Filmriss - Charles Willeford - E-Book

Filmriss E-Book

Charles Willeford

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Beschreibung

Richard Hudson, ein begnadeter Gebrauchtwagenverkäufer, kennt die Schwachstellen der Männer und Frauen wie ein Zuhälter. Seine Anpreisungen rechtfertigt er mit einer höchst perversen Logik, bis auch er erkennt, dass er sein Leben mit der sinnlosen Jagd nach Geld vergeudet. Er muss sich an etwas Kreativem versuchen – einem ehrgeizigen und risikoreichen Filmprojekt. Doch Kräfte, die sich seiner Kontrolle entziehen, machen ihm einen Strich durch die Rechnung. Der wütende und gedemütigte Gebrauchtwagenverkäufer trinkt sich daraufhin durch die Unterwelt von Los Angeles und nimmt monströse Rache an allen, die ihm in die Quere gekommen sind. Im Zentrum von Willefords Roman steht die Erfolgsethik des amerikanischen Traums, wonach alle, die im Sinne des Hyperkommerz nicht konkurrenzfähig sind, gnadenlos ausgestoßen werden. Kreativität bleibt auf der Strecke; Kultur versackt in einer grausam verzerrten Masse.

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Filmriss
Charles Willeford
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Lockern Sie den Film mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ein wenig und führen Sie ihn durch dieses kleine Dingsbums. Klemmen Sie ihn fest. Lassen Sie ein bisschen Spiel, damit er nicht flattert, und ziehen Sie ihn dann über das, unter das, um das und dann fest um das große Dings. (Er muss fest auf der Tonwalze aufliegen.) Dann unter das, über das, wieder unter das, um das und nach unten. Setzen Sie das Filmende in die untere Spule ein, und Sie sind fast fertig. Stellen Sie den Ton an und lassen Sie den Projektor warmlaufen. Sehen Sie das rote Lämpchen? Jetzt die Zimmerbeleuchtung ausschalten und den Kippschalter auf EIN stellen. Wenn der Ton laut genug ist, wird Sie das gelegentliche Rutschen des Films überhaupt nicht stören ...
Richard Hudson drückte noch einmal auf den Zähler in seiner Hand, bevor er einen Blick darauf warf. 873. Das war eine Menge Blech, das sich da in fünfzehn Minuten vorbeigewälzt hatte. Und noch mehr hatte sich in der anderen Richtung, nach Hollywood, vorbeigewälzt. 927. Der Los-Angeles-Transit-Company-Bus hielt alle vierzehn Minuten an der Ecke und setzte im Schnitt sechs, eher fünf Fahrgäste ab. An der gegenüberliegenden Ecke hielt alle sieben Minuten eine Straßenbahn, und drei Männer, eine Frau und ein Kind stiegen ein, während zwei Frauen und ein Kind ausstiegen. Das war der Durchschnitt an dieser Haltestelle. Richard Hudson hatte es zwei Tage lang geprüft.
Ein schöner Mittelwert und eine prima Stelle. Und trotzdem, der Gebrauchtwagenhändler auf der anderen Straßenseite saß den ganzen Tag auf seinem fetten Arsch, rauchte Kette und schluckte eine Coke nach der anderen weg, obwohl er 35 unverkaufte Autos hatte, die blitzend in der kalifornischen Sonne herumstanden.
Mit einer unwirschen Bewegung seiner Finger zog Richard seine Krawatte fest, rutschte über den heißen Ledersitz seines 1940er Continental-Cabrios (eines extrem sauberen Autos) und stieg auf der Gehsteigseite aus. Für Mai war es ziemlich heiß gewesen, in der prallen Sonne zu sitzen, und er betupfte sich mit einem Leinentaschentuch das Gesicht. Gleichzeitig zog er mit einer ruckartigen Bewegung seine Jacke am Rücken herunter. Sein neuer schwarzer Seidenanzug war bereits ziemlich verknittert und schon nach einem Tag fällig für die Reinigung. Aber er verlieh Richard etwas gut Situiertes, und im Moment war Richard gut situiert.
Richard Hudson würde nämlich gleich sämtliche Autos auf dem Grundstück eines Gebrauchtwagenhändlers stehlen.
An der Ecke wartete er, bis die Ampel auf Grün schaltete, bevor er die stark befahrene Straße überquerte. In San Francisco wäre er einfach hinübergelaufen und hätte sich zwischen den Autos hindurchgeschlängelt, aber wenn man in Los Angeles bei Rot über die Straße ging, zog das entweder einen Strafzettel und/oder den sofortigen Tod nach sich. Immerhin war das der Crenshaw Boulevard, 873 Fahrzeuge in einer Richtung, 927 in der anderen. Alle fünfzehn Minuten.
Auf dem Grundstück des Gebrauchtwagenhändlers ging Richard langsam um einen alten Buick herum, inspizierte ihn kritisch, trat gegen die Reifen. Ein derart offensichtliches Kaufinteresse hätte den Gebrauchtwagenhändler eigentlich aus seiner Lethargie reißen müssen, aber er schaute nicht einmal von seinem Comicheft auf. Ein fauler, vertrottelter Penner. Richard war ge­zwun­gen, zu ihm zu gehen.
»Verkaufen Sie heute Gebrauchtwagen?«, fragte Ri­chard und lächelte auf den korpulenten Mann auf seinem Stuhl herab.
»Ja, Sir. Einer dabei, der Ihnen gefällt?«
»Klar«, sagte Richard. »Mir gefallen alle fünfunddrei­ßig.«
»Können sich wohl nicht entscheiden, hm?« Der Auto­händler fuhr sich mit dem Handrücken über den verschwitzten Hals und lehnte sich mit dem Stuhl lässig gegen die Wand der kleinen Bürobaracke.
Richards schmales Lächeln wurde breiter. »Ich kann mich durchaus entscheiden. Aber können Sie’s auch?«
»Wie soll ich das jetzt verstehen?« Der Autohändler wurde langsam misstrauisch und stand auf.
»Ich meine alle fünfunddreißig. Sie gehören Ihnen alle. Ihr Pachtvertrag für das Grundstück läuft noch drei Jahre, aber viel springt für Sie dabei nicht heraus. Sie hätten lieber die zwei Mietshäuser behalten sollen, die Sie in St. Louis hatten.«
»Jetzt aber, Mr. ...«
»Nein, nein, kein Grund zur Aufregung, Mr. Ehlers.« Richard gab dem Mann seine Visitenkarte. »Mein Name ist Richard Hudson, und ich bin Gebrauchtwagenhändler. Ich kaufe Ihnen alle Ihre Schrottmühlen hier ab und übernehme Ihren Pachtvertrag. Arbeiten wollen Sie doch sowieso nicht. Warum setzen Sie sich nicht endgültig zur Ruhe und lassen sich am Strand die Sonne auf den Bauch brennen, anstatt tagein, tagaus am Crenshaw Boulevard herumzusitzen?«
»Da haben Sie nicht ganz unrecht. Mr. Hudson, richtig?« Mr. Ehlers reichte Richard eine weiche, weiße Hand.
»Richtig, Richard Hudson. Generalbevollmächtigter von Honest Hal Parker in San Francisco. Ich gebe Ihnen siebzehntausendfünfhundert für die Autos, so wie sie da stehen – und für den Pachtvertrag. Endpreis. Nicht verhandelbar.«
Mr. Ehlers blickte ausdruckslos über den weißen Kies des Grundstücks und auf die verblichenen Wimpel, die an Drähten über der blitzenden Ware flatterten, und rechnete langsam im Kopf. Richard hätte es wesentlich schneller für ihn machen können. In der vergangenen Nacht war Richard um Mitternacht mit dem BUCH über das Grundstück gegangen, und sein Angebot für jeden Wagen war genau 300 Dollar unter dem Listenpreis, nicht eingerechnet zwei Vorkriegsmodelle, die Mr. Ehlers wahrscheinlich sowieso umsonst draufgelegt hätte.
Ehlers steckte sich eine Filterzigarette an, und Richard bemerkte das Zittern der Finger. Für eine dümpelnde Firma konnte sich das Angebot sehen lassen, und das wusste Ehlers. Aber wenn einem jemand ein gutes Angebot für etwas macht, liegt es in der Natur des Menschen, mehr zu wollen, als er geboten bekommt.
»Was ist mit meinem Pachtvertrag?«, fragte Ehlers zaghaft.
»Den übernehme ich auch. Hab ich doch gesagt.«
»Aber Sie haben nicht gesagt, wie viel Sie dafür zahlen wollen.«
»Stimmt.« Richard zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Aber seine Hände zitterten nicht. »Für den Pachtvertrag gebe ich Ihnen nichts«, sagte er in neutralem Ton. »Aber ich nehme Ihnen die monatlichen Zahlungen von zweihundertfünfzig Dollar ab. Was wollen Sie denn auch mit einem leeren Parkplatz.«
»Hat mich ein hübsche Stange Geld gekostet ...«
»Ich bin nicht Sie!«, erinnerte Richard den Autohändler schroff. »Sind wir uns einig, oder nicht?«
Mr. Ehlers sackte schlapp auf seinen Stuhl, drückte die Finger der rechten Hand an die Stirn, stützte den rechten Ellbogen in die linke Handfläche. Wenig später kam ein Notizblock aus seiner Hemdtasche, und er begann, mit einem Kugelschreiber zu rechnen. Nach fünf Minuten Rechnerei mit Stift und Block spaltete ein strahlendes Lächeln sein rundes schwitzendes Gesicht.
»Damit liegen wir bei jedem Wagen etwa hundertfünfzig Dollar unter dem Listenpreis. Ein faires Angebot, Mr. Hudson. Ich nehme es an!«
Richard traute kaum seinen Ohren. Ehlers täuschte sich, ganz gewaltig. Und wenn schon. Im Paket ließ sich der Deal einfach wesentlich leichter abschließen.
»Abgemacht, Mr. Ehlers. Sollen wir uns heute Nachmittag um drei bei meinem Anwalt treffen? O’Keeffe und Cullinan. Im Redstone Building. Und bringen Sie die ganzen Unterlagen mit.«
»Das geht aber schnell!«, staunte der dicke Autohändler.
»Das können Sie laut sagen!« Richard lachte. »Ich möch­te schließlich nicht, dass Sie es sich noch mal anders überlegen.«
»Keine Angst. Ich werde kommen.«
Sie schüttelten sich die Hand. Richard ging zu seinem Wagen zurück und fuhr ins Fig Hotel, wo er seit sechs Wochen wohnte. Er war extrem gut gelaunt, sehr zufrieden mit sich. Honest Hal wäre begeistert von dem Ge­schäft und dem günstigen Preis, und Richard war froh, dass die Suche zu Ende war. Jetzt konnte er wieder Gebrauchtwagen verkaufen.
EXPOSITION
So fing es an. Es ist auch eine Rückblende und ein erzählerischer Aufhänger. So viel habe ich übers Schreiben fürs Kino gelernt. Außerdem will ich niemandem was vormachen, auch mir nicht. Mir am allerwenigsten. Inzwischen glaube ich, dass ich Richard Hudson, Ge­brauchtwagenhändler, hätte bleiben sollen. Und nie Richard Hudson, Drehbuchautor/Regisseur/Produzent hätte werden sollen. Zumindest glaube ich, das zu wissen, obwohl ich nicht wirklich sicher bin. Deshalb diese Geschichte, oder Erzählung, oder Notiz, oder was eben dabei herauskommt. Irgendwann werde ich im weiteren Verlauf den genauen Punkt, vielleicht auch den Wendepunkt erkennen, oder den Irrtum, wenn es ein Irrtum war, der mir, oder jemand anderem, unterlaufen ist, oder was eigentlich genau mit mir passiert ist.
Ich habe schließlich Zeit. Und wie viel Zeit ich habe. Wenn es ginge, würde ich jeden Gedanken festhalten, jedes gesprochene Wort, jede Minute jedes Tages, der diesem Beginn gefolgt ist. Aber das geht nicht. Zum einen ist mein Gedächtnis zu schlecht, um mich an alles erinnern zu können, zum anderen würde ich mich schnell in Banalitäten verzetteln. Stattdessen habe ich vor, den Ablauf der Ereignisse zu Papier zu bringen, teils in ihrer richtigen Abfolge, teils nach meinem Empfinden. Ich werde einige der beteiligten Personen einbeziehen, und an irgendeinem Punkt dieser von hinten nach vorne verlaufenden Zeitreise werde ich vielleicht mich selbst finden. Allerdings bezweifle ich das sehr. Aber auf jeden Fall wird es eine interessante Reise werden. Lang oder kurz.
Ein Film dauert neunzig Minuten, sechs kurze Spulen. Das ist etwas, das ich in Hollywood gelernt habe. Eine irrwitzige Regel, ich weiß, aber sie besteht nun mal: und wage keiner, sie abzuschaffen.
Das ist keine Geschichte über Gebrauchtwagen, und schon gar nicht geht sie ums Kino oder ums Filmemachen, obwohl sie von beidem was hat. Hauptsächlich handelt sie von Menschen, und von mir. Ich merke bereits, dass ich gegen eine Grundregel des Schreibens verstoße.
Wie soll sich der Leser mit mir identifizieren, wenn ich in diesem Stil weitermache? Der Durchschnittsleser neigt dazu, sich mit einer Hauptfigur zu identifizieren und sich in die Geschichte hineinzuversetzen und sie buchstäblich durch die Gedanken, Emotionen und Aktionen der Hauptfigur zu erleben. Armer Leser. Der Leser bin ich, und mir graut jetzt schon vor der Vorstellung, alles noch einmal durchmachen zu müssen. Zugleich bin ich auch froh über die Gelegenheit. Bin ich etwa ein Masochist?
Das ist es, was ich bei den Mammoth Studios über einen Plot gelernt habe: Ein sympathischer, verständnisvoller Held, mit dem sich der Zuschauer in hohem Maß identifiziert und um den sich die Handlung dreht, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, ein ernstes und dringendes, seine elementarsten Interessen betreffendes Problem zu lösen. Und indem er das versucht, macht er alles nur noch schlimmer. (Nur zu Ihrer Information, der Held bin ich.) Alle Bemühungen des Helden führen zu noch größeren Komplikationen. Jede neue Komplikation hängt mit dem ursprünglichen Problem zusammen. (Das bin jetzt aber nicht ich, oder doch?) Jedenfalls schaukeln sich die Komplikationen immer weiter hoch, bis es zu einer schweren Krise kommt. An diesem Punkt kann sich der Leser nicht mehr vorstellen, wie der Held noch unbeschadet aus der Sache herauskommen soll. Doch genau an diesem Punkt unternimmt der Held einen letzten heroischen Versuch, seine Probleme zu lösen. Dabei müssen es jedoch unbedingt seine eigenen Anstrengungen sein, die das Dilemma (es können auch mehrere sein) aus der Welt schaffen. Unter keinen Umständen darf er sich die Sache einfacher machen und fremde Hilfe annehmen.
Bei genauerem Hinsehen ist es vielleicht doch eine konventionelle Geschichte. Aber nicht wirklich, dafür ist sie zu persönlich. Sie ist mir passiert, und deshalb ist sie für mich wichtig, wenn sie das auch nicht unbedingt für jeden anderen ist. Andererseits betrifft alles, was ein Mensch tut, direkt oder indirekt jemand anderen. Deshalb sollte meine Geschichte für jeden wichtig sein. Teile meiner Geschichte sind zu persönlich, um sie in der ersten Person zu schreiben, andere sind zu persönlich, um sie in der dritten Person zu schreiben. Das meiste ist zu persönlich, um es überhaupt niederzuschreiben.
RÜCKBLENDE
Der Kauf von George Ehlers Gebrauchtwagenfirma durch Richard Hudson hatte ein mehrmonatiges Vorspiel; es war alles andere als eine spontane Entscheidung. Zehn Jahre lang war Richard Hudson der Star unter den Gebrauchtwagenverkäufern von Honest Hal Parker in San Francisco gewesen. Honest Hal hatte sich in San Francisco so stark vergrößert, dass er sein Imperium erweitern wollte. Er vertraute Richard, und sein Vertrauen in Richards Fähigkeiten ging so weit, dass er auf dessen Namen eine Überweisung in Höhe von 40.000 Dollar an eine Bank in Los Angeles tätigte, damit Ri­chard dort eine Honest-Hal-Zweigstelle aufmachen konnte.
Die Entfernung zwischen San Francisco und Los Angeles beträgt 447 Meilen, aber die Menschen, die in den zwei Städten leben und arbeiten, sind so verschieden wie Räucherlachs und Frischkäse. Dieser Unterschied ist all denen bestens bekannt, die mit der Grundvoraussetzung für ein Leben in Kalifornien Handel treiben: mit Gebrauchtwagen.
Ein Beispiel: In San Francisco verdient der Ausfahrer einer Wäscherei 75 Dollar die Woche. Sein Kollege in Los Angeles kann sich glücklich schätzen, wenn er für die gleiche Tätigkeit 6o Dollar bekommt. Eine Bürokraft in San Francisco mit einfachen Buchhaltungs- und Schreibmaschinenkenntnissen kann wöchentlich locker 65 Dol­lar nach Hause tragen. Ihre Schwester in Los Angeles kann froh sein, wenn sie 40 Dollar bekommt. Warum ist das so? In San Francisco sind die Gewerkschaften schwer auf Draht. In Los Angeles kann man das von ihnen nicht behaupten. Vielleicht ist diese Erklärung eine grobe Vereinfachung. Vielleicht ist das Leben in San Francisco teurer, und die Arbeitgeber müssen höhere Löhne zahlen, um Angestellte zu bekommen. Vielleicht ist das Leben in Los Angeles billiger, aber das bezweifle ich. Ich weiß nur, das sind die Fakten, was Gehälter angeht. Ein flüchtiger Vergleich der Stellenanzeigen im San Francisco Chronicle und in der Los Angeles Times zeigt den Unterschied in der Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten in den zwei kalifornischen Städten in aller Deutlichkeit.
Diese Lohnunterschiede hat es immer schon gegeben, auch während der Weltwirtschaftskrise. Diejenigen, die in den dreißiger Jahren gearbeitet haben, haben in San Francisco mehr verdient als diejenigen, die in dieser Zeit in Los Angeles gearbeitet haben. Das sind die Fakten; das Warum ist eine Frage der Volkswirtschaft oder von etwas, das für diese Geschichte keine Rolle spielt. Außer für den Gebrauchtwagenhandel. In San Francisco ist es schön, einen Gebrauchtwagen zu besitzen. In Los Angeles ist es unerlässlich, einen fahrbaren Untersatz zu haben, ob man nun will oder nicht.
Ein Mann, der in San Francisco das Gelände eines Gebrauchtwagenhändlers betritt, kann es durchaus zu Fuß wieder verlassen. Ein Mann, der in Los Angeles eines betritt, wird es auf vier Rädern verlassen. Er kann gar nicht anders, als einen fahrbaren Untersatz zu erstehen, wenn er seine müden Füße auf den Kies eines solchen Grundstücks setzt. Der Verkäufer muss nur seine finanziellen Möglichkeiten richtig einschätzen und ihm ein Auto andrehen, das geringfügig darüber liegt.
Was Richard Hudson anging, gab es keine Ausnahmen von dieser Regel. In der Praxis gibt es aber zwangsläufig einige Ausnahmen. Aber wenn man jegliche Ausnahmen außer Acht ließ, war Richard Hudson ein Gebrauchtwagenverkäufer der 1.000-Dollar-im-Monat-Klasse. Sein Gehalt variierte geringfügig. In schlechten Monaten kam er auf 850 Dollar, aber es gab auch Monate, in denen er 1.500 Dollar verdiente. Es ist eine Frage der Werte. Es ist der American Way of Life. So­bald man ihn durchschaut hat, wird Erfolg, egal in welchem Bereich, eine Frage der Entschlossenheit der betreffenden Person.
Ich finde es fast unmöglich, in der dritten Person zu schreiben, wie ich das bisher getan habe. Und überhaupt, was soll’s? Alles, was mich betrifft, ist persönlich, und so fasse ich es auch auf. Was gibt mir das Recht, kategorisch zu erklären, dass jeder Mensch erfolgreich sein kann? (Selbst wenn ich weiß, dass es stimmt.)
Das Problem mit den Amerikanern ist ihre Naivität. Oder ist es Idealismus? Nehmen Sie die Ungarn. Meine Güte! DAS STREBEN NACH FREIHEIT. FLUCHT. ROTES KREUZ. SPENDENAUFRUFE. Mit Tränen in den Augen spendeten Millionen Amerikaner für die TAPFERKEIT, die OPFER, den EDELMUT der Ungarn bei ihrem Streben nach FREIHEIT. Die Tore wurden geöffnet, die Schutzvorkehrungen ignoriert, der McCarran Act vergessen. Sechs Monate später arbeitete derselbe Amerikaner, der von seinem 65-Dollar-Wochen­gehalt fünf Dollar gespendet hatte, für einen Ungarn, der den American Way of Life prompt für sich entdeckt hatte.
Wir sehen Dinge, und wir sehen Dinge nicht. Wir sagen eine Sache und tun eine andere. General MacArthur hat gesagt: »Es gibt keine Sicherheit, es gibt nur Gelegenheiten.« Womit er natürlich recht hatte. Trotzdem klammerte sich der Mann, der diese elementare Wahrheit ausgesprochen hatte, an die Sicherheit, die ihm die US Army angeblich bot, bis er rausgeworfen wurde. Aber was rede ich eigentlich noch?
Als Gebrauchtwagenverkäufer sah ich die Welt durch eine dunkle Brille. Sie war nötig, um meine Augen vor den Strahlen der heißen kalifornischen Sonne zu schützen, wenn ich Gebrauchtwagenkäufer in Los Angeles und San Francisco einwickelte. Aber die Gläser waren violett, nicht rosa. Für den wirklich erfolgreichen Ge­brauchtwagenverkäufer gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Checker und Schwachköpfe. Schwachköpfe sind schlicht und einfach dumm, und Checker sind diejenigen, die sich selbst und die Dinge durchschauen, so wie sie sind. Eine simple und unkomplizierte Unterscheidung, was sie allerdings nicht weniger zutreffend macht.
Wenn jemand die Wahrheit kennt, muss er sie nicht mehr suchen. So wie ich die Dinge jetzt, im Nachhinein, sehe, war mein einziges Problem mein Mitgefühl für andere. Mir taten die Schwachköpfe leid, und das war fatal. Irgendwo tief drinnen, in einem verborgenen Winkel meines Herzens, hatte sich Mitleid mit den armen, ahnungslosen Trotteln eingenistet. Das war wirklich schade.
Bei meinem Umzug von San Francisco nach Los Angeles fiel ich die Treppe hinauf, wie es so schön heißt. Als Gebrauchtwagenverkäufer war ich ganz oben angekommen. Ein Tag hat nur eine begrenzte Anzahl von Stunden, und ein Verkäufer, egal, wie gut er ist, kann an einem Tag nur eine begrenzte Anzahl von Autos verkaufen. Ich hatte meine Obergrenze als Verkäufer erreicht. An diesem Punkt stellte sich die Frage: Werde ich Hal Parkers Partner, oder steige ich bei ihm aus und gründe meine eigene Firma. Honest Hal wollte sowohl das eine als auch das andere und entschied sich für den Mittelweg. Da der Checker Hal spürte, wie hin- und hergerissen ich war, präsentierte er mir einen Deal auf dem Silbertablett.
Honest Hal hatte sich schon seit Monaten mit Expansionsplänen getragen. Außerdem war sich auch er der Gesetze des American Way of Life bewusst. In Los Angeles waren ein Outlet und ein Inlet nötig, um die Autos loszuwerden, die sich in San Francisco infolge des unterschiedlichen Geschmacks, der mit den oben bereits angesprochenen höheren Gehaltsschecks der Bewohner San Franciscos einherging, nicht an den Mann bringen ließen – ich habe das ja bereits erklärt —, und um Autos zu ersetzen, die in seiner großen Firma nun be­nötigt wurden. Eine neue große Firma in Los Angeles würde Honest Hal außerdem zusätzliches Renommee verschaffen.
Wenn er in Los Angeles unter der Leitung einer vertrauenswürdigen Verkaufskanone, ich meine natürlich mich, Richard Hudson, eine Zweigstelle aufmachte, konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
ÜBERBLENDUNG
Die Suche nach einem geeigneten Standort für ein Honest-Hal-Gelände in Los Angeles erwies sich als einfacher, als ich gedacht hatte. Los Angeles war meine Heimatstadt; dort war ich geboren und aufgewachsen, und entsprechend gut kannte ich mich aus. Ein Auswärtiger, der als Erwachsener nach Los Angeles zieht, wird die Stadt nie so kennenlernen wie ein Einheimischer. Obwohl zahlreiche Straßen Nummern haben, haben viele auch Namen, und dieses System sorgt bei etlichen Zugereisten für Verwirrung und Resignation. Nehmen sie zum Beispiel die 41st Street. Neben der 41st Street ist der 41st Drive, und neben dem 41st Drive ist der 41st Place. Würden Sie die Straßen von der 9th Street zur 60th Street zählen, würde die Zahl, auf die Sie kommen, nicht stimmen, und außerdem ist die 60th Street für die Einheimischen eigentlich die Slauson Avenue, obwohl es auf dem Stadtplan eine 60th Street gibt.
Inzwischen hatte ich zehn Jahre in San Francisco ge­lebt und war nur gelegentlich nach Los Angeles gekommen, um Mutter zu besuchen. Aber selbst in dieser relativ kurzen Zeit hatte sich die Stadt stark verändert, fand ich. Tag für Tag ziehen etwa zweihundert Familien nach Los Angeles, um sich dort niederzulassen, und diese Zuwanderung führt zu einer ungeheuren Ausdehnung des Stadtgebiets. Die Neubesiedlung, etwa zu gleichen Teilen auf Schwarze und Andere verteilt, hatte zur Folge, dass das Schwarzenviertel, das ich von früher kannte, nur noch eine Vorstadt der aktuellen schwarzen Community ist. Für 500.000 Schwarze war es unmöglich, in so einem kleinen Areal zu leben, weshalb sie jetzt eine Stadt in einer Stadt haben, die sich von Downtown bis nach Long Beach erstreckt und entlang der Central Avenue so weit in beide Richtungen, wie es ihnen möglich war, Wohnraum zu kaufen oder zu mieten.
In Los Angeles zu leben, ist derart unerquicklich, dass es mich wundert, dass dort überhaupt jemand leben will. Andererseits bin ich wieder hingezogen, um Geld zu machen, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum auch alle anderen das tun. Einen anderen Grund kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Eine weitere Besonderheit ist, dass man, egal, wo man in Los Angeles wohnt, mindestens zwanzig Meilen fahren muss, um an seinen Arbeitsplatz zu kommen. Wenn man in Montebello wohnt, arbeitet man in Inglewood. Wohnt man in Inglewood, arbeitet man in Burbank. Wohnt man in Burbank, arbeitet man in Watts. Und so weiter. Warum sich die Angelenos mindestens zwanzig Meilen von ihrer Arbeitsstelle entfernt niederlassen, ist mir seit jeher ein Rätsel. Was nichts daran ändert, dass es eine sattsam bekannte Tatsache ist. Die Menschenmassen, die aus der Dust Bowl und anderen Regionen der Vereinigten Staaten zuziehen, müssen irgendwo wohnen. Deshalb kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee des sozialen Wohnungsbaus auf. Diese Projekte trugen maßgeblich zur Verschandelung von Kaliforniens Süden bei. Orangenplantagen wurden plattgemacht, das Ödland hinter Van Nuys gerodet, und wie aus dem Nichts schossen endlose Häuserreihen wie Pilze aus dem Boden. Die Schwachköpfe, die von anderswo zuziehen, können eins dieser fantastischen 6.000-Dollar-Häuser für 15.000 Dollar kaufen. Bis der Schwachkopf die Hypothekenzinsen, Gerichts- und Darlehenskosten und alle anderen Nebenkosten bezahlt und das Haus nach zwanzig Jahren abgestottert hat, hat ihn das 6.000-Dollar-Haus, das dann wegen des heruntergekommenen Zustands des Viertels noch 1.500 Dollar wert ist, 30.000 Dollar gekostet.
Dieser Zustrom von Migrantenschwachköpfen, zusätzlich zu den Leuten, die bereits da sind, bedeutet für Gebrauchtwagenhändler ein gutes Geschäft. Der Mann, der in Ogden, Utah, bestens mit einem einzigen Auto für die ganze Familie ausgekommen ist, muss jetzt feststellen, dass er das Auto täglich braucht, um zwanzig Meilen zur Arbeit zu fahren. Auch seine Frau braucht ein Auto, um die sechs Meilen ins Einkaufszentrum zu fahren oder fünfzehn Meilen, um die Stromrechnung zu bezahlen. Der Sohn braucht ein Auto, um zur Highschool zu fahren. Seine Schwägerin, die ebenfalls nach Los Angeles gezogen ist, sich das dritte Schlafzimmer mit der jüngsten Tochter teilt und hofft, sich im Hollywood Friend­ship Club für über Fünfunddreißigjährige einen Ehemann zu angeln, braucht ebenfalls ein Auto, um einen arbeitslosen Klempner auszuführen, den sie in diesem wunderbaren Treff kennengelernt hat, und sich mit ihm in einem Autokino einen schönen Abend  zu machen.
Zweieinhalb Autos pro Kopf in Los Angeles. Das ist die offizielle Rate. Ich habe es mir von der Handelskammer bestätigen lassen. Eine Blechstraße wie die Figueroa Avenue, die viele Jahre ganz allein den Gebrauchtwagenbedarf von Los Angeles gedeckt hat, ist inzwischen nur noch ein Umschlagplatz unter vielen. Der Crenshaw Boulevard, vor fünfundzwanzig Jahren noch eine unbefestigte Straße, ist heute eins der größten Areale weltweit, wo Gebrauchtwagen verkauft werden. Neben dem Crenshaw Boulevard wirkt die Van Ness Avenue in San Francisco wie ein popeliger Parkplatz. In jedem Teil von Los Angeles gab es große und kleine Gebrauchtwagenzentren, und ich sah sie mir alle an, bevor ich mich bei meiner Suche auf den Crenshaw Boulevard konzentrierte. In der Figueroa Avenue wurde schon lange nicht mehr der Umsatz gemacht, den ich mir vorstellte. Die Los-Angeles-Zweigstelle der Triple A Finance Company, die Honest Hals gesamtes Kreditgeschäft in San Francisco abwickelt, ließ mich für meine Recherchen ihre Akten einsehen, und im Zuge dieser Nachforschungen stieß ich auf Mr. George Ehlers’ schwierige finanzielle Situation; eigene Ermittlungen bestätigten diesen Sachverhalt; und als ich ihm mein unanständiges Angebot machte, griff er zu.
Am selben Abend rief ich Honest Hal in San Francisco an und sagte ihm, dass wir im Geschäft waren.
»Schon?«, fragte Hal sarkastisch. »Nachdem ich sechs Wochen nichts von dir gehört habe, habe ich mich so langsam schon gefragt, ob du da unten vielleicht Urlaub machst.«
»Wahrscheinlich hätte ich zwischendurch mal anrufen sollen«, sagte ich, »aber ich habe lieber gewartet, bis der Deal im Kasten ist.«
»Brauchst du Hilfe, Richard? Ich könnte Don ein paar Wochen zu dir runterschicken ...«
»Hör zu, Hal«, unterbrach ich ihn kampflustig. »Das hatten wir doch alles schon. Es war abgemacht, dass ich mein eigener Herr bin und Leute von hier unten einstelle. Wenn ich Hilfe brauche, sage ich dir schon Be­scheid!«
»Okay, Richard, ganz wie du meinst. Hört sich ganz nach einem guten Einstieg an, aber melde dich ab und zu bei mir. Warte nicht wieder sechs Wochen, bis du anrufst, und wenn du nur hallo sagst.«
»Alles klar, Hal. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich eine Wohnung gefunden habe. Ich wohne nämlich immer noch im Hotel.«
»In welchem?«
»Im Fig, aber wahrscheinlich ziehe ich morgen aus. Bis dann, Hal.«
Nachdem ich am Nachmittag in der Kanzlei meines Anwalts mit Ehlers alles unter Dach und Fach gebracht  hatte, hatte ich ihm versprochen, im 222 Club einen mit ihm trinken zu gehen. Ehlers wollte den Vertragsabschluss feiern, was ich gut nachvollziehen konnte, obwohl er nur zum Telefon hätte greifen müssen, um einen besseren Deal zu bekommen als den, den ich ihm anbot. Das einzige Problem war, dass Ehlers ein Schwachkopf war und nicht wusste, wo er anrufen sollte. Ich hatte keine Lust, ihn noch mal zu sehen. Er war ein Langweiler. Und außerdem wollte ich Mutter sehen.
ALEXANDRA HOROTSOFF HUDSON BLAKE STEINBERG
Ich wusste nicht, wie alt Mutter damals war, und ich weiß es auch jetzt noch nicht. Es ist nicht wichtig. Um meine Mutter sein zu können, hätte sie älter sein müssen als ich, und ich war damals dreißig. Aber Mutter sah nicht wie dreißig aus; bei schmeichelhafter Beleuchtung konnte sie locker als fünfundzwanzig durchgehen. Alexandra war eine Ballerina im Ruhestand und arbeitete weiterhin sieben Tage die Woche vier Stunden am Tag in ihrem Übungsraum im Keller an der Barre.
Sie hatte die erstaunlichste Figur, die ich je bei einer Frau, egal welchen Alters, gesehen habe. Großgewachsen für eine Frau, mit langen, schlanken Beinen, war sie mit der festen, stolzen Oberweite einer Koloratursopranistin gesegnet. Eine schmale Taille, flache, sehr feminine Hüften und makellos weiße Haut machten sie zur schönsten Frau der Welt. Auf eine leicht abwesende, verwackelte Art war sie nicht besonders helle, aber ich fand, dass dieser Wesenszug zu ihrer Schönheit beitrug.
Ich bin sicher voreingenommen. Warum auch nicht? Die Mutter eines Mannes ist immer die schönste Frau der Welt. Aber in den meisten Fällen ist sie wegen dem schön, was sie für ihn getan hat. Ihre Kochkünste, die nicht ganz objektive Bewunderung seiner unbedeutenden Leistungen, dazu täglich großzügige Portionen Liebe, einschließlich reichlich Zärtlichkeiten, bestärken einen Mann in dem Glauben an die Schönheit seiner Mutter. Meine Mutter hat allerdings einen Dreck für mich getan. Ich habe auch nie erwartet, dass sie etwas für mich tut. Sie war schön, weil sie schön war, und sie hatte Hefte voller Zeitungsausschnitte, um es zu beweisen.
Ihr blasses Gesicht war schmal, und vielleicht standen ihre Augen eine Spur zu eng beieinander, aber ihr hüftlanges Haar war meistens in ihrem langen weißen Nacken zu einem riesigen Knoten gebunden, sodass die Aufmerksamkeit der Männer meistens von ihren blauen Augen abgelenkt wurde. Nicht ohne ein Schmunzeln kann ich mich noch gut an die enorme Wirkung erinnern, die sie auf Partys erzielte, wenn aus dem einen oder anderen Grund nicht alle Aufmerksamkeit auf ihre Schönheit gerichtet war. Dann erhob sie sich majestätisch, ergriff mit jeder Hand eine Haarnadel und machte mit beiden Armen eine rasche Bewegung, worauf sich die unerhörte Masse ihres pechschwarzen Haars den Rücken hinunter ergoss und ihre schmale Taille vollständig verbarg. Diese kleine weibliche Zurschaustellung konzentrierte die Aufmerksamkeit sofort auf Mutter und ließ alle anwesenden Männer bewundernd den Atem anhalten. In den 1930er Jahren wussten allerdings die anderen Frauen mit ihren Pagenköpfen, Federschnitten und kurzen Dauerwellen Mutters Haarpracht nie gebührend zu würdigen.
Mutters Nase war außergewöhnlich groß, zugleich aber schmal genug, um ihre Länge zu kaschieren. Ihre Lippen waren voll und sinnlich und, wenn sie nicht auf der Bühne stand, niemals geschminkt. Stattdessen biss sie sich so lange auf die Lippen, bis sie rot wurden. Die meiste Zeit trug Mutter eine schräg stehende, blaugetönte Krankenkassenbrille, die den leichten Makel ihrer zu eng stehenden Augen erfolgreich kaschierte. Aber das Auffallendste war, dass ihr das Fehlen jeglichen Make-ups auf ihrem clownweißen Gesicht eine makellose schwindsüchtige Schönheit verlieh, wie ich sie an keiner anderen Frau je gesehen habe.
Ich liebte Alexandra so sehr, wie ich etwas oder jemanden lieben konnte, und ich glaube, auf ihre abwesende Art liebte sie auch mich. Ihr Lebenswandel dürfte von keinerlei Mühen begleitet gewesen sein, denn abgesehen von ihrem täglichen Tanztraining – das ausschließlich ihrem Körper, aber in keiner Weise ihrem Geist zugutekam – tat Mutter absolut nichts.
Alexandra schlief von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens, jede Nacht zwölf erholsame Stunden. Zum Frühstück aß sie einen Salatkopf, der ihre Beine bis Mittag fürs Tanzen in ihrem Kellerstudio stärkte. Das Mittag­essen bestand für Mutter aus einer Schale klarer Brühe und einer Tasse heißem Tee. Zum Abendessen aß sie ein kleines Steak, von dem jeder Fitzel Fett entfernt worden war, eine kleine gedämpfte Kartoffel und einen grünen Salat mit einem Spritzer Zitrone. Meistens war sie völlig ausgehungert, was ihrem Blick etwas seltsam Wildes verlieh, das sogar durch ihre getönten Brillengläser zu sehen war. Das Haus verließ sie nur, wenn es absolut notwendig war. Sie füllte die Stunden, in denen sie wach war, indem sie fade Aquarelle von Speisen malte, Zeitschriften mit wahren Liebesgeschichten las und Radio hörte.