sollte er ohne die Akten tun? Es war schon kurios, dachte er im Fortwackeln, welch unauflösliche Widersprüche das Leben bereithielt.

»Euch schickt mir der Himmel!«, sagte der feine, dicke Mann zum werweißwievielten Male. Jobsts Freude darüber, dass der Archivar ihm Volpi zugeführt hatte, schien echt und aufrichtig. »Nein, Gerhard, dir allein freilich gebührt der Dank!«, sagte er zu Bartholdi, der sich ebenfalls eingestellt hatte und nun lächelnd den Dank entgegennahm. »Ich wünsche, dass Ihr so lange bleibt, wie Ihr nur immer wollt! Ihr glaubt gar nicht, wie ich das Gespräch mit einem Weitgereisten vermisst habe! Was Ihr mir über Padua erzählt habt, und über die ganze Republik Venedig … Welch ein Gewinn! Hier gibt es auch Weitgereiste, aber deren Reise-Erzählungen kenne ich schon. Und keiner kann sich mit Euch messen! Verzeih, Gerhard, außer dir freilich!«

Jobst lag sehr daran, seinen Freund Bartholdi nicht zurückzusetzen. Der nahm es dankbar lächelnd zur Kenntnis. Volpi ließ sich das Lob gefallen und schwieg beredt.

»Ich könnte wohl selbst losziehen, durchaus …«, sinnierte Jobst fort, »… doch ich werde träge. Mag zwar die Gefahr für das eigene Leben ein Gutteil des Reizes beim Reisen ausmachen, so käme in meinem Fall noch die Gefahr für das Zurückbleibende hinzu. Ich will meine Handlung, meine Häuser, meine Bücher und auch meine Gemälde nicht allein lassen. Der Herzog kann schon morgen wieder heranrücken und vor den Toren lungern. Dann wäre alles wieder so wie im Jahr der Bestie … Wir haben so viele Anzeichen wahrgenommen und sollten uns besser rüsten. Doch der Rat ist unschlüssig. Ich weiß nicht, was in den Köpfen meiner Herren Ratskollegen vorgeht. Was muss noch passieren? Derweil tanzen in der Stadt Armut und Hass durch die Gassen. So viele Tote wie im letzten Jahr hat es in unseren Mauern seit damals nicht mehr gegeben …«

Jobst schloss die Augen. Er dachte an seine Frau Katharina und seinen früheren Gesellen und nachmaligen Kompagnon Gregor Geismar, die beide vor sieben Jahren an den Pocken gestorben waren. Gregors Ehefrau Grete führte ihm seither den Haushalt.

»Da erschlägt einer seinen Brotherrn, weil der ihm seinen Lohn nicht geben kann. Da ersticht einer einen, den er für reicher hält, doch als er neiderfüllt die Truhen aufbricht, findet er nur ein paar Pfennige. Eine erhängt sich, nachdem sie ihre Kinder ums Leben gebracht hat – weil sie nicht mehr weiß, was werden soll. Ein anderer erschießt einen andern mit einer martialischen Feuerbüchse, und keiner weiß, warum. Die Welt gleicht vollends einem Narrenhaus … Gute Nacht, lieber Doktor! Ab morgen werdet Ihr mir von Euren Fahrten erzählen müssen.«

Jobst hatte etwas sichtlich Übles abgeschüttelt und aus den untersten Laden seines reichen Vorratsschranks für Mienen ein mattes, aber ehrliches Lächeln hervorgezogen. »Solange Ihr hier seid, sollt Ihr mir erzählen … freilich nur, wenn Euch danach ist! Das wäre der einzige Pachtzins für Eure kleine Gelehrtenkammer, den ich von Euch fordere. Ich hoffe, Ihr findet das nicht unbillig? Außerdem habe ich etwas für Euch – bin gespannt, was Ihr sagen werdet!«

Volpi konnte die Augen kaum noch offenhalten. Auch setzte ihm das Bier zu, das sie hier brauten. Er nahm entgegen, was Jobst ihm umständlich anvertraute. Es war ein Konvolut Pergamente mit blassen lateinischen Gedichtsspuren.

Bartholdi sagte erklärend: »Ich fand es bei der Reparatur einer Bibel aus der Bibliotheka Augustana … Raubgut, das sich mit der Entfernung immer mehr legalisiert hat und seit ein paar Jahren in der Goslarer Ratsbibliothek steckt … Im Rücken waren die Streifen verborgen … Vielleicht hilft es Euch beim Einschlafen.«

Volpi las den Titel: Pervergilium Veneris, übersetzte: Nachtfeier der Venus … und empfahl sich.

»Oh Jahrhundert! Oh Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn man auch nicht ausruhen darf, Tomaso! Die Studien blühen auf, die Geister regen sich. He, du! Barbarei! Nimm einen Strick und erwarte deine Hinrichtung! …«

So enthusiastisch und voller Überschwang hatte Volpi den Brief an den Bruder in Paris begonnen. Wenn er auch sonst am Rande der dunkelsten Verzweiflung reiste, so war der Gedanke an Tomaso stets der Lichtblick, der ihn den nächsten Tritt wieder sicher setzen ließ. Doch weiter kam er vorerst auch an diesem Abend nicht. Weiter in diesem … Brief … war er seit Köln nicht gekommen …

Auch wenn Volpi also der Barbarei in diesem Jahrhundert theoretisch keine Chance mehr einräumte, so war er doch barbarisch matt. Unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, legte der Weitgereiste sich zur Ruhe – im Unruh-Haus. Der Schlaf hielt sich auf Abstand. Dazu waren das Wasserpatschen des Kehlmannmühlrads zu laut und die Eindrücke des beschwerlichen Harzabstiegs und der Ankunft noch zu rege. Das wäre es noch, dachte er, wenn ihn außer der Inspiration jetzt auch der Schlaf dauerhaft zu fliehen beabsichtigte! Dann könnte er sich rund um die Uhr den Kopf zermartern, auf der Suche nach dem neuen Grün in seinen ausgedörrten Gedanken … Eine steinige Halde war sein Gemüt, kein Halm spross, keine grüne Zeile entwand sich dem harten Boden, den nichts überzog außer Trockenrisse …

Volpi lauschte den Nachtgeräuschen der fremden Stadt. Eine Nachtigall schlug, dass es eine Freude wäre – hätte man eine Liebste, an die man denken könnte … Der Vogel war bloß lästig … Er dachte an Johanna und hörte im Geist nur eine katholische Brieftaube krächzen, eine Rabenkrähe … Das Schlagen und Läuten der Glocken störte ihn, auch das Malmen und Walzen und Wassergeplärr der Mühle und des großen Rades. Dazu gesellte sich der ausrufende Nachtwächter, der seine genau ausgetüftelte Runde durch die Stadt machte. Immer kurz nach dem Dreiviertelschlag war er mit seinem Spruch zu hören, in dem sich nur die Stunden abwechselten. Warum man Menschen, die doch im Grunde bloß in Ruhe schlafen wollten, stets sagen musste, wie spät es war? Wenn es sie interessierte – im Traum etwa –, dann konnten sie es ohnehin am Glockenschlag erkennen, der es ihnen selbst im allertiefsten Schlaf einhämmerte. Auch der dringliche Hinweis, das offene Licht zu löschen, kam Volpi angesichts der vorgerückten Stunde mehr als überflüssig vor. Die jahrzehntelange Erziehung zur Vorsicht schien bei den Goslarern gründlich gewirkt zu haben. Nach Einbruch der Dunkelheit war’s allda naturgemäß zappenduster.

Volpis Gedanken wollten und wollten nicht ruhen. Jetzt hatten sie wieder Feuer gefangen. Warum stand er nicht auf, entzündete seine Kerze, die er mitführte für den dringenden Fall, dass er schreiben müsste? Wahrscheinlich könnte er es jetzt! Oh ja, er würde schreiben, bis der Wächter wieder vorüberkäme! Eine Strophe, eine zweite, dann noch eine – für jede weitere Stundenrunde des Nachtwächters eine Strophe. Und morgen früh wäre er mit dem geforderten Lobpreis dieser schönsten aller Städte fertig. Fast glaubte er, es sei schon geschehen, er hätte es getan … Hatte er es getan? Hatte er an dem kleinen Tisch gesessen, den man ihm extra hingestellt, und auf das Schindeldach hinausgesehen? Den Blick wieder auf das kleine gerollte Heft gesenkt, in dem bisher nichts anderes als unpoetischste Pflanzenbeschreibungen und Notizen zu stehen gekommen waren? Nein, aber nein … Er war liegen geblieben. Alles war dunkel. Keine Kerze brannte. Nichts hatte Volpi erleuchtet. Kein Geistfunke war ihm gekommen, nicht der verendende Glühwurm einer halben oder viertel Idee … und wenn hier etwas rauschte außer dem Blut in seinen Schläfen, so war es das Wasser des rauschenden Baches, der draußen vorbeizog und Abzucht genannt wurde – ein Name, der noch dunkel an das römische aquaeduct erinnerte. Sie entsprang den Gruben des erzreichen Rammelsberges, der für die fortgesetzten Händel mit dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel verantwortlich war. Vitriole und andere Gifte hatten sich in den Sickerwässern gelöst, die aus den Entwässerungsstollen zu Tage rannen. Auf Wasserbrettern den Mühlen zugeführt, war aus der Abzucht kein Trinkwasser zu schöpfen. Sie floss daher in einer strengen Einfassung. Das gute Wasser eines Rinnsales daneben – der Gose, nach der die Stadt hieß – wurde durch die saubere Trennung nicht verunreinigt.

Seltsam, dachte Volpi, während er dem Rauschen und dem Knarren des großen Mühlrades zuhörte … Vielleicht hatte sich sein Glück ja doch gewendet? Wenn es so wäre? Er musste an Fortunas Rad denken und lächelte schwach, für alle Welt unsichtbar und auch nur kurz: Fortunas Mühlrad! Angetrieben von den giftigen Wässern, die dem Berg entströmten, auf dem Goslars Glück gebaut war, insonderheit das Glück des Herrn, der ihn so gastfreundlich aufgenommen … Daniel Jobst, ein großer Mann, ein Wandschneider wie aus dem Bilderbuch der Gewerke! Der Erfolg seiner Handlung hatte sich aufs Körperformat geschlagen. Er war nicht mehr der drahtige 33er, der er vor 25 Jahren wahrscheinlich gewesen war, dachte Doktor Volpi, in den Belangen des Körpers wohlbeschlagen … Für sein fortgeschrittenes Alter dagegen wirkte Jobst sehr gut beieinander und wurde sicher oft für jünger gehalten. Er hatte, das zeigte seine Hausburg, im zurückliegenden Vierteljahrhundert keine Chance ungenutzt verstreichen lassen, mit Metallen und edlen Tuchen, mit Gewürzen und Farben Gewinn zu machen. War der Reichtum des Oheims Unruh bereits beträchtlich gewesen, so war der des Neffen nun fast unheimlich … Jobst hatte inzwischen mehrere Nachbarhäuser gekauft und alle Außenmauern in Stein aufführen lassen, sodass aus der Kemenate der an sich schon stattlichen Halskrause das Zentrum einer kleinen Stadtfestung geworden war. Nichts fürchtete Jobst inzwischen so sehr wie Feuer und Diebe.

Volpi drehte sich auf die andere Seite, er fühlte die knisternden Gänseflaumfedern im Kissenbezug aus französischer Seide … Wann hatte er zuletzt etwas anderes als Stroh unter der Wange gespürt? War es dieses betörende Gefühl von Luxus, das ihn keinen Schlaf finden ließ? Wie ein Strauchdieb sah er offenbar noch immer nicht aus, so schmutzig er auch am Tag noch gewesen war. Denn Unruhs Erbe, dieser feine, furchtsame Mann, hatte ihn bereitwillig aufgenommen. Bartholdi hatte es sich nicht nehmen lassen, vorbeizuschauen, als er die Aktenflut kanalisiert hatte. Jobst und Bartholdi hatten in der Bibliophilie eine gemeinsame Leidenschaft, und der Kleine war ein gern gesehener und bevorzugt behandelter Gast, wie es schien. Er brauchte nicht nach Hause zu laufen, sondern konnte ebenfalls bei Jobst übernachten. Als Volpi todmüde den Rückzug angetreten hatte, waren Hausherr und Archivar noch ganz bei ihrer Sache geblieben …

Volpi drehte sich behaglich auf die andere Seite. Nein, billiger wäre es kaum gegangen. Besser hätte er es gar nicht treffen können. In diesem reichen Haus, im Gespräch mit diesem belesenen Gönner, würde das Gedicht für Monika Bacchiglione wie von selbst entstehen! Einschlafen konnte er aber nicht, trotz – oder gerade wegen – dieser schönen, gänzlich unverhofft aufgeschienenen Aussichten. Das ihm so generös angebotene unbekannte lateinische Gedicht vorzunehmen … daran war ohnehin kein Gedanke gewesen … wo der Brief an Tomaso noch wartete.

Dann war Volpi doch eingeschlafen, denn er wachte schweißnass wieder auf, nach einem schrecklichen Nachtgesicht! Es schlug halb … Halb wie viel? Zu dumm. Wenn man erst einmal eingeschlafen war, dann hatte es sich mit dem Uhrenschlagenwissen … Halb zwei, halb drei? Wie auch immer … Volpi hatte im Traum auf einer großen Blumenwiese einem Drachen gegenübergestanden, so lang wie ein Heufuhrwerk, mit einem speckigen, hellen Schweinehinterleib. Vorn aber hatte er schwarze Borsten am Kopf wie ein Wildschwein. Die Flügel einer gewaltigen Fledermaus, auch deren Ohren und einen Schmetterlingsrüssel. Am Bauch gelb, weiß und scheckig, und Flügel und Oberteil schwarz; der halbe Schwanz wie ein Schneckenhaus krumblicht. Ganz kleine, fast nur punktgroße, tückische Fuchsaugen hatte das Unvieh auf ihn gerichtet, ihn regelrecht damit aufpieken wollen … Er – der heilige Volpi dagegen – hatte eine viel zu große Lanze in der Hand gehalten, einen wahren Maibaum von Lanze … Spielend leicht hätte er, mit gewaltigen Kräften begabt, den Drachen damit erstechen oder noch besser erschlagen können … Doch der hatte sich verwandelt. Nicht im Mindesten mehr feindselig war er, geschrumpft wie aufs „Mutabor!“ eines Hexenmeisters, und machte Anstalten, die große gelbe und weiße Hundskamille zu fressen: Aus der dicken Schlange mit Flügeln war eine ganz profane Milchkuh geworden! Seine Lanze hatte er zurückgelassen, da sie unnötig war … Sie schlug, einer gefällten Buche gleich, in die Wiesenblumen. So friedlich, so harmlos, so niedlich beinahe stand die Kuh vor ihm … Ihre stumpfen Kiefer mahlten, sie muhte … Er war wieder der kleine Hütejunge von einst, passte auf die Kühe des väterlichen Landgutes in den Euganeischen Hügeln bei Monterosso auf, wo die rote Erde durchs Gras brach … Volpi trat, erfreut über diese Entwicklung, an die friedlich Grasende heran, um ihr die Flanke zu streicheln. Da erst sah er das Feuer in den Kuhaugen und spürte die Hitze der Flammen, die aus ihrem geöffneten Maul hervorschossen und ihn einhüllten wie ein loderndes, weiß glühendes Leichentuch …

Das war der Moment gewesen, in dem ihn sein aufgepeitschtes Gemüt hatte aufwachen lassen. Ein Alp! So gegenwärtig, dass Volpi glaubte, den höllischen Anhauch des Ungetüms noch riechen zu können. Der Schlaf wollte ihn schon wieder einfangen, und er sehnte sich auch danach, denn er wollte dieser beängstigenden Vermutung keinen Raum bieten, als er eine Glocke schlagen hörte. Bim-bim-bim-… Monoton. Aufgeregt. Stundenschläge waren das nicht … Dann waren Stimmen zu hören: Rufe, Schreie. Die kamen von der Straße. Ein Aufruhr? Einbruch der Herzoglichen? Auch das Unruh-Haus machte seinem Namen jetzt alle erdenkliche Ehre.

Eine Magd hämmerte gegen die Tür und rief: »Ihr müsst aufstehen, Herr! Ihr müsst Euch ankleiden und mit hinausgehen! Bei der Schwalbe wüten die Teufelszungen! Hört Ihr! Wacht auf! Kommt mit raus!«

Endlich begriff er, was los war: In der Nachbarschaft brannte es!

Keinen Steinwurf entfernt quoll dichter Rauch aus einem Hausdach. Flammen blakten wie hinter dunkelgrauen Schleiern. In den Gröpern hieß die Straße. Sie verlief parallel zur Straße an der Abzucht, in gerader Linie hoch zum Markt. Das Haus gehörte einer Witwe namens Stobeken, die allseits nur als die Schwalbe bekannt war – auch ihr Haus trug diesen Namen. Im Falle des Hauses hatten die Schnitzereien an den Knaggen zur Benennung inspiriert, da waren Schwalbenschwänze zu sehen. Im Falle der Witwe war es der Lebenswandel, denn sie stand im Ruf, seit ihr Gatte im letzten Aufbegehren der Schmalkalder bei Mühlberg auf dem Feld geblieben war, mit leichten Schwingen von einem zum anderen Liebhaber zu fliegen …

Auf der Straße war reichlich Volk versammelt, als Volpi hinzukam, doch er sah wenig Anstrengung, dem Feuer zu wehren. Zwei Männer schleppten eine halbvolle Bütte mit Wasser heran. Die große Menge der Schaulustigen aber war paralysiert vom Anblick der ins Schwarz hinaufzüngelnden Dachbefeuerung. Hörte man Wehklagen? Wie hatte die Magd sie genannt? Feuerzungen! Nein – Satanszungen. Oder?

»Zurück!«, ging plötzlich der Ruf.

Krachend kamen kleinere Dachschwellen herunter und lagen schwarz und rauchend am Boden, dann folgten teils verkohlte, teils brennende Holzschindeln. Ihr Herabprasseln trieb die untätig Herumstehenden zurück.

»Toren! Was steht ihr da und haltet Maulaffen feil!«, schrie Daniel Jobst, als er ein paar Augenblicke später erschien. »Schafft mehr Wasser her! Wir sollten die Wände der Schwalbe einreißen! Das Feuer darf nicht übergreifen! Schützt die Nachbarhäuser, indem ihr die Dächer und Mauern gegen die Flammen verteidigt! Mit Wasser, mit Sand, mit Feuerpatschen! Wo ist Vera Stobeken? Sie wird nichts dawider einwenden können – kann ihr Haus ohnehin nicht mehr retten! Wo bleiben die Stangen mit den Haken –, die Feuerkruken? Rasch, her damit! Die Steine müssen fallen … Die Balken … Ist das etwa alles, was ihr an Wasser vorrätig habt?«

Mit einem Blick hatten er und Volpi sich verständigt. Der Gelehrte wusste um die Größe der Gefahr. Er war zweimal selbst vom Feuer heimgesucht und in Padua um all sein Hab und Gut gebracht worden. So ein Feuer konnte eine ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Jobsts gewichtiges Wort brachte langsam Leben in die Gaffer. Aber Volpi ahnte bereits, dass es zu spät war … Er dachte an das, was ihm einmal einer sagte, der schon viele Feuer erlebt und zu löschen unternommen hatte: In der ersten Minute löschst du ein Feuer mit einem Krug voll Wasser. In der zweiten Minute mit einem Eimer Wasser. In der dritten Minute mit einem Anker Wasser. Und danach? Versuchst du einfach, dein Bestes zu geben …

»Wo sind die Bütten aus den anderen Häusern? Holt eure Eimer und stellt euch in einer Reihe auf, Leute: Wir müssen eine Kette bis zur Abzucht bilden! Wo ist der nächste Pipen-Brunnen? Beim Heldt im Hof? Also eine zweite Kette dorthin!«