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Er wusste alles über sie – und war bereit, sein Leben für sie zu riskieren. Doch war sie bereit, ihm zu vertrauen?
Nach dem Tod ihres Vaters steht Ivy vor der Herausforderung, ihr Leben neu zu ordnen. Als sie auf den geheimnisvolle William Cole trifft, fasziniert er sie sofort und weckt in ihr Gefühle, die sie nie zuvor gekannt hat. Doch er weiß Dinge über sie – persönliche Geheimnisse, die sie niemals zuvor jemandem anvertraut hat. Ihre Freunde sind sich sicher: Entweder ist er ein Betrüger oder ein verrückter Stalker.
Ivy muss entscheiden, wem und was sie glauben kann: den rationalen Erklärungen ihrer Freunde oder der unglaublichen Geschichte des Mannes ohne Vergangenheit?
Ein Mann, der schwört, alles zu tun, um sie zu beschützen ...
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Er wusste alles über sie – und war bereit, sein Leben für sie zu riskieren. Doch war sie bereit, ihm zu vertrauen?
Nach dem Tod ihres Vaters steht Ivy vor der Herausforderung, ihr Leben neu zu ordnen. Als sie auf den geheimnisvolle William Cole trifft, fasziniert er sie sofort und weckt in ihr Gefühle, die sie nie zuvor gekannt hat. Doch er weiß Dinge über sie – persönliche Geheimnisse, die sie niemals zuvor jemandem anvertraut hat. Ihre Freunde sind sich sicher: Entweder ist er ein Betrüger oder ein verrückter Stalker.
Ivy muss entscheiden, wem und was sie glauben kann: den rationalen Erklärungen ihrer Freunde oder der unglaublichen Geschichte des Mannes ohne Vergangenheit?
Ein Mann, der schwört, alles zu tun, um sie zu beschützen ...
Claire Kingsley schreibt Liebesgeschichten mit starken, eigensinnigen Frauen, sexy Helden und großen Gefühlen. Ein Leben ohne Kaffee, E-Reader und neu erfundene Geschichten ist für sie nicht vorstellbar. Claire Kingsley lebt mit ihrer Familie im Pazifischen Nordwesten der USA.
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Claire Kingsley
Finding Ivy
Aus dem Amerikanischen von Katrin Reichardt
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Widmung
Der blauäugige Fremde
In der Stadt
Alles nur Einbildung
Ausreißer
Weil du Ivy bist
Stalker
Doppeldate
Gute Nacht, Ivy!
Seltsamer als Fiktion
Frühstück
Rätsel
Blick in den Abgrund
Finstere Blicke
Zerbrochenes Glas
Gemälde
Gefallen unter Nachbarn
Die Erste
Gegenseitiges Misstrauen
Fragen
Teilweise
Unerwartete Besucher
Wir sind in meinem Büro
Konfrontation
Ich habe alles erklärt
Harte Wahrheiten
Bilder der Kindheit
Eine lila Hyazinthe
Krankenhaus
Puzzleteile
Die Vergangenheit
Backstein und Efeu
Hier, wenn du aufwachst
Epilog: Ich erinnerte mich — William
Bonusepilog — Ivy
Nachwort
Danksagung
Impressum
Lust auf more?
Für David.
Weil in jeder Geschichte ein kleines bisschen von dir steckt.
Langeweile und Einsamkeit waren eine unschöne Kombination.
Mein etwas zu groß geratener weißer Schäferhund Edgar blinzelte mich an und schnaubte durch seine schwarze Nase. Vorhin hatte ich einen Spaziergang mit ihm gemacht, und heutzutage brauchte er danach zur Erholung ein Nickerchen. Seine Hüften bereiteten ihm manchmal Probleme, und wir hatten einen aktiven Morgen hinter uns.
Ich senkte den Blick auf das Buch mit Kreuzworträtseln, das flach vor mir auf meinem kleinen Esstisch lag. Da sie sich mit dem Thema Literatur befassten, hätten sie eigentlich ein Klacks für mich sein sollen. Immerhin war ich Literaturdozentin und gab am College Vorlesungen über Klassiker. Doch heute schweiften meine Gedanken immer wieder ab, und der Reiz der Rätsel, die es zu lösen galt, genügte nicht, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Womöglich, weil mal wieder ein Samstag vor mir lag, an dem ich überhaupt nichts vorhatte. Natürlich war ein langer Tag ohne jegliche Verpflichtungen manchmal auch ein Segen. Aber hin und wieder wünschte man sich als Frau eben einen Anlass, um rauszugehen. Um sich etwas Hübsches anzuziehen. Um die unpraktischen Schuhe zu tragen, die unangetastet im Schrank standen. Um den roten Küss mich!-Lippenstift hervorzuholen. Vielleicht für jemanden, der besagten Lippenstift gleich wieder fortküssen würde.
Es war schon lange her, dass es jemanden gegeben hatte, der den Lippenstift von meinen Lippen geküsst hatte.
Ehrlich gesagt war ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch einen roten Lippenstift besaß. Und die unpraktischen Schuhe … Die hatte ich vermutlich noch … irgendwo. Hätte ich einen Grund gehabt, sie aus den Tiefen meines Kleiderschranks hervorzukramen, hätte ich sie mit Sicherheit finden können. Doch ich hatte keinen.
»Wehe dem, der allein ist, meine Freunde, denn man muss davon ausgehen, dass die Einsamkeit es vermag, rasch die Vernunft zu zerstören«, zitierte ich vor mich hin.
Edgar hob den Kopf und blinzelte mich an.
»Jules Verne«, sagte ich. »Das bedeutet, dass zu viel Zeit allein zu verbringen einen verrückt machen kann. Da ich meinem Hund Zitate aus Die geheimnisvolle Insel vortrage, bin ich vermutlich der beste Beweis dafür.«
Er legte den Kopf zurück auf die Vorderpfoten.
Mein Handy signalisierte piepsend den Eingang einer Textnachricht. Sie kam von meiner besten Freundin Jessica.
Jessica: Bist du heute beschäftigt?
Ich: Total beschäftigt. Meine Kreuzworträtsel lösen sich nicht von allein.
Jessica: Peter ignoriert mich. Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen?
Ich lächelte. Jessica und ihr Mann waren ein tolles Paar, aber auch grundverschieden – sie eine leidenschaftliche Dozentin für Kunstgeschichte, er ein nerdiger Mathematikprofessor. Manchmal überstiegen Jessicas soziale Bedürfnisse seine Fähigkeit, mit ihnen Schritt zu halten.
Ich: Klar. Im Café Lit?
Jessica: Juhu!
»So, mein Lieber, es sieht ganz so aus, als hätte Frauchen einen Grund, eine richtige Hose anzuziehen.«
Edgar schenkte mir keine Beachtung, als ich aufstand, um meine liebste gemütliche hellgraue Jogginghose loszuwerden. Anschließend ging ich kurz ins Bad und band meine langen Haare zu einem tiefen Pferdeschwanz. Da ich lediglich mit Jess einen Kaffee trinken wollte, war es nicht nötig, sich schick zu machen. Aber ich zog dennoch zu meiner Jeans einen hübschen grünen Pullover an und schlüpfte in ein paar flache schwarze Schuhe.
Das Café Lit lag direkt gegenüber vom Woodward College, der kleinen Privatuni nördlich von Seattle, an der Jessica, Peter und ich unterrichteten. Das Lit im Namen war eine Abkürzung und stand für Literatur. Holzpaneele und viel braunes Leder verliehen dem Café eine altmodische Bibliothekenatmosphäre, und zudem gab es Regale voller Bücher, in denen man während seines Aufenthalts lesen konnte. Es war besonders bei den Angestellten des Colleges beliebt. Jessica und ich trafen uns oft dort, üblicherweise morgens vor der Arbeit. Aber manchmal kamen wir auch am Wochenende her, insbesondere, wenn sie von Ruhelosigkeit gepackt wurde und Peter in ein Projekt vertieft war.
Als ich eintraf, saß Jessica bereits am Tisch und tunkte einen Teebeutel in einen Becher mit dampfendem, heißem Wasser. Ich kannte Jess schon seit Jahren. Wir hatten uns als naive Studienanfängerinnen kennengelernt und waren seitdem Freundinnen. In gewisser Weise waren wir beide ebenso gegensätzlich wie sie und ihr Ehemann. Zumindest optisch. Jessica war eine dunkelhäutige Frau mit üppigen Kurven und wunderschönen dichten schwarzen Locken. Ich hatte helle Haut – sie witzelte manchmal, ich sei nicht nur blass, sondern regelrecht durchsichtig –, blaue Augen und lange blonde Haare.
Ich lächelte und winkte ihr zu, bevor ich mich in der Schlange anstellte, um zu bestellen. Für einen Samstag war ziemlich viel los, aber es gab trotzdem noch ein paar freie Plätze. Anscheinend gab die Frau, die gerade an der Reihe war, eine riesige Bestellung zum Mitnehmen auf. Sie hielt einen Notizblock in der Hand, auf dem sie, während sie mit der Barista sprach, eine Liste abhakte. Ich wechselte schulterzuckend einen Blick mit Jess. Ich würde wohl noch eine ganze Weile in der Schlange stehen.
Der Mann vor mir blickte über die Schulter hinweg zu mir. »Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig.«
»Glücklicherweise nicht«, antwortete ich.
Er drehte sich ein wenig zur Seite, damit er mich ansehen konnte. »Ich auch nicht.«
In meinem Magen machte sich plötzlich ein nervöses Kribbeln bemerkbar. Wollte er etwa mit mir flirten? Oder machte er nur höflich Konversation, weil wir gemeinsam in der Schlange feststeckten? Er sah nett aus, war lässig gekleidet und vermutlich etwas älter als ich – schätzungsweise Mitte dreißig. Kein Ring zu sehen. Schnuckelig. Richtig schnuckelig.
»Nun ja, wissen Sie: Man stößt allenthalben auf kleine Widrigkeiten und Enttäuschungen und wir alle neigen zu allzu hohen Erwartungen«, erwiderte ich.
Er sah mich fragend an.
»Jane Austen, Mansfield Park.« Ich räusperte mich. »Vergessen Sie es.«
»Gehen Sie hier aufs College?«, erkundigte er sich.
Als eine der Jüngsten des Lehrpersonals am Woodward war ich es gewohnt, irrtümlich für eine Studentin gehalten zu werden. Für gewöhnlich versuchte ich, diesen Umstand wettzumachen, indem ich schicke Blusen, Bleistiftröcke und praktische schwarze Pumps trug. Doch heute wirkte ich dank meiner Freizeitkleidung und der lässigen Frisur vermutlich etwas jünger als neunundzwanzig.
»Nein, ich bin Dozentin«, antwortete ich.
»Tatsächlich?«, wunderte er sich. »Für welches Fach?«
»Literaturwissenschaften.«
»Ich schätze, das erklärt das Jane-Austen-Zitat.«
»Ja«, sagte ich. »Wissen Sie, das Interessante an Jane Austen ist, dass sie so geistreiche Liebesgeschichten geschrieben hat, obwohl es um ihr eigenes Liebesleben nie besonders gut bestellt gewesen ist. Der erste Mann, in den sie sich verliebt hat, hätte, wenn er sie geheiratet hätte, sogar sein Erbe verloren. Sie stand in der gesellschaftlichen Hierarchie zu weit unten. Seine Tante hat ihn eilig außer Landes geschafft, um ihn von ihr wegzubekommen.«
»Sieh an.«
Die Frau mit der großen Bestellung war endlich fertig, und die Schlange bewegte sich weiter.
»Das wäre ein guter Stoff für eines ihrer Bücher gewesen«, überlegte ich. »Allerdings hätte die Geschichte, wenn sie sie wirklich geschrieben hätte, vermutlich ein anderes Ende genommen, denn er ist nicht zu ihr zurückgekehrt.«
»Schade«, meinte er.
Ich nagte an meiner Unterlippe und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich war so dermaßen aus der Übung. Jessica warf mir einen Blick zu und reckte den Daumen hoch, woraufhin ich schulterzuckend das Gesicht verzog. Was sollte ich bloß als Nächstes sagen?
Der schnuckelige Typ war an der Reihe und gab seine Bestellung auf. Bevor er zur anderen Seite der Theke ging, um dort auf seinen Kaffee zu warten, lächelte er mir kurz mit geschlossenen Lippen zu.
»Was darf es sein?«, fragte mich die Barista.
»Einen großen Latte.«
»Auf welchen Namen geht die Bestellung?«
»Ivy«, antwortete ich. Sie stutzte kurz und sah mich mit dem Stift in der Hand fragend an. Es passierte mir ständig, dass ich meinen Namen wiederholen musste. »Ivy, wie die Pflanze.«
Sie nickte und schrieb es auf den Becher. Ich bezahlte und spähte nach dem schnuckeligen Typen, doch da er aufs Handy schaute, ging ich direkt zu Jessicas Tisch.
»Was war das denn?«, wollte sie wissen.
Ich zog den Stuhl unterm Tisch hervor und setzte mich ihr gegenüber. »Was meinst du?«
»Warum hast du dich nicht weiter mit ihm unterhalten?«, fragte sie. »Er ist süß.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich. »Ich hatte kaum den Mund aufgemacht, da wirkte er schon gelangweilt.«
»Wen hast du zitiert?«
»Was redest du da? Ich habe nicht –« Ich seufzte. »Jane Austen.«
»War ja klar.« Sie tätschelte meine Hand. »Vielleicht eröffnest du beim nächsten Mal das Gespräch lieber nicht mit irgendeinem toten Schriftsteller.«
Ich schlug die Beine übereinander. »In solchen Dingen bin ich total schlecht. Ich gehöre in eine Welt mit strikten gesellschaftlichen Normen, in der vorausgesetzt wird, dass man sich mit einem Ehegatten begnügt, der dem sozialen Status der eigenen Familie entspricht.«
»Allerdings würdest du in solch einer Welt bereits als alte Jungfer gelten«, bemerkte sie.
Ich bedachte sie mit einem finsteren Blick.
Sie setzte an, etwas zu sagen, verstummte jedoch gleich wieder und richtete den Blick auf etwas zu meiner Linken. »Wow, der sieht aber gut aus!«
Ich spähte über meine Schulter. Ein Mann stand bei der Tür. Er war wirklich attraktiv. Dicke dunkle Haare, markante Gesichtszüge und ein von Bartstoppeln überzogener Unterkiefer. Er trug einen blauen Strickpullover mit Waffelmuster und eine Jeans – ein legeres Outfit, doch es stand ihm hervorragend. Offensichtlich war er schlank und muskulös. Das konnte man trotz seiner Kleidung erkennen.
Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, als wäre er auf der Suche nach jemandem, und eine Sekunde lang verharrte er auf mir. Seine Augen … Ihr strahlendes Blau bildete einen starken Kontrast zu seinen dunklen Haaren und der kantigen Kieferpartie. Sie wirkten irgendwie … unschuldig. Beinahe fehl am Platz in einem so rauen, maskulinen Gesicht.
Ich blinzelte und wandte rasch den Blick ab, in der Hoffnung, dass er mein Starren nicht bemerkt hatte. Jessica glotzte ihn noch immer mit offenem Mund an.
»Jess, du bist verheiratet«, ermahnte ich sie. »Hör auf, ihn zu begaffen.«
Sie zuckte zusammen, als wäre ihr selbst nicht bewusst gewesen, was sie tat. »Was? Ach, komm schon, ich bewundere doch nur seinen Anblick. Ich bin verheiratet, nicht tot. Außerdem ist garantiert niemand immun gegen die magischen Kräfte, die dieser Typ da zu haben scheint.«
Ich betrachtete ihn noch einmal. Wahrscheinlich war er der schönste Mann, der mir jemals persönlich begegnet war. Er sah aus wie einer dieser Typen, die man auf Werbetafeln oder in Zeitschriften sah – und bei denen man automatisch davon ausging, dass sie zig Mal retuschiert worden waren, weil niemand in Wirklichkeit so gut aussah.
Dieser Mann allerdings schon.
Jessica sagte wieder etwas, doch ich achtete nicht darauf und beobachtete stattdessen den Mann weiter aus dem Augenwinkel. Langsam trat er noch ein paar Schritte weiter ins Café hinein und musterte alles aufmerksam. Seine Art, sich zu bewegen, erinnerte mich an einen Detektiv in einem Film – allerdings nicht an den Ernsthaften mit der kratzigen Stimme und dem Alkoholproblem, sondern eher an den Verschrobenen, an das Genie, das niemand so richtig verstand, das jedoch immer Dinge zu entdecken schien, die anderen entgingen.
Er stellte sich vor die Theke und studierte die Karte, als hätte er noch nie etwas Derartiges gesehen. Dabei runzelte er die Stirn, wodurch zwischen seinen dunklen Augenbrauen eine Furche entstand. Zwei Frauen kamen herein und blieben unschlüssig hinter ihm stehen. Eine sagte etwas zu ihm, woraufhin er sie ansah, als verwirre es ihn, angesprochen zu werden. Doch gleich darauf wurde seine Miene wieder freundlicher und er lächelte – was ihn nur noch attraktiver machte – und ließ sie vor.
»Ivy?«, sagte Jessica.
Ich schüttelte leicht den Kopf. »Tut mir leid, ich … war mit den Gedanken woanders.«
»Bei Mr Phantastisch dort drüben«, stellte sie fest.
»Nein.«
»Geh und sprich ihn an«, forderte sie mich auf.
Ich verdrehte die Augen. »Nein, danke.«
»Warum nicht?«
»Was soll ich denn sagen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Hi, ich heiße Ivy. Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken?«
»Das ist so …«
»Was? Direkt? Aufrichtig? Effektiv?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Sie mochte recht haben, aber ich würde bestimmt nicht einfach zu einem Mann hingehen – insbesondere nicht zu einem Mann, der so aussah – und ein Gespräch mit ihm anfangen.
»Ivy«, rief die Barista.
Als ich zur Theke ging, um meinen Kaffee abzuholen, konnte ich spüren, dass der Mann mich beobachtete. Mein Rücken kribbelte, und die Härchen an meinen Armen richteten sich auf, als hätte ich eine Gänsehaut. Wieso starrte er mich so an? Attraktiv hin oder her – langsam fühlte ich mich seinetwegen unbehaglich. Auf dem Weg zurück zu meinem Platz schaute ich in eine andere Richtung.
Als ich mich wieder hinsetzte, war Jessicas Lächeln so mitfühlend, dass es bereits an Mitleid grenzte. »Ich nerve dich doch bloß, weil ich möchte, dass du glücklich bist. Ich weiß, dass du es schwerhattest, seit … Na ja, du weißt schon.«
»Ist schon gut, du weißt, dass wir über meinen Vater sprechen können, ohne um den heißen Brei herumzureden.«
Nach einem grausamen zweijährigen Kampf gegen den Krebs und einem Schlaganfall zum Ende hin war mein Vater vor fast einem Jahr gestorben. Auch wenn ich mit der Trauer um ihn einigermaßen zurechtkam, fiel es mir schwer, mein Leben wiederaufzunehmen. Als die Krankheit bei ihm diagnostiziert worden war, hatte ich sofort alles stehen und liegen gelassen, um mich um ihn zu kümmern. Hatte meinen Job gekündigt. Meine Wohnung aufgegeben. War zurück nach Hause gezogen.
Ich bereute nichts davon. Ich war dankbar für die gemeinsame Zeit mit ihm, obwohl sie hart gewesen war. Aber nun war ich bereit, wieder mein eigenes Leben zu leben. Ich wusste nur nicht recht, wie. Dank einer Empfehlung von Jess und Peter hatte ich eine Stelle als Dozentin am Woodward ergattern können, was immerhin schon mal ein Anfang war. Und ich liebte meinen Job. Doch mein Privatleben als fade zu bezeichnen, wäre eine glatte Untertreibung gewesen.
»Es freut mich, dass es dir besser geht«, sagte sie. »Ich habe den Eindruck, langsam arrangierst du dich mit allem. Aber ich fände es schön, wenn du öfter unter Menschen gehen würdest. Du kannst doch nicht deine ganze Zeit mit deinem Hund und deinen Kreuzworträtseln zubringen.«
»Das tue ich nicht.«
Sie hob die Augenbrauen.
»Ich verbringe Zeit mit euch.«
»Und wir haben dich sehr gern, aber wäre ein Date nicht auch mal schön?«, fragte sie. »Was ist denn mit diesem Mann, den du kennengelernt hast, der immer so vielsagende Andeutungen macht?«
Mr Phantastisch hatte uns inzwischen umrundet, und obwohl ich ihn nicht mehr sehen konnte, war ich mir sicher, dass er hinter mir stehen musste. Beinahe schien es, als wäre er magnetisch. Das Verlangen, mich umzudrehen und nachzusehen, war nahezu übermächtig.
Ich hatte mich schon wieder ablenken lassen. Rasch richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Jessica. »Du meinst Blake von Dorset Financial? Ich hatte nicht den Eindruck, dass er irgendetwas angedeutet hätte.«
»Klar hat er das«, widersprach sie. »Nach dem zu urteilen, was du mir über ihn erzählt hast, ist er eindeutig interessiert. Du hast bloß dein Radar schon zu lange runtergefahren, um es zu bemerken.«
»Ich weiß nicht recht. Selbst wenn er tatsächlich etwas angedeutet hätte, ist er so ein … Banker-Typ.«
»Du meinst, er ist wie Julian«, sagte sie.
Ich seufzte. Julian und ich waren zu jener Zeit ein Paar gewesen, als mein Vater krank geworden war. Obwohl ich geglaubt hatte, das mit uns wäre etwas Ernstes – vielleicht sogar etwas für immer –, hatte der Umstand, dass ich eine eineinhalbstündige Autofahrt weit weggezogen war, um mich um meinen Vater zu kümmern, unsere Beziehung stark belastet. Als Julian schließlich eine Stelle in Boston angeboten bekommen hatte, hatte er entschieden, sie anzunehmen. Was bedeutet hatte, dass ich allein zurückgeblieben war.
»Ja, die Tatsache, dass er im Finanzwesen arbeitet, erinnert mich an Julian«, sagte ich. »Obwohl das Blake gegenüber vermutlich nicht fair ist. Aber ungeachtet dessen bezweifle ich nach wie vor, dass er interessiert sein könnte.«
»Wann siehst du ihn wieder?«, fragte sie.
»Am Dienstag habe ich einen Termin bei Dorset.«
Sie verzog die Lippen zu einem verschwörerischen Grinsen. »Ich wette, wenn du ihm nur die richtigen Signale sendest, fragt er dich bestimmt, ob du mit ihm ausgehen willst.«
»Aber –«
»Lass mich ausreden«, sagte sie. »Wenn er versucht, ein Gespräch mit dir anzufangen, dann bleib locker. Suche Blickkontakt. Lächle ein bisschen. Und wenn er sich mit dir verabreden möchte, dann sag Ja. Oh, und heb dir die literarischen Anspielungen mindestens bis zum zweiten Date auf.«
»Ich weiß nicht recht …«
»Mach nicht so eine große Sache daraus«, riet sie mir. »Du brauchst einfach bloß ein Date, um das Eis zu brechen. Etwas, um diese Blockade zu lösen, die du aufgebaut hast.«
Vielleicht hatte sie recht. Ich wollte raus aus meinem Trott. Vielleicht würde eine Verabredung wirklich etwas bringen. Auf mehr musste ich mich ja nicht einlassen. Nur auf ein Date. Falls er mich überhaupt um eines bitten würde.
Ich atmete tief durch. »Okay. Wenn wir diesmal miteinander reden, werde ich mich bemühen, ihn nicht zu Tode zu langweilen. Und falls er mit mir ausgehen möchte, werde ich zustimmen. Aber ich bezweifle noch immer, dass es dazu kommen wird.«
»Das werden wir ja sehen«, sagte sie ein wenig selbstzufrieden und trank schulterzuckend einen Schluck Tee.
Glücklicherweise wechselte Jessica anschließend das Thema, und wir unterhielten uns eine Weile über die Arbeit. Wir tranken beide unsere Getränke aus, und ich begann mich zu fragen, ob es in der Vitrine vorne bei der Theke vielleicht Muffins gab, die mir zusagen würden.
Jessica kniff die Augen zusammen und spähte ungefähr zum hundertsten Mal über meine Schulter.
»Was schaust du denn da ständig?«, fragte ich.
»Nicht hinsehen«, flüsterte sie. »Mr Phantastisch sitzt schon die ganze Zeit hinter dir und rückt dir immer mehr auf die Pelle. Er beugte sich ständig zu dir, als würde er lauschen.«
Mein Rückgrat versteifte sich, und mir lief ein Schauer über den Rücken. »Tatsächlich?«
Sie nickte. »Er mag ja ganz süß sein, aber er benimmt sich merkwürdig. Vielleicht sollten wir besser gehen.«
Ich nickte und nahm meine Tasche. Jessica positionierte sich zwischen mir und Mr Phantastisch, als befürchte sie, er könne mich angreifen, und wir gingen.
Draußen deutete Jessica auf die andere Straßenseite. »Ich habe dort drüben geparkt. Hast du Lust, heute Abend mit uns essen zu gehen?«
Ich lächelte und war ehrlich dankbar für die Einladung. Trotzdem zog ich es vor, mit Edgar zu Hause zu bleiben, anstatt schon wieder das fünfte Rad am Wagen zu sein. »Danke, aber ich passe. Ein andermal.«
»Bist du sicher?«
»Ja«, sagte ich. »Wir hören uns später.«
Nachdem ich mich von Jess verabschiedet hatte, ging ich zu meinem Wagen. Dabei musste ich immer wieder an den Mann im Café denken. Warum hatte er mich beobachtet? Hatte er wirklich gelauscht? Das war alles so merkwürdig.
Zu Hause angekommen machte ich mit Edgar einen Spaziergang, doch ich konnte nach wie vor nicht aufhören, an ihn zu denken. Ja, er war attraktiv, aber ich war eigentlich nicht der Typ, der wegen eines Mannes – ganz egal, wie er aussehen mochte – ins Schmachten geriet.
Aber seine Augen. Sie waren so blau. So durchdringend. Ich konnte sie noch immer sehen, wie sie mich beobachtet, mich prüfend gemustert hatten. Dieser Mann hatte etwas Mysteriöses an sich, als wäre er ein Rätsel. Und ich liebte gute Rätsel.
Doch höchstwahrscheinlich würde ich ihn nie mehr wieder sehen, was irgendwie bedauerlich war. Ich hätte gern gewusst, was er gesehen hatte, als er mich angeschaut hatte.
Das vierzigstöckige Gebäude im Stadtzentrum bestand aus dunkelblauem Glas, das in der Sonne glänzte. Ich kam nicht gerade gern hierher – der Verkehr war üblicherweise ein Graus, Parken war teuer und ich hatte oft das Gefühl, dass ein halber Tag dafür draufging. Doch leider war es seit dem Tod meines Vaters ein notwendiges Übel. Dorset Financial hatte hier seinen Sitz und war für die Abwicklung meines Erbes zuständig.
Mein Vater und Arthur Horace, der bei Dorset arbeitete, hatten sich mehr als dreißig Jahren gekannt, und mein Dad hatte ihn mit der Verwaltung des finanziellen Teils seines Nachlasses betraut. Ich hatte Arthur übernommen, damit er die Konten weiterführte, die nun in meinen Besitz übergegangen waren. Was ich hauptsächlich getan hatte, weil mein Vater ihm vertraut hatte, aber auch, weil ich keine Ahnung hatte, was ich mit dem Geld, das ich von meinem Vater geerbt hatte, anfangen sollte.
Ich hatte immer gewusst, dass mein Vater finanziell abgesichert gewesen war. In meiner Kindheit hatten wir zwar keinen extravaganten Lebensstil gepflegt, aber uns war es immer gut gegangen. Anscheinend hatte er sich nie Gedanken ums Geld machen müssen. Er war für meine komplette Collegeausbildung inklusive Promotion aufgekommen. Ich hatte mich oft gefragt, wie er sich das leisten konnte, doch er hatte mir stets versichert, dass wäre kein Problem für ihn. Da er ein praktisch veranlagter Mann gewesen war, war ich davon ausgegangen, dass er einfach geschickt darin gewesen war zu sparen.
Als er krank geworden war, hatte er mir Zugriff auf seine Konten gewährt, damit ich mich um seine Rechnungen und Behandlungskosten kümmern konnte. Nach seinem Tod hatte ich allerdings festgestellt, dass es Konten gab, von denen ich nichts gewusst hatte. Und auf ihnen lagen insgesamt fast zehn Millionen Dollar. Offenbar hatte er als junger Mann klug investiert, unter anderem in Aktien einiger heutzutage namhafter Softwarefirmen, und hatte mir nie etwas davon erzählt.
Seitdem ich von dem Geld erfahren hatte, hatte ich mich oft gefragt, weshalb er es geheim gehalten hatte. Er hatte das Geld jahrzehntelang besessen. In seinem Testament fand sich keine Erklärung dafür. Es gab keinen Brief, den er mir geschrieben hatte, damit ich ihn nach seinem Tod las. Vermutlich war es ihm genauso ergangen wie mir jetzt – dass er die Vorstellung, wohlhabend zu sein, als befremdlich empfunden hatte.
Ich fuhr in den zwanzigsten Stock hinauf. Mein Treffen mit Arthur fiel kurz aus. Er wollte einige Änderungen mit mir durchsprechen, und wie immer folgte ich seinem Rat. Daraufhin ließ er mich einige Formulare unterschreiben und erkundigte sich einmal mehr, ob ich die regelmäßigen Auszahlungen an mich nicht erhöhen wollte. Und ich lehnte einmal mehr ab. Was ihn nicht zu überraschen schien.
Während ich auf den Aufzug wartete, rückte ich meine Handtasche zurecht. Es war kurz nach drei, doch ich musste am heutigen Nachmittag nicht unterrichten. Ich überlegte, ob ich in mein Büro zurückkehren oder lieber nach Hause fahren sollte.
»Ivy. Wie schön, Sie wiederzusehen.«
Ich drehte mich nach der Stimme um. Blake Callahan stand neben mir, gekleidet in einen schwarzen Anzug. Mit seinen nach hinten gegelten Haaren und seiner markanten Kieferpartie wirkte er auf eine klassische Art und Weise attraktiv.
Ich musste sofort daran denken, was Jessica gesagt hatte, und suchte Blickkontakt zu ihm. »Hi. Blake, stimmt’s?«
Er lächelte. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie sich noch erinnern. Sie hatten sicher eine Besprechung mit Arthur.«
»Genau.« Ich erwog, noch mehr zu sagen, befürchtete aber, dass ich es, wenn ich weiterredete, doch fertigbringen würde, Tolstoi zu zitieren.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und er forderte mich auf, einzusteigen. Ich tat es, woraufhin er mir in die Kabine folgte.
»Eingangshalle oder Parkdeck?«, fragte er.
»Parkdeck bitte.«
Er drückte den E- und P-Knopf und schob anschließend die Hände in die Taschen. In der Enge des Aufzugs konnte ich sein Eau de Cologne riechen. Ein klassischer Duft, sauber, mit einer leichten Würze. Angenehm.
Doch er war eindeutig nicht interessiert. Er hatte mich nur aus Höflichkeit angesprochen.
»Verzeihen Sie mir, falls meine Frage zu aufdringlich sein sollte, aber haben Sie heute Nachmittag schon etwas vor?«, sagte er unvermittelt. »Ich habe überlegt, mir den Rest des Tages freizunehmen. Vielleicht möchten Sie mir, sofern Sie Zeit haben, Gesellschaft leisten?«
Mein Hirn kam nicht mit. Wollte er sich mit mir verabreden? Falls dem so war, sollte ich Ja sagen. Ich war so durcheinander. »Oh, äh … Dürfen Sie denn mit einer Klientin ausgehen?«
»Nicht, wenn Sie meine Klientin wären«, sagte er. »Aber ich arbeite in einer anderen Abteilung.«
Beruhige dich, Ivy. Denk daran, was Jessica gesagt hat. Entspann dich. Lächle ein bisschen. »Dann ja, das klingt nett. Haben Sie sich etwas Bestimmtes vorgestellt?«
»Ich weiß nicht – das ist sehr spontan. Wie wäre es, wenn wir einen Kaffee trinken und zu Fuß die Fähre nach Bainbridge nehmen? Heute ist ein wunderschöner Tag.« Der Aufzug hielt in der Empfangshalle, und die Türen öffneten sich. Er signalisierte mir, zuerst auszusteigen. »Sollen wir?«
»Okay, klar«, antwortete ich.
Wir durchquerten Seite an Seite die Eingangshalle. Meine Absätze klackerten auf dem Boden. Dann hielt Blake mir die Tür auf, und wir traten hinaus auf die Straße.
»Stört es Sie, wenn wir laufen?«, fragte er. »Es ist nicht weit. Wir können allerdings auch meinen Wagen nehmen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Die Sonne schien warm, und der Himmel war blau. »Nein, ich habe nichts gegen einen Spaziergang einzuwenden.«
Ich blieb kurz stehen, um meine Sonnenbrille aus der Handtasche zu holen. Ein Stück weit entfernt die Straße hinauf fiel mir ein Mann auf. Ich sah noch einmal genauer hin. Tatsächlich – es war Mr Phantastisch vom Café Lit. Er stand an ein Gebäude gelehnt, als warte er auf jemanden. Seine durchdringenden blauen Augen waren auf mich gerichtet.
Was hatte er hier zu suchen? Konnte es ein Zufall sein? Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, ihm gleich zweimal an zwei vollkommen unterschiedlichen Orten zu begegnen?
Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Blake setzte sich ebenfalls eine Sonnenbrille auf und signalisierte mir, neben ihm zu gehen. Ich warf noch einmal rasch einen Blick über die Schulter, doch Mr Phantastisch hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt, und obwohl er mich keine Sekunde aus den Augen ließ, folgte er mir nicht.
Das war beunruhigend, aber trotzdem fühlte ich mich nicht von ihm bedroht. Etwas an seinen Augen war so entwaffnend. Es war merkwürdig, ihm hier zu begegnen – und noch seltsamer, dass er mich so unverhohlen anstarrte. Doch anstatt mir deswegen Sorgen zu machen, war ich aufs Neue von ihm fasziniert.
Da Blake ihn nicht zu bemerken schien, hatte er vielleicht auch gar nicht mich angestarrt. Vielleicht hatte er nur auf der Suche nach jemandem in meine Richtung geschaut.
Wahrscheinlich bildete ich mir das alles bloß ein. Ich lief mit Blake zum Wasser hinunter. Dort holten wir uns Kaffee und nahmen unsere Getränke zum Fähranleger mit. Die Sonne schien, und ihre Strahlen glitzerten auf dem Wasser. Es war ein herrlicher Tag, und zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit hatte ich wieder ein Date. Jessica würde begeistert sein.
Dennoch blickte ich mehrmals über die Schulter zurück und fragte mich, ob Mr Phantastisch mir folgte.
Mr Phantastisch – da ich seinen Namen nicht kannte, musste ich ihn schließlich irgendwie nennen – in der Stadt zu sehen hatte mich spürbar durcheinandergebracht. In der Woche nach meinem spontanen Date mit Blake meinte ich, ihn überall zu sehen.
Im Supermarkt erhaschte ich einen Blick auf jemanden, den ich für ihn hielt. Als ich mit Edgar einen Spaziergang machte, glaubte ich wieder, ihn zu sehen. Als ich im Thai-Restaurant bei mir um die Ecke etwas zu essen mitnahm, war dort wieder ein Mann, von dem ich hätte schwören können, dass er es war. Und ich sah ihn – oder zumindest jemanden, den ich für ihn hielt – mindestens zweimal täglich auf dem Campus.
Natürlich konnte ich meine Beobachtungen nicht belegen. Als ich ihn in der Stadt entdeckt hatte, hatte er ganz offen auf dem Gehweg gestanden. Doch seitdem hatte ich ihn nur von hinten oder aus dem Augenwinkel gesehen. Hatte bloß kurze Blicke erhascht, hatte jemanden, den ich für ihn hielt, um eine Ecke biegen oder durch eine Tür schlüpfen sehen. Ich wusste nicht mit Sicherheit, ob er es tatsächlich gewesen war.
Das Problem bei alldem war die absolute Unwahrscheinlichkeit. Wie hoch standen die Chancen, dass eine andere Person plötzlich fast genau den gleichen Tagesablauf angenommen hatte wie ich? Vielleicht hatte er ja gerade eine neue Stelle auf dem Woodward angetreten. Ich kannte nicht alle, die dort arbeiteten, und das Personal wechselte ständig. Oder möglicherweise war er auch ein Student. Zwar schätzte ich, dass wir ungefähr gleichaltrig waren, aber wir hatten Studenten aller Altersstufen.
Das hätte erklärt, weshalb ich ihn auf dem Campus sah – und sogar im Café Lit. Jedoch nicht, warum ich ihn in der Stadt oder an all den anderen Orten erspäht hatte.
Für mich gab es für die ganze Geschichte drei mögliche Erklärungen. Erstens: Ich bildete mir alles nur ein und, abgesehen von der Begegnung in der Innenstadt, hatte ich bei allen anderen Gelegenheiten nicht ihn, sondern jemand anderes gesehen. Zweitens: Ich sah ihn wirklich überall, wo ich hinging, doch dabei handelte es sich lediglich um ungeheuerliche Zufälle. Oder drittens: Mr Phantastisch stalkte mich.
Bloße Zufälligkeit erschien mir unwahrscheinlich. Doch die Vorstellung, dass er mich stalkte, war noch abwegiger. Ich durfte Ockhams Rasiermesser nicht vergessen: Die einfachste Erklärung war üblicherweise die richtige.
Das Problem bei der Stalkingtheorie waren die vielen Vermutungen, die man dafür anstellen musste. Je mehr Vermutungen nötig waren, um eine Erklärung plausibel erscheinen zu lassen, desto unwahrscheinlicher wurde sie.
Um zu folgern, dass Mr Phantastisch mein Stalker war, musste ich von der Vermutung ausgehen, dass er ein Motiv hatte – einen Grund, um mich zu stalken. Doch ich hatte keine Ahnung, wie der aussehen könnte. Ich war nicht berühmt, nicht mal ein kleines bisschen. Ich nutzte weder Instagram noch andere soziale Medien in dem Ausmaß, dass irgendjemand mein Gesicht hätte wiedererkennen können. Meine Kollegen kannten mich, aber außerhalb vom Woodward College war ich keine besonders wichtige Person.
Es bestand die geringfügige Möglichkeit, dass das Ganze etwas mit meinem Erbe zu tun hatte. Ich konnte Jessica praktisch schon hören, wie sie darüber nachsann, jemand könnte Wind davon bekommen haben, dass ich vermögend war. Aber wie hätte ein Wildfremder davon erfahren sollen? Die Anzahl der Menschen, die über meinen unlängst aufgewerteten finanziellen Status Bescheid wussten, konnte ich an einer Hand abzählen. Arthur und einige Angestellte von Dorset Financial. Und meine Freunde Jessica und Peter. Sonst hatte ich niemandem davon erzählt.
Das würde bedeuten, Mr Phantastisch hatte herausgefunden, dass ich wohlhabend war, und daraufhin beschlossen, mich zu stalken sei die beste Möglichkeit, um – ja, um was zu erreichen? Mein Geld zu stehlen? Sich in mein Leben einzuschleichen, damit er mich ohne Ehevertrag heiraten, sich wieder von mir scheiden lassen und mit dem Vermögen meines Vaters durchbrennen konnte? Die Vermutungen wurden immer zahlreicher, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich tatsächlich gestalkt wurde, nahm dementsprechend ab.
Die einfachste Erklärung lautete, dass ich mir alles nur einbildete. Sie war simpel und höchstwahrscheinlich auch korrekt.
Ich wies mich recht streng zurecht, dass ich lediglich einen Fall von selektiver Wahrnehmung erlebte. Wie wenn man sich ein neues Auto kaufen wollte und sich für ein rotes entschied. Plötzlich sah man überall rote Autos, als hätte sich die halbe Stadt auf einmal ebenfalls ein neues rotes Auto zugelegt.
In Wirklichkeit gab es nicht mehr rote Autos als vorher. Das Gehirn schenkte ihnen bloß mehr Beachtung, weil das Unterbewusstsein sie für wichtig erachtete. Ich hatte Mr Phantastisch im Café Lit und in der Innenstadt gesehen, und er hatte offenbar tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Deswegen sah ich nun Männer, die ihm ähnelten, und ging von der irrigen Annahme aus, dass es sich bei ihnen immer um dieselbe Person handelte. Immer um Mr Phantastisch. Der mich immer beobachtete.
Ich zog den Vorhang am Fenster, das zur Vorderseite des Hauses hinausging, einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Der Himmel begann sich gerade erst aufzuhellen, und die Straßenbeleuchtung war noch eingeschaltet. Einmal hatte ich geglaubt, ihn in meiner Straße zu sehen, doch als ich noch einmal hingeschaut hatte, war niemand mehr da gewesen. Trotzdem war ich dazu übergegangen, die Vorhänge geschlossen zu halten. Nur, um sicherzugehen.
Edgar schnupperte an meiner Hand und schleckte mit der Zunge über die Rückseite meiner Finger. Ich blickte lächelnd auf ihn herab und kraulte ihn hinter den Ohren.
»Hey, mein Junge. Bereit für deinen Spaziergang?«
Die Gegenwart meines Hundes ließ die Überlegung, dass ich gestalkt wurde, noch unwahrscheinlicher erscheinen. Edgar sah mit seinem weißen Fell und seiner schwarzen Nase aus wie ein knuddeliger Eisbär. Aber er war kein freundlicher Hund. Mir gegenüber gebärdete er sich wie das perfekte Haustier – lieb und ergeben und normalerweise auch sehr brav. Und er hatte meinen Vater geliebt. Jessica akzeptierte er, und Peter behandelte er mit einer Art hündischer Gleichgültigkeit, als hätte er ihn beschnüffelt und für uninteressant befunden.
Doch jedes andere menschliche Wesen hasste er.
Er war nicht gefährlich. Allerdings begegnete er anderen Menschen mit tiefem Misstrauen und ließ sich kaum von ihnen streicheln. Wenn sie es dennoch versuchten, wich er ihnen aus und knurrte, wenn sie seinen dezenten Hinweis nicht beachteten. Außerdem bellte er, wenn sich jemand dem Haus näherte. Wäre jemand dort draußen herumgeschlichen, um mich zu beobachten, hätte Edgar es mich wissen lassen.
Ich drehte mit ihm seine Morgenrunde, ließ ihn sein Geschäft verrichten und machte mich anschließend auf den Weg zur Arbeit. Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz in der Nähe meines Gebäudes ab und ging über die Straße ins Café Lit. Jessica hatte mir geschrieben, dass sie mich dort treffen wollte.
Sie und Peter warteten schon im hinteren Bereich des Cafés, beide mit To-go-Bechern in den Händen. Jessica trug eine lilafarbene Paisley-Bluse und hatte ihre dicken schwarzen Locken zurückgebunden. Peter schob gerade seine dunkelumrandete Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Mir fiel auf, dass ein Zipfel seines Hemdes aus dem Hosenbund gerutscht war.
Jess lächelte mir zu, und etwas an ihrem Gesichtsausdruck ließ mich stutzig werden. Als ich mich in die Schlange einreihte, sah sie mich weiterhin mit aufgerissenen Augen an und blickte immer wieder zur Seite, als wollte sie mich auf etwas aufmerksam machen – möglicherweise, ohne dass Peter es mitbekam –, doch ich verstand nicht recht, worauf sie hinauswollte. Ich sah mich um, konnte allerdings nichts Ungewöhnliches entdecken.
Als ich mich schließlich, nachdem ich meinen Kaffee bestellt hatte, umdrehte, um mich zu ihnen zu gesellen, begriff ich, was sie mir mitzuteilen versucht hatte. Mr Phantastisch war da. Ich hatte ihn nicht sehen können, weil mir ein Gast an einem der Tische die Sicht versperrt hatte, doch er war tatsächlich hier.
Er saß an einem der Tische, mit zwei To-go-Bechern vor sich. Um einen hatte er seine Hand geschlossen, der andere stand ihm gegenüber. Ich interpretierte das so, dass er mit jemandem hier war, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund störte mich das. Ich sah mich im Café um, konnte jedoch niemanden ausmachen, der auf seinen Tisch zuzuhalten schien. Wer immer auch seine Begleiterin war (musste ich davon ausgehen, dass es sich um eine Frau handelte?), hielt sich vielleicht gerade in den Waschräumen auf. Oder sie war noch nicht eingetroffen und er hatte für sie bestellt.
Ich bemühte mich sehr, den Umstand zu ignorieren, dass er mich beobachtete. Schon wieder.
Sobald ich in Jessicas Nähe kam, packte sie mich am Arm und zog mich zu sich. »Schätzchen, er starrt dich an. Keine Sorge. Peter und ich regeln das schon.«
»Was bitte regeln wir?«, fragte Peter.
»Na, das hier«, zischte Jessica. »Reg dich nicht auf, Süße. Peter, tritt ein Stück zur Seite, damit du ihm die Sicht versperrst.«
Peter sah sich um, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass noch andere Menschen anwesend waren. »Wem?«
»Pst«, machte Jessica. »Mir ist ganz egal, wie heiß dieser Typ aussieht. Er ist unheimlich. Sobald deine Bestellung fertig ist, verschwinden wir von hier.«
Peter schüttelte verständnislos den Kopf und widmete sich seinem Handy.
»Ich bin sicher, dass kein Grund zur Sorge besteht«, beteuerte ich. »Es sieht aus, als würde er lediglich auf jemanden warten.«
»In dem Moment, in dem du zur Tür hereingekommen bist, sah er aus wie ein alarmierter Wachhund«, berichtete sie. »Er hat sich aufgesetzt, dich ins Visier genommen. Hätte er einen Schwanz, hätte er damit gewedelt.«
Ich musste lachen. »Eine Hundeanalogie?«
Jessica zuckte mit den Schultern. »Sie passt doch.«
Ich drehte mich ein wenig zur Seite, um verstohlen nach Mr Phantastisch zu schielen. Ich musste mir unbedingt einen anderen Spitznamen für ihn einfallen lassen. Oder versuchen, einen Blick auf seinen Becher zu werfen – der Barista hatte ihn sicherlich mit seinem Namen beschriftet. Er hielt unbeirrt den Blick auf mich gerichtet, als wären wir beide die einzigen Menschen hier.
Für eine Sekunde fühlte es sich an, als wäre es tatsächlich so. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich – ein Prickeln auf meiner Haut –, und einen Moment lang war ich überzeugt, dass der Kaffeebecher, der ihm gegenüberstand, für mich bestimmt war.
Gerade als ich merkte, dass ich mich in Richtung seines Tisches zu bewegen begann – als wäre er der Mond und ich das Meer, das von seiner Anziehungskraft angezogen wurde –, rief der Barista meinen Namen aus.
Ich blinzelte und lief zum Tresen, um meine Bestellung abzuholen. Jess und Peter gingen zur Tür, und ich folgte ihnen, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Jessica hakte sich bei mir unter. Peter hielt sich neben ihr, doch wie üblich schien er kaum auf die Welt um ihn herum zu achten.
»Ich muss in mein Büro, also erzähl mir die Kurzversion«, forderte sie.
»Die Kurzversion?«, fragte ich. Wieso wusste sie Bescheid? Weder hatte ich ihr erzählt, dass ich Mr Phantastisch in der Stadt begegnet war, noch, dass ich in der vergangenen Woche permanent geglaubt hatte, ihn überall zu sehen.
»Von deinem Date«, sagte sie.
»Ach, von meinem Date.« Ich blinzelte einige Male, um meine Gedanken zu ordnen. Was war nur los mit mir? Ich war noch ein zweites Mal mit Blake ausgegangen, diesmal zum Abendessen. »Richtig. Es war nett.«
»Nett?«, fragte sie. Wir überquerten die Straße, und sie blieb stehen. Peter lief weiter, bis ihm auffiel, dass wir nicht mehr neben ihm gingen, und ebenfalls stehen blieb. »Das ist alles?«
Eine Haarsträhne kitzelte mich im Nacken, und ich richtete eine meiner Haarklemmen. »Was möchtest du wissen? Wir sind essen gegangen und haben uns unterhalten.«
»Und?«
»Und weiter nichts«, antwortete ich. »Da wir uns im Restaurant getroffen haben, bin ich anschließend allein nach Hause gefahren.«
»Du bist so langweilig«, maulte sie und verdrehte die Augen.
»Tut mir leid, dass meine aufkeimende Romanze nicht unterhaltsam genug für dich ist«, entgegnete ich. »Ich werde mich bemühen, dass das nächste Date spannender wird.«
»Dann wird es also ein nächstes Date geben?«
»Ich denke schon«, meinte ich schulterzuckend.
»Du klingst nicht begeistert.«
»Ich bin mir einfach nur unsicher«, sagte ich. »Theoretisch scheint er ein guter Fang zu sein. Er ist attraktiv, gut gekleidet, erfolgreich. Ich habe erfahren, dass er noch nie verheiratet gewesen ist, und jede Woche seine Mutter anruft.«
»Das sind alles positive Dinge«, erwiderte sie. »Aber?«
»Aber ich weiß nicht, ob ich mich zu ihm hingezogen fühle«, sagte ich. »Ich habe bei ihm kaum etwas empfunden. Ich glaube, du hast, was das Date angeht, um das Eis zu brechen, recht gehabt, aber ich bin mir nicht sicher, ob das hier zu irgendetwas führen wird.«
»Na gut, da kann man nichts machen«, meinte sie mit einem leichten Schulterzucken. »Wenn keine Anziehung vorhanden ist, kann man nichts erzwingen. Meinst du, du hast ihm eine faire Chance gegeben?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Vielleicht nicht? Wahrscheinlich werde ich noch einmal mit ihm ausgehen.«
Sie bedachte mich mit einem leichten Lächeln. »Wie oft hast du Jane Austen zitiert?«
»Was? Gar nicht.«
»Wen hast du dann zitiert?«, beharrte sie.
»Ich weiß nicht … Na gut, ich glaube Melville und vielleicht Tolstoi. Ich kann nicht anders.«
»Wenn du tatsächlich jemanden gefunden hast, der kein Literaturdozent ist, und der, nachdem er einen Abend lang deine literarischen Anspielungen ertragen hat, wieder mit dir ausgehen möchte, solltest du ihm wenigstens ein paar Verabredungen zugestehen«, meinte sie.
»In Ordnung.«
»Falls er Kreuzworträtsel mag, musst du ihn vielleicht heiraten«, witzelte sie.
Ich rollte mit den Augen und schlug den Weg zu meinem Gebäude ein. »Bis später, Jess. Tschüss, Peter.«
Peter sah auf und nickte. Jessica schloss zu ihm auf, und er legte ihr den Arm um die Taille, beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Die beiden waren so ein süßes Paar.
Mein Rücken kribbelte, und ich warf einen Blick über die Schulter. Mr Phantastisch beobachtete mich. Er stand auf der anderen Straßenseite vor dem Café an die Wand gelehnt, wie beim letzten Mal, als ich ihn in der Innenstadt gesehen hatte – vollkommen unbekümmert, als wäre es ganz normal, eine wildfremde Frau anzustarren. Er hielt die beiden Kaffeebecher in den Händen, und ich fragte mich erneut, ob er den zweiten womöglich für mich bestellt hatte.
Was deutlich bewies, wie verrückt ich mich verhielt. Selbstverständlich hatte er mir keinen Kaffee gekauft. Dieser Gedanke war einfach nur lächerlich.
Der Hundepark war weitestgehend verlassen – abgesehen von einem älteren Herrn mit einem gelben Labrador, der sich jedoch viel mehr für den Tennisball, dem er nachjagte, interessierte, als für Edgar. Am Himmel hingen tiefe Wolken, die Regen ankündigten. Ich hoffte, dass wir nicht nass werden würden, bevor Edgar Gelegenheit gehabt hatte, ein bisschen zu rennen und überschüssige Energie abzubauen. Manchmal war er zufrieden damit, den ganzen Tag zu schlafen, aber heute war er unruhig. Da er mich zu Hause schier wahnsinnig gemacht hatte, war ich mit ihm zum Hundepark spaziert, wo er viel mehr Platz zum Herumrennen hatte als in meinem kleinen Garten.
Ich warf einen Ball, und er brachte ihn zurück – total vollgesabbert. Doch das war ich gewohnt. Zwischen zwei Würfen vibrierte mein Handy. Es war Jessica, die mich zu einem Filmabend einlud. Was vermutlich nur ein Vorwand war. Sie wollte etwas über mein Date mit Blake erfahren.
Am gestrigen Abend war ich noch einmal mit Blake ausgegangen, zum Dinner in ein nettes, mediterranes Bistro. Es war … okay gewesen. Wir hatten uns während des Essens die ganze Zeit unterhalten, und im Grunde war an dem Abend nichts schlecht gewesen. Aber ich merkte, dass die Chemie zwischen uns weiterhin irgendwie nicht stimmte. Ich verstand selbst nicht, weshalb ich mich zu diesem Mann kein bisschen körperlich hingezogen fühlte. Dabei trug er stets perfekt sitzende Anzüge, verflixt noch mal. Das war für Frauen ungefähr das Gleiche wie Reizwäsche für Männer.
Wie ich Jessica bereits gesagt hatte, passte bei ihm eigentlich alles. Er war intelligent und erfolgreich, attraktiv, strahlte Selbstbewusstsein aus – er war ein Mann, der wusste, was er wollte, und sich nicht scheute, es sich zu nehmen. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass er die meisten Frauen, die ihm begegneten, ins Bett kriegen würde.
Mich aber nicht.
Ich fragte mich, was mich zurückhielt. Lag es einfach bloß daran, dass es zwischen uns beiden nicht funkte? Er schien meine Gesellschaft zu genießen, und ich wusste, dass er mich noch einmal bitten würde, mit ihm auszugehen. Tatsächlich hatte ich sogar den Eindruck, dass unsere letzte Verabredung, wenn ich dazu bereit gewesen wäre, nicht zwangsläufig nach dem Abendessen geendet hätte.
Vielleicht hatte ich einfach zu sehr den Bezug zu meiner Sexualität verloren. Ich hatte alles auf Eis gelegt, um meinen Vater zu pflegen, und dass mich mittendrin auch noch mein Ex verlassen hatte, war nicht gerade hilfreich gewesen. Ob es wohl irgendeinen Schalter gab, den ich umlegen konnte, um sie wieder zu aktivieren?
Ich warf noch einmal den Ball für Edgar und überlegte, was mein Vater wohl von Blake gehalten hätte. Schwer zu sagen. Mein Vater war ein schweigsamer Mann gewesen, der sich nicht in die Karten hatte schauen lassen. Auch bei Julian hatte ich bis zum Ende unserer Beziehung nie genau gewusst, was er über ihn gedacht hatte. Erst hinterher hatte er mir anvertraut, er hätte nie viel von ihm gehalten und wäre erleichtert gewesen, dass ich ihn nicht geheiratet hatte.
Das hatte mich ein wenig überrascht, denn Julian war meinem Vater sehr ähnlich gewesen. Fleißig und eher stoisch. Ganz seiner Arbeit verschrieben. Blake war viel aufgeschlossener. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er meinen Vater in ein Gespräch verwickelte, ihm auf den Zahn fühlte, um herauszufinden, wofür er sich interessierte. Ein Thema anschnitt, das sie beide ansprach. Blake besaß diese soziale Gewandtheit, die meinem Vater gefehlt, die er jedoch bei anderen Menschen geschätzt hatte.
Edgar ließ mir den Ball vor die Füße fallen.
»Jetzt ist Schluss, mein Junge«, sagte ich. »Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.«
Er drückte die Beine durch, als wolle er losspringen, und stupste den Ball mit der Nase an.
»Nein, wir gehen.« Ich steckte den Ball zurück in den Behälter und führte Edgar durchs Tor. Gerade als ich ihn anleinen wollte, verdrehte er plötzlich die Ohren. Dann kläffte er einmal und rannte los.
»Edgar!«
Ein Eichhörnchen raste einen Baumstamm hinunter und über die Straße, Edgar dicht auf den Fersen. Ich rief ihn, doch er ignorierte mich und verfolgte weiter das Eichhörnchen. Obwohl er langsam älter wurde, war er immer noch schnell. In Windeseile war er hinter der nächsten Ecke verschwunden.