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August 1798: Das Verschwinden von acht Kindern aus einem Waisenhaus versetzt die preußische Metropole in helle Aufregung. Die selbstbewusste Gerardine de Lalande beginnt zum Leidwesen der Behörden auf eigene Faust zu ermitteln. Bald steht sie vor der Aufgabe, nicht nur einen Entführer zur Strecke zu bringen, sondern auch das preußische Königshaus vor übler Nachrede zu schützen und zugleich einen mysteriösen Mordfall zu enträtseln. Bei ihren Nachforschungen kann Gerardine zwar auf die Unterstützung der Königin Luise bauen - doch das hindert den Widersacher nicht daran, ihr Verderben zu bereiten ... Weitere Titel dieser Reihe als ebook: "Das spanische Medaillon" "Der rote Salon"
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Seitenzahl: 324
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Tom Wolf
Ein Gerardine-de-Lalande-Krimi
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ebook im be.bra verlag, 2013
© der Originalausgabe:
berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH, Berlin-Brandenburg, 2011
KulturBrauerei Haus 2, Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin
Umschlag: Hauke Sturm, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes
von Caspar David Friedrich, akg images
ISBN 978-3-8393-6129-0
ISBN 978-3-89809-519-8
www.bebraverlag.de
Für Rike, auf immer
Die wichtigsten historischen und fiktiven Hauptakteure
Adolf Friedrich Prinz von Hannover, Herzog von Cambridge (Sohn König Georgs III. von England)
Carl Evangelist Blume, Pfarrvikar
Willem Breda (= Ernst Wilhelm Prinz von Bergen-Breda), Gesandter der Batavischen Republik in Berlin
Emile Canson, Ingenieur
Johann Ludwig Graf von Cobenzl, österreichischer Sondergesandter
Friedrich Michael Baron von Fokke, Vorleser der Prinzessin Friederike, Romancier
Friederike, Prinzessin von Preußen; Schwester der Königin Luise
Friedrich Wilhelm III., König von Preußen
Georg Friedrich Erbprinz von Bergen-Breda
Ernst Ludwig Heim, Kreisphysikus des Havellandes, praktizierender Arzt in Berlin
Heinrich, Prinz von Preußen
Karl Leopold von Köckritz, Generaladjutant und Vertrauter Friedrich Wilhelms III.
Gerardine Marquise de Lalande, Fabrikantin und Aeronautin
Jérôme Marquis de Lalande, Fabrikant und Aeronaut
Louis Ferdinand, Prinz von Preußen
Luise, Königin von Preußen
Johann Peter Möcker, Sekretär des Erbprinzen von Bergen-Breda
Iwan Petrowitsch Pnin, russischer Dichter und Mitherausgeber des Sankt Petersburger Journals, natürlicher Sohn
Fürst Repnins
Friedrich Philipp von Pyrnheim, Gardeobrist der Königsgarde (Infanterie-Regiment No. 15)
Nikolai Wassiljewitsch Fürst Repnin, russischer Feldmarschall und Diplomat
Emanuel Joseph Sieyès, französischer Gesandter in Berlin
Sophie Marie Gräfin von Voss, Oberhofmeisterin
Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin, englischer Gesandter in Berlin
Worte sind gefährliche Dinge.
Lord Byron
Es war fast Mitternacht, als Prinzessin Friederike am 4. September 1798 in einer grauen alten Kalesche Schönhausen für immer verließ. Die Hälfte von knapp drei Dutzend Personen, die ihr Hofstaat zuletzt umfasst hatte, war verabschiedet worden. Nur ihre Tochter begleitete sie, Fräulein von Chamisso und die Gräfin Brühl. Drei weitere Kutschen, mit dem Nötigsten beladen, würden die Herrschaft begleiten. Wie ich erst später erfuhr, verließ an eben diesem Tag auch die Leiche des Erbprinzen die Hauptstadt, um in der fremdbeherrschten Heimaterde in Batavien beigesetzt zu werden. Bürger Breda eskortierte seinen toten Bruder.
Die Regentropfen an den Scheuklappen der Pferde glitzerten im Licht der zahlreichen Fackeln, die der Kastellan vor der Freitreppe aufgestellt hatte. Hofprediger Lauter drückte der Scheidenden eine aufweichende Bibel in die Hand, worüber sie sich äußerst gerührt zeigte, und ihr langjähriger Vorleser, von Fokke, ein kleiner dicklicher, in grüne Seide eingenähter Baron, der mit Tränen in den Augen zurückbleiben musste, die man jetzt kaum vom Regenwasser unterscheiden konnte, deklamierte mit heldenhaftem Pathos einige Zeilen aus seinem jüngsten Ritterroman. Er würde seiner »Herrin« getreulich folgen, nur die Auflösung seines Hausstandes hielt ihn noch zurück:
Der Herrin blüht nach finstrer Wetternacht
Ein Frühlingsmorgen wundersam hervor,
Als holde Kinder leuchten um sie her
Viel künft’ge Helden, rühmliche Regenten,
Und künft’ger edler Frau’n ein schöner Kreis.
O, reicher Segen zeigt sich meinem Blick
In ferner Jahre labendem Gefild!
Mir wollte das Herz schier brechen, als sich die Wagentür schloss. Doch fast im gleichen Moment ging sie wieder auf und Friederike stieg noch einmal aus, ohne erst auf den Paravent zu warten, den ihr Kammerlakai nicht gleich bei der Hand hatte. Sie ließ sich von ihrem deutlich absehbaren Mutterglück nicht hindern, Luise zum erneuten Male zu umhalsen … lange, als wäre es für immer. Ich sah die Tränen über die Wangen der liebreizenden Schwestern laufen. Ihr heimlicher Abschied war so erhitzt vom gemeinsam erlebten Unglück, dass Dampf aufstieg.
»Verfluch mich nicht! Vergiss mich nicht!«, bat Friederike.
»Törin, wie könnt ich?«, gab Luise zurück. »Es war herb und nicht erquicklich für uns, aber schließlich bist du meine Fritzi …«
»Und Friewi?«
»Friedrich Wilhelms Zorn wird sich legen! Leb erst einmal ein paar Jahre glücklich und vergnügt in Ansbach – und schon …«
Bei den Worten »ein paar Jahre« schluchzte Friederike auf, schien sich aber am »glücklich und vergnügt« hinlänglich zu entschädigen. Zuletzt lächelte sie verheult.
Die kleine Friederike schrie und quengelte, bis man auch sie wieder aus dem Kutschkasten herausgetragen und der Königin erneut auf den Arm gesetzt hatte. Ganz die kindliche Doublette der lebenslustigen Mutter, hatte sie den Ernst der Lage intuitiv erspürt und vermisste schon jetzt ihren Bruder Friedrich, den kleinen Fritz, der als preußischer Prinz am Hof erzogen werden musste und daher in Berlin zurückblieb. Man hatte ihm den schmerzlichen Abschied ersparen wollen, wo doch sein künftiges Los schon traurig genug war. So lag er friedlichahnungslos im Schloss und schlief.
Die Königin, die sich gegen den Willen ihres Gatten aus der Stadt herausbegeben hatte, um die jüngere Schwester und ihre zweijährige Nichte zu verabschieden, drückte die Kleine ans Herz. Sie sprach leise und begütigend auf das verzweifelte Mädchen ein, bis es sich beruhigte und, mit dem behandschuhten Händchen winkend, das heute die starke behandschuhte Hand der regierenden Herzogin von Anhalt-Dessau ist, wieder in die Kutsche verfrachtet werden konnte. Die Mutter schloss auch Wilhelmine, des Königs Schwester, genannt Mimi, ein letztes Mal in die Arme, ebenso deren Ehemann, den niederländischen Erbprinzen Wilhelm Friedrich, welcher tapfer lächelte, da er wusste, was es heißt, vertrieben zu werden. Vielleicht auch, weil ab sofort ein wenig mehr Platz in diesem überfüllten Miniaturschloss sein würde, in dem sich mit fürchterlicher Regelmäßigkeit unerwartete Kurzzeitgäste des Königshauses die Klingelzüge in die Hand gaben …
Friederike wandte sich mir zu und die Tränenspuren auf ihren geröteten Wangen wurden vom Regen fortgespült.
»Marquise, was tät ich ohne Sie – nur Ihnen vertrau ich, ich wünschte sehr, Sie hätten schon eine Vorstellung, welch böser Geist uns quält. Ach, wie schwer wird’s mir, wenn ich an meinen kleinen Fritz denke. Und all die armen Waisen …«
»In der Stadt ist er in Sicherheit«, suchte ich sie zu beruhigen.
»Er hat jederzeit jemanden um sich. Es wird ihm nichts geschehen.«
Reichlich viel behauptet, das musste ich mir selbst vorhalten, doch was sagt man nicht alles, will man einem anderen die Angst nehmen.
»Was gäb ich, wenn Sie recht hätten … Auch hoff ich für Sie alle hier, dass es nach meinem Fortgehen aufhört. Wenn ich Ihnen mehr sagen könnte, so würd ich’s, allein ich kann’s doch nicht.«
Ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Flehentliches. Sie hatte mir, wissentlich oder nicht, schon viel Hilfreiches erzählt – lauter Dinge, die ihr größtenteils sehr schmerzlich sein mussten. Doch zu meiner Betrübnis reichten die Hinweise und meine Anstrengungen der zurückliegenden Wochen noch immer nicht aus, dass ich klar sah.
»Oh, Sie schreiben mir doch? Es würde eine schwere Zeit, wenn selbst die Briefe der Freunde ausblieben. Ich fühlte mich noch mehr als ohnehin wie verhext …«
Wie schuldlos Vertriebene – die sie zweifelsohne waren – stiegen sie wieder ein. Eine Regenhusche begrub die Kutsche, die großen Blutbuchen rauschten im Regensturm. Ein Peitschenknall, dann setzte sich das herrschaftliche Gefährt samt Tross in Bewegung. Über verschlammte Straßen sollte es ins Fränkische gehen, höllische fünfhundert Kilometer weit. Ab Potsdam würde der Mann mit ihr fahren, den sie vor Tagen heimlich, ganz im engsten Kreis und abgeschieden von aller Öffentlichkeit, geheiratet hatte – der Prinz von Solms-Braunfels.
Luise sah dem Gefährt nach, mit einem Ausdruck im Gesicht, als ob sie tobsinnig würde. Sie musste von der alten Schildkröte Voss ins Schloss begleitet werden. Ich nächtigte mehr schlecht als recht in einer feuchten Kammer im Dachstock.
Frühmorgens, als ich meinen geschlossenen weißen Einspänner mit dem Grauen davor bestieg, malte ich mir bereits aus, wie es wäre, durchnässt und erkältet in der Rossstraße anzukommen, denn es regnete so stark, dass selbst die Vögel im Flug Gefahr liefen, zu ertrinken. Daher nahm ich den Plaid, der den Platz neben mir bedeckte, um mich hineinzuwickeln – und schrie auf …
Ein kleiner Handschuh lag dort auf dem Sitz, auf eine Weise ausgestopft, dass es erst so aussah, als sei es eine abgeschlagene Kinderhand … Ein Zettel war zwischen die Finger gesteckt. Darauf stand:
Ich warte nicht mehr lange! In der Gruft Deiner Familie, Marquise! Am heutigen Mittwochabend. Komm allein (Dein Mann mag Dir beim Geldschleppen helfen …) und lass die Garde aus dem Spiel. Keine Tricks, wenn Dir das Leben der Unschuldigen lieb ist. Außerdem verdoppelt sich dann wieder der Preis – wie auch diesmal schon: 1 000 Friedrich d’or. Aber das versteht sich ja im Grunde genommen von selbst.
Man gewöhnt sich nicht an den Schrecken. Er wächst, je sicherer man seiner sein kann. Drei wehrlose Kinder befanden sich in der Gewalt eines Ungeheuers! Ich klammerte mich an die Hoffnung, sie könnten noch am Leben sein. Auch ein Mord harrte hartnäckig der Aufklärung.
Meine Sorge, den Mund für dieses Mal zu voll genommen zu haben, hätte kaum größer sein können. Ich musste den Worten endlich Taten folgen lassen. Sonst würde ich meines Lebens nie mehr froh werden. Hatte ich den Plaid seit meiner Abfahrt in Berlin überhaupt bewegt? Mir fehlte jeder Hinweis darauf, wie die Fehdehand dorthin gekommen sein mochte …
Seit der Hauptmann von Reuß mit dem Leichenstein das Genre des Polizeiromans begründet hat, findet das lesende Publikum wachsenden Gefallen an nervenaufreibenden Geschichten. Außer der gedruckten Frömmelei und den Ritterromanen bringt den Verlegern und Buchhändlern sonst fast nichts mehr Gewinn. Wenn ich mich nun anschicke, in einem kleinen Roman von meinen Fährnissen zu berichten, so geschieht es freilich nicht aus Gewinnstreben (wiewohl mein Mann und ich jede Aufbesserung unserer gemeinsamen Kasse recht gut vertragen könnten, nachdem im letzten Jahr eine Fabrikationshalle niedergebrannt ist und wir noch immer nicht ganz von den pekuniären Folgen dieses Unglückes genesen sind), sondern vordergründig deshalb, weil ich damit die Neugier Philippas zu stillen hoffe, der Enkelin meiner Cousine Evelyn. Es war zweifelsohne eine schöne Zeit, als ich mit ihr unter der Kanzower Linde saß, an der Havel, in der weinumrankten Gartenlaube auf dem Götzer Weinberg oder am großen Kamin in der Halle und ihr aus meinem Leben erzählte. Seit einem Jahr aber lebt meine liebste Philippa glücklich verheiratet in Niederkassel, einer »rheinisch-langweiligen« Stadt bei Düsseldorf – ihr Wort –, und freut sich, meine Lebensgeschichte, in der ich von den gelegentlichen Versuchen berichte, Urgroßvater Honoré criminaliter nachzueifern, wenigstens in gedruckter Form weiter verfolgen zu können.
Glücklicherweise ist mein Verleger der Ansicht, dass der mäßige Erfolg eines bereits erschienenen ersten Bandes meiner kriminellen Erinnerungen einen zweiten durchaus rechtfertigt, wenngleich er in der Ausstattung doch herbe Abstriche machen musste. Sicher ließe sich aus meiner jetzigen Erzählung leicht ein warnendes Exempel konstruieren, das in unserer empfindelnden Zeit rasend schnellen Absatz fände, zeigt sie doch, wie tief Menschen zu sinken vermögen, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, und wie sie ihre Grundsätze verraten, sobald Gelegenheit sie dazu verführt und Habgier sie antreibt. Aber ich will mich ohne Murren mit englischer Broschur begnügen, wenn ich nur ohne viel hohles und lästiges Moralisieren erzählen kann, was einst vorgefallen ist, und es meinen Lesern überlassen darf, ihre Schlüsse und Lehren daraus zu ziehen. Ein paar Bemerkungen vorweg sollen das Bild jenes Jahres, in dem Preußens Herrscherfamilie so viel Aufregung und Leid erfuhr, deutlicher umreißen. Es war, nebenbei bemerkt, das Jahr, in dem Testu Brissy auf dem Rücken eines Pferdes im Ballonkorb aufstieg und die eingebildete Jeanne-Geneviève Labrosse dem Irrglauben frönte, die erste Frau zu sein, die einen Ballon selbsttätig steuerte. Ich hatte dies in den Smoky Mountains schon in jenem Jahr getan, in dem Friedrich der Einzige in die Ewigen Jagdgründe hinübergewechselt war.
Als nun auch Friedrich Wilhelm der Dicke, der von Volk und von Mätressen Vielgeliebte, am 16. November 1797 mit nur 54 Jahren seiner extensiven Lebensweise erlag, wurde sein ehrlicher und aufrechter Sohn unser neuer König und nannte sich Friedrich Wilhelm III. Die meisten Genüsse des Lebens (mit Ausnahme des Walzers und des Champagners vielleicht) verachtete er so sehr, dass selbst ein Kalmückenpriester vor Ehrfurcht vor ihm auf die Knie gefallen wäre. Seine ersten Amtshandlungen, bei denen ihm der kluge und rechtschaffene Kabinettsrat Mencken assistierte, galten notgedrungen der Austilgung des vom Vater genährten Bösen. Er gab Wöllner und Bischoffwerder den Laufpass und machte der Gräfin Lichtenau den Prozess, etwas übereilt und ohne das neue Landrecht zu beachten, wie manche sagen – und auch ungerecht, wie ich meine, denn sie war doch von natürlichem Adel und mit einem eigenartigen Zauber begabt, der dem Staat mehr genützt als geschadet hat. Von über fünfzig Millionen Talern, die der große König hinterlassen hatte, war allerdings nicht nur nichts übrig, stattdessen klaffte ein Schuldenloch von fast ebenso vielen Millionen …
Eine General-Ordre erging, der zufolge alle unehrenhaften und unwahrhaftigen Beamten landauf, landab ihrer Positionen zu entheben gewesen wären, doch die ausführenden Organe waren selbst so befallen von der Pest, die sie bekämpfen sollten, dass so nur die Spitze des Eisberges abgebrochen werden konnte. Immerhin wurden im Zuge erwähnter Verfügung der Landrat des Saalkreises der Brandstiftung und des Straßenraubes überführt, der Landrat des Kalischen Kreises des Totschlages an einem Abt für schuldig befunden und dem Präsidenten in Petrikau die Veruntreuung öffentlicher Gelder in solchem Ausmaß nachgewiesen, dass er sich nur durch Selbsttötung aus der Affäre zu ziehen vermochte.
Leider umgaben den jungen König auch weiterhin schlechte Berater, derer er sich partout nicht entledigen wollte. Er hatte keinen Freund, mit dem er von Gleich zu Gleich umgehen konnte: Jérôme wurde es später, als es munter in die Abgründe ging …, und war im Reden sehr gehemmt. Daher behielt er viele seiner Kabinettsräte allein wegen ihrer beruhigenden Geschwätzigkeit. Sie umgaben ihn denn auch auf der politischen Bühne wie ein Tarnmantel der inhaltslosen Redseligkeit. Die von Kind auf im Naturzustande gehaltene Königin hatte sich wohl in kürzester Zeit und aus eigenem Antriebe ein gewisses Maß an politischem Verstand angelesen und besaß Chuzpe genug, dem König alle Personen anzuzeigen, die ihr missfielen, doch weder dem wetterwendischen Lebemann Graf Haugwitz noch dem später eingesetzten Kabinettsrat Lombard, einem spielsüchtigen Starrkopf, konnte sie ihren Mann bereden, Valet zu geben. Immerhin trat mit dem ehrenwerten Beyme ein äußerst Fähiger an Menckens Stelle und diente brav inmitten der Schurken, ohne dem Auf und Ab der königlichen Gunst sonders Beachtung zu schenken, bis zu seinem ruhmreichen Rücktritt aus Protest gegen die Karlsbader Beschlüsse vor sechs Jahren.
Als die Rätselsprüche Hardenbergs in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie erschienen waren (ich meine nicht den ministeriellen, sondern den literarischen Hardenberg, der sich Novalis nannte), war der König sehr verärgert. Dem Autor schwebte eine Offiziersschule vor, an der die Besten des Landes in unmittelbarer, ja familiärer Nähe zu König und Königin lebten. Die edle Simplizität des königlichen Privatlebens, hatte der seltsam Entrückte formuliert, das Bild dieses glücklichen, innig verbundenen Paars, würde den wohltätigsten Einfluß auf die sittliche Bildung dieses Kerns der preußischen Jugend haben, und so würde dem König am leichtesten der angeborne Wunsch seines Herzens gewährt, der wahrhafte Reformator und Restaurator seiner Nation und seiner Zeit zu werden. Der gepriesene König antwortete auf die romantischen Entwürfe, das weiß ich von seiner lieben Gattin, die es mir kichernd berichtete, indem er das Heft nach der Rückkehr aus Schlesien wutentbrannt gegen die Wand schleuderte und schrie: »Fataler Mist! Bei uns am Frühstückstisch? Sollen ihre Offiziersnasen gefälligst bei sich behalten!«
Nachdem die Königin einige Male mit ihren Interventionen schmähliche Abfuhren erlitten hatte, trat resignative Ignoranz an die Stelle ihres politischen Interesses. Sie hatte sich ein eigenes inneres Leben gebildet, das selbst in einer Art Spielerei in Tagebüchern mit eingeklebten Blumen, aufgehobenen Andenken, von der beschrifteten Kastanie bis zu Edelsteinen und dergleichen, seinen Ausdruck suchte. Ihr eigentliches Leben waren zum einen die Kinder: Kronprinz Friedrich Wilhelm wurde in jenem Jahr, von dem ich berichten will, drei Jahre alt, Prinz Wilhelm eins, und die heutige Zarin Alexandra Fjodorowna kam in jenem Jahr zur Welt, am 13. Juli, kaum dass die Eltern von der zweiten großen Huldigungsreise durch Pommern, Ostpreußen und Schlesien zurückgekehrt waren, in Charlottenburg. An Königs Geburtstag, dem 3. August, wurde sie dort getauft, auf den Namen Charlotte.
Zum anderen widmete Luise sich der Wohltätigkeit und den Künsten. Wie sehr genoss sie es, vom neuen Landschlösschen in Paretz aus die märkischen Auen und Flure zu durchwandeln und mit sanftem, raschem Strich einen Waldessaum, eine geschwungene Blumenwiese, eine Birkenallee, eine von Pappelsoldaten bewachte Flusskurve oder einen Hügel im sonnenüberfluteten Meer wogender Kornähren aufs Papier zu zaubern! Ein Italiener gab ihr eine Weile Zeichenunterricht, doch schon bald wurde er wieder in den Süden geschickt, da ihr alles trockene Studieren nicht behagte und sie auch ohne derartige Ausbildung gut zurechtkam. Die Ergebnisse waren recht erquicklich und keineswegs stümperhaft oder dilettantisch, doch leider ging das meiste, wenn sie es nicht ohnehin an Freunde und Bekannte fortgab, in den Kriegswirren verloren.
Mein lieber Schleiermacher, mein lieber Schlegel, es war eine herrliche, klare Sternennacht, die wir zusammen durchgewacht – ich fühle mich elementar erfrischt und auch das Katerbrummen in meinem Dachstübchen, wie es sich für gewöhnlich das Morgens regt, wenn ich des Roten zu viel genossen und vom Tabak ein Nämliches zu sagen wäre, ist gänzlich ferngeblieben. Es ist eine kaum zu beschreibende Empfindung des Glücks, mich in Eurem Journal durch ein paar bescheidene Sätze vertreten zu sehen. Zum ersten Mal, dass ich es erlebe, welch eine Höhenfahrt der dichterischen Hauptwollust das Gazettieren doch ist – o Wonne, sich veröffentlicht zu sehen! Wobei in meinem Falle ja bloß von ein paar Geistesfunken die Rede sein kann, ich wollte, es wäre mehr, das ich beisteuerte. Ein ganzer Artikel, ein Essay vielleicht, denn zum Fabulieren eigne ich mich, glaube ich, noch nicht so sehr, um damit den höchsten Maßstäben Eures Blattes auch nur im Entferntesten Genüge zu tun. Es ist eine Freude zu leben! Es ist eine Lust, Euch zu kennen – in unendlicher Verbundenheit,
Peregrinus
Meine Leserinnen und Leser werden zweifelsohne mit der inzwischen gängigen Bauart des Polizeiromans vertraut sein und die im Folgenden locker eingestreuten Briefe als etwas begreifen, das durchaus zur Sache gehört. Ich habe sie keineswegs nur eingefügt, um mein schmales Büchlein aufzuplustern, wie etwa Jean Paul es oft getan. Der Setzer, wenn mir dies sonst so fernliegende Plaudern aus dem Nähkästchen verstattet sei, argwöhnte nichts anderes als diese Absicht hinter meinem Tun und wurde beim Verleger als ein vorwitziger Zensor und Lektor vorstellig, sie zu streichen, doch ich konnte es unter Aufbietung aller Überredungskunst und der Drohung, meine Erinnerungen ganz für mich zu behalten, dahin bringen, dass sie stehen blieben. Ich folge damit einer gewissen Tradition in der erzählerischen Verarbeitung der Causae criminalis, wo der spüräugigen Leserin und dem findigen Leser irreguläre Brocken hingeworfen werden, die sie auf das Ende hin spannen sollen, indem sie zwar aus dem zeitlichen Kontext herausgerissen und an die falsche Stelle gerückt erscheinen, nichtsdestoweniger aber zum Gesamten untrennbar hinzugehören und sowohl den kompositorischen Reiz erhöhen als auch dem Verständnis der späteren Entwicklungen dienen. Sich nach so vielen Jahren vergegenwärtigen zu wollen, wie es begann, ist fast genauso schwer, wie es damals für mich war, die Vorgeschichte der merkwürdigen Ereignisse zu rekonstruieren, welche Friederike, die gewesene Prinzessin Louis, abreisen ließen.
Ich weiß noch, dass Jérôme und ich 1798, fünf Jahre nach unserer Ankunft in Berlin, ganz andere Sorgen hatten als das Königspaar, obwohl auch wir drauf und dran waren, mit dem Stadtleben zu brechen. Der Beweggrund war weniger der allgemeine Sittenverfall in den halbhohen Gesellschaftsschichten, welche wir ohnehin mieden, als vielmehr die Begrenztheit des verfügbaren Platzes und die fehlende Stille. Auch stiegen die Preise für Stadtwohnungen ins Astronomische und unsere kleine optische Manufaktur wuchs beständig. Daher erwarben wir vom Erlös eines Großauftrags für die Sternwarte (drei Linsenteleskope mit automatischem Nachführgetriebe) kurzerhand ein schlossartiges Gutshaus nebst ausgedehnten Ländereien am Rand der Götzer Berge und am Ufer der Havel, bei trockenen Wegen vielleicht eine halbe Stunde entfernt vom königlichen »Schloss Ruhesanft« in Paretz, wie es die Spötter nannten. Unser Anwesen schien einem Fantasiestück entnommen: ein Riesenkasten von Haus, dreiflügelig auf einer vorsintflutlichen Burgmotte gelegen, umgeben von einem Geviert aus Wirtschaftsgebäuden. Alles kam uns so barock und doch so gut erhalten vor, als hätten die Maler gerade die letzten Vergoldungen am Stuck angebracht. Der Vorbesitzer, ein Baron von Hertz, war kinderlos verstorben und hatte seinen gesamten Besitz dem Großen Friedrichshospital in Berlin vermacht. Auch den Erlös des Hausverkaufes kassierte diese ehrwürdige Armenanstalt, doch wir hatten das Glück, bei der Zwangsversteigerung die einzigen anwesenden Bieter zu sein, und so bekamen wir es – zum Leidwesen der Waisen, könnten Übelmeinende sagen – zu einem recht günstigen Preis. Da dieser aber dennoch eine beachtliche Summe darstellte, wäre es trotz allem falsch, wenn man unsere Wohltätigkeit für allzu gering erachtete …
Während wir also die unteren Etagen unseres kleinen Hauses in der Mohrenstraße renovierten und im Dachstock einige Wochen des Überganges wie auf einer Baustelle hausten, wobei wir oftmals morgens nicht mehr wussten, an welche Stelle es das eine oder andere Mitglied des Hausrates am Vortage verschlagen hatte, gelang meinem Gatten eine schöne Entdeckung, die sich für ein paar Jahre zu einem lohnenden Geschäft entwickelte. Eine eben fertiggestellte Lochkamera war ihm in eine Lösung von Kaliumbromid gefallen und er hatte, bevor er sie zur späteren Reinigung auf die Seite ans Dachfenster stellte, nur einmal kurz die Schutzkappe abgenommen, mit einem Kontrollblick das Objektiv auf mögliche Schäden geprüft, dann wieder abgedeckt. Wie groß war sein Erstaunen, dass sich seltsame Linien auf der Gaze des Bildschirmes zeigten, als er ihn in einer schwachen Lösung aus kohlensaurem Natron zu reinigen versuchte. Ich besah mir das Muster eine Weile und blickte gelangweilt aus dem Dachfenster. Plötzlich fiel mir die Ähnlichkeit der Bilder auf … Ganz deutlich unterschied ich die Schornsteine und Dachfirste der näheren und ferneren Nachbarhäuser – ein Anblick, der mich sonst ob seiner Tristesse wenig zu erheitern in der Lage war. Jérôme hatte die Bromigrafie erfunden! Hätten wir es nur besser angestellt, dann gehörte der Ruhm, den nun Nièpce für sich beansprucht, nach wie vor uns. Leider stahl uns dieser vorgebliche Freund ganz unverfroren die Idee, und unsere Freude wurde seither deutlich getrübt. Doch was ist es schon, das eitle Bestreben, in der Welt mit irgendetwas der Erste zu sein? Haschen nach dem Wind, würde der Prediger Salomo es nennen.
Als wir indes einst mit der neuen Erfindung nach Paretz kamen, konnten wir damit alle in Erstaunen versetzen. Bald waren Schloss und blaublütige Bewohnerschaft samt und sonders auf Gaze übertragen. Der König, der in Jérômes Gegenwart ungeahnte Spritzigkeit gewann – jene Gewitztheit und Intelligenz, deren Vorhandensein er bei seinen Untertanen notorisch in Abrede stellte –, erwog eine militärische Nutzung von über Feindesland geschossenen Gaze-Piktogrammen, um Aufmarschlinien und wunde Punkte in künftigen Waffengängen gegen Frankreich zu erspähen. Jérôme witterte insgeheim gute Geschäfte, er plädierte seit Jahren für die Einrichtung einer Ballonstaffel nach revolutionärem und fortschrittlichem Beispiel. In der französischen Republik waren die Charlièren längst zur Aufklärung eingesetzt worden, wenngleich auch nur versuchsweise bei Maubeuge. Oberst Coutelle, ein Freund und alter Kampfgenosse Jérômes, befehligte und trainierte dort zwei Kompanien kriegerischer Aerostatiker oder Aerostiers in einer eigens eingerichteten Ballonschule in Meudon. Unserem friedliebenden König gefiel es jedoch abzuwarten, statt sich munter in den nächsten Krieg zu stürzen. Wie hat es ein witziger Zeitgenosse formuliert: Des Königs liebste Zeit war und ist die Bedenkzeit … Und zum reinen Bedenken und fruchtlosen Zeitvertreib eignete sich Paretz wahrlich gut.
Wir waren, den vergeblichen Bemühungen der Gräfin Voss zum Trotz, der Oberhofmeisterin, die uns vom Königshause fernhalten wollte – obgleich wir ihr von Rang und Namen her überlegen waren, denn eine Marquise schlägt eine Comtesse noch allemal –, zu lieben Freunden der königlichen Familie avanciert und bei Hofe stets gern gesehene Gäste. Nachdem ich mich der kunstliebenden Königin bereits mit der Camera obscura als eine willkommene technische Assistentin erwiesen hatte, wurde ich ihr als Bromigrafin vollends unentbehrlich. Die stets ungeduldige Luise freute sich der Erleichterung, die ihr Leben beschleunigte und ihrer Ungeduld zupasskam. Indem es ihr nur mehr nötig war, Motive auszuspähen und sich die zugehörigen Farben in ihr kleines Erinnerungsheft zu notieren, entstand in wenigen Wochen ein mehrere Dutzend Werke umfassendes Œuvre aquarellkolorierter Bromigrafien, die sie in aller Ruhe im häuslichen Komfort fertig ausführen konnte und nach ihrer Rückkehr in einer Verkaufsausstellung der wohltätigen Berliner Öffentlichkeit zu präsentieren gedachte, um Weihnachtsgeschenke für die Waisenkinder vom Erlös zu kaufen. Nachdem wir in Kanzow unseren sämtlichen Hausrat auf eine Unzahl von saalartigen Zimmern verteilt hatten, war ich zum Behufe der Bilderherstellung fast täglich in Paretz. Dem lieben Jérôme fiel es indessen zu, unsere Geschäfte am Laufen zu halten, da er seit je zum Verkaufen und Verhandeln viel mehr Talent besitzt als ich.
Am 12. August allerdings, einem Sonntag, begleitete er mich, als ich frühmorgens zum königlichen Landschloss aufbrach. Das Königspaar hatte einigen Herrschaften, die auf Einladung des Prinzen Heinrich von Preußen nach Rheinsberg reisten, die Nachmittagsstunden zu vertreiben und brauchte uns zur Auflockerung der kleinen Gesellschaft. Eigentlich verwunderte es jeden, der den König kannte, dass er die Politik überhaupt in Paretz einließ. Den russischen Sondergesandten Fürst Repnin hatte er bislang wiederholt in Berlin und Potsdam abblitzen lassen. Das Gleiche galt für den englischen Gesandten Lord Elgin und Sieyès, den Franzosen – pikanterweise die einzigen europäischen Mächte, die noch im Krieg miteinander waren. In der Seeschlacht von Abukir war Anfang August die gesamte französische Flotte von Admiral Nelson vernichtend geschlagen worden. Die Aussicht, dass er in Rheinsberg ohnehin allen begegnen würde, schien ihm die Hemmschwelle zu nehmen. Vielleicht lag Taktik darin, zu der man ihn nie so recht für fähig hielt: sich die dicksten der sauren Äpfel schon vorab im Sommerhause anzutun. Auch der Russe Repnin und der Batavier Breda wurden zu Mittags- und Kaffeetafel erwartet. Es sollten jedoch unverhofft noch weitere Besucher eintreffen …
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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