Wie wir heute sterben - Charles Willeford - E-Book

Wie wir heute sterben E-Book

Charles Willeford

4,4

Beschreibung

Durchgesehene Neuausgabe des ersten der vier legendären Hoke-Moseley-Romane! Frederick J. Frenger jun., gerade aus dem Knast entlassen, fliegt in Miami ein. Dort befördert er einen Hare Krishna ins Jenseits und lernt dessen Schwester Susan kennen, mit der er eine platonische Ehe der besonderen Art führt. Hoke Moseley vom Miami Police Department ist diese Beziehung und vor allem Freddy selbst nicht ganz geheuer. Es kommt zu einem Showdown zwischen dem unbekümmerten Psychopathen und dem hartnäckigen Cop. Miami Blues ist der erste Band einer in Miami angesiedelten vierteiligen Serie mit Detective Sergeant Hoke Moseley, einem Cop "mit schlecht sitzendem Gebiß, billigen Freizeitanzügen, abgenudelter Kreditkarte und allzu freidenkerischen Auffassungen seines Berufs". Der Roman wurde 1990 mit Alec Baldwin verfilmt. "Ich bin nicht Neo-Noir. Ich fühle mich näher bei der modernen Kriminalliteratur, noch näher bei Charles Willeford." Quentin Tarantino "Niemand schreibt einen besseren Kriminalroman als Charles Willeford." Elmore Leonard

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Charles Willeford, Wie wir heute sterben

Charles Willeford, geboren 1919 in Arkansas, mit acht Jahren Waise und mit vierzehn Eisenbahntramp, war Berufssoldat und später Boxer, Radiosprecher, Maler und Englischlehrer. Als Journalist und Literaturkritiker schrieb er für den Miami Herald, als Autor veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Er starb 1988 in Miami. Wie wir heute sterben (1988) ist der vierte Band einer vierteiligen, in Miami angesiedelten Serie mit Detective Sergeant Hoke Moseley.

Hoke Moseley leidet unter Übergewicht, den Unterhaltsforderungen seiner Exfrau, den Macken seiner Töchter und sexuellem Notstand. In dieser prekären Lage erhält der Cop aus Miami einen Undercover-Auftrag: Er soll herausfinden, weshalb in den Sümpfen Südfloridas illegale Einwanderer aus Haiti verschwinden. Moseley gibt Gebiß, Dienstwaffe und Polizeimarke ab, tarnt sich als Landarbeiter und dringt in eine Welt ein, in der nur überleben kann, wer brutaler ist als zwei Killer ohne Gewissen.

Charles Willeford

WIE WIR HEUTE STERBEN

Der vierte Hoke-Moseley-Fall

Deutsch von Rainer Schmidt

Mit einem Vorwort von Donald E. Westlake

Durchgesehen und mit einer Nachbemerkung von Jochen Stremmel

Alexander Verlag Berlin

Im Alexander Verlag Berlin erschienen bereits die drei anderen Hoke-Moseley-Fälle Miami Blues (1984), Neue Hoffnung für die Toten (1985) und Seitenhieb (1987).

Dritte, durchgesehene Auflage 2016

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Way We Die Now © 1988 by Charles Willeford © für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2003 Alexander Wewerka, Postfach 19 18 24, 14008 [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Vorwort © 1996, Donald E. Westlake Bearbeitung der Übersetzung: Jochen Stremmel Satz/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka ISBN 978-3-89581-434-1 (eBook)

Für Lou, Betsy, Tom & Cheryl

Niemand besitzt das Leben. Aber jeder mit einer Bratpfanne besitzt den Tod.

William S. Burroughs

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Zur Entstehung dieses Buchs

Krimis im Alexander Verlag Berlin

Vorwort

von Donald E. Westlake

Charles Willeford schrieb eine sehr lange Zeit sehr gute Bücher, ohne daß es irgend jemandem auffiel. 1974 wurde einer seiner Romane verfilmt, Cockfighter (Hahnenkampf), mit Warren Oates in der Hauptrolle, und es fiel niemandem auf. In diesem Film spielt Willeford selbst den Hahnenkampfrichter und war als Schauspieler genauso lakonisch und unkonventionell wie als Schriftsteller, und immer noch fiel es niemandem auf.

Und dann kam Hoke Moseley vorbei.

Woher? Nach all den Jahren, in denen Willeford in der Wüste gute Bücher geschrieben hatte, die niemandem auffielen, warum kam da Hoke Moseley vorbei und änderte alles, zwang Willeford, immer wieder auf ihn zurückzukommen und dafür zu sorgen, daß den Lesern diese schräge, schrullige, erfrischende Stimme plötzlich auffiel, die so lange ungehört in ihrer Mitte verhallt war?

Ich glaube, ich weiß, wo Hoke herkam. Ich kannte Willeford in seinen letzten Lebensjahren ein bißchen und stellte fest, daß er liebenswürdig und kenntnisreich und eine absolut in sich ruhende Persönlichkeit war, was ihn an der Oberfläche deutlich von seiner letzten Schöpfung unterscheidet. Hoke Moseley ist alles andere als in sich ruhend, ist weit davon entfernt, sich zu der Hochebene der Gelassenheit durchzukämpfen, die Willeford erreicht hatte. Woher kam er also?

Aus der Wüste. Ich glaube, Hoke kam aus derselben Wüste, in der Willeford sich so lange abgemüht hatte. Charles Willeford war zu keinem Zeitpunkt ein Versager: Seine Bücher sind sehr gute Bücher, sorgfältig konstruiert. Seine Karriere mochte im Verborgenen vor sich hin dümpeln, aber die Bücher hatten Substanz. Und ich glaube, die einzige Möglichkeit, wie er damit weitermachen konnte, Jahr für Jahr, ohne aufzugeben oder verbittert zu werden, bestand darin, daß er sich zu der Erkenntis durchgerungen hatte, sein Werk sei sehr wichtig, spiele gleichzeitig aber gar keine Rolle. Und die Erweiterung davon war, daß das ganze Leben sehr wichtig war, gleichzeitig aber gar keine Rolle spielte. Ich glaube, diese besondere selbstinduzierte Schizophrenie brachte Willeford durch die mageren Jahre und sorgte dafür, daß er mit dem Schreiben weitermachte, und ich glaube, sie hat schließlich Hoke Moseley hervorgebracht, der diese Weltanschauung nicht so sehr teilt, wie er sie lebt.

Hoke ist ein guter Cop oder versucht wenigstens, einer zu sein, aber in Miami ist ein guter Cop ungefähr so nützlich wie ein gutes Papierhandtuch in einem Wirbelsturm. Hoke wird dauernd von Leuten geschlagen, die härter und gemeiner sind als er, er wird dauernd belogen und betrogen, er wird dauernd mit der Sinnlosigkeit dessen konfrontiert, was er tut, und trotzdem bewegt er sich beharrlich vorwärts, und inmitten der größeren Hoffnungslosigkeit bringt er tatsächlich einige bescheidene – und sehr befriedigende – Erfolge zustande.

Ich meine nicht, daß Hoke Moseley Charles Willefords Alter ego war. Ich meine, daß Willefords Lebenserfahrung ihn zu einer bestimmten Haltung zur Welt und zu seinem Platz in ihr geführt hat, und diese Haltung, ironisch, ohne gemein zu sein, komisch, aber zutiefst mitfühlend, durchdrang jedes Buch, das er schrieb, von seinen beiden autobiographischen Bänden bis hin zu all den unbeachteten Romanen, und daß schließlich Hoke Moseley diese Haltung vollständiger verkörperte als irgendetwas anderes, das er je gemacht hatte.

Um eine musikalische Analogie zu verwenden: Charles Willeford hatte schließlich die Tonart gefunden, in der er wirklich singen konnte. Diese letzten Lieder von ihm sind wundervoll menschlich, geduldig, lustig, verständnisvoll, cool und nachsichtig. Ich wünschte, er sänge noch.

(1996)

1

Tiny Bock stemmte seinen massigen Körper aus dem Liegestuhl.

Einen Moment lang blieb er still auf der Lichtung stehen und lauschte, aber er hörte nichts weiter als das Summen der Insekten und das Rascheln von Waldratten auf Nahrungssuche. Er klappte den rot-grünen Liegestuhl zusammen, trug ihn zu dem schwarzen Pick-up und warf ihn hinten auf die Ladefläche. Er öffnete die Beifahrertür und nahm die Papiertüte vom Sitz. In der Tüte waren zwei in Fettpapier eingewickelte Mortadella-Sandwiches und zwei hartgekochte Eier. Er wickelte eins der Sandwiches aus und sah, daß sich die Wurst am Rand grün verfärbt hatte. Er packte das Sandwich wieder ein, steckte es in die Tüte und nahm sich eins der hartgekochten Eier. Er schlug das Ei auf und schälte es, aber als er es in zwei Hälften teilte, stellte er fest, daß sich der Dotter lila verfärbt hatte und stark nach Schwefel roch.

In zehn Meter Entfernung richtete sich ein Waschbär, der das Ei und den Schwefel ebenfalls roch, auf den Hinterbeinen auf, wedelte mit den Vorderpfoten und hob die Nase schnuppernd in die Luft.

Tiny Bock sah den Waschbären und legte die beiden Eierhälften auf ein Grasbüschel. Während Tiny zur Fahrerkabine ging, kam der Waschbär, ein Weibchen, näher und packte die beiden Eierhälften. Der Waschbär trug die Eierhälften zu einer schlammigen Pfütze und wälzte sie im Wasser, um sie vor dem Fressen zu waschen. Tiny Bock, der seine Flinte aus der Kabine genommen hatte, schoß einmal. Acht der zwölf Schrotkugeln trafen den Waschbären und verwandelten ihn in einen undefinierbaren Klumpen aus Fell und Blut. Bock lud die Flinte neu, bevor er sie wieder in die Halterung über dem Sitz in der Fahrerkabine hängte.

Bock lauschte wieder, und er hörte das Flugzeuggeräusch des Propellerbootes, lange bevor er es sah. Dann entdeckte er das Boot auch; es kam aus einer anderen Richtung, als er erwartet hatte, zu der Sumpfhöhe zurück, aber Chico de las Mas lenkte es unbeirrt auf Bock und den parkenden Pick-up zu. Wie es über das nasse Schilfgras der Everglades hinwegglitt, sah es aus wie ein riesiges, aber harmloses Insekt.

Chico lenkte das Aluminiumboot seitwärts heran und stoppte kurz vor der trockenen, mit Gestrüpp bewachsenen Insel. Als er den Motor abgestellt hatte und der wirbelnde Propeller zum Stillstand gekommen war, sagte Bock: »Wieso hast du so lange gebraucht?«

»War schwierig, ein Loch zu finden, das tief genug war. Aber das macht nichts. Wenn der Regen kommt, steht die ganze Gegend hier einen halben Meter unter Wasser. Dann kann man sechs Monate lang nicht zu der Insel hier rausfahren. Mir war, als hätte ich ’ne Schrotflinte gehört.«

Bock grinste und zeigte auf die Überreste des Waschbären. »Ich hab ’nen Waschbären geschossen.«

Die beiden Männer schoben das Propellerboot in die Lichtung und dann weit in das Gebüsch auf der anderen Seite. Chico kettete den Bug an eine Zypresse und verschloß die Kette mit einem Vorhängeschloß. Dann stiegen sie in den Lastwagen. Chico setzte sich ans Steuer und fuhr über den trockenen Sandboden, gelegentlichen Pfützen ausweichend, auf die mit Oolith und Lehm bedeckte Zufahrtsstraße zu, die etwa zehn Minuten weit entfernt war. Eine Gruppe von Jägern aus Naples hatte die Zufahrtsstraße vor ungefähr fünf Jahren illegal hier in Big Cypress gebaut. Sie hatten auch ein Wochenendhaus bauen wollen, aber aus ihren Plänen war nichts geworden, und so war die Straße, einen knappen halben Meter hoch über dem Wasserspiegel gelegen, jetzt eine Straße nach Nirgendwo.

»Du hast Blut vorne am Hemd«, sagte Bock.

»Ich weiß.« Chico zog einen blutigen Plastikbeutel aus der Hemdtasche und reichte ihn Bock.

»Was ist das?«

Chico lachte. »Ein Bonus. Erinnern Sie sich an den großen, den sie C’est Dieu nannten? Das hab ich ihm aus dem Arschloch geschnitten.«

Bock nahm die feuchte Banknotenrolle aus der Plastiktüte und warf die Tüte aus dem Fenster. Er rollte das Geld auseinander und zählte es. »Ein Zehner und dreißig Einer. Vierzig Dollar. Hast du die anderen auch aufgeschnitten?«

»Brauchte ich nicht. Ich hab sie aufmerksam beobachtet, und keiner hat den alten C’est Dieu je aus den Augen gelassen. Daher wußte ich, daß er es für alle aufbewahrte.«

Bock faltete die Scheine zusammen und schob sie in seine Gesäßtasche. »Da in der Tüte sind noch zwei Mortadella-Sandwiches, wenn du willst.«

»Haitianer im Sumpf versenken ist harte Arbeit, Mr. Bock. Ich dachte, wir fahren nach Immokalee und essen was Anständiges in der Cafeteria.« Chico fuhr langsamer, riß sich das Hemd herunter und warf es aus dem Fenster.

»Warum nicht? Aber ohne Hemd kannst du nicht in die Cafeteria.«

»Ich kaufe mir ein T-Shirt im Gemischtwarenladen. Kein Problem.«

Als Chico die Zufahrtsstraße erreichte, überwand er den Höhenunterschied mühelos im ersten Gang. Die Straße führte zwei Meilen weit nach Westen, bevor sie auf den State Highway stieß. Chico bog nach Norden ab und fuhr nach Immokalee.

2

Commander Bill Henderson, leitender Beamter im Morddezernat des Miami Police Department, betrat Sergeant Hoke Moseleys Bürozelle, nahm den Miami Herald von dem Stuhl vor dem Schreibtisch, warf ihn in Richtung des überquellenden Papierkorbes und ließ sich schwerfällig nieder. Er warf einen Blick auf das Blatt an seinem Clipboard und seufzte.

»Ich mache hier ’ne kleine informelle Umfrage, Hoke.«

»Im Moment bin ich beschäftigt, Bill. Ich glaube, ich habe jetzt endlich eine erfolgversprechende Spur in der Mordsache Dr. Paul Russell.«

Hokes chaotischer Schreibtisch war übersät von einem halben Dutzend Doppelbögen Schreibmaschinenpapier, Supplementärberichten und einer roten Ziehharmonika-Akte. Hoke war dabei gewesen, mit Lineal und Kugelschreiber Diagramme auf das Hartpostpapier zu zeichnen.

»Es ist eine wichtige Umfrage.«

»Wichtiger als die Aufklärung eines kalten Mordfalls?«

Bill zog die Lippen zurück und entblößte große, goldüberkronte Zähne, die mit Silberdraht umwickelt waren. »Kommt darauf an, ob du rauchst oder nicht. Hast du dir’s schon abgewöhnt?«

»Das nicht gerade, aber ich bin auf ungefähr zehn Stück pro Tag runter. Ich hab versucht, es ganz zu lassen, aber das längste, was ich geschafft habe, waren sechs Stunden. Jetzt habe ich eine Zeiteinteilung: Alle vier Stunden rauche ich eine Kool und abends vielleicht noch ein paar extra, beim Fernsehen. Wenn ich es bei zehn Stück am Tag halten kann, dann ist es fast wie Nichtrauchen.«

Bill schüttelte den Kopf. »Ich hab mich auf Zigarren verlegt, aber ich rauche immer noch auf Lunge, deshalb werde ich wahrscheinlich wieder auf Zigaretten umsteigen müssen. Nach fünf Zigarren ist meine Kehle wund wie ein Reibeisen, und morgens huste ich allen möglichen Dreck aus.«

»Ist die Umfrage damit zu Ende?« Hoke nahm einen Telectron-Garagenöffner, so groß wie eine Kingsize-Packung Zigaretten, und schob ihn zu Bill Henderson hinüber. »Weißt du, was das ist?«

»Nein, weiß ich nicht, und nein, ich bin noch nicht fertig. Es ist wirklich wichtig. Ich war heute morgen beim neuen Chief in der Wochenbesprechung, und er hat einen schrecklichen Plan. Er will, daß das Rauchen im Revier total eingestellt wird. Er hat vor, einen Raucherbezirk auf dem Parkplatz einzurichten, und jedesmal wenn du rauchen willst, mußt du abstempeln und auf den Parkplatz gehen. Wenn du geraucht hast, stempelst du wieder ein und kehrst an deinen Schreibtisch oder sonstwohin zurück. Viele hier haben nämlich schon aufgehört mit dem Rauchen, weißt du, und jetzt beschweren sie sich beim neuen Chief, daß der Qualm von den starken Rauchern in ihren Arbeitsbereich dringt.«

»Was ist mit dem Klo?«

»Rauchen im Gebäude verboten. Punkt. Das schließt Vernehmungsräume und Untersuchungszellen mit ein. Alles bis auf den Parkplatz.«

»Das wird nicht hinhauen, Bill. Lieutenant Ramirez im Raubdezernat, der raucht mindestens drei Schachteln am Tag. Der kann seinen verdammten Schreibtisch gleich auf den Parkplatz stellen.«

»Wir haben versucht, das dem neuen Chief zu sagen. Aber er meint, wenn er es den Rauchern schwermacht, dann rauchen sie entweder radikal weniger oder sie hören auf.«

»Raucht der neue Chief eigentlich? Ich hab’s nie bemerkt.«

»Kautabak. Er nimmt ›Copenhagen‹. Meistens hat er ’ne Ladung davon unter der Lippe, aber er spuckt nicht. Er schluckt die Spucke runter.«

»Typisch. Die Vorschrift braucht ihn also nicht zu kümmern, und wie es uns anderen geht, ist dem Kerl scheißegal. Aber ich glaube nicht, daß sich eine solche Schwachsinnsvorschrift durchsetzen läßt. Die Jungs werden heimlich auf dem Klo rauchen, vielleicht sogar am Schreibtisch.«

»Nicht, wenn damit eine Fünfundzwanzig-Dollar-Strafe verbunden ist. Dann nicht mehr.«

»Jesus.« Hoke nahm eine Kool aus der Packung und zündete sie mit seinem Wegwerffeuerzeug an. Er nahm einen Zug und drückte sie dann im Aschenbecher aus. »Die hab ich mir jetzt angesteckt, ohne nachzudenken; dabei hab ich noch über eine Stunde.« Er schob die ausgedrückte Zigarette in die Packung zurück.

»Deshalb mache ich diese Umfrage, Hoke. Wenn eine große Mehrheit sich beschwert, wird er die Vorschrift wahrscheinlich nicht in Kraft setzen. Ich schreibe also hin, daß du dagegen bist, okay?«

»Okay. Und jetzt zu diesem kleinen Spielzeug hier –«

»Ein andermal. Ich muß noch zu ein paar Leuten, bevor ihre Schicht zu Ende ist.« Henderson erhob sich. »Ach, noch was hätte ich fast vergessen, dir zu sagen.« Henderson schnippte mit den Fingern und drehte sich in der Tür um. Mit seinen eins dreiundneunzig und hundertzehn Kilo füllte er den Türrahmen fast aus. »Major Brownley sagt, du sollst dir einen Bart wachsen lassen; er ruft dich Sonntag abend zu Hause an und vereinbart einen Termin mit dir.«

»Wir haben erst Donnerstag, und morgen muß ich noch arbeiten. Meint er, ich soll mir jetzt gleich einen Bart stehen lassen, oder kann ich mich morgen noch mal rasieren?«

»Er hat nur gesagt, was ich dir gerade ausgerichtet habe. Vermutlich meint er also, du sollst ihn von jetzt an so lange wachsen lassen, bis er dir sagt, du kannst dich wieder rasieren.«

»Hat er gesagt, wieso? Vielleicht sollte ich doch erst mal mit ihm reden.«

»Du kannst nicht mit ihm reden. Er ist unten auf den Keys und kommt erst Sonntag abend zurück. Er ruft dich dann zu Hause an und erklärt’s dir – auch das mit der Besprechung.«

»Was für ’ne Besprechung?«

»Hat er nicht gesagt. Er hat Besuch – ein alter Kumpel aus der Studentenverbindung, mit dem er in Tallahassee zur A & M gegangen ist; sie sind zusammen auf die Keys gefahren, zum Fischen. Bei Big Pine, glaube ich.«

»Ich hab mir noch nie einen Bart wachsen lassen, Bill. Schon wenn ich mich einen oder zwei Tage nicht rasiere, juckt mir der Hals. Hat er nicht wenigstens angedeutet –«

»Ich bin nur der leitende Officer. Major Brownley ist der Chef des Dezernats, und er zieht mich nicht bei jeder Kleinigkeit ins Vertrauen. Ich gebe nur weiter, was er mir am Telefon gesagt hat. Er ist heute nicht gekommen; deshalb war ich ja an seiner Stelle in der Besprechung beim neuen Chief. Wenn es wichtig wäre, daß ich informiert bin, hätte er mir den Grund schon gesagt. Mach dir keine Sorgen.«

»Warum sollte ich mir keine Sorgen machen? Wärst du nicht beunruhigt, wenn Willie dir den Befehl gäbe, dir einen Bart wachsen zu lassen?«

»Ich würde gern bleiben und das mit dir besprechen, obwohl es eine fruchtlose Debatte wäre. Ich sage ›fruchtlos‹, weil alles, was wir darüber sagen könnten, müßige Spekulation auf der Grundlage unzureichender Informationen wäre. Aber ich habe den Verdacht, daß Willie Brownley solchen Scheiß hin und wieder nur deshalb abzieht, um uns zu verunsichern. Mein Sohn Jimmy ist genauso. Erst gestern hat er mich gefragt, ob er sich einen Schnurrbart wachsen lassen darf.«

»Jimmy ist erst zwölf Jahre alt.«

»Elf. Aber ich hab’s ihm trotzdem erlaubt. Ich schätze, es wird noch sechs Jahre dauern, bis er so weit gewachsen ist, daß man was sieht. Aber er hat sich gefreut wie ein Schneekönig, als ich ihm sagte, er darf.«

»Zumindest hat Jimmy um Erlaubnis gebeten. Sue Ellen hat sich die Haare krausen lassen und am Scheitel leuchtendblau gefärbt. Sie hat kein Wort gesagt. Sie hat’s einfach gemacht.«

»Aber sie ist siebzehn. Wenn Jimmy siebzehn wäre, würde er sich auch einen Schnurrbart wachsen lassen, ohne mich zu fragen.«

»Sie sieht furchtbar aus. Sie sieht aus wie die Sorte Mädchen, die sich mit Jungs rumtreiben, die die Schule geschmissen haben.«

»Wenn sie immer noch in der Autowaschanlage arbeitet, wird sie kaum andere Jungs kennenlernen. Das soll keine Kritik sein – sie hat wenigstens einen Job. Aber wahrscheinlich ist sie das einzige weiße Mädchen in ganz Miami, das einen Full-time-Job in der Waschanlage hat.«

»Ich weiß. Sie hat sich schon ein paar schwarze Ausdrücke angewöhnt. Ich habe sie aber davon abgebracht, sie zu Hause zu benutzen.«

Henderson verschwand. Hoke schob seine Arbeitsblätter zusammen und legte sie in die Dr.-Russell-Akte mit dem roten Reiter. Dann schloß er die Akte zusammen mit den Supplementärberichten in die eine der beiden Schubladen seines Aktenschranks. Er zog seine blaue Popeline-Freizeitjacke an und steckte den Garagentüröffner in die linke, ledergefütterte Außentasche, bevor er sein Kämmerchen im dritten Stock des Reviers verließ. Hoke trug immer ein paar lose Leuchtspurgeschosse vom Kaliber .38 in der Außentasche seiner Jacke, die er deshalb mit Handschuhleder hatte füttern lassen.

Hoke fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Garage und stieg die Ausfahrt zum Parkplatz hinauf. Im Tor blieb er stehen; er atmete die feuchtheiße Luft ein und fragte sich, wo der neue Chief auf diesem Parkplatz eine Raucherecke einrichten wollte. Auf dem eingezäunten Platz würde es höllisch eng werden, wenn hier die dreihundert Cops jeder Schicht kamen und gingen, um zu rauchen. Natürlich rauchten sie nicht alle. Aber schon hundertfünfzig Cops, die das Gebäude verließen oder zurückkamen, würden sich im Aufzug und im Treppenhaus drängen. Jeder Cop, der rauchte, würde ungefähr zwanzig Minuten für hin und zurück und eine Zigarette brauchen, und wenn für jede Zigarette unbezahlter Urlaub genommen werden mußte, konnten schon sechs Zigaretten pro Tag den Raucher das Gehalt von zwei Stunden kosten. Das bedeutete, daß manch einer heimlich rauchen und dann fünfundzwanzig Dollar zahlen würde, wenn man ihn erwischte. Diese zusätzlichen Einnahmen für das Department würden wahrscheinlich dazu führen, daß der neue Chief zum erstenmal in der Geschichte der Stadt mit seinem Jahresetat auskäme.

Hoke stieg in seinen ramponierten 73er Pontiac Le Mans und zündete sich für die Heimfahrt nach Green Lakes eine Zigarette an. Wenn die Vorschrift trotz des Widerspruchs durchkäme, standen die Chancen nicht schlecht, daß sie innerhalb von drei Tagen wieder aufgehoben würde. Morgen würde er sich mit Bill Henderson zusammensetzen; sie würden eine Bürowette organisieren, wie lange die Vorschrift Bestand haben würde. Hoke beschloß, wenn sie den Wettplan aufgestellt hätten, auf die Drei zu setzen, bevor sie die anderen Plätze im Büro verkauften. Das wäre geschenktes Geld. Eine so blödsinnige Vorschrift konnte unmöglich länger als drei Tage überleben …

Der Unterbezirk Green Lakes in North West Miami, wo Hoke wohnte, grenzte an Hialeah, die zweitgrößte Stadt von Dade County, aber noch immer war er im wesentlichen eine Enklave für WASPs, für Rednecks und für gutverdienende Arbeiter, die größtenteils am Miami International Airport beschäftigt waren. Es gab ein paar kubanische Familien in diesem Unterbezirk, aber nicht viele, und ein ganzer Block war jetzt von pakistanischen Immigranten bewohnt. Die Häuser waren verputzte Fertighäuser; sie hatten drei Schlaf- und ein Badezimmer und waren in den fünfziger Jahren erbaut worden. Der Verband der Hauseigentümer hatte verhindert, daß weitere Häuser von Pakistani-Familien gekauft wurden, indem er eine Vorschrift erlassen hatte, die die zulässige Bewohnerzahl eines Hauses auf sechs Personen beschränkte – es sei denn, man baute ein zweites Badezimmer an. Die Kanalisation, ebenfalls Mitte der fünfziger Jahre angelegt, galt als unzureichend für weitere Bäder, und so wurden Baugenehmigungen für Zusatzbadezimmer nicht erteilt. Diese Vorschrift stoppte den Zugang weiterer Pakistani-Familien, die aus zwölf und mehr – manchmal bis zu fünfundzwanzig – Personen bestanden, und große Latino-Familien waren damit ebenfalls ausgeschlossen. Natürlich gab es eine Großvaterklausel, so daß ursprüngliche WASP-Hausbesitzer, die alle mehrere Kinder hatten, von dieser neuen Vorschrift nicht betroffen wurden.

Die meisten Häuser, jedoch nicht alle, grenzten hinten an eine Reihe kleiner, viereckiger Seen – ehemalige Steinbrüche und Kiesgruben –, die aussahen, als wären sie mit grüner Milch gefüllt. Die Häuser waren alle nach dem gleichen Plan erbaut, aber viele der Besitzer hatten im Laufe der Jahre Garagen, Carports, Florida-Rooms und kurze Anlegestege für kleine Boote errichtet. Es gab ein paar Swimmingpools, aber nicht viele, und sogar einige Pavillons. Da mehrere Leute ertrunken waren, hatte man das Baden in den Seen untersagt. Es wurde allerdings kaum darauf geachtet, daß dieses Verbot auch befolgt wurde, und manchmal, spätabends, badeten ein paar Wagemutige nackt in den Seen. Die hohen Kiefern von Dade County umsäumten die Seen, und die Bewohner hatten ihre Gärten mit Orangen-, Grapefruit- und Mangobäumen bepflanzt, mit Hecken aus Barbadoskirsche und immergrünen Crotonen sowie mit Palmen verschiedener Art, daruntert auch einige stattliche Königspalmen. Früher hatten noch von den alten Baufirmen angepflanzte Kokospalmen die verschlungenen Straßen gesäumt, aber als die Bäume gegen Ende der siebziger Jahre von einer tödlichen Blattkrankheit befallen worden waren, hatte die Stadtverwaltung sie alle fällen lassen. Trotzdem war dieser Unterbezirk eine grüne Oase inmitten einer hoch verdichteten Stadt, und Green Lakes mit seinem eigenen Shopping Center der Klasse B galt als bevorzugte Wohngegend für weiße Amerikaner. Ein mit großem Eifer betriebenes Vorbeugeprogramm gegen Kriminalität war im Gange, und alle fünfzig Meter sorgten Schwellen in den gewundenen Straßen für die Einhaltung des 15-Meilen-Limits. Wer die Geschwindigkeitsbegrenzung und die hohen, abgerundeten Schwellen ignorierte, brauchte bald neue Stoßdämpfer für sein Auto.

Hoke hatte (obwohl sein Wagen mit einer Klimaanlage ausgestattet war) die Fenster heruntergedreht; er hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und ließ das Auto schräg über die Straßenschwellen gleiten. Er versuchte, mit seinem Türöffner im Vorbeifahren geschlossene Garagentore zu öffnen. Nicht jede Garage hatte einen elektrischen Türöffner, aber doch viele, das wußte er; und er wollte wissen, ob die Fernbedienung des toten Dr. Russell bei einem davon funktionierte. Er versuchte es bei mindestens einem Dutzend verschiedener Garagen, bevor er in seine eigene Zufahrt einbog, aber keine davon ging auf. Anscheinend arbeitete jeder Türöffner mit seiner eigenen Frequenz.

Hokes Haus hatte einen überdachten Carport, aber keine Garage. Ellitas Honda Civic stand darin, und Sue Ellens Yamaha-Motorrad war mit Kette und Vorhängeschloß an dem linken der stählernen Dachpfeiler befestigt. Hoke parkte hinter dem Civic und ging ins Haus.

Pepe, Ellitas einjähriges Baby, weinte und kreischte, als Hoke zur Haustür hereinkam. Hokes Töchter, die siebzehnjährige Sue Ellen und die fünfzehnjährige Aileen, deckten im Eßzimmer den Tisch.

»Was ist mit Pepe los?«

»Er muß gewickelt werden«, sagte Aileen.

»Und warum wickelt ihr ihn dann nicht?«

»Wir decken gerade den Tisch, und Ellita ist in der Küche.«

Hoke hob Pepe aus seinem Bettchen im Wohnzimmer und trug das kreischende, zappelnde Kind ins Bad. Er nahm ihm die schmutzige Pamper ab und warf sie in den schwarzen Plastikmüllsack, der für diesen Zweck im Badezimmer stand. Der Müllsack war halb voll mit schmutzigen Pampers, und der üble Geruch durchdrang das kleine Bad. Hoke drehte das Wasser in der Dusche an und regelte die Temperatur mit einer Hand, bis es warm war. Dann hielt er den Jungen mit einer Hand bei den Handgelenken und duschte ihn ab. Er trocknete Pepe mit Ellitas Gesichtshandtuch ab, verteilte Johnson’s Babypuder auf dem Hintern des Jungen und legte ihm eine neue Pamper an.

Pepe hatte aufgehört zu weinen, und Hoke legte ihn wieder in sein Gitterbettchen im Wohnzimmer.

Er ging den Flur hinunter in sein eigenes kleines Schlafzimmer und zog den Freizeitanzug aus und Khakishorts und ein altes graues Turnhemd mit abgeschnittenen Ärmeln an. Er legte sich auf sein Feldbett und betrachtete die rissige Decke; den Garagentüröffner hielt er in der rechten Hand. Das Gerät war simpel. Es arbeitete mit Radiowellen oder so, und jeder Tormechanismus war geringfügig anders eingestellt. Man drückte auf den Knopf, hielt die Fernbedienung durch das geschlossene Garagentor hindurch auf die Funksteuerung unter der Decke, und das Tor öffnete sich. Wenn man es weiter darauf gerichtet hielt und noch einmal auf den Knopf drückte, obwohl man nicht mal nahe an das Kästchen unter der Garagendecke herankommen mußte, schloß sich das Tor wieder. In der Garage gab es auch einen Knopf, meistens neben der Tür, die zur Küche führte, und wenn man darauf drückte, öffnete sich das Tor ebenfalls. Wenn das Tor geschlossen war, ließ es sich von außen nicht mit der Hand öffnen, wohl aber von innen. Ein solcher Türöffner war eigentlich nicht dazu gedacht, bei einem Mord behilflich zu sein – aber er war es dennoch gewesen. Das glaubte Hoke felsenfest.

Aber er war sich nicht sicher; er hatte nur diese Ahnung, und das bedeutete, daß er wieder nervös wurde und sich zu sehr unter Druck setzte. Als er, noch zusammen mit Bill Henderson und Ellita Sanchez, den Auftrag bekommen hatte, die »kalten Fälle« aufzuarbeiten, hatten sie Glück gehabt und innerhalb der ersten zehn Tage drei Fälle gelöst, die schon drei Jahre alt gewesen waren. Dann war Henderson zum Commander befördert worden, und Hoke und Ellita hatten allein weitergearbeitet. Er hatte sich abgehetzt, sich überanstrengt und zu viele Stunden gearbeitet, und schließlich war er einem Zusammenbruch nahe gewesen. Ein Monat unbezahlter Urlaub hatte ihm genug Distanz verschafft, um zu begreifen, daß es nur ein Beruf war, keine Berufung. Nachdem Ellita angeschossen und mit einer Erwerbsunfähigkeitsrente vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, hatte Hoke allein gearbeitet, bis man ihm Gonzalez zuteilte, einen jungen Ermittler, der zu unerfahren war, um eine große Hilfe zu sein. Seit seiner Rückkehr aus dem Urlaub hatte er keinen weiteren kalten Fall auch nur einer Lösung näher gebracht, und angesichts der Knappheit an Detectives im Morddezernat konnte Major Brownley ihn nicht mehr viel länger daran arbeiten lassen. Er wurde im regulären Dienst gebraucht und Gonzalez auch; aber es wäre doch ein befriedigendes Gefühl gewesen, wenigstens noch einen der Fälle aufzuklären, ehe er in den normalen Dienst zurückkehrte.

Hoke schüttelte den Kopf. Es lohnte sich nicht, sich in irgend etwas zu verrennen, zumal wenn es um einen Fall ging, der so eiskalt war wie der Russell-Mord. Wenn er ihn aufklärte, schön; wenn nicht, wen interessierte es in hundert Jahren? Hoke klickte ein paarmal mit dem Turöffner, ohne in eine bestimmte Richtung zu zielen. Dann rief Ellita ihm zu, daß das Essen fertig sei. Er warf die Fernbedienung auf die Kommode und tappte barfuß den Flur hinunter zum Eßzimmer.

3

Hoke teilte sich ein gemietetes Haus mit Ellita Sanchez, ihrem kleinen Sohn Pepe und seinen beiden Teenager-Töchtern aus seiner gescheiterten Ehe.

Patsy, Hokes Exfrau, hatte die beiden Mädchen nach der Scheidung zehn Jahre lang bei sich gehabt. Dann hatte sie Curly Peterson geheiratet, einen schwarzen Baseballspieler, der Ersatzschlagmann bei den Dodgers war, und war mit ihm nach Los Angeles gezogen. Vor ihrer Abreise aus Vero Beach, Florida (wo sie Peterson während des Frühjahrstrainings kennengelernt hatte), hatte sie Sue Ellen und Aileen in einen Greyhound-Bus gesetzt und nach Miami zu Hoke geschickt. Hoke hatte von den Mädchen seit zehn Jahren nichts mehr gesehen und gehört; damals waren sie sechs und vier Jahre alt gewesen. Da er keine Möglichkeit gesehen hatte, sich der Verantwortung für sie zu entziehen, hatte er sie natürlich aufgenommen. Ellita trug die Kosten für das Haus mit; sie war zu ihm gezogen, weil ihr Vater sie aus dem Haus geworfen hatte, als sie schwanger wurde. Hoke war nicht der Vater von Pepe Sanchez – diese Ehre gebührte einem jungen Mann, den Ellita in Coconut Grove aufgegabelt und mit dem sie eine einzige Nacht verbracht hatte –, aber Ellitas Eltern hatten den starken Verdacht, er sei der Vater, weil Ellita zu ihm und seinen beiden Töchtern gezogen war. Dann war Ellita eines Abends von einem flüchtenden Gangster nach einem Überfall in die Schulter geschossen worden. Die Verwundung hatte zu einer zwanzigprozentigen Behinderung ihres rechten Armes geführt, und jetzt blieb sie den ganzen Tag über bei Pepe zu Hause. Wegen der Rehabilitationsgymnastik, die sie machen mußte, um Arm und Körper wieder in Form zu bringen, sah sie jetzt besser aus als vor ihrer Verwundung. Sie hatte auf vierundfünfzig Kilo abgespeckt, ihr hübsches Gesicht war schmaler geworden, und obwohl sie dreiunddreißig war, hätte sie leicht für neunundzwanzig durchgehen können.

Sue Ellen und Aileen halfen Ellita mit dem Baby, so daß sie reichlich Zeit hatte, täglich einkaufen zu gehen und jeden Donnerstag den Schönheitssalon aufzusuchen. Da sie mit Hoke und seinen Töchtern zusammenlebte, statt sich weiter von ihrem Vater tyrannisieren zu lassen, hatte sie unbegrenzte Freiheit und brauchte ihrem Vater nicht mehr ihr halbes Gehalt auszuhändigen. Ihre Invalidenrente war mehr als hinreichend, um damit ihren Teil der Kosten zu bestreiten, und sie hatte vor, bei Pepe zu Hause zu bleiben und den Haushalt zu führen, bis er in die Schule kam, und sich dann eine Teilzeitarbeit zu suchen.

Die Mädchen beteten das Baby an, und sie waren stets bereit, als Babysitter einzuspringen, wenn Ellita mit einer ihrer alten Freundinnen mittags oder abends zum Essen gehen oder in St. Catherine’s in Hialeah die Messe besuchen wollte. Nachdem das Baby zur Welt gekommen war, hatte Ellitas Vater ihr vergeben und sie gebeten, wieder nach Hause zu kommen, aber Ellita hatte sich geweigert. Sie hatte nicht die Absicht, mit dreiunddreißig Jahren ihre Freiheit wieder aufzugeben. Ellitas Mutter, die in Little Havana Avon-Produkte verkaufte, besuchte sie häufig zu Hause, und Ellita fuhr gelegentlich mit Pepe zu ihren Eltern (Señor Sanchez, ein Wachmann, setzte keinen Fuß in Hokes Haus), damit er seinen Großvater sehen konnte.

Hoke tat nicht einmal der Form halber so, als wäre er der Vorstand dieses kleinen Haushalts. Seine Verantwortung als Vater der Mädchen akzeptierte er; er würde sie ernähren, kleiden und ihnen ein Dach über dem Kopf geben, bis sie volljährig wurden (oder bis sie heirateten); aber sie durften weitgehend tun, was sie wollten, solange sie damit niemandem im Haus zur Last fielen. Sue Ellen hatte die Schule abgebrochen und arbeitete ganztags im Green Lakes Car Wash, und sie durfte ihren ganzen Wochenlohn und die Trinkgelder behalten. Hoke hielt sie dazu an, sich jetzt, da sie über ein festes Einkommen verfügte, ihre Kleidung selbst zu kaufen, und solange sie die Sachen selbst bezahlte, fand Hoke nicht, daß er ihr vorschreiben könne, was sie zu tragen habe. Sie hatte sich ohne seine Erlaubnis auf Raten ein Motorrad gekauft, und darüber war er nicht glücklich; aber er hatte ihr das Fahren beigebracht, und er bestand darauf, daß sie Helm und Lederhose und -jacke trug, wann immer sie sich auf die Maschine setzte. Wenn sie bei einem Unfall über den Asphalt rutschte, erklärte er (und die Chancen standen sechzig zu vierzig für einen Unfall), würde die Lederkleidung verhindern, daß sie sich Haut und Fleisch bis auf die Knochen abschürfte.

Sue Ellen und Aileen waren vernünftige Mädchen, und so trug Sue Ellen ihren Helm und die Lederkombination auf der Yamaha selbst dann, wenn die feuchte Hitze in Miami auf über dreißig Grad anstieg. Hoke war Motorrad gefahren, als er noch bei der Verkehrspolizei gewesen war, und er wußte, wie gefährlich es sein konnte. Er hatte sie auf die Gefahren hingewiesen, aber damit war die Sache für ihn erledigt. Als Motorrad-Cop war er ein paarmal knapp davongekommen, und die Tatsache, daß er unter keinen Umständen mit Sue Ellens Motorrad fahren wollte, hatte dazu beigetragen, daß sie seine Warnungen ernst nahm – aber nicht ernst genug, um das Motorrad aufzugeben. Das Motorrad, beharrte sie, verlieh ihr einen gewissen Status im Car Wash, und sie hatte einen kleinen Vorteil nötig, wenn sie von den schwarzen und kubanischen männlichen Teenagern, mit denen sie täglich zusammenarbeitete, nicht untergebuttert werden wollte.

Aileen hatte ordentlich zugenommen, nachdem sie von ihrer Bulimie genesen war, aber mit vierzehn war sie so dünn gewesen, daß Ellita ihr den Spitznamen La Flaca (»Die Dürre«) gegeben hatte. Bei Tisch aß sie jetzt alles, was sie kriegen konnte, und sie naschte auch zwischen den Mahlzeiten. Sie hatte sich inzwischen damit abgefunden, eine Frau zu sein, und ihr lockiges kastanienbraunes Haar fiel in weichen Wellen bis auf die Schultern. Ihre spitzen Brüste waren angeschwollen, und weil sie keinen BH trug, wippten sie beim Tischdecken unter ihrem T-Shirt. Aileens Zähne waren ein bißchen krumm, und sie hatte einen deutlichen Überbiß; aber ihr fülliger Mund verlieh ihr ein breites, weißes Lächeln.

Sue Ellen, die in gleißender Sonne tagaus, tagein nasse Autos trockenrieb, hatte eine tiefe, goldbraune Hautfarbe und war fast so dunkel wie Ellita. Ihr kurzes krauses Haar hatte sie bis auf zwei Zentimeter abgeschnitten und am Scheitel leuchtendblau gefärbt, um das heißbegehrte Punk-Aussehen zu bekommen; aber sie war trotzdem attraktiv. Sie trug zwei Paar Plastikohrringe und erwog, sich die Ohrläppchen für ein drittes Paar durchbohren zu lassen. Zu Hause trugen beide Mädchen Shorts und T-Shirts und gingen meist auch barfuß im Haus umher. Ellita trug, wenn sie nicht ausging, fast immer Jeans, Schuhe mit vernünftigen Absätzen und langärmelige Blusen. Sie fand, ihre Oberschenkel seien viel zu dick für Shorts, aber die Hitze von Miami machte ihr auch nicht soviel aus wie Hoke und seinen Töchtern.

Es war eine Gewohnheit – keine Vorschrift –, daß alle ihr möglichstes taten, um jeden Abend zu Hause zu essen; es war die einzige Tageszeit, zu der sie alle wie eine Familie zusammen waren. Hoke als Detective im Morddezernat, der manchmal zu merkwürdigen Zeiten arbeiten mußte, konnte natürlich nicht immer rechtzeitig zum Abendessen daheim sein, aber dann rief er an, und Ellita sorgte stets dafür, daß ein warmes Essen für ihn bereitstand, wenn er nach Hause kam. In der übrigen Zeit gingen die Familienmitglieder ihrer Wege; sie standen zu verschiedenen Zeiten auf und bereiteten sich, abgesehen vom Abendessen, ihre Mahlzeiten selbst.

Hoke kümmerte sich um die Finanzen, die Miete und die Strom- und Wasserrechnungen; Ellita kaufte alles, was im Haushalt benötigt wurde: Lebensmittel, Putzsachen, und sie bezahlte gelegentliche Klempnerarbeiten, die von einem Fachmann durchgeführt werden mußten. Am Ende jedes Monats setzten Hoke und Ellita sich zusammen und rechneten aus, wieviel der eine dem anderen schuldete, und dann zahlten sie ihre Rechnungen.

Hoke aß und schlief viel besser als zu der Zeit, da er allein und ungebunden gelebt hatte, und er verbrachte auch mehr Zeit vor dem Fernseher als damals, als er als Single in einem Hotelzimmer gehaust hatte. Obwohl sie Pepe zu versorgen hatte, gelang es Ellita, das Haus ordentlich und sauber zu halten, und jeden Abend kochte sie enorme Mahlzeiten.

Der Hauptnachteil des Lebens in der Familie (wenn die Mädchen mit ihrer Stereoanlage zuviel Lärm machten, konnte Hoke sich jederzeit in sein kleines Schlafzimmer zurückziehen und die Tür zumachen) bestand darin, daß er nicht gut eine Frau über Nacht mit nach Hause bringen konnte. Er wußte, daß Ellita nichts dagegen haben würde, aber er mußte seinen Töchtern ein Vorbild sein; er befürchtete, wenn er eine Frau mit nach Hause brächte, könnten sie auf die Idee kommen, sich über Nacht Jungs mit aufs Zimmer zu nehmen. Infolgedessen mußte Hoke, wenn er eine seiner raren Eroberungen machte, was in immer größeren Abständen vorkam, mit der Frau in ein Hotel oder ein Motel fahren. Hotelzimmer in Miami sind teuer, selbst außerhalb der Saison, und gelegentlich hatte er eine vielversprechende Sache aufgegeben, wenn er begriffen hatte, daß er mindestens siebenundsiebzig Dollar plus Steuer für ein Zimmer würde berappen müssen. Hoke war dreiundvierzig, und man sah ihm jeden einzelnen Tag an. Die Frauen, die ihn anziehend fanden, Geschiedene und Witwen, denen er in Bars begegnete, waren ihm in den meisten Fällen soviel Geld nicht wert. Unglücklicherweise waren die geschiedenen oder verwitweten Frauen, die ein Interesse daran hatten, mit Hoke zu schlafen, selber Ende Dreißig oder älter, und in den meisten Fällen hatten sie selbst Kinder im Teenageralter, was ihnen die Benutzung ihrer Häuser oder Apartments ebenso verwehrte. Es war mehr als vier Jahre her, daß Hoke mit einer Frau ohne Schwangerschaftsnarben geschlafen hatte; aber Schwangerschaftsnarben störten ihn nicht, solange die Frauen sich nicht über seinen Bauch beschwerten.

Ein paar Monate lang hatte Hoke eine Affäre mit einer verheirateten Frau aus Ocala gehabt, die einmal im Monat zum Einkaufen nach Miami flog. Sie hatten sich ein Zimmer im Miami Airport Hotel genommen, wo die Tagespreise akzeptabel waren, und hatten dort den Nachmittag verbracht. Dann war sie wieder nach Ocala zurückgeflogen. Ein paar Tage bevor sie herkam, rief sie Hoke an und sagte ihm, was sie einkaufen wollte, und er kaufte die Sachen und hatte sie im Hotelzimmer bereit, wenn sie ankam. Sie bezahlte ihm die Pakete natürlich, und sie verbrachten den Nachmittag im Bett. Hoke bezahlte das Zimmer. Einmal im Monat war besser als nichts, aber Hoke paßte die Einkauferei nicht (weil sie seine Freizeit verkürzte), und nach dem vierten Monatstreff war ihnen mehr oder weniger der Gesprächsstoff ausgegangen. Sie hatte Hoke seit ein paar Wochen nicht mehr angerufen, und ihm schwante, daß sie jemand anderen gefunden hatte, der in Miami für sie einkaufen ging. Wenn er daran dachte – was er tat, wenn er geil wurde –, stellte er fest, es war ihm ganz recht, daß sie nicht mehr angerufen hatte, und es würde ihm eigentlich nichts ausmachen, wenn er nie wieder etwas von ihr hörte.

Jetzt, da Hoke wieder eine Familie hatte, genoß er alle Vorteile eines Familienvaters (mit Ausnahme des regelmäßigen Sexuallebens), während es nur wenige Nachteile gab, wenn überhaupt. Ellita respektierte ihn, und mit seinen Töchtern kam er gut aus. Seine Kleidung war immer sauber; Ellita wusch für ihn und räumte seine Sachen ein, und samstags morgens polierte Aileen seine hohen schwarzen Polizistenschuhe mit den Doppelsohlen. Er war einer von einem Dutzend Männern in Miami, die noch Schuhe mit Schnürsenkeln trugen; er mochte flach geschnittene Slipper nicht. Ellita war eine wundervolle Köchin, und im Verlauf des letzten Jahres hatte Hoke die zwanzig Pfund wieder zugelegt, die er sich mit einer Diät abgehungert hatte; jetzt wog er wieder fünfundneunzig Kilo, wie vor seiner Diät. Das waren mindestens elf Kilo zuviel für einen Mann von eins achtundsiebzig. Hokes Taillenumfang war von achtunddreißig auf zweiundvierzig angeschwollen, und er war gezwungen gewesen, sich in einem Bekleidungsgeschäft im Billigviertel von Miami zwei neue Popeline-Freizeitanzüge zu kaufen, weil seine alten Hosen nicht weiter ausgelassen werden konnten. Jeden Tag schwor er sich, er werde sich mit dem Essen einschränken, aber es gelang ihm nur selten. Nicht weniger schwierig fand er es, sich abends mit zwei Dosen Old Style zu begnügen, wenn der Kühlschrank stets mit mindestens einem Dutzend Dosen seines Lieblingsbiers gefüllt war.

Beruflich ging es Hoke ebenfalls gut. Er hatte den Dauerauftrag, sich als verantwortlicher Sergeant um die kalten Fälle zu kümmern, was ihm nahezu unbegrenzt Zeit ließ, sich mit alten, beinahe hoffnungslosen und ungeklärten Mordfällen zu beschäftigen. Er hatte die Lieutenant-Prüfung bestanden und war die Nummer eins auf der WASP-Liste. Daß er die WASP-Beförderungsliste anführte, bedeutete, daß er in der Prüfung besser abgeschnitten hatte als jeder andere im Department, aber es bedeutete nicht, daß er der nächste Sergeant war, der zum Lieutenant befördert werden würde. Wegen des Integrationsprogramms standen drei Latinos und zwei Schwarze auf den Beförderungslisten vor ihm (alle mit viel schlechteren Ergebnissen als Hoke); falls das Department aber je wieder dazu kam, einen Weißen zum Lieutenant zu machen, würde Hoke diese Beförderung bekommen. Bis zu seiner Pensionierung waren es noch etwas mehr als fünf Jahre, und er war sicher – oder doch fast sicher –, daß er vorher noch befördert werden würde. Und falls nicht – wer hatte denn behauptet, das Leben sei fair?

Als Ellita zum Essen rief, brach Hoke seine Regel und beschloß, zum Essen ein Bier zu trinken, statt danach noch eine Stunde zu warten, und zu seiner Rechtfertigung nahm er sich vor, an diesem Abend nur noch ein zweites Bier zu trinken, und das erst um zehn Uhr, wenn die Wiederholung von Polizeirevier Hill Street im Fernsehen kam.

Zum Abendessen gab es gebratene Schweinelende, dazu gekochte Yucca, gebratene kandierte Plantainbananen, schwarze Bohnen, gekochten Rundkornreis, harte kubanische Brötchen und dazu einen Salat aus Tomatenscheiben, Avocados und Eisbergsalat mit Ellitas selbstgemachtem Thousand-Islands-Dressing. Auf dem Tisch stand eine Flasche mit stark knoblauchhaltiger Criollo-Sauce für das Schweinefleisch, eine Schüssel mit grünen und schwarzen Oliven und Butter und Guavengelee für die Brötchen. Hoke bekam eine Backkartoffel statt der Yucca (er mochte keine Yucca). Als er die Kartoffel halbiert und zermanscht hatte, löffelte er schwarze Bohnen darüber und gab einen Schuß süßen Sherry zu der Mischung. Ellita und die Mädchen nahmen sich ebenfalls reichliche Portionen, aber im Gegensatz zu Hoke bedienten sie sich kein zweites Mal. Ellita, die den Tag über hungerte, fand, daß ihr wenigstens zum Abendessen eine anständige Mahlzeit zustand; auf diese Weise gelang es ihr, ihr Gewicht einigermaßen zu halten. Hoke nahm eine zweite Portion, beließ es aber bei einer Backkartoffel.

Als sich alle bedient hatten und zu essen anfingen, berichtete Hoke von den Rauchverbotsplänen des neuen Chief.

»Henderson macht eine Umfrage im Dezernat, und es könnte eine knappe Sache werden. Viele haben schon mit dem Rauchen aufgehört, und der neue Chief könnte eine Mehrheit für sich finden. Wenn ja, muß ich immer rausgehen, wenn ich eine rauchen will.«

»Du wolltest es dir doch abgewöhnen«, sagte Ellita. »Wenn er die Vorschrift erläßt, wird es dir sehr viel leichter fallen, aufzuhören.«

»Darum geht es nicht, Ellita. Rauchen ist in diesem Land immer noch legal, und Zigaretten werden immer noch in den Läden verkauft. Wenn es legal ist, sie zu kaufen, muß es auch legal sein, sie zu rauchen. Es ist schwer, sich das Rauchen abzugewöhnen, und ich glaube nicht, daß der neue Chief eine solche Vorschrift lange wird aufrechterhalten können, ohne daß der Berufsverband einen Aufstand macht. Morgen werde ich mich mit Bill zusammensetzen und eine kleine Bürowette organisieren. Ich glaube, wenn die Vorschrift erlassen wird, hält sie sich maximal drei Tage.«

»Ich würde sagen, fünf«, sagte Ellita. »Du kannst mich auf die Fünf setzen. Was kostet ein Ticket?«

»Hab ich mir noch nicht überlegt. Fünf Dollar, oder was meinst du?«

»Das ist zuviel. Sagen wir lieber zwei Dollar pro Ticket. Ich geb dir das Geld nach dem Essen. Heb mir die Fünf auf.«

»Ich bleibe trotzdem bei drei.«

»In der Miami News stand«, sagte Sue Ellen, »daß die Army den Soldaten bereits das Rauchen in den Fahrzeugen und in sämtlichen Regierungsgebäuden verboten hat.«

»Woher hast du das?«

»Aus der Zeitung. Stand vor ein paar Wochen drin.«

»Und wieso hab ich es nicht gelesen?«

»Weiß ich nicht. Es stand jedenfalls drin.«

»Die Army wird diese Vorschrift auch nicht durchsetzen können. Wenigstens zu meiner Dienstzeit hätte sie es nicht gekonnt, und ich war Militärpolizist.«

»Als du in der Army warst«, sagte Aileen, »wußten sie noch nicht, daß Zigaretten Krebs verursachen. Im Weltkrieg wußten sie es noch nicht.«

»Ich war nicht im Weltkrieg. Ich war im Vietnamkrieg.«

»Trotzdem wußten sie es noch nicht. Damals noch nicht.«

»Sie wissen es heute noch nicht«, sagte Hoke. »Sie vermuten nur, daß Zigaretten Krebs verursachen. Einen echten Beweis gibt es nicht.«

»Das Gesundheitsministerium sagt es aber«, sagte Sue Ellen.

»Wem willst du denn glauben?« fragte Hoke. »Dem Gesundheitsministerium oder den Tabakkonzernen?«

»Dem Gesundheitsministerium«, sagten beide Mädchen wie aus einem Mund; dann kicherten sie.

Hoke grinste. »Ich auch.«

Er legte sich zwei Scheiben weißes Schweinefleisch auf den Teller, schnitt die Fettränder ab und schaute sich stirnrunzelnd auf dem Tisch um.

»Aileen«, sagte Ellita, »hol deinem Vater bitte die Tabasco-Sauce. Du hast sie nicht mitgebracht, als du den Tisch gedeckt hast.«

Aileen ging in die Küche, um den Tabasco zu holen. Ellita ließ ihr Besteck sinken und sah Sue Ellen von der Seite an. »Sue Ellen, ich möchte dich noch einmal um einen Gefallen bitten. Bitte färbe dir das Haar für Sonntag wieder normal, und am Montag helfe ich dir dann, es wieder blau zu färben. Mama möchte, daß es am Sonntag eine ganz besondere Party für Onkel Arnoldo wird, und sie sagt, es würde ihn aufregen, eine Frau mit blauen Haaren zu sehen. Tío Arnoldo ist ein sehr konservativer Mann; er würde kein Verständnis dafür haben.«

Sue Ellen schüttelte den Kopf. »Nein, Ellita. Wenn er hier leben will, dann muß er Amerika akzeptieren, wie es ist, und da könnte es ihm guttun, wenn er mal blaue Haare sieht. Miami ist nicht Kuba. Wir können hier tun, was wir wollen.«