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Jonas Mekas (1922–2019) prägte das New American Cinema entscheidend mit und gilt bis heute als eine der Schlüsselfiguren des Avantgarde-Films. Leben, das hieß für Jonas Mekas, immerfort zu filmen. In verschiedensten Medien und Formaten versuchte er seit Ende der 1940er Jahre, Fragmente der Zeit zu konservieren und sie durch die rhythmische Anordnung von Musik, Stimme, Schrift und Bild zu gestalteter Erinnerung zu verdichten. Sein wiedererkennbarer Stil ist geprägt von einem spontanen, geradezu impressionistischen Duktus, der auch die (materiellen) Grundlagen filmischer Arbeit vor Augen führt: "Cinema is light, movement, sun light, heart beating, breathing, light, frames", sagt er in "Walden" (1968). Auf diese Weise sammelte Mekas Erinnerungsbilder für die Geschichte einer Zeit und einer Stimmung, die auch seine eigene war, und trug sie als Filme und Frozen-Film-Frames an verschiedene Orte auch jenseits des Kinos: in die Galerie, in das Museum und das Internet ebenso wie in ein Fastfood-Restaurant oder eine Modeboutique. Ähnlich vielfältig war sein (film)kulturelles Engagement, war er doch nicht nur Filmer, sondern auch Filmkritiker und Kolumnist, Förderer, Kurator und Netzwerker, eifriger Tagebuchschreiber und Poet. Der Band widmet sich dem metamorphen Werk dieses Künstlers und nimmt neben den gestalterischen, erzählerischen Elementen seiner Filme auch seine Schriften und Ausstellungsprojekte in den Blick.
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Seitenzahl: 207
FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 61 · Juli 2021
Jonas Mekas
Herausgeber: Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid
Print ISBN 978-3-96707-482-6 E-ISBN 978-3-96707-484-0
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Jonas Mekas: WALDEN (1968)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid Die Summe der einzelnen Teile. Facetten des Filmers Jonas Mekas
Daniel Kothenschulte Als Filmer unter Filmemachern. Jonas Mekas’ Selbstpositionierung im Kunstkontext vor dem Hintergrund seiner Arbeit als Filmkritiker
Scott MacDonald Über LOST LOST LOST
Oksana Bulgakowa Mekas’ Monologe. Mekas’ Monologe. Zur Stimme in REMINISCENCES OF A JOURNEY TO LITHUANIA
Eva Kuhn Glänzen, Blicken, Flickern. Das Prinzip der Glimpses in AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY
Anne König Film in Worten. Die editorische Praxis in den Tagebüchern von Jonas Mekas
Philipp Scheid Reality Bytes. Ein Blick auf die Ausstellung The Internet Saga – Jonas Mekas
Biografie
Werkverzeichnis
Autor*innen
Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid
Facetten des Filmers Jonas Mekas
Die ersten eigenen Gehversuche mit der Kamera und die der Tochter hinein in das Leben; der Wechsel der Jahreszeiten und der politischen ›Witterungsverhältnisse‹ einer Stadt; die Geburt des Sohnes und das Emporkommen einer neuen Filmbewegung; gesellige Picknicke im Central Park und einsame Spaziergänge durch die Straßen von Brooklyn; eine Familie, die kocht und Freund*innen, die das Brot brechen; Bibelstunden mit Ken Jacobs und Diskussionen über Nietzsche; der Hafen von Cassis und Artisten in der Zirkuskuppel; Großaufnahmen von Blumenknospen und rauschenden Blättern im Wind, von feinen Gesichtszügen und tapsenden Kinderfüßen – und dazwischen immer wieder: der Künstler selbst, der entweder vor der Kameralinse Platz genommen hat oder sich hinter ihr deutlich zu erkennen gibt. Es ist Jonas Mekas, von dem wir folgende (Selbst-)Beschreibungen kennen: Der Vertriebene und Exilant, der Chronist und Augenzeuge, die Schlüsselfigur des New American Cinema, der Herausgeber von Film Culture und Kolumnist bei The Village Voice sowie – last not least – der Filmer, der sich stets auch als Familienmensch zeigte, als Ehemann, Vater, Freund, Bruder und Sohn.
Der eigenen Überlieferung zufolge begann Mekas bereits im Alter von neun Jahren, Tagebuch zu führen, sein Leben schriftlich zu fixieren, Ereignisse auf Papier zu bannen. Über 20 Jahre später tauschte er den Stift gegen die Kamera, das Papier gegen Zelluloid und Video, um fortan Ausschnitte seines Alltags zu Anthologien des eigenen Lebens zu montieren. Als sich Mekas 1949, kurz nach der Ankunft in New York, gemeinsam mit dem Bruder Adolfas seine erste Bolex-Kamera kaufte, kündeten bereits die frühesten Aufnahmen von einer spielerischen Selbstbetrachtung, die zugleich eine Reflexion des Mediums implizierte: In den ersten Sequenzen aus LOST LOST LOST (1976), in die filmische Aufzeichnungen aus den Jahren 1949 bis 1963 Eingang fanden, präsentieren sich die zwei Brüder als jugendliche Gaukler. Munter bedienen sie sich an der Trickkiste des frühen Films und erkunden so die technischen Möglichkeiten des neuerworbenen Apparats.
Indem Mekas das eigene Leben ebenso wie das seines persönlichen Umfelds zum Kristallisationspunkt seiner filmischen Arbeit bestimmte, etablierte er sich in den 1960er und 1970er Jahren – neben Maya Deren, Marie Menken oder Stan Brakhage – rasch zum führenden Vertreter einer Avantgarde, die das Autobiografisch-Persönliche filmisch zu artikulieren und einzufangen suchte. Die Autonomie in Produktion und Distribution – durch die Arbeit der Künstler*innen-Kollektive ebenso befördert wie durch die Entwicklung der Schmalfilmindustrie – leistete einen entscheidenden Beitrag zur Entfaltung eines individuellen, unabhängigen Kinos und ermöglichte es Amateur*innen – und das waren Maya Deren (als Literatin), Marie Menken (als Malerin) oder eben Jonas Mekas (als Poet) zu Anfang ihrer Karriere –, eigene Filme zu realisieren. Diese Entwicklung hin zum sogenannten Personal Cinema hatte bereits in den 1940er Jahren durch Derens narrative Film Poems ihren Anfang genommen und wurde dann in den Arbeiten von Stan Brakhage oder Marie Menken – für Mekas »[t]he Pure Poets of Cinema«1 – fortgeführt.
Erste Experimente mit dem neuen Apparat: Adolfas (links) und Jonas Mekas (rechts) in LOST LOST LOST
Doch wie vom Leben, wie vom Ich filmisch erzählen, wenn das Geschehene der Vergangenheit unwiederbringlich anheimgefallen ist, ohne sich zuvor auf Zelluloid verewigt zu haben? Mekas entschied sich für eine nonlineare Erzählweise, ging es ihm doch nicht darum, das Leben chronologisch anhand von vermeintlich bedeutungsvollen (Lebens-)Ereignissen zu rekapitulieren. Das Autobiografische wird bei Mekas im Fragmentarischen, Alltäglichen und Flüchtigen greifbar, das einen intimen Zugang zur Konstruktion der eigenen Künstler-Persona ermöglicht. Das Lebensumfeld, in dem dieser Identitätsprozess stattfand, lag folglich im Fokus seiner Kamera. Mit ihr lieferte er Einblicke in die Zeit und das Milieu, in dem er verkehrte (WALDEN, 1968), machte sich und anderen ein Bild von jener Stadt (New York), in die es ihn nach dem Zweiten Weltkrieg und nach langer Irrfahrt durch Europa schließlich verschlagen hatte (LOST LOST LOST), oder er richtete den Blick auf das Land seiner Kindheit und frühen Jugend, das er so abrupt hatte verlassen müssen (REMINISCENCES OF A JOURNEY TO LITHUANIA, 1972). Als Ehemann und Vater verfolgte er schließlich mit besonderer Aufmerksamkeit das Leben der eigenen Sprösslinge und ihr Hineinwachsen in eine andere Zeit (AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY, 2000).
Die einzelnen Lebensphasen, die Mekas in seinen Werken reflektierte, sind in verschiedenen Knotenpunkten miteinander verwoben: auf visueller Ebene etwa durch einen motivischen Fundus (Menschen, Schnee, Katzen, Essen, Blumen, Bäume, Straßenzüge), durch die tänzerische Handkameraführung und die Einzelbildschaltung der Bolex sowie durch die Wiederverwertung von bereits verarbeitetem Material in einem neuen Kontext. Auf auditiver Ebene wiederum durch sein Voice-Over, das sich, je nach Situation, in einem nostalgischen, zuweilen pathetischen Modus und an anderer Stelle wiederum in einem optimistischen, lebensbejahenden Gesang offenbart. Wer einen Film von ihm zum ersten Mal sah, konnte sich des Eindrucks kaum erwehren, als erhalte er Zugang zu einem intimen Gedankenstrom, der sich neben den Filmaufnahmen auch in den Schriftbildern und seiner Stimme manifestierte.
Auf diese Weise sammelte Mekas unerlässlich Erinnerungsbilder für die Geschichte einer Zeit und einer Stimmung, die auch seine eigene war, und ließ uns in Form audiovisueller Tagebücher, sogenannter Diary Films, teilhaben an seinem facettenreichen Leben – als Künstler und Privatperson gleichermaßen. Verschiedenste Bild-Kombinationen legen von dieser Verbindung Zeugnis ab: Ein Treffen der Film-Makers’ Cooperative, jener von Mekas mitbegründeten Einrichtung zur Förderung und Verbreitung des unabhängigen Films, wird mit dem ersten Schnee des Jahres in New York verknüpft oder ein Familienausflug nach Montauk folgt auf die Dokumentation von John Lennons und Yoko Onos Performance Bed-In for Peace (1969).
Leben, das hieß für Mekas also, immerfort zu filmen. In den verschiedensten Medien und Formaten – von der Bolex-, über die Video- bis hin zur Digitalkamera – versuchte er, die zahllosen filmischen Lebenspartikel durch die rhythmische Anordnung von Musik, Stimme, Schrift und Bild zu gestalteter Erinnerung zu verdichten. »Cinema is light, movement, sun light, heart beating, breathing, light, frames« sagt er an einer Stelle in WALDEN und verweist damit nicht zuletzt auf seinen signaturhaften Stil, dem ein geradezu impressionistischer Duktus eignet und der die (materiellen) Grundlagen nicht allein seiner, sondern nahezu jeder filmischen Arbeit vor Augen führt.
Im Laufe seines Schaffens erprobte Mekas seine künstlerische Selbstdarstellung, die in immer neuen Identitätsentwürfen mündete, stetig aufs neue. Es ist gerade diese Rastlosigkeit, die Mekas’ Leben und seine Arbeitsweise im Kern auszeichnet: Er betätigte sich als Aktivist und Poet, als Kurator und Förderer, als Grenzgänger zwischen verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmitteln und Dispositiven. Ob auf dem Papier oder auf der Leinwand, in der Galerie oder dem Museum, dem Fast-Food-Restaurant oder der Modeboutique – nahezu überall hinterließ Mekas seine Spuren. Seine Werke vollführten so einen logischen Zirkelschluss: In die Sphäre des Alltäglichen, der sie entstammten, kehrten sie schließlich im Rezeptionsprozess wieder zurück.
Jonas Mekas vor den Anthology Film Archives in der 32 Second Avenue in New York.
Es gibt dabei eine Reihe von rekurrenten Themen, die in der von Mekas betriebenen Historiografie des eigenen Lebens immer wieder aufscheinen: Heimat und Exil, Freundschaft und Familie, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, Privatheit und Öffentlichkeit, Freiheit und Gebundenheit, Realität und Fiktion – Dichotomien, die auf einen permanenten Spannungszustand hindeuten, der seine künstlerische Arbeit einerseits anregte, von ihr aber nicht aufgelöst wurde.
Die Versuchung ist groß, die filmischen Erzeugnisse dieses Dichter-Filmers auch als eine Literatur mit anderen Mitteln zu beschreiben. Zweifellos lassen sich Kontinuitäten zur vorausgehenden schriftstellerischen Tätigkeit nachweisen, doch lässt sich die Übernahme literarischer Strategien in Mekas’ Filmen nicht allein durch seine künstlerischen Anfänge als Dichter in Litauen erklären. In seinen Diary Films bekennt er sich ebenso zu Alexandre Astrucs Theorie der caméra stylo, die in etwa zu jener Zeit eine breite Rezeption erfuhr, als Mekas seine erste Kamera erwarb. Auf geradezu paradigmatische Weise wird in den Tagebuchfilmen die Kamera zum Federhalter, der die Erlebnisse in rasch hingeworfenen »sketches« und »notes« festhält – und so auch die Frische und Unmittelbarkeit jener Augenblicke bewahrt. Das Flüchtige, Momenthafte ins Bild zu setzen oder (wie in den Frozen Film Frames) ins Bild zu bannen, hat Mekas zu einer gewissen Meisterschaft gebracht – darin ist er einem anderen Zeitgenossen, dem Fotografen Henri-Cartier Bresson, durchaus vergleichbar.
Die technologischen Fortschritte, die sich während seiner fast 70-jährigen Schaffenszeit ergaben, boten sich ihm dabei als sich stets erneuernde Ausdrucksmöglichkeiten an – vom 16-mm-Film über die (digitale) Videotechnik bis hin zur Selbstdarstellungsplattform par excellence, dem Internet. Anstelle der stakkatoartigen Aneinanderreihung durch die Einzelbildschaltung seiner Bolex übertrug Mekas die Fluidität der Videotechnik gleichsam auf seine Aufnahmepraxis. A WALK (1990) etwa ist nicht nur ein Porträt des Stadtteils SoHo im New Yorker Bezirk Manhattan, sondern ein als Plansequenz gestalteter Spaziergang durch ein Areal der Erinnerung, in dessen Verlauf an nahezu jeder Ecke, an jedem Stein ein Fenster in die Vergangenheit aufgestoßen wird. Mekas schreitet hier den Weg seiner Vergangenheit ab und entwirft damit zugleich eine Karte der zeitgenössischen Kunstszene und seines persönlichen Lebens. Durch die Fluidität des Mediums werden Räumlichkeit und Zeitlichkeit plötzlich erfahrbar, weil sie als größtenteils geschlossene Faktoren auftreten – ein Effekt, der durch lange Einstellungen, den Synchronton sowie die zuweilen extrem bewegliche, geradezu ›vibrierende‹ Kamera erzeugt wird, deren Fokus sich durch Zooms oder Reiß-Schwenks immer dann rasch ändert, wenn sich die Aufmerksamkeit des Filmers verlagert oder sich sein körperlicher Zustand auf die Bewegung des Bildes überträgt. Wie kein anderes Medium war der tragbare Videorecorder als »Spielform der Selbstdarstellung«2 von Beginn an fest an den Körper gebunden und stellte den Künstler selbst als Modell und Protagonisten in den Mittelpunkt zahlreicher künstlerischer Selbstbetrachtungen.3 Durch die Synchronizität von Bild und Ton konnte eine zusätzliche Nähe der Betrachter*innen zu Mekas’ eigenem Körper vermittelt werden, reagieren wir in seinen Video-Werken doch ebenso unmittelbar auf all das, was der Filmer in diesen Momenten selbst wahrnahm oder auslöste: Das Schellen der Türklingel, der Schwenk zur Wohnungstür und der Griff zum Hörer der Gegensprechanlage, aber auch das Klicken des Lichtschalters und die darauffolgende Dunkelheit des Bildes im Moment des endgültigen Verlassens seiner langjährigen Wohnstätte (A LETTER FROM GREENPOINT, 2004).
Vergleichbar dem filmischen Medium, wandelte sich auch das Internet von einer reinen Informationsplattform schnell zu einem Medium für Amateur*innen, die im Zeitalter des Web 2.0 eigene und persönliche Inhalte beisteuern und einpflegen konnten. Auch Mekas erkannte das Potenzial dieses Formats für sein Schaffen und rief im Jahr 2006 – ein Jahr nachdem YouTube online ging – seine eigene Website www.jonasmekas.com ins Leben. Mit »Welcome! Friends!« begrüßt er alle Interessierten in seiner charakteristischen Handschrift, die bereits aus den Zwischentiteln seiner Filme bekannt ist und deren Urheberschaft er mit seiner Signatur »Jonas« schließlich besiegelt. 2007 startete er hier etwa sein 365 Day Project, dessen Anspruch es war, an jedem einzelnen Kalendertag des Jahres einen Filmclip aufzunehmen oder aus altem Material zu extrahieren und so in Form eines Web Diaries Einblick zu geben in seinen Verlauf des Jahres. Mit der Aufforderung, diese Clips auf den persönlichen iPod herunterzuladen, ließen sich diese Einblicke nun buchstäblich in das eigene Leben, den eigenen Alltag integrieren und zu jeder Zeit, von jedem Ort aus abspielen.
Nimmt man das Panorama dieses umfangreichen Œuvres also in den Blick, so lassen sich die Filme immer wieder als Landmarken einer identifikatorischen Selbstverortung und Selbstbefragung deuten. Zugleich sind sie als Stücke eines Gesamtprojekts denkbar, als hätte Mekas in seiner Filmarbeit ein Äquivalent zum Leben selbst gesucht, das Zäsuren, Neuausrichtungen, Ich-Konstruktionen kennt, aber für das Subjekt auch als kontinuierlicher Fluss von Ereignissen und Begegnungen wahrnehmbar bleibt, nahtlos sich fortsetzt oder fortgeschrieben wird. So wird die Konturierung der eigenen Persönlichkeit, die Mekas zu zeigen bestrebt ist, letztlich durch die lebenslange Inventur eines immensen filmischen Materialspeichers erreicht, in dem sämtliche Notate und Aufzeichnungen eines und zugleich vieler Leben abgelegt sind.
*
Der hier vorgelegte Band entstand in einer Zeit, in der die Kommunikation über verschiedene Kanäle und Bildschirme selbstverständlich geworden ist und in manchen Fällen das einzige Fenster zur Außenwelt bedeutet. Das Treffen im virtuellen Raum hat das Miteinander in Präsenz weitgehend ersetzt. Gemeinschaften werden verstärkt als Anordnung von Gesichtern in kleinen Kacheln sichtbar, in denen auch Einblicke in privateste Räume möglich sind. Für Jonas Mekas, der beständig neue Kommunikationswege und Formate erprobte, um über sich und sein Umfeld zu reflektieren, wäre es sicherlich ein Leichtes gewesen, auch diese krisenhafte Zeit für einen kreativen Umgang mit den Ereignissen zu nutzen.
Mekas’ Unabhängigkeit zeigte sich dabei nicht nur in seiner filmischen Arbeit, sondern auch in der Verweigerung einer festgelegten Verortung von Profession und Identität. Diese Vielgestaltigkeit spiegeln auch die Beiträge des vorliegenden Bandes wider. Ganz im Sinne von Mekas’ Vorliebe für gesellige Zusammenkünfte, von denen auch zahlreiche Filmszenen Zeugnis ablegen, stimmt es uns froh, für unser Vorhaben Autor*innen aus den verschiedensten Disziplinen gewonnen zu haben, um so die einzelnen Facetten dieses vielgestaltigen Œuvres in den Blick nehmen zu können: Anne König als Verlegerin sieht in der editorischen Praxis von Mekas’ Buchprojekten filmische Verfahren am Werk; der Filmwissenschaftler Scott MacDonald untersucht in einer lehrreichen ›Anatomiestunde‹ den Film LOST LOST LOST; die Filmwissenschaftlerin Oksana Bulgakowa schenkt der Stimme von Mekas besonderes Gehör; Daniel Kothenschulte widmet sich als Filmkritiker dem Selbstverständnis von Mekas und erkennt, dass hinter der Unangepasstheit des Filmers ein System steckte; der Kunsthistoriker Philipp Scheid begegnet Mekas einmal nicht im Kino, sondern im Ausstellungskontext; und schließlich ergründet die Bild- und Filmwissenschaftlerin Eva Kuhn, die über Mekas’ Werk promovierte, die Kunst der Glimpses vor dem Hintergrund von Glanz-Sehen und Flicker-Effekt.
Viele dieser Autor*innen haben Mekas in der Lehre oder als Gast im Universitätskontext kennengelernt, ihm bei Veranstaltungen und Retrospektiven als Interviewpartner gegenübergesessen, einige haben eng mit ihm zusammengearbeitet und die Erfahrung dieser Kollaboration hier mitgeteilt. Wohl alle hatten mindestens einmal schriftlich Kontakt zu ihm – denn Mekas zeigte sich gegenüber Anfragen stets sehr aufgeschlossen. Als wir Herausgeber*innen ihn einmal fragten, auf welchem Wege wir eine Genehmigung zur Vorführung seines Kurzfilms CASSIS (1966) im Rahmen einer Veranstaltung zur Zeitlichkeit in der Kunst erhalten könnten, antwortete er prompt und geradezu lapidar per E-Mail: »You don’t need a license. I give it to you!«
So dankbar wir schon Jonas Mekas für diese unkomplizierte Lösung waren, so herzlich möchten wir nun auch seinem Sohn Sebastian Mekas danken, der uns von Anfang an mit der Vermittlung von Kontakten, der Beschaffung von Fotografien und der Anfertigung von Stills unterstützte. Ebenso zu Dank verpflichtet sind wir Kristina Köhler für ihren Zuspruch und die Vermittlung unseres Projekts, Jörg Schweinitz für den ersten Korrekturdurchgang sowie Jerome P. Schäfer für das aufmerksame Lektorat.
Menschen an der Filmkunst teilhaben zu lassen, den Austausch über sie zu stimulieren, war bis zu seinem Tod 2019 eines der obersten Gebote seiner Arbeit. Die Ergebnisse unseres Nachdenkens über Mekas, die wir mit der Leserschaft nun teilen wollen, mögen der Auseinandersetzung mit seinem Schaffen einen neuen Anstoß geben. Dass die Summe der einzelnen Teile wiederum nur ein Fragment ergeben kann, liegt gewissermaßen in der Natur der Forschungssache selbst, im Wesen von Mekas’ Filmkunst, begründet.
Ann-Christin Eikenbusch und Philipp Scheid
April 2021
1 Jonas Mekas, »Notes on the New American Cinema« (1970), in: Film Culture Reader, hg. von P. Adams Sitney, New York 2000, S. 87–107, hier S. 98. — 2 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 83. — 3 Vgl. Annette Jael Lehmann, Kunst und Neue Medien. Ästhetische Paradigmen seit den sechziger Jahren, Tübingen 2008, S. 43 f.
Daniel Kothenschulte
Jonas Mekas’ Selbstpositionierung im Kunstkontext vor dem Hintergrund seiner Arbeit als Filmkritiker
»Warum, glauben Sie, datiere ich alles, was ich mache?«, fragte Picasso einmal den Fotografen Brassaï und gab gleich selbst die Antwort: Er glaube daran, dass es einmal eine »Wissenschaft vom Menschen« geben werde, die sich mit dem Ursprung des schöpferischen Lebens befasse und diese Fragmente wieder in eine temporale und kausale Ordnung füge.1
Picasso eröffnete damit seinen Werken ein zusätzliches Dispositiv – sie waren auf diese Weise nicht mehr nur Kunstwerke, sondern Lebensdokumente in einem allgemeineren Sinn, den tiefer zu erschließen er späteren Generationen auftrug. Jonas Mekas’ filmische Tagebücher wären für diese Wissenschaft wohl von ganz besonderem Interesse. Wie Picasso schuf er sie mit Blick auf spätere Generationen, auch wenn er das nie offen bekannt hätte. Einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit verwendete er auf den Aufbau eines Archivs und die Akquise immenser Spendengelder für ein Gebäude, in dem sie – gemeinsam mit den bedeutenden Filmsammlungen der Anthology Film Archives – dauerhaft ihren Platz finden würden.
Anders als Picasso zeigte sich Mekas jedoch wenig überzeugt vom Kunstwert seiner Werke. Und das, obwohl er als Publizist, Kritiker und Archivar wie nur wenige Zeitgenossen zur Etablierung eines Kanons des nicht-industriellen Kinos beigetragen hatte. Man mag darüber streiten, inwiefern es für die Rezeption eines Kunstwerks entscheidend ist, ob sich sein Urheber selbst für einen Künstler hält. Vielleicht sah sich Jonas Mekas tatsächlich nur als filmenden Amateur im Gegensatz zu den eigentlichen Filmkünstlern, für deren Anerkennung er sich engagierte. Tatsächlich aber waren beide Betätigungsfelder eng verbunden. Die Ansprüche, die er an die Werke anderer stellte, seine persönlichen Vorlieben in der Filmästhetik, finden auch in seinem eigenen Œuvre ihren Niederschlag.
Mekas hatte seit den 1950er Jahren als Filmkritiker gearbeitet und sich dabei nicht vor normativen, ja mitunter dogmatisch vorgebrachten Werturteilen gescheut. Seine persönliche Geschmacksbildung teilte er dabei mit seiner Leserschaft, die er auf eine Reise vom italienischen Neorealismus bis zu Stan Brakhage und Andy Warhol führte. Davon unabhängig entstand sein eigenes filmisches Werk, das im Rückblick die gleichen Ideale einer Fusion zwischen Realismus und ästhetischer Radikalität anstrebt.
Wie kaum ein Filmkünstler dokumentierte Mekas sein öffentliches und privates Leben, die Zeugenschaft und Mitgestaltung kulturgeschichtlicher Schlüsselmomente mit der Kamera. Seine 16-mm-Bolex-Kamera machte er sich zu eigen wie stilbildende Jazzmusiker ihre Instrumente – mit dem Ergebnis einer unverwechselbaren, improvisatorischen Stilistik. Das Fragmentarische der Form, das Stop and Go der Kamera, verweist dabei auf den unsichtbaren Teil der Totalität des Lebens, die einzufangen so unmöglich wäre wie die Utopie, die Picasso formulierte. Seine späten, auf Video gedrehten Tagebuchfilme – die meisten bislang unveröffentlicht – verfolgten das gleiche Ziel auf denkbar gegenläufige Art und Weise – etwa wenn er über eine ganze Bandlänge seinen Fußweg durch New York festhielt.2
Mekas selbst begegnete freilich jedem auf sein Werk bezogenen Kunstbegriff mit einer Distanz, mit der er seine Zeitgenossen gerne in Verlegenheit brachte. Wer ihn als Journalist interviewte oder als Kurator einem Publikum vorstellte, tappte oft in Fallen bezüglich der Kategorisierung seines Schaffens, die er genüsslich auszulegen wusste. Die Begriffe Experimentalfilm und Avantgarde, die er anfangs selbst als Autor verwendet hatte, hielt er schließlich für abwertend, gleich wessen Werk es betraf. Und wenn man einen Vertreter des independent cinema suche, dann solle man sich besser an Steven Spielberg wenden: »Er ist wirklich unabhängig. Er kann tun und lassen, was er will.«3
Aber konnte das Jonas Mekas nicht erst recht? Seine mit minimalen Produktionsmitteln geschaffenen Werke brauchten keine Auftraggeber, keine Förderinstitution und sie mussten es keinem Publikumsgeschmack recht machen. Auch wenn er sie kontinuierlich im Programm der Film-Maker’s Cinematheque präsentierte, versagte er ihnen in der Diskussion darüber den gleichen Status, den er anderen Filmkünstlern einräumte. Oder lag darin gerade ein unmissverständliches Understatement, das dem wachsenden Ruhm aus einer Außenseiterposition heraus umso wirkungsvoller zuarbeitete?
Für Peter Kubelka war er die Verkörperung des filmenden Zeitzeugen aus einem Klassiker der sowjetischen Stummfilmavantgarde: »Als Parallelfigur zu Jonas sehe ich Dziga Vertov, der sich selbst als Mann mit der Kamera sah, wobei in meinen Augen Jonas dieser Titel viel stärker gebührt.«4
Wenn Kubelka ihn in diesem Vergleich noch über Vertov stellt, kommt er dem erwartbaren Widerspruch des Angesprochenen zuvor. 1968 hatte sich Mekas im Gespräch mit Pier Paolo Pasolini ablehnend zu einer Filmavantgarde geäußert, der es primär um Modernität bestellt sei – und Vertov als Beispiel genannt: »Maybe what we need is a very OPEN understanding of ›new‹, so that they couldn’t use it to club us on the head. Otherwise there will be more and more surrealists, Dziga Vertovs und cubists to club us on the head. I know it’s on its way.«5
Jonas Mekas spricht anlässlich der VIDEONALE.scope über das Werk von Joseph Cornell, Köln, Filmclub 813, 21.11.2015
Mekas’ Verweigerung gegenüber einem Avantgardebegriff, der sich auf Innovation stützt, ließ ihn für sein eigenes Werk vorsichtshalber jede Positionierung innerhalb des Dispositivs Kunst ablehnen. Die Verweigerung gegenüber jeder, selbst der wohlwollendsten Einordung endete nicht beim Schubladendenken der professionellen Vermittler oder der kommerziell bestimmten Präferenzen des Filmmarkts. Es betraf den Status seiner beruflichen Existenz an sich.
»I’m not a filmmaker«, war Mekas überzeugt, »I just keep on filming.« Und ein Regisseur sei er erst recht nicht, da er ja nichts inszeniere.6 Sein einziger abendfüllender Spielfilm, THE BRIG (1964), stand dazu für ihn nicht im Widerspruch – schließlich hatte er lediglich eine Inszenierung des Living Theatre in eine filmische Inszenierung übertragen.
Das heißt nicht, dass sich Mekas nicht doch in einem künstlerischen Berufsbild positioniert hätte – dann aber ebenfalls in distanzierender Absicht. 1961, auf dem Höhepunkt seiner Meinungsmacht als Filmkritiker der Village Voice, sagte er in einem Interview mit den Tänzern Erick Hawkins und Lucia Dlugoszewski: »I am not a dance critic. I am a poet and, as poets usually are, I have always been interested in other arts, which are as great a source of inspiration as life itself.«7
Mit fortschreitender Anerkennung durch künstlerische Institutionen ging Mekas in seinen späten Jahren nur noch mehr auf Distanz zum Kunstbegriff. »Er dozierte geradezu, dass er kein Künstler sei«, erinnert sich der Filmemacher, Kurator und zeitweilige Filmrestaurator in den Anthology Film Archives Bruce Posner. »Er machte daraus viel Aufhebens. Wie konnte er so etwas behaupten, ohne eine Miene zu verziehen? Es war doch vollkommener Unsinn. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Mekas von seinem eigenen Werk hielt.«8
Bei Publikumsgesprächen erregte Mekas’ vehement vorgetragene Ablehnung gegenüber nahezu jedem üblichen Attribut künstlerischer Arbeit regelmäßig Debatten. Am 6. April 2013 wollte bei einem von Peter Kubelka moderierten Abend im Österreichischen Filmmuseum ein Besucher von Mekas wissen, was er mit dem Satz gemeint habe, der in einem Gespräch mit Ulrich Obrist gefallen sei: »My film is real life«. Offenbar hatte es Mekas gegenüber dem Kurator, mit dem er befreundet war, soweit getrieben, dass er zu einer Formulierung zurückfand, wie sie in der Filmgeschichte aus anderem Kontext bekannt ist – als Credo des Cinéma Vérité. Dazu passte auch Mekas’ Antwort gegenüber dem Wiener Zuschauer: »Eine Kamera kann nichts anderes aufnehmen als das, was vor ihr ist. Erwarten Sie nicht, dass ich ihnen etwas über Intuition erzähle, das führt nirgendwo hin.«9
In seiner Verweigerung, seine Arbeitsweise zu erklären, fand er in Kubelka einen Verbündeten. Schon als Filmjournalist und Herausgeber seiner Zeitschrift Film Culture hatte er dem österreichischen Filmkünstler 46 Jahre zuvor gegenübergesessen. Damals war er der Interviewer und Kubelka diktierte: »When you transcribe this interview, you should state that nothing I say has anything to do with my films.«10
Jonas Mekas und Peter Kubelka, Collage aus: Film Culture (1967), Nr. 44, S. 42
Tatsächlich zelebrierte Mekas in späteren Jahren geradezu die Gleichsetzung von Film und Leben in seiner visuellen Arbeit – als würde jeder künstlerische Eingriff diese Balance unweigerlich zum Einsturz bringen. Im Kommentar seines Films AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY (2000) erklärt er aus dem Off in einem schwelgerischen, melodischen Tonfall, der an die musikalischen Textdeklamationen des von ihm verehrten Komponisten John Cage erinnert: »Every second of what you see is real. It’s real. Right there in front of your eyes. What you see, it’s real.«11