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August 1759: Noch hat Friedrich II. die Niederlage in der Schlacht von Kunersdorf nicht verdaut, als die Nachricht vom Tod des Herrn von Criewens im Feldlager eintrifft. Der Vorleser der Königin war Verbindungsmann zum wichtigsten preußischen Agenten in Schweden. Sollte er wirklich bei einem gewöhnlichen Raubüberfall umgekommen sein? Das ist wieder ein Fall für den Hofkoch Honoré Langustier, der nach Berlin reisen muss, um im Zwielicht von militärischer Geheimhaltung und Gegenspionage als Sonderkommissar des Königs zu ermitteln. Seine kriegswichtigen Nachforschungen führen ihn dabei in eine Seeschlacht. Weitere Titel der PreußenKrimi-Reihe als ebook: Königsblau (1740) Silbergrau (1743) Muskatbraun (1746) Purpurrot (1750) Rosé Pompadour (1755) Schwefelgelb (1757) Glutorange (1760) Rabenschwarz (1766) Kreideweiß (1772) Goldblond (1778) Kristallklar (1786)
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Seitenzahl: 341
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Tom Wolf
Teuflische Pläne
Die Handlungen dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit tatsächlichem Geschehen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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ebook im be.bra verlag, 2012
© der Originalausgabe:
berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2004
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin
Umschlag: Hauke Sturm, Berlin, unter Verwendung eines
Ausschnitts des Gemäldes von Adolph Menzel »Der König überall«
von Robert Warthmüller, 1886, bpk, Berlin
ISBN 978-3-8393-6106-1 (epub)
ISBN 978-3-8393-6107-8 (pdf)
ISBN 978-3-89809-026-1 (print)
www.bebraverlag.de
Gewidmet Wilhelmine,Markgräfin von Bayreuth,deren Memoiren mir stets einehilfreiche Erfrischung waren
Becker, Adalbert von – Polizeichef von Berlin
Beeren, Marie Gräfin von – Tochter Honoré Langustiers
Bilgewasser, Günter Haubold von – Befehlshaber der preußischen Flottille im Frischen Haff; Kapitän der »Friedrich Wilhelm zu Pferde«
Criewen, Cäsar von – Bruder der Nachfolgenden; Rittmeister des Rathenower Leibkarabinier-Regiments Nr. 11
Criewen, Emil von – Bruder des Vorhergehenden und der Nachfolgenden; Gutsherr auf Alt-Modern
Criewen, Hellmuth von – Bruder der Vorhergehenden und des Nachfolgenden; Kammerherr der Königin; Verbindungsmann Friedrichs II. zu Schwedens Königstreuen
Criewen, Hermann von – Bruder der Vorhergehenden; Besitzer des Gutes Wassersuppe
d’Argens, Jean Baptiste de Boyer, Marquis – französischer Schriftsteller und Direktor der Philosophischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften
Elisabeth Christine – Königin in Preußen
Eller, Johann Theodor – Charité-Direktor, Pathologe, ehemaliger königlicher Leibchirurg
Friedrich II. – König in Preußen
Göbel, Gottfried – Schiffskoch auf der »Friedrich Wilhelm zu Pferde«
Güllbrandt, Egmont von – schwedischer Etatsminister, Mitglied der Partei der »Hüte«
Hessel, Carl – Diener Hellmuth von Criewens
Huber, Carlotte Adelheid – Leibköchin der Königin Elisabeth Christine
Lafontaine, Sophie – Unterköchin der Madame Huber
Langustier, Honoré – Zweiter Hofküchenmeister Friedrichs II.
Mellenthin, Franz von – Besitzer des Gutes Nevermin, Kartoffelpionier
Pfannenstiel, Friedrich Wilhelm – Leinenweber und Prophet
Quappendorff, Louise Albertine Freifrau von – Gesellschafterin der Königin
Wallraff, Johann Heinrich – Wagenbauer
Värnshagen, Leopoldine Ludwigia von – Base Hellmuth von Criewens
Duffke, Georg – Kutscher Hellmuth von Criewens
Würmerhelm, Wieland Alexander Baron von – Kammerherr der Königin
Der glücklichste Tag im Leben ist der, an dem man es verlässt.Ich beklage seit langem nur die Lebendigen, nicht die Toten.
Friedrich II.
»Wir haben Unglück gehabt, mein lieber Marquis. Der Sieg war unser, er wäre vollständig gewesen, da verlor unsere Infanterie die Geduld und verließ das Schlachtfeld. Der Feind marschiert auf Berlin.«
Flügeladjutant von Götz, der das Diktat des Königs aufnahm, gab dem Brieffranzösisch gleich etwas Pfiff. Der Adressat war schließlich kein simpler militärischer Befehlsempfänger, sondern ein Marquis. Behände flog die Feder über das Papier:
»Die russische Infanterie ist zum Glück fast völlig vernichtet. Mit allem, was ich von meinen Überresten zusammenkratzen kann, werfe ich mich bei Fürstenwalde dem Gegner notdürftig in den Weg. Entweder werden wir abgeschlachtet oder wir retten die Hauptstadt!«
Der Regent in seiner schmutzigen blauen Uniform des Ersten Regiments Garde, mit verschossenen Stulpenstiefeln und einem Dreispitz, dessen weiße Kranichfeder schon bessere, unzerknickte Tage gesehen hatte, suchte weiter nach Worten. Ein Anfall von Fingergicht verhinderte, dass er eigenhändig schrieb. Vor einem großen Fenster schritt er auf und ab, blickte im Diktieren auf einen verwilderten Barockgarten hinaus, der in den Farben des sterbenden Sommers prangte. Sangen nicht auch die Schwäne am schönsten, kurz bevor sie starben, fragte er sich. Dann tönte seine Stimme wieder. Der Schreiber schrieb:
»Wenn ich Ihnen raten darf, so warten Sie das Ende in Potsdam ab oder besser in Magdeburg. Und gedenken Sie eines Freundes, der Sie liebt und Sie hochschätzen wird bis zum letzten Seufzer.« Der König seufzte. Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ich seindt hier in Madlitz auf dem Gut des Generalmajors Finck, dem Bruder des Ministers, dem die Kosaken ausgeplündert haben, des Schadens übersteigt aber nicht ein paar hundert Talers. Leben Sie wohl, mein Lieber, studieren tapfer den Zeno in diesen kritischen Zeiten und lassen dem Epikur nur schön bleiben.«
Von Götz – bemüht, verständliche Sätze zu Papier zu bringen – entsann sich des Briefdiktats, das er vor vier Tagen in einem zerschossenen Bauernhaus bei Ötscher an der leise gurgelnden Oder behutsam umformuliert hatte: »Das ist ein grausamer Schlag, ich werde ihn nicht überleben … ich glaube, es ist alles verloren … adieu, auf immer.« Er registrierte erfreut, dass sich der oberste Befehlshaber wieder etwas gefangen hatte. Das zwischenzeitlich dem Bruder Heinrich übertragene Kommando über die Armee hatte er wieder an sich genommen, die Ampullen mit dem Opium waren zurück in die inwendigen Uniformtaschen gewandert.
»Es seindt gut. Lassen Sie den Brief gleich expedieren.«
Mit diesen Worten war von Götz entlassen.
Der König bosselte bis kurz vor sechs Uhr fruchtlos an seiner Nachahmung des Salomo von Voltaire herum. Ein weiser König – war er das? Er ging aus dem Zimmer im Obergeschoss des Madlitzer Gutshauses in den alten, düsteren Saal hinunter, wo ihn Honoré Langustier, sein Zweiter Hofküchenmeister – zur Zeit Dienst habender erster Feldkoch –, der Generaladjutant von Krusemarck, die Flügeladjutanten von Götz und von Beeskow sowie der Major Finck von Finckenstein nebst Familie erwarteten. Die königlichen Windspiele Alkmene und Antigone begleiteten ihn die Treppe hinab. Als sie das Essen rochen, verbissen sie sich im Tischtuch, das zum schwer unterdrückten Ärger der Hausherrin an zwei Stellen Verwundungen davontrug. Just in dem Moment, als Langustier begann, die hauseigenen Bedienten mit dem leicht ramponierten Steingutgeschirr im Servieren zu unterrichten, sprengte ein Meldereiter vor das asymmetrische, zweiflüglige Gebäude.
Von Krusemarck eilte hinaus und kam mit einigen Briefschaften zurück. Da der König begierig war, alle eintreffenden Nachrichten umgehend zur Kenntnis zu nehmen, ließ er sich sogleich in einer Ecke des Raumes auf einem Sofa nieder, um die Depeschen zu studieren. Er verlangte nach Papier, Tinte und Feder und setzte an einem rasch herbeigetragenen kleinen Tischchen eigenhändig ein Schreiben auf. Von Götzens Frage, ob er dies übernehmen solle, wurde abschlägig beschieden.
Als der Regent endlich zu Tisch bat, schien er niedergeschlagen. Seine gerade erst zurückgewonnene Fassung, verzeichnete von Götz bestürzt, war wieder dahin.
Die Abendtafel wurde zu einer Katastrophe. Langustier, dessen nicht mehr ganz reinlicher tressenbesetzter Rock über der blauen Uniform vom importanten Bauch zu einem wahren Feldherrnhügel ausgebeult wurde, musste mit ansehen, wie seine Truppen auf dem Schlachtfeld verendeten: Im Salat von Wachtel und Gänseleber mit Trüffelvinaigrette wurde achtlos gestochert, an der gelierten Tomatenconsommé desinteressiert herumgelöffelt, die Dorade Roié mit grünem Salat und Pomeranzenbutter keines royalen Blicks gewürdigt. Der oderländische Bauernhahn mit Pfifferlingsnudeln sah sich einer derart verletzenden Nichtachtung preisgegeben, dass es Langustier einen Stich ins Mark versetzte. Der König, der bis dahin von allen Speisen nur eine klitzekleine Kostprobe genommen hatte, warf seiner Lieblingshündin Alkmene den engelszarten Flügel seines Hähnchens hin.
Langustier bedachte den verzogenen Köter, der jetzt sein fettiges Beutestück übers Parkett schleifte, dass der abgenutzte Nussbaum an den so geölten Stellen in alter Pracht aufleuchtete, mit einem Blick tiefsten Widerwillens. Es war eine herbe Schmach, zusehen zu müssen, wie seine Kunst hier vor die Hunde ging! Vergleichsweise hart kam es ihn an, dass sein ganzer Stolz, jenes wahrhaft königliche Dessert, welches auf diese zwei Gänge zu je zwei Schüsseln folgte: Vanillemousse im Hippenblatt mit Erdbeersorbet, unberührt auf dem Silberteller des Monarchen zerfloss.
Unter Aufbietung aller Autorität hatte er einen Gehilfen auf die Marwitzschen Güter bei Gusow geschickt, um einen der letzten, schon schwer tropfenden Brocken Oder-Eis zu erhalten, die noch im dortigen Kellerdepot schlummerten. Ehrfürchtig hatte er ihn zerkleinert und die Bröckchen mit Salz vermischt, um sie zur Entwicklung knisternder Kälte anzuspornen. Nach einer halben Stunde rührender Bemühung war aus dem Erdbeersaft in einer auf die knackende Kälte gesetzten Silberschüssel ein köstlicher rötlicher Schneematsch geworden. Wieder einmal hatte er das schier Unmögliche möglich gemacht – und jetzt das. Langustier erstarrte. Sollte er sich etwa beim Abschmecken gravierend vermessen haben?
Ein Blitzen im Auge des wetterwendischen, oft jähzornigen Regenten würde genügen, und alles wäre dahin. Schimpflich entlassen und lebenslang in die Festung verbracht, dürfte der frühere Beherrscher der Töpfe seinen Lebensabend bei schmutzigem Wasser und verschimmelten Brotkanten verbringen – vielleicht sogar angekettet an die Bettstatt wie Friedrich von der Trenck, der schon seit fünf Jahren in Magdeburgs Sternschanze schmachtete. Alle Welt lachte über ihn: Zwei zurückliegende Haftstrafen hätten ihm klarmachen müssen, dass es für einen Freiherrn völlig unmöglich war, mit der Prinzessin und Königsschwester Amalie zu liebäugeln! Nach fast zwanzig Jahren unterm Schwarzen Adler hatte Langustiers Mentalität bereits preußische Züge angenommen. Er kämpfte jedes Aufbegehren gegen sein unausweichliches Schicksal nieder: Die Haft geschähe ihm recht, sollte er seine Arbeit nicht zur königlichen Zufriedenheit verrichtet haben. Er überlegte kurz und sachlich, welches die nächstbeste Festung wäre, und mutmaßte, dass er den Lebensabend wohl in Küstrin verbringen würde.
Der König erhob sich und nickte seinen Tafelgästen zu, die tapfer ausgeharrt und sich an der dargebotenen Kollation gelabt hatten. Sie lächelten Langustier dankbar zu, um ihn wissen zu lassen, dass des Königs Misslaune keinesfalls auf die Qualität seiner Arbeit zurückzuführen wäre. Er blieb freilich im Zweifel, und sein Herz schlug schneller, als der Monarch ihn und von Krusemarck zu einem kleinen Rundgang im Freien berief. Das erste Wort des Regenten versetzte Langustier in einen Zustand der hellsten Auflösung, und sein Herz machte einen gewaltigen Sprung ins Leere, denn es lautete:
»Küstrin!«
Der Monarch wies mit dem Stock in eine Richtung hinter dem kleinen Hügel, auf den sie sich zubewegten:
»Es seindt nicht weit von hier und macht mich ganz depressive! Mir ekelt vor seinen Festungsmauern, denn mein Vater ließ mich dort eine garstige Lektion beibringen.«
Kurz legte der König seinem Zweiten Hofküchenmeister die knochige Hand auf die Schulter und sagte in tröstendem Ton:
»Seien Sie mich gnädig wegen der Preziösen, die ich verschmäht. Es deucht mir, Sie möchten mich mit eklatanten Genüssen ein Schlaraffia vorzaubern, das selbst dem Heliogabelus frappierte, wo mich doch heutigen Tags allein Sparta auf meiner Tafel commod erscheint! Schauen Sie mir nur an: Auf der Seite seindt die Haare längst grau, die Zähne zerbrechen und fallen mir lose wie Bachkiesel zum Munde heraus, mein Gesicht liegt in lauter Runzeln wie ein Weibsrock. Der Rücken endlich spannt sich krümmer als ein Flitzebogen.«
Langustiers Schulter, wo des Königs schmutziger Lederhandschuh verweilt hatte, schien erfroren, indes rollte ihm ein Findling von der Seele. Das Gespräch nahm freilich dennoch keine lebensfrohe Wendung. So lag die verhängnisvolle Schlacht bei Kunersdorf wirklich drückend auf dem königlichen Magen, von dem er bislang angenommen, dass er nicht zu irritieren wäre. Hatte nicht der Kammerherr Algarotti stets gewitzelt: »Die Magenverstimmungen sind für das gemeine Volk!«, und sich darüber beklagt, bei Hofe ohne Appetit die schärfsten Dinge essen zu müssen?
Der König klagte weiter:
»Es wird Zeit für den Frieden, sonst werden Hunger und Pest die Menschheit an den Geißeln und Tyrannen rächen und Angreifer und Verteidiger, Freunde und Feinde zusammen hinraffen. Gott schütze uns davor und habe Erbamen mit meiner Seele, falls wir denn eine haben sollten, wie die Pfaffen uns weismachen wollen! Sechstausend Gemeine tot, zehntausend ohnfähig fortzukämpfen; sie seindt blessiert, gefangen oder vermisst. Der Generalmajor Puttkammer ist auf dem Acker liegen geblieben. So viele Edle wurden mir übel zerhauen: der Prinz von Württemberg, Hülsen, Wedel, Knoblauch, Klitzing, Stutterheim, Platen, Spaun und Finck. Und Itzenblitz! Alle hart massakriert, von Seidlitz hat gar die Stimme verloren. Ohnfern der Stelle, da mich der Rittmeister von Prittwitz aus dem Hinterhalt der Kosaken herausgeholt, lag ein Major von Reitwein mit einer schlimmen Wunde. Er ist nach Berlin in die Charité verbracht worden und nur knapp dem Tod entronnen. Möchte wissen, wer ihn so zugerichtet hat. Wenn es wirklich die Kosaken waren, seindt sie mich sehr nah gewest. Eine Kugel ruinierte mich die schönste, meine Favorite-Tabatière!«
Für einen bangen Augenblick beschäftigte diese furchtbare Havarie den König mehr als alles andere. Er zog eine verbeulte Tabaksdose aus dem Rock. Langustier glaubte sogar, im Auge des Regenten eine Träne funkeln zu sehen. Dann fasste dieser sich und fuhr fort:
»Major von Kleist, der ein Bataillon des Infanterieregiments von Hausse kommandierte, ward ebenfalls hart malträtiert. Krusemarck, was können Sie mich davon erzählen?«
Der König nahm eine Prise Spaniol, und sein Blick streifte kurz die im Tabak liegende Musketenkugel, die ihm – von dem edlen Behältnis rein zufällig aufgehalten – glücklicherweise nur eine Quetschung an der Hüfte beigebracht hatte. Der Generaladjutant nahm Haltung an und berichtete:
»Die Russen verschossen Kleist die rechte Hand, doch er ritt weiter, sie verstümmelten ihm die Linke, während er tapfer gegen sie anstrebte. Erst als ihm die Feindeskugeln das rechte Bein durchsiebten, musste er Halt machen, da er nicht mehr sicher im Sattel saß. Einen Feldscher, der ihm eben die Blessuren mit Spiritus ausreiben wollte, traf es voll in den Kopf, so dass er tot über dem Verwundeten hinfiel. Kosaken rissen Kleist die Kleider vom Leib. Sie stahlen ihm Hut und Perücke und ließen ihn bloß am Leben, weil er sie auf Polnisch angeredet hatte. Später weckten ihn russische Husaren aus dem Erschöpfungsschlaf, betteten ihn auf Stroh und gaben ihm Mantel, Hut, Wasser und Brot. Doch die Kosaken kamen zurück und nahmen ihm die schützende Kleidung wieder weg. Gegen zehn Uhr fand ihn schließlich ein russischer Kavalleriehauptmann namens von Stackelberg, legte ihn auf einen Wagen und ließ ihn nach Frankfurt bringen, wo man ihn verband und ins Haus des Professors Nikolai brachte. Es steht übel um ihn, wenngleich die Ärzte nicht ganz verzweifelt sind.«
Langustier genoss die frische, von Pulverdampf ganz ungetrübte Luft. Nichts hier erinnerte an Krieg und Tod. Er stellte sich vor, welchen Reiz ein Landschaftspark nach englischem Vorbild in dieser märkischen Einöde haben würde: Man müsste nur ein paar Blickachsen hineinroden, den Barockgarten um das Haus entfernen und die Wege in Schlingen und Schlaufen durch das hügelige Gelände ziehen, wo schon jetzt in anmutigem Wechsel bewaldete Höhen auf weite, von Buschwerk eingerahmte Wiesen folgten.
Das Herrenhaus war hinter einer Waldzunge zurückgeblieben. Ein kleiner See mit einer Insel lockte jetzt die Spaziergänger. Auf das mürbe Brückengeländer gestützt, sagte der König:
»Wo alles darnieder fällt, seindt selbst so ein Fleck kein rechter Trost, denn er wirkt wie ein hübsches Bild, das gleich eine Kanonenkugel zerschmettern wird. Mir könnte Sans Souci nicht erfrischen, wenn ich den Feind vor seinen Toren wüsste.«
Langustier fragte mit gebotener Zurückhaltung:
»Steht es wirklich so schlimm, Sire, wie man sich erzählt?«
Der König horchte auf, und in seinen großen Augen blitzte es:
»Sagt mich, mein lieber Langustier, was erzählt man?«
Langustier druckste ein wenig herum, um schließlich in aller Vorsicht zu erwidern:
»Nun, Sire, mit Permiss – es wird gemunkelt, dass man in Berlin nicht mehr sicher sei, dass sich die Königin zum Auszug rüste. Ein Leinenweber namens Pfannenstiel predige, so heißt es, am offenen Fenster vom Jüngsten Gericht und von der preußischen Apokalypse.«
Der König lachte herzlich, nickte aber dazu.
»Der lose Vogel übertreibt. Wenngleich das Genre wohl gewählt, so seindt das doch nur Stiel, nicht Pfanne. Die Königin und die Prinzessinnen frühstücken längst in Magdeburg, denn sie nahmen auf meinen Wink schon gestern Reißaus. Noch seindt Berlin aber nicht verloren. Ich gehe morgen mit allem, was mich geblieben, nach Fürstenwalde, wo auch ein Train von fünfzig Zwölf-Pfünders-Kanons ankommen wird. Mögen Hadik und Laudon mich getrost zur letzten Schlacht auffordern, ich werde ihnen den Sieg nicht leicht machen. Sie sehen, mein Freund, es seindt zwar dunkel, aber Luna glimmet noch. Was freilich den Ausgang tangieret, so werden Sie in Kurzem entweder ein De profundis oder ein Te deum tirilieren.«
Langustier dachte an seine Tochter Marie in der Hauptstadt. Was würde geschehen, wenn die entscheidende Schlacht verloren ginge? Der König schritt auf die kleine Insel und blickte sich um, als vermute er aufgesperrte Ohren zwischen Baumstämmen und Gebüsch. Leise sprach er:
»Zweifellos werden wir nur wenige sein, die Feinde zu verjagen, und Hadiks Russen könnten Berlin wieder rupfen und der besten Kunstschätze exspoliieren wie vor zwei Jahren. Wenn Sie nur lange genug auf der Welt seindt, erleben Sie alles und auch das Gegenteil.«
Ein Rascheln ließ sie zusammenfahren. Langustier ermannte sich und sprang ins Unterholz, um jeden etwaigen Lauscher oder Attentäter zu überwältigen; von Krusemarck folgte ihm eilig, um nicht vom Mute eines Kochs beschämt zu werden. Doch es war nur eine Waldamsel, die jetzt mit Gezeter vor ihnen aufflog. Der König, den die beiden unbedacht allein gelassen hatten, lächelte, als sie unverrichteter Dinge wieder bei ihm erschienen. Er spielte mit einem Stück für die Gegend typischen roten Feuersteins, der sich aus der Natursteinmauer der Brücke gelöst hatte.
»Wenn mir nur eine Kugel ordentlich träfe. Das wäre mich jetzt ein wahres Sans Souci.«
Langustier murmelte beschwichtigend, um den Monarchen von den selbstmörderischen Visionen abzubringen. Sie gingen weiter und fanden am anderen Ende der Insel einen schönen Aussichtspunkt, an dem sie etliche Augenblicke schweigend verweilten. Dann schickte der Regent seinen Adjutanten zum Herrenhaus zurück, damit er die ausgehenden Ordres vorbereitete. Wenige Stichworte mussten von Krusemarck hierzu genügen.
»Es seindt gut, dass ich Sie jetzt allein spreche, Monsieur«, sagte der König zu Langustier mit einem Ernst in der Stimme, der aufhorchen ließ. »Ich hätte Sie sonst nachher en suite zu mich gebeten. Das Abgehen der Königin und ihres Hofstaats nach Magdeburg geschah unterm Unstern, denn bei der Ausfahrt aus Berlin seindt der Herr von Criewen, ein mir sehr lieber Mann, von feigen Kujons aufs Blut traktiert und um sein feines Leben gebracht worden. Seine Kutsche erlitt im Schlosshof Schiffbruch, weshalb er erst einen Tag später nach Magdeburg abfuhr. So kam er nicht in den Schutz der Bewachung und des großen Pulks, sondern fuhr alleine, wie auf dem Präsentiertablett durch die Wälders. Das seindt beileibe nicht die sicherste Art zu reisen, wie mir selbsten schon öfters dünkte.«
Der König sah erst in eine unbestimmte Ferne, dann auf eine Fernstraße von Waldameisen im Sand am Boden vor sich.
»Criewens Position war die eines Vorlesers bei Ihrer Majestät, der Königin, doch nur, um zu camouflieren, dass er insgeheim mein erträglichster Korrespondent mit Schweden gewesen seindt. Wir haben da einen Menschen im schwedischen Reichsrat sitzen, der offiziell den antimonarchischen Hüten zugehört, in Wahrheit aber ein Königstreuer ist. Als meine Schwester vor Jahren die Verhältnisse ins Lot rücken wollte, war er einer ihrer Verbündeten. Zum Glück kam er unentdeckt davon, und so hängte man ihm nicht an der Gurgel auf wie die übrigen Edlen. Seit Schweden nun in Krieg getreten ist, hat er uns eine Menge nützlicher Facta über die Strategien und die Vorhaben der Gegenseite beigebracht. Die Schweden führen etwas im Schilde, das macht mich fast größere Angst als die russisch-österreichische Lumpenbagage, gegen die ich hier antrete. Und mich seindt Aufklärung gerade jetzt bitter nötig!«
Er schwieg einen Moment und fügte hinzu:
»Von Criewen war indessen auch ansonsten ein liebwerter, treuer Untertan, vor dem ich allen Grund hatte, bestens zu sorgen. Ich kenne ihm seit den Tag von Küstrin. Ihn so enden zu sehen, frappieret mir und seindt mich sehr niederschlagend.«
Langustier versuchte, sich einen Reim hierauf zu machen. Ein Vorleser der Königin als Kontaktmann für einen schwedischen Spion? Das war in der Tat keine schlechte Tarnung. Der König ließ ihm keine Zeit für Spekulationen. Er strebte eilig durch einen Hohlweg dem Herrenhaus zu.
»Ich habe mit mir Consilium gehalten und resolviert, dass Sie rasch nach Berlin müssen; wenn nötig auch weiters bis in die Festung Magdeburg, um der Sache auf den Grund zu gehen. Seit Sie mich in der Goldgeschichte so patente accompagniert haben*, traue ich Ihnen mehr zu als all den Canaillen in denen Ämters. Ihr Kollege Joyard wird von seinem Posten bei Heinrich nach Fürstenwalde befohlen, und ich schicke meinem Bruder dafür zwei junge Italiener aus Ihrem Küchentrupp.«
Der König hatte, weil ihm in der Sonne plötzlich fürchterlich heiß wurde, seinen Dreispitz abgenommen und fächelte sich Luft zu.
»Der Major von Kehlheim reitet heute Nacht express retour à Berlin. Begleiten Sie ihm, aber behalten Sie Ihre Mission vor Ihnen. Sie darf nicht zu viele Ohren interessieren, hören Sie mir? Hier seindt ein Permiss – zeigen Sie’s nur jedem von den Schäkers, der querschießt oder sein Maul versperrt hält, wo er es auftun muss! Was den Corpus belangt, so wenden Sie sich an Eller. Und wenn Sie schon einmal in die Charité seindt, machen Sie Visite bei dem braven von Reitwein und sagen ihm, dass ich ihm nicht vergesse! Lassen Sie sich berichten, wer mich diese fatale Kugel zugesandt.«
Der König tippte an seine eingedellte Tabaksdose und schnupfte mit einem Höllenzug etwas Spaniol auf. Er überreichte Langustier stolz das verfertigte Schreiben, der es nahm und die Augenbrauen kraus zog: Entsetzt musste er gewahren, dass hier mit souveräner Hand gänzlich unentschlüsselbare Dinge hingeschludert waren. Nur das zittrige »Friech« des Königs und der schwarze Siegellackfladen mit dem Abdruck seines Kammerpetschafts ließen sich bei reichlich gutem Willen als königlich anerkennen.
Langustier verneigte sich ebenso resigniert wie wild entschlossen, auch ohne diesen nutzlosen Dienstausweis zum Ziel zu gelangen. Bewegt schied er vom König, denn er war sich durchaus nicht sicher, ob er ihn lebend wiedersehen würde. Er eilte davon, um sich reisefertig zu machen, und war schon einige Schritte gegangen, als ihm die allerhöchste Stimme nachrief:
»Erholen Sie ihm nur gut. Und inspizieren mir gründlich die Schlossküchen. Ob nicht etwa Unsauberkeiten darein gekommen seindt. Dass mich bis zur Rückkunft nur alles darin wohl aufgehoben bleibt. Gott bewahre Ihm!«
Im Augenwinkel sah Langustier, dass eben der Flügel- und der Generaladjutant aus dem Haus getreten waren. Der König spielte offenbar Komödie, indem er ihnen vormachte, seinen Kriegskoch beurlaubt zu haben. Es sah ganz so aus, als ob der Monarch nur ihm vertraute.
Kurz nach neun Uhr begann Langustier mit Major von Kehlheim, der dem Kürassier-Regiment K13, dem Leibregiment zu Pferde unter General Schorlemmer, angehörte, den nächtlichen Ritt nach Berlin. Von Kehlheims gestopft volles Felleisen enthielt inzwischen säuberlich vom Kammersekretär geschriebene königliche Anweisungen für die in Berlin, Potsdam und Rathenow stehenden Regimenter.
»Wäre Ihnen eine Kutsche nicht lieber?«, fragte der schmale Offizier, dessen feuerroter Uniformrock im fahlen Abendlicht schwelbrandgleich leuchtete, seinen wohlbeleibten Schützling, der sich gerade mit einer verblüffenden Gelassenheit aufs Pferd schwang.
»Mitnichten, Monsieur! Schlaglöcher von Kartoffelsackformat mit den wurmstichigen Rädern einer wackeligen Karosse auszumessen, ist das reinste Gift für meinen sensiblen Rücken. Das sanfte Auf und Ab beim Reiten wirkt dagegen wie Balsam. Achten Sie nicht auf mich, ich werde Ihnen wohl kaum verloren gehen.«
Das ließ sich von Kehlheim nicht zweimal sagen und legte ein haarsträubendes Tempo vor. Er setzte über kleine Hecken, Gräben und Zäune und schien der festen Überzeugung, dass sein Begleiter bei diesem Parforceritt unter keinen Umständen mithalten könnte. Langustier indessen, der schon seit Jünglingstagen jede sich nur bietende Gelegenheit genutzt hatte, sich in der vierhufigen Fortbewegung zu perfektionieren, stand ihm in nichts nach. Ab und zu überholte er den Vorreiter gar und hatte ihn schon bald zu einer Revision seiner Beurteilung gezwungen.
»Wo haben Sie so vorzüglich reiten gelernt, Monsieur?«
Von Kehlheim fragte es voller Respekt, als sie nach zwei Stunden in der »Dusteren Schlucht«, einer übel beleumundeten Schänke nahe des Schlosses Steinhöfel, die Pferde tränkten und mit Stroh abtrockneten. Bis Berlin würden sie zweimal frische Tiere bemühen müssen.
»Beim Transportieren wertvoller Kurierpost – Trüffeln, Austern und Wein –, die möglichst umgehend vom Markt in die Küche meines Vaters expediert werden mussten. Er hatte das angesehenste Restaurant in ganz Straßburg!«
»Haben Sie nie daran gedacht, das Küchendasein mit dem beschwingten Leben eines Feldkuriers zu vertauschen?«
»O – nein! Sie glauben nicht, wie viel Flugfähigkeit von uns Köchen verlangt wird! Da ist der ganze Organismus gefordert. Zur wahren Probe der körperlichen Fasson taugt ein Tag hinter dem Herd ebenso gut wie ein forscher Ritt.«
* Siehe Schwefelgelb. Mörderische Kälte
Nach einer letzten Rast in Köpenick erreichten sie gegen vier Uhr morgens das Frankfurter Tor. Langustier hatte beschlossen, zuerst in der verwaisten Schlossküche nach dem Rechten zu sehen, nicht zuletzt freilich, um sich an einem Schinken aus der Räucherkammer und einer Flasche Wein zu laben. Nach der zurückliegenden siebenstündigen Strapaze, so fand er, war das gerechtfertigt. Der Major eskortierte ihn bis ans Schlossportal Nummer drei, bevor er sich zum Quartier der Gens d’Armes im Großen Stall Unter den Linden begab, um für die umgehende Weiterleitung seiner Befehlspost an die örtlichen und Potsdamer Dienststellen zu sorgen. Der König hatte ihm befohlen, Langustier sicher nach Berlin zu bringen. Jetzt, wo dieser Auftrag erfüllt war, bedauerte von Kehlheim im Grunde ihren Abschied, denn er hatte selten einen so interessanten und kurzweiligen Begleiter gehabt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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