Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Paten der Fisch-Mafia Das Geschäft mit dem Antarktisdorsch ist illegal - und lukrativ. Genau wie Drogenhandel. Von Polizei und Behörden unbehelligt spült eine Flotte von Piraten-Trawlern ihren Eignern zweistellige Millionenbeträge in die Taschen. Jahr für Jahr - dem »weißen Gold« sei Dank. Der Umweltorganisation Sea Shepherd ist es gelungen, den Trawler »Thunder« zu stellen. Bevor dessen Kapitän sein Schiff eigenhändig versenkte, konnte Sea Shepherd noch wichtige Dokumente und Beweise von Bord retten. Die preisgekrönten Journalisten Engdal und Sæter schildern in ihrem Buch »Fisch Mafia« die dramatischen Ereignisse auf See und nehmen im Anschluss die Spur zu den Eignern des Schiffes auf: Sie führt zum Mafia-Clan Vidal Armadores im spanischen Galicien und endet (vorerst) vor dem obersten Gerichtshof des Landes. - Ein atemberaubendes Buch über den Kampf gegen Wirtschaftskriminalität auf hoher See. - Für Leser von Günter Wallraff, Hans Leyendecker und Jürgen Roth.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 441
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Eskil Engdal
Kjetil Sæter
FISCH-MAFIA
Die Jagd nach den skrupellosen Geschäftemachern auf unseren Weltmeeren
Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider
Campus Verlag
Frankfurt/New York
DER PIRAT
APRIL 2016
»THE BANDIT 6«
HOBART, TASMANIEN, DEZEMBER 2014
»OPERATION ICEFISH«
FRANKFURT 2012 / VERMONT 2014
DIE OKKUPATION
HOBART/SÜDPOLARMEER
DIE HEISSE PHASE DER JAGD
SÜDPOLARMEER, DEZEMBER 2014
»OPERATION SPILLWAY«
LYON, FRANKREICH, DEZEMBER 2014
DAS EIS
SÜDPOLARMEER, DEZEMBER 2014
DIE VESTURVÓN
ULSTEINVIK UND HULL, 1969–2000
HAUPTSTADT DER PIRATEN
PORT LOUIS, MAURITIUS, 2003
DER STURM
SÜDPOLARMEER, DEZEMBER 2014
DER INOFFIZIELLE KONTAKT
LYON UND BERGEN, DEZEMBER 2014
DER LÄNGSTE TAG
SÜDPOLARMEER, DEZEMBER 2014
DER SKIPPER
CHIMBOTE, PERU, NOVEMBER 2014
DESOLATION ISLAND
KERGUELEN-INSELN, FRANZÖSISCHE ÜBERSEETERRITORIEN, DEZEMBER 2014
DAS GEISTERSCHIFF
INDISCHER OZEAN, DEZEMBER 2014
DIE WAND DES TODES
BATAM, INDONESIEN, OKTOBER 2014
DER WELTREKORD
INDISCHER OZEAN, JANUAR 2015
»THE ONLY SHERIFF IN TOWN«
INDISCHER OZEAN, JANUAR 2015
DER FLIEGENDE SEEMANN
INDISCHER OZEAN/LAGOS, JANUAR 2015
EIN VERDAMMT BÖSER TRAUM
STOREGG-BANK, FEBRUAR 2015
LA MAFIA GALLEGA
BARCELONA UND RIBEIRA, FEBRUAR 2015
DIE FINGER GOTTES
RIBEIRA, FEBRUAR 2015
BUENAS TARDES, BOB BARKER
MELVILLE-BANK, FEBRUAR 2015
FLASCHENPOST
INDISCHER OZEAN, FEBRUAR 2015
RAZZIA AUF OFFENEM MEER
INDISCHER OZEAN, FEBRUAR 2015
»OPERATION SPARROW«
RIBEIRA, MÄRZ 2015
»EXERCISE GOOD HOPE«
OSLO/LAGOS/KAPSTADT, MÄRZ 2015
DER UNGLÜCKSVOGEL
SÜDATLANTIK, MÄRZ 2015
DER WANDERER
GABUN, MÄRZ 2015
DER MANN IN DER ARENA
SÜDATLANTIK, MÄRZ 2015
DAS DRITTE SCHIFF
DIE KÜSTE VON ZENTRALAFRIKA, MÄRZ 2015
»DU BIST NICHTS«
DIE KÜSTE VON ZENTRALAFRIKA, MÄRZ 2015
DIE SCHLANGE IM PARADIES
PHUKET, MÄRZ 2015
AFRIKAS ACHSELHÖHLE
DER GOLF VON GUINEA, APRIL 2015
MAYDAY
GOLF VON GUINEA, APRIL 2015
EIN SCHRECKLICHER TRAUM
GOLF VON GUINEA, APRIL 2015
LETZTER AUSWEG
GOLF VON GUINEA, APRIL 2015
INSELSTAAT DER GERÜCHTE
SÃO TOMÉ UND PRÍNCIPE, APRIL 2015
48 STUNDEN
SÃO TOMÉ UND PRÍNCIPE, APRIL 2015
DREI VERURTEILTE MÄNNER
SÃO TOMÉ UND PRÍNCIPE, APRIL 2015
SPIEL DES ZUFALLS
KAP VERDE, MAI 2015
DIE FLUCHT
PHUKET/DAKAR, SEPTEMBER 2015
DAS UNGLÜCKLICHSTE SCHIFF DER WELT
SÃO TOMÉ UND PRÍNCIPE, SEPTEMBER 2015
DAS URTEIL
YELLOWSTONE, OKTOBER 2015
DIE GEFANGENENINSEL
SÃO TOMÉ UND PRÍNCIPE, JANUAR 2016
DER MANN AUS DER MONGOLEI
SINGAPUR, FEBRUAR 2016
DER LETZTE PIRAT: DIE VIKING
INDONESIEN, MÄRZ 2016
»OPERATION YUYUS«
GALICIEN, MÄRZ 2016
DIE GEHEIMNISVOLLE TIANTAI
SÜDPOLARMEER/MALAYSIA/SPANIEN, 2012–2016
EIN SCHMUTZIGES SPIEL
HOBART, JUNI 2016
DIE ABRECHNUNG
VIGO, OKTOBER 2016
DIE MADONNA UND DER TINTENFISCH
O CARBALLIÑO, OKTOBER 2016
ENDSPIEL
DANK
ANMERKUNGEN
Der Regen peitscht gegen die großen Fensterscheiben des Flughafengebäudes. Er steht in der Ankunftshalle und hält ein Schild mit unseren Namen hoch, als würden wir zu einer Konferenz oder einer Safari abgeholt. Er habe seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, sagt er.
Nichts unterscheidet ihn von den Taxifahrern, die sich in die kleine Gruppe der Flugpassagiere drängen. Den Namen der Provinzstadt, in der wir eben gelandet sind, sollen wir, so seine Bitte, nicht verraten.
»Wer hat euch meine Telefonnummer gegeben?«, will er auf dem Weg hinaus zu dem wartenden Auto immer wieder wissen. Er befürchtet eine Falle, befürchtet, dass mit unserer Ankunft die Vergangenheit ans Tageslicht kommen werde.
»Diese Typen sind imstande zu töten, nur um ihre Namen und ihren Gewinn zu retten.«
Der einzige Grund, warum er sich mit uns treffen wollte, ist die Gier, die gleiche Gier, die ihn antrieb, wieder und wieder mit dem Schiff ins Südpolarmeer zu fahren. Dafür, dass er uns seine Geschichte erzählt, verlangt er eine stolze Summe Geld sowie die Zusicherung, dass wir weder ihn noch die Stadt, das Land oder den Kontinent, auf dem wir uns treffen, namentlich nennen.
Jeden Morgen kommt er pflichtschuldigst zum Hotel getrottet, zählt Namen und Orte auf, bemüht sich, die Beutezüge auseinanderzuhalten, versucht sich an Details zu erinnern, die im Strom der Vergangenheit verschwunden sind. Er ist weder redegewandt noch sonderlich genau. Manchmal sind die Geschichten wie kräftige Wellen, die sich plötzlich brechen – um träge am Ufer zu verebben.
Sobald er mit seiner Geschichte zu Ende ist, hetzt er davon zu einem Job, von dem er lebt, seit er gezwungen wurde, die Thunder zu verlassen und an Land zu gehen. Seine einzigen Freunde scheinen einige Nachbarshunde und ein kleiner Neffe zu sein.
Als er damals in Malaysia auf der Thunder anmusterte, wurde das Schiff bereits seit einem Jahr von Interpol gesucht. Im Beiboot, das ihn in der Dunkelheit vom Land zum Ankerplatz der Thunder brachte, hatte er das ungute Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde.
Von Hobart aus nimmt Kapitän Peter Hammarstedt am Nachmittag des 3. Dezember 2014 Kurs auf das »Schattenland«, den Ort, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Er steuert die MY Bob Barker den Derwent River hinunter hin zur launischen Storm Bay und in einer fünfzehntägigen Seefahrt weiter in die abgeschiedene Hölle mit den schlimmsten Winden und den höchsten Wellen der Weltmeere.
Er ist unterwegs ins Nirgendwo. Dort soll er eine Operation der Mafia knacken. Kaum jemand glaubt an einen Erfolg.
Die jungenhafte Frisur und der struppige Bartwuchs lassen den schwedisch-amerikanischen Kapitän jünger wirken als seine 30 Jahre. Trotz seines jugendlichen Alters ist er bereits ein Veteran in der militanten Umweltorganisation Sea Shepherd. Das Ziel ist eine Flotte von Schiffen, die illegal Antarktisdorsch fischt, eine Delikatesse aus der Tiefsee, die genauso viel Profit abwirft wie Drogenhandel oder Menschenschmuggel. Die Trawler operieren in einem so extremen und unzugänglichen Gebiet, dass die Chance, sie zu entdecken, verschwindend gering ist.1 Spürt Hammarstedt die Schiffe auf, will er sie aus dem Südpolarmeer vertreiben, ihr Fischereiequipment vernichten und die Besatzung an die Küstenwache oder Hafenverwaltung ausliefern.
Vor seinem Auslaufen aus Hobart, der Hauptstadt von Tasmanien, hat sich Hammarstedt eingehend mit dem Objekt seiner Jagd beschäftigt, hat die Karten mit Positionen studiert, an denen die Flotte illegaler Fischerboote schon früher von Forschungsschiffen und Aufklärungsflugzeugen gesichtet wurde. Er versucht, sich in die Fischer hinein zu versetzen, prüft die Unterwassertopografie und die Bänke, wo der Antarktisdorsch in großer Konzentration vorkommen könnte. Im Rossmeer, das sich wie eine Bucht in die Antarktis erstreckt, gibt es eine Reihe legaler Fischereifahrzeuge. Außerdem wird das Gebiet regelmäßig von Marineschiffen besucht, was es unwahrscheinlich macht, dort die Flotte der Fischwilderer zu finden. Er beschließt stattdessen, Kurs auf die Banzare-Bank zu nehmen – ein Unterwasserplateau, das aus der antarktischen Tiefsee aufragt. Hammarstedt nennt dieses Gebiet Shadowland, das Schattenland. Mit diesem Namen, den er selbst geprägt hat, ist er sehr zufrieden. Das hört sich taff an, fast wie aus Pulp Fiction. Für die Fahrt dorthin wird er zwei Wochen benötigen. Dort will er seine Jagd starten.2
Als die Bob Barker nicht mehr weit entfernt vom 60. Breitengrad und der nördlichen Grenze des Südpolarmeeres ist, beginnt er die 31-köpfige Besatzung zu schulen. In den »Heulenden Sechzigern« kann sich die klarblaue Wasseroberfläche ohne Vorwarnung in tiefgrün dahinjagende Wasserwände verwandeln und die Orkane sind so häufig, dass sie nie einen Namen bekommen. Die Besatzung aus Freiwilligen übt das Mann-über-Bord-Manöver, die Evakuierung, die Konfrontationstaktik und die Verwendung von Schilden in den Beibooten.
Als sich Hammarstedt einst mit japanischen Walfängern auf einen Nahkampf einließ, stieß er auf aggressiven Widerstand, aber er wusste, dass sie es nicht riskieren würden, Menschenleben zu gefährden. Bei der Flotte der Fischwilderer hingegen ist nicht vorhersehbar, was er zu erwarten hat. Das illegale Fischen in der Antarktis ist eines der lukrativsten Geschäfte der Fischwilderei und Hammarstedt hat die Mannschaft darauf vorbereitet, dass die Piraten zur Waffe greifen könnten.
An der Steuerbordseite der Brücke hat er ein laminiertes Plakat in A4-Format angebracht. »Wanted – Rogue toothfish poaching vessels – The Bandit 6« (Gesucht – unerlaubt Antarktisdorsch fischende Schiffe – die Bandit 6) steht in blutroter Schrift auf sandbraunem Grund geschrieben. Die Schiffe, nach denen gefahndet wird, heißen Thunder, Viking, Kunlun, Yongding, Songhua und Perlon – eine verkommene Flotte von Fangschiffen, die seit Jahrzehnten den wertvollen Bestand an Antarktisdorsch plündert.3 Alle stehen auf der schwarzen Liste der CCAMLR, der Organisation, die sich um das Fischen in den internationalen Fanggründen rund um die Antarktis kümmert.4
Die 64 Jahre alte Perlon steht seit 2003 auf der Schwarzen Liste der Behörden. Die Yongding treibt seit mindestens zehn Jahren im Südpolarmeer ihr Unwesen. Die Kunlun ist das kleinste der Schiffe, aber vielleicht das bekannteste und hat Verbindung zur spanischen Mafia. Dann ist da noch die große Songhua, mit dem charakteristischen tiefgelegenen Deck vorn, sie fischt seit 2008 illegal in der Antarktis.
Ganz oben auf dem Plakat sind die Abbildungen der zwei Schiffe, die Hammarstedt bis in seine Träume verfolgen. Die Viking – ein Rostkahn, der mit seiner illegalen Ladung in asiatischen Häfen ein- und ausläuft – das erste Fischereifahrzeug, das jemals von Interpol gesucht wurde. Und dann die in Norwegen gebaute Thunder, ebenfalls von Interpol gesucht.5 Der Eigner hat mit den Plünderungszügen in der Antarktis über 60 Millionen Euro verdient. Die Thunder ist es vor allem, die er kriegen will.
In einem Ordner auf der Brücke bewahrt Hammarstedt Kopien der Interpolfahndungen auf. Erwischt er eines der Schiffe, wird er sich an die Reling stellen mit dem Mafiaschiff im Hintergrund und mit der laminierten Interpolfahndung in der Hand. Dann wird der Schiffsfotograf ein Bild von ihm machen.
Nach neun Tagen auf dem Meer erblickt er auf 61 Grad Süd die ersten Eisberge. Zwei steil aufragende Eiskathedralen mit abfallenden Fassaden und vergänglicher Spitze. Hammarstedt umrundet mit der Bob Barker die Eisriesen, damit die Besatzung sich damit vertraut machen kann, ein Vorgeschmack auf das, was sie erwartet.
James Cook, der erste, der mit dem Schiff in die Antarktis fuhr, hatte eine vor Angst und Kälte schlotternde Mannschaft vor sich, die später die Eiswüste als Vorhof zur Hölle beschrieb. »Die ganze Szenerie sah aus wie die Wracks einer zertrümmerten Welt oder so, wie die Dichter einige Regionen der Hölle beschreiben; eine Vorstellung, die in dem Maße verstärkt wurde, wie die Schwüre, Flüche und Verwünschungen von allen Seiten zu uns widerhallten«, schrieb Wissenschaftler George Forster, der Cook auf seiner zweiten Reise begleitete.6
Für die Besatzung der Bob Barker entspricht die Antarktis ihrer Idealvorstellung von der Welt: unberührt, friedlich und zeitlos. Unter ihnen liegt ein verlorener Kontinent, das Kerguelen-Plateau – eine riesige Landmasse, vor 110 Millionen Jahren nach einer Reihe von Vulkanausbrüchen entstanden. Dieses frühere Festland war dreimal so groß wie Japan, wahrscheinlich gab es hier eine tropische Flora und Fauna. Vor 20 Millionen Jahren begann der Kontinent langsam abzusinken. Heute liegt er über einen Kilometer unter der Wasseroberfläche verborgen. Die einzig sichtbaren Erinnerungen an das verlorene Land sind die Kerguelen sowie die Heard- und McDonald-Inseln mit Berggipfeln, die höher sind als jene in Australien, und die nach französischen Entdeckern, australischen Wissenschaftlern und norwegischen Walfängern benannt wurden. Norwegian Bay. Mount Olsen. Mawson Peak.
In der Tiefe zwischen dem Kontinentalsockel und der Kontinentalschräge steht der Antarktisdorsch, auch Schwarzer Seehecht genannt, ein abstoßend aussehender Riesenfisch mit vorstehender Unterlippe, der bis zu 120 Kilo schwer und über 50 Jahre alt werden kann.7 Er beginnt sein Leben im seichten, landnahen Gewässer und erst mit sechs bis sieben Jahren schwimmt er hinunter in die eiskalte dunkle Tiefe von 1000 bis 2000 Metern. Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Exemplar gefangen und beschrieben, danach vergaß man den Fisch völlig, bis er in den 1980er Jahren wiederentdeckt wurde und in amerikanischen Restaurants auf den Tisch kam. Das fette, perlweiße und grätenlose Fleisch sorgte für eine gastronomische Sensation. Der Antarktisdorsch glich einer Mischung aus Hummer und Jakobsmuschel und er wurde von vielen als der wohlschmeckendste Fisch bezeichnet. Ein englischer Restaurantkritiker gab seinen Lesern folgenden Rat: »Der Bestand ist wirklich gefährdet, deshalb tut man besser daran, soviel zu essen, wie man kann, solange der Vorrat reicht.«8
Die Jagd auf das »weiße Gold« bringt verdecktes Vermögen, kostet durch Schiffbruch und Unfälle auf See hunderte von Leben und droht die langsam wachsende Delikatesse auszurotten.
In der Nacht auf den 16. September fährt die Bob Barker hinein in den südlichen Teil der Banzare-Bank. Das Meer um Hammarstedt scheint von der Zeit unberührt zu sein, aber aus der Karte liest er Bruchstücke der Geschichte des Kontinents. Er entdeckt Spuren von Habgier und unfassbarem Heldenmut. Da gibt es Meeresabschnitte, Anhöhen und Bergflanken, die nach Gemahlinnen, Geliebten, Herrschern, Mäzenen, erfrorenen Helden oder schlicht nach optischen Täuschungen benannt sind. Die Banzare-Bank wurde von dem australischen Polarforscher Douglas Mawson entdeckt und von ihm benannt. Auf seiner ersten großen Expedition in die Antarktis verbrachte Mawson zwei Winter auf einem felsigen Außenposten, der, wie sich bald herausstellte, von den stärksten Winden auf dem Erdball heimgesucht wird. Bei einer Schlittentour verlor er zwei seiner Expeditionsteilnehmer.
Als Mawson im Oktober 1929 von Kapstadt aus zu seiner nächsten Expedition aufbrach, war die »heroische« Ära für die Erforschung der Antarktis vorüber. Aber es gab nach wie vor große weiße Flecken auf der Karte. Der erklärte Zweck der Banzare-Expedition war wissenschaftlicher Art, doch in Wirklichkeit sollten bald »aggressive« norwegische Expeditionen und territoriale Ansprüche in den Vordergrund treten.9 Im Januar traf Mawson die Norvegia-Expedition unter Führung des norwegischen Piloten und Polarpioniers Hjalmar Riiser-Larsen. Die beiden einigten sich darauf, die Antarktis auf der jeweils anderen Seite des 45. Breitengrades zu erforschen, eine Vereinbarung, die als der erste internationale Staatsvertrag in der Antarktis gilt.
Peter Hammarstedts Hoffnung ist, dass die moderne Fischerei und der Umweltschutz sich auch nach klaren Regeln und Absprachen richten – und dass jemand darauf achtet, dass sie eingehalten werden.
Der schwedische Kapitän steuert das Schiff in den Windschutz einer Eiszunge, die ihn vor der Dünung von Westen her schützt. Das ganze Gebiet abzudecken wird zwei Wochen dauern, das Radar wird jede Bewegung im Umkreis von 12 nautischen Meilen anzeigen und der helle antarktische Sommer ermöglicht es ihm, den ganzen Tag zu suchen. Hammarstedt weiß, dass die Fischereifahrzeuge, auf die er Jagd macht, sicher jemanden am Radar sitzen haben, der die Bob Barker sieht, lange bevor es zu einem visuellen Kontakt mit einem der Hochseefangschiffe kommt. Er hat jedenfalls die sechs Schiffe gründlich studiert und ist der Meinung, dass die Bob Barker mit ihren 3000 Pferdestärken schneller ist als sie.
Als er die Crew in der Messe zusammenruft, sind einige von der Seekrankheit stark mitgenommen.
»Wir starten die Suche von Westen. Dann fahren wir in südlicher Richtung zum Eis. Wir können jederzeit auf ein Schiff stoßen. Die Wache vom Krähennest aus beginnt heute Nacht. Gefechtsstationsdrill nach dem Lunch und anschließend Erste-Hilfe-Übung«, sagt Hammarstedt.
Er schätzt, dass die Suche sicher mehrere Wochen dauern wird.
Die Nebelbänke, die aus dem Meer aufsteigen, werden dichter. Alle halbe Stunde ist Hammarstedt auf der Brücke und checkt das Radarbild. Es ist übersät mit Pünktchen – Eisberge, die sich von Amery-Schelfeis gelöst haben, einem riesigen Gletscher, der sich vor der antarktischen Landmasse erstreckt. Das einzige, was auf dem Radarschirm einen Eisberg von einem Schiff unterscheidet, ist die Geschwindigkeit. Wenn das Schiff fischt, bewegt es sich langsam, vielleicht im selben Tempo wie die Eisberge. Deshalb will Hammarstedt ein Paar zusätzliche Augen haben, das die Objekte, die das Radar auffängt, deutet.
Im Ausguck, dem Krähennest, ist man dem Wetter schlimmer ausgesetzt als anderswo auf dem Schiff. Wer da oben an der Mastspitze steht, hat als Windschutz nur eine dünne Stahlplatte. Er muss ständig den Blick über die Wasseroberfläche schweifen lassen auf der Suche nach Schiffen und Leinenbojen. Etwas aus den Augenwinkeln zu entdecken ist wahrscheinlicher als direkt vor der Nase. Die meisten in der Mannschaft melden sich freiwillig für die Wache im Ausguck; jeder möchte als erster die Thunder sehen.
Auf dem Radar zeigen sich jetzt 40 bis 50 Objekte. Es ist, als würde man auf eine Pepperonipizza starren und ständig ist die Wache auf der Brücke mit dem Mann im Ausguck in Verbindung, gibt Richtung und Abstand von Objekten durch, die das Radar nicht identifizieren kann.
Aber man sieht nur spiegelglatt daliegendes Meer und im Nebel auftauchende und verschwindende Eisberge. Einen Tag nach Beginn der Suche befindet sich die Bob Barker300 Seemeilen von Davis Bay und 150 Meilen vom Rand des Eises entfernt.
»Wir könnten jeden Moment auf sie stoßen«, murmelt Hammarstedt.
Plötzlich sieht Hammarstedt auf dem Radar, dass sich einer der langsam treibenden Punkte in die entgegengesetzte Richtung zu den träge dahingleitenden Eisbergen bewegt. Geschwindigkeit sechs Knoten und Kurs Südwest. Das muss ein Schiff sein. Hat es die Bob Barker bemerkt? Soll er den Kurs ändern, um ihm den Weg abzuschneiden, oder wäre das zu auffällig?
Einige Minuten später entdeckt der Matrose Jeremy Tonkin im Ausguck drei miteinander verbundene Bojen, die steuerbord von der Bob Barker im Meer dümpeln. Sie gehören höchst wahrscheinlich zu einem Trawler, der illegal unterwegs ist, denkt sich Hammarstedt. Sobald die Brücke Sichtkontakt mit dem fremden Fahrzeug hat, weist er die Mannschaft an, sich bereit zu halten.
Das Schiff ist von Nebel umgeben, als er es zur ersten Mal zu Gesicht bekommt.
»Das ist ein Fischdampfer«, sagt Hammarstedt.
»Oh yeah«, bestätigt der Erste Steuermann und Erste Offizier Adam Meyerson. »Es sieht der Thunder wirklich sehr ähnlich, Peter. Es hat dieselbe Art der Bemalung und die vorspringende Brücke.«
Von Abbildungen erkennt Meyerson die Umrisse des Schiffes wieder, das jetzt aus dem Dunst auftaucht, das vorspringende Steuerhaus und das charakteristische steile Heck des alten Trawlers.
Der joviale Erste Steuermann ist in San Francisco mit dem Meer als Nachbar aufgewachsen. Er segelte als 27-jähriger in einem kleinen einmastigen Segelboot von Kalifornien nach Hawaii und ist seit fünf Jahren als Steuermann bei Sea Shepherd. Manchmal guckt er wie Jack Nicholson in dem Film Shining, als dieser im Hotel Overlook in das Zimmer 237 hineinschaut.
Die Neuigkeit macht auf dem Schiff schnell die Runde. Im Steuerhaus drängt sich die Mannschaft und Hammarstedt lässt die Position notieren. Dann öffnet er das Fenster im Steuerhaus und blickt durchs Fernglas. Das Schiff liegt halbwegs verdeckt hinter einem Eisberg. Durch das Fernglas sieht er, wie ein Schwarm Seevögel sich auf die Fischabfälle stürzt, die über Bord gekippt werden. Über der Reling hängen die Leinenbojen, bereit, um ins Meer geworfen zu werden.
Aus dem Bücherregal hinten im Steuerhaus zieht Hammarstedt den roten Ordner mit Abbildungen und Beschreibungen der »Bandit 6« heraus und blättert hastig bis zum Foto der Thunder. Meyerson blickt ihm über die Schulter.
»Das ist die Thunder«, sagt Hammarstedt, gibt Meyerson high-five und drückt den Alarmknopf. Fünfmal kurz. Das ist das Signal für die Crew, dass alle auf ihrem Posten sein müssen.
Sie haben das Schiff gefunden, das zwei Monate lang niemand gesehen hat und nach dem Neuseeland, Australien und Norwegen wegen Fischwilderei in großem Ausmaß in der ganzen Welt fahnden. Das berüchtigtste aller Wildererschiffe. Der Fischtrawler, dem die Minister, Behörden und Fahnder aus vier Kontinenten auf den Fersen sind, das in Reden genannt und auf Seminaren behandelt wird, dessen Kurs in Strategiedokumenten und Fahndungsprotokollen vermerkt ist, seit acht Jahren auf der schwarzen Liste und gejagt.
Die Thunder ist das flüchtige Schiff, das auftaucht, um dann plötzlich zu verschwinden, als würde es nicht wirklich existieren, sondern nur als Fiktion, denkt Hammarstedt. Er weiß, dass der Vergleich pathetisch klingt, aber im Laufe der letzten Monate war die Thunder zu seinem persönlichen Moby Dick geworden.
»17. Dezember 2014, 21:18 Uhr« notiert Hammarstedt ins Logbuch.
Dann steuert er volle Kraft voraus auf seine Beute zu.
Mai 2012. Nach Kontrolle seines Ausweises wurde Peter Hammarstedt in die über hundert Jahre alte Frankfurter Justizvollzugsanstalt Preungesheim hineingeführt. Er solle unverzüglich kommen, hatte es geheißen, deshalb waren erst ein paar Stunden vergangen, seit er sich in Stockholm in den Flieger nach Frankfurt am Main gesetzt hatte.
In einer der Zellen saß sein Chef.
Paul Franklin Watson war auf dem Weg von Denver zum Filmfestival in Cannes gewesen, als er bei der Zwischenlandung in Frankfurt von der Polizei verhaftet wurde. In den fast vierzig Jahren, seit er die Meeresschutzorganisation Sea Shepherd gegründet hatte, war Watson immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. In der Haftanstalt erfuhr Watson, dass Costa Rica ihn über Interpol sucht wegen einer Auseinandersetzung zwischen Sea Shepherd und einem Haifischkutter vor zehn Jahren.
Während in Cannes der rote Teppich ausgerollt wurde, saß der Hollywoodliebling Watson abgeschnitten von der Welt im Knast. Immerhin war die Aktivistin und früherer Baywatch-Star Pamela Anderson unterwegs, um ihm zu helfen, vor deutschen Botschaftsgebäuden wurden Demonstrationen abgehalten und eines der Fördermitglieder der Gruppe hatte sich bereit erklärt, für Watson eine Kaution zu zahlen. Aber dem Anführer von Sea Shepherd drohte die Auslieferung an Costa Rica oder Japan. Das japanische Rechtssystem fürchtete er am meisten.
Als Watson aus der Zelle kam, um Hammarstedt zu treffen, setzte er sich an den kleinen Tisch im Besucherraum und betrachtete die mit Kinderzeichnungen dekorierten Wände. Auf Hammarstedt wirkte er entspannt und gelassen.
»In nächster Zeit wirst du mich vor den Medien und bei Veranstaltungen vertreten. Sollten Fragen gestellt werden …«, sagte Watson, hielt mitten im Satz inne und schob einen kleinen Zettel über den Tisch. Der Text war von Hand geschrieben.
»Peter wird mich vertreten. Paul Watson.«
Hammarstedt war bereits ein loyaler Veteran. Seit 2003 hatte er an allen großen Sea-Shepherd-Einsätzen teilgenommen. Zehn antarktische Sommer lang hatte er die japanischen Walfänger durch die Antarktis verfolgt und fast fünf Jahre auf See verbracht. Er hatte sich bei den Operationen stets an die Anordnungen gehalten und war nie ängstlich. Als er jetzt das Gefängnis verließ, war Kapitän Peter Hammarstedt die neue Galionsfigur von Sea Sheperd – er war Commander.
Nach acht Tagen wurde Watson gegen eine Kaution von 250 000 Euro aus dem Gefängnis entlassen und in einer Wohnung in Frankfurt-Bornheim unter Hausarrest gestellt. Jeden Tag um zwölf Uhr meldete er sich bei der örtlichen Polizeidienststelle. Als Präsident von Sea Shepherd USA und als Kapitän der SS Steve Irwin war er ausgeschieden. Jetzt hatte er einen Tipp bekommen, dass Japan seine Auslieferung wünsche. Er war davon überzeugt, dass er in diesem Land kein faires Verfahren bekommen würde. Außerdem kursierten Gerüchte, dass die Mafia von Costa Rica 25 000 Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt hätte.
Die Abende vertrieb er sich mit Spaziergängen am Ufer des Mains. Und mit seiner Fluchtplanung.
Eines Abends im August rasierte er sich den Bart ab, färbte sein kreideweißes Haar und verschwand mit einem Auto über die Grenze in die Niederlande. Er fühlte sich krank, eine Infektion am Bein quälte ihn, er hatte keinen Pass und kein Handy, seine Kreditkarte wagte er nicht zu benutzen.
An der niederländischen Küste wurde er von dem Segler Columbus erwartet. Das Sea-Shepherd-Logo war verdeckt, damit das Schiff nicht unnötig auffiel. Durch den Ärmelkanal gelangte die Columbus in den Atlantik und erst vier Monate später tauchte Watson wieder in der Öffentlichkeit auf.
Im Südpolarmeer.
Nachdem die deutsche Polizei gemerkt hatte, dass sich Watson aus dem Staub gemacht hatte, verlangte auch Japan von Interpol eine Red Notice – die Art von Steckbrief, wie sie für Kriegsverbrecher und Mörder üblich ist. Mit zwei Steckbriefen von Interpol im Nacken war Paul Watsons Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt.10
Den Sommer 2014 verbrachte Watson in Woodstock in Vermont – ein unwirklicher Ort, eine grüne, wellige, von Laubbäumen gesäumte Landschaft, klassische Landhäuser mit Säulengängen und großen Fenstern im New-England-Stil. Mittendrin ein japanischer Zen-Garten, ein Teehaus und ein buddhistischer Meditationstempel, der als Versammlungsort für eine Gruppe dort lebender Mönche diente. Auf einer großen Rasenfläche war eine Reihe von Steinen senkrecht aufgestellt – eine Nachahmung von Stonehenge. Von diesem Anwesen aus geht der Blick auf die gewaltigen White Mountains in New Hampshire. Auf dem Grundstück befindet sich auch ein kleiner See, in dem niemand baden darf, weil die Sonnencreme den darin lebenden Fröschen schadet.
Besitzer dieses herrlichen Stückchens des amerikanischen Traums ist der Milliardär Pritam Singh – geboren als Paul Arthur Labombard in einer verarmten Industriestadt in Massachusetts. Nachdem er aus einer von Alkohol und Armut zerstörten Nachbarschaft geflohen war, tauchte Labombard als radikaler Studentenaktivist auf und später als Wortführer für die Rebellen der Sikh in Nordindien. Wieder in den USA arbeitete er sich mit geliehenem Geld und eisernem Willen im Baugewerbe hoch. Bald war der Linksradikale mit den klaren blauen Augen, dem struppigen Bart und dem Turban einer der größten Immobilienhändler von Key West an der Südspitze Floridas.
Dort begegnete er zufällig Paul Watson. Pritam Singh wurde rasch als hochprofilierter Promi in die Umweltbewegung integriert. Er finanzierte zum Teil das Flaggschiff von Sea Shepherd, die Steve Irwin, benannt nach dem australischen Umweltschützer und Krokodiljäger, der von einem Stachelrochen getötet wurde und Vizepräsident der Sea Shepherd Conservation Society gewesen war. Paul Watson verstand es, sich mit Promis aus der Geschäftswelt und der Unterhaltungsbranche zu verbünden. Sie hatten die mit Reichtum verbundene Kraft der Verführung. Oder, wie es Watson ausdrückte: »Mit James Bond, Batman, Captain Kirk und MacGyver am Steuer sind wir unbesiegbar.«11
In Vermont war Watson an diesem milden Sommerabend der Gastgeber für die erste globale Sea-Shepherd-Konferenz. Die 250 Geladenen, die meisten schwarz gekleidet, wurden von den einheimischen Mohawk-Indianern gesegnet. Es wurden Seminare abgehalten über das Abschlachten von Delfinen in Japan, über das Töten von Haien in China, über Meditation und Veganismus – und der Einsatz von Drohnen wurde demonstriert. Kapitän Peter Hammarstedt hielt einen Vortrag über die Walfangoperationen im Südpolarmeer.
Der Widerstand gegen den Walfang bestimmte die Geschichte der Meeresschutzorganisation und war ihr Aushängeschild. Nachdem er Greenpeace verlassen hatte, weil ihm die Organisation nicht militant genug war, kaufte Paul Watson einen 20 Jahre alten Atlantiktrawler, taufte ihn Sea Shepherd und begann mit der Verfolgung der Sierra, einem illegal operierenden Walfänger, der bereits an die 25 000 Wale geschlachtet hatte. Als Watson durch Zufall auf die Sierra stieß, verfolgte er sie bis nach Portugal und rammte das Schiff schließlich mit dem verstärkten Bug der Sea Shepherd, als es gerade den Hafen von Leixões verließ. Später wurde die Sea Shepherd von einem portugiesischen Gericht dem Eigner der Sierra als Entschädigung für den Schaden zugesprochen. Statt zuzulassen, dass die Sea Shepherd in den Besitz von Walfängern fiel, schlichen Watson und seine Crew in der Silvesternacht 1979 an Bord, öffneten die Ventile im Maschinenraum und versenkten das eigene Schiff. Doch auch die Sierra kam letztlich nicht davon: Aktivisten aus Watsons Crew versenkten sie nur zwei Monate später im Hafen von Lissabon, wo sie zur Reparatur im Dock lag. Doch das war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.
1992 versuchten Watson und seine Verlobte, das frühere Playboy-Model Lisa Distefano, das Walfangschiff Nybræna, das auf den Lofoten am Kai lag, zu versenken. Die Sabotage brachte Watson 120 Tage Gefängnis ein, aber er wurde freigelassen, als die niederländischen Behörden sich weigerten, ihn an Norwegen auszuliefern.
In einem offenen Brief an das norwegische Volk erklärte Paul Watson, dass er acht Schiffe versenkt und weitere acht beschädigt habe. In dem Brief begründete er auch die Ideologie der Bewegung: Sea Shepherd beuge sich allein vor den Gesetzen der Natur, wie Watson es formulierte.
»Die Sea Shepherd Conservation Society ist eine gesetzestreue Organisation. Wir halten uns strikt an die Gesetze der Natur, respektieren die Lex natura. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Gesetze der Ökologie Priorität haben vor den Gesetzen, die von den Nationen zum Schutz der Gesellschaft gemacht werden. (…) Der Geruch nach Schuld ist bereits ein Gestank in den Nasenlöchern Gottes«, schrieb er.12
Für Watson wäre es sinnlos, Schiffe zu versenken, ohne der Welt damit zeigen zu können, was dahintersteckte. Nach der Doku-Serie WhaleWars – Krieg den Walfängern!, die den Kampf von Sea Shepherd gegen die japanische Walfangflotte im Südpolarmeer darstellte, verzeichnete die Organisation einen gewaltigen Anstieg an Spendengeldern und freiwilligen Aktivisten. Der Erfolg der auf Animal Planet ausgestrahlten Serie übertraf alle bisherigen Sea-Shepherd-Aktionen.13
Peter Hammarstedt wollte es nun anders machen. Bei den früheren Expeditionen in der Antarktis sah er oft die Leinenbojen, die die Flotte der Fischwilderer hinterließ, bevor sie in den dunklen Häfen Südostasiens verschwand. Hammarstedt wollte, dass Sea Shepherd sein Profil vom Jäger illegaler Walfänger zugunsten eines engagierten Einsatzes für die unberührte Antarktis verändert.
In Vermont, in der Bibliothek mit der hohen Deckentäfelung, die zugleich Meditationsraum war, kam es zu einem Gespräch zwischen Peter Hammarstedt und Paul Watson. Der internationale Gerichtshof der UN in Den Haag hatte Japan untersagt, weiterhin Walfang in Südpolarmeer zu betreiben und Teile der Sea-Shepherd-Flotte war ohne Aufgabe.
»Was hältst du davon, wenn wir uns der Verfolgung von Fischwilderern in der Antarktis zuwenden?«, fragte Hammarstedt. »Glaubst du, wir können sie aufspüren?«, erkundigte sich Watson. »Da bin ich sicher«, sagte Hammarstedt. »Okay«, antwortete Watson.
Vier Monate später saßen die Kapitäne Peter Hammarstedt und Siddharth »Sid« Chakravarty in einem Hotelzimmer in Wellington. Die »Operation Icefish« war initiiert. Unten im Hafen lag die Sam Simon, bereit, um ins Südpolarmeer zu starten. Seit Wochen hatte sich Kapitän Chakravarty auf den Schiffsfriedhöfen in Mumbai umgesehen nach Teilen für eine kräftige Winsch, die er auf der Sam Simon anbringen wollte, um die kilometerlangen Grundleinen, die er zu finden hoffte, an Bord ziehen zu können. Die Bob Barker mit ihrer großen Treibstoffkapazität, dem leistungsstarken Motor und dem eisverstärkten Rumpf sollte die Schiffe aufbringen und verfolgen. So lautete der einfache Plan.
»Und wie lange willst du sie verfolgen?«, fragte Chakravarty.
Die Frage kam für Hammarstedt überraschend. Er hatte keine klare Antwort. »So lange, wie es eben dauert?«, fragte Chakravarty.
»Ja. So lange, wie es eben dauert«, antwortete Hammarstedt.
»Oh, nein! Nicht diese Verrückten von Sea Shepherd.«
Das war der erste Gedanke, der Martin Exel durch den Kopf fuhr, als er von der »Operation Icefish« hörte.
Als oberster Manager für Umwelt und Politik beim Fischereigiganten Austral Fisheries lebte und kämpfte er seit über 20 Jahren für den Antarktisdorsch.
Exel hatte ein geheimes Nachrichtennetzwerk eingerichtet, um die Piraten ausfindig zu machen und zu stoppen; momentan operierte er mit einer Flotte legaler Fischereifahrzeuge, um im Südpolarmeer den Antarktisdorsch zu fangen. Bei Austral Fisheries wurde Sea Shepherd gewöhnlich für eine Bande verrückter, rücksichtsloser Spinner gehalten – Paul Watson galt als ein Mann, der sich mit blödsinnigen Aktionen blamierte und völlig weltfremd war. Martin Exel war davon überzeugt, dass Sea Shepherd die legalen Fischtrawler angreifen, die Schiffsrümpfe besprühen und ein höllisches Chaos anrichten würde.14
Als er Vertreter anderer Umweltorganisationen fragte, wie er sich verhalten solle, starrten sie ihn nur erschrocken an und rieten ihm, sich von Sea Shepherd fernzuhalten.
Die angekündigte Expedition von Sea Shepherd konnte für Austral Fisheries in einer kommerziellen Katastrophe enden. Die massive Medienmaschinerie von Sea Shepherd würde Luxushotels und Spitzenrestaurants weltweit aufschrecken und veranlassen, den Antarktisdorsch von der Speisekarte zu nehmen. Martin Exel sah keine andere Lösung, als mit Sea Shepherd Kontakt aufzunehmen und eine Zusammenarbeit zu versuchen.
»Nach ein oder zwei Fischpiraten im Südpolarmeer zu suchen ist so gut wie aussichtslos. Wir haben diese Schiffe seit zwanzig Jahren gejagt und wissen, wie schwierig und kostspielig das ist«, erklärte er bei einem Treffen mit Jeff Hansen, dem Sea-Shepherd-Direktor in Australien.
Anfang der 1990er Jahre schickte Austral Fisheries ihr Flaggschiff, die 85 Meter lange Austral Leader, auf eine Reihe kostspieliger und enttäuschender Expeditionen in die Antarktis. Man hoffte, dort Vorkommen des Seehechts zu finden. Auf dieser Fahrt verlor die Gesellschaft jeden Tag große Summen Geld, einziges Ergebnis waren leere Netze. In ihrer Verzweiflung suchten sie auf den Karten nach Stellen, an denen sie regulär fischen könnten und gelangten schließlich zu den Macquarie-Inseln auf halbem Weg zwischen Australien und der Antarktis. Aus der Tiefe holten sie dort einen in Australien so gut wie unbekannten Fisch, den Antarktisdorsch, auch Schwarzer Seehecht genannt. Aber die Australier waren zu spät gekommen: der Bestand an Antarktisdorsch war bereits von russischen Trawlern leergefischt worden.
Austral Fisheries setzte seine Expeditionen fort, fuhr immer weiter hinein ins Südpolarmeer bis hin zur Vulkaninsel Heard. Dort traf die Austral Leader auf eine Flotte argentinischer Fischwilderer. Als es der isländische Kapitän auf eine Konfrontation mit den Argentiniern ankommen ließ, war der Kampf um den Antarktisdorsch eröffnet. Nachdem man gedroht hatte, die Schiffe zu bewaffnen, setzte Austral Fisheries eine höchst ungewöhnliche und kostspielige Untersuchung in Gang, um die illegale Fischereiflotte und ihre Eigentümer zu ermitteln. Die Gesellschaft rekrutierte ehemalige Spezialsoldaten, um Informationen einzuholen, in Perth wurde eine Zentralstelle für anonyme Hinweise eingerichtet, in den Häfen wurden Plakate geklebt und für sachdienliche Hinweise auf die Antarktisdorsch-Fischpiraten eine Belohnung von 100 000 Dollar versprochen. Allmählich machte sich das Netzwerk geheimer Informanten aus aller Welt bezahlt. Doch war dies ein Spiel mit hohem Einsatz und großem Risiko. Einer der anonymen Informanten wurde enttarnt und so zugerichtet, dass er für drei Monate ins Krankenhaus kam. Was man anfangs für eine Bande opportunistischer Amateure gehalten hatte, erwies sich als eine gut organisierte und zynische Verbrecherbande. Die Piraten beauftragten private Sicherheitsdienste, die jedes einzelne der Patrouillenschiffe überwachten. Als ein französisches Patrouillenboot unterwegs zur Antarktis war und auf Réunion bunkerte, wussten die Piraten, dass es noch vier Tage bis zu den Fischbänken brauchen würde und die Trawler wurden vorgewarnt.
Die Führung bei Austral Fisheries verglich die Situation im Südpolarmeer mit einer Invasion, die sowohl die Souveränität des Landes wie die wirtschaftlichen Interessen provozierte. Zwischen 40 und 100 Piratenschiffe plünderten in dem Gebiet, viele mit spanischen und norwegischen Hintermännern. Als die australischen Behörden Schiffe in die Antarktis schickten, um die Piratenflotte zu jagen, war das die erste bewaffnete Operation des Landes in diesem Gebiet seit dem Zweiten Weltkrieg. Die »Operation Dirk« wurde 4000 Kilometer vom australischen Festland entfernt durchgeführt und kostete die Steuerzahler Millionen von Dollar. In einem der friedlichsten Lebensräume der Welt fand so etwas wie ein Krieg statt, obwohl in der Antarktis jede militärische Aktion verboten ist.
Als das Patrouillenboot Oceanic Viking, ausgerüstet mit zwei Kaliber-50-Maschinengewehren, im Dezember 2006 in die Prydz Bay kam, stieß sie auf das Piratenschiff Typhoon I, das später unter dem Namen Thunder bekannt werden sollte.
»Ich wollte, dass du es als erster erfährst.«
Die Sam Simon ist gerade von Wellington aufgebrochen, um sich der »Operation Icefish« anzuschließen, als Kapitän Sid Chakravarty einen Telefonanruf aus dem Südpolarmeer bekommt. Es ist Peter Hammarstedt.
»Ich glaube, ich habe direkt vor mir die Thunder. Wir fanden einige Leinenbojen im Wasser. Wir haben das Schiff optisch in Sicht. Sie sind 5,7 Seemeilen entfernt. Die Silhouette stimmt, es muss sich um die Thunder handeln«, berichtet er.
Nach Beendigung seines Gesprächs mit Chakravarty steigt Hammarstedt schnell die Treppe von der Brücke nach unten, hastet hinüber zur Messe und hinein in den Salon. Mit Leidenschaft in der Stimme unterrichtet er die Besatzung darüber, was vor ihnen liegt.
»Wir sind auf einen Fischdampfer gestoßen. Im Wasser befinden sich Fischereigeräte. Wir müssen ein Stück näher ran, um hundertprozentig sicher zu sein, aber es sieht ganz so aus, als wäre das Schiff die Thunder. Zweiter Tag der Suche und wir haben eines erwischt!«, sagt er voller Freude.
»Das ist einfach supergeil«, ruft einer aus der Mannschaft durch den Lärm der Begeisterung, die Klatschsalven und das Gejohle im Salon.
Auf der Brücke beobachtet Adam Meyerson, wie das Heck der Thunder immer näher kommt, er fährt einen Kurs, um das Schiff abzufangen, das jetzt in südöstliche Richtung fährt – weg von den Leinenbojen.
»Neun Minuten entfernt. Wir holen sie locker ein. Es ist ein schönes Gefühl, auf dem schnelleren Schiff zu sein«, freut er sich.
»Hisst die Flaggen. Macht die Boote klar!«, sagt Hammarstedt, der eben auf die Brücke zurückgekehrt ist.
Bald steht die gesamte Crew in Seenot-Überlebensanzügen bereit, sie ziehen die Persenning von den Beibooten, die am Vordeck befestigt sind und einige hängen an der Verschanzung, um einen Blick auf die Thunder zu werfen, die versucht, hinter die Eisberge zu entfliehen. Über der Bob Barker weht sowohl die niederländische Flagge wie die von Sea Shepherd – der Totenkopf eines Piraten mit Hirtenstab und Dreizack statt der gekreuzten Knochen.
»Wir haben sie eindeutig beim Fischen gestört. Sie haben uns gesehen und sind sofort abgehauen«, sagt Hammarstedt.
»Sie wissen, dass sie Verbotenes im Schilde führen. Verbrecher pflegen zu fliehen«, antwortet Meyerson.
Nicht lange und sie können den Namen des Schiffes lesen, der am Achtersteven auf einem Holzbrett steht, das man mit einem Handgriff austauschen kann. Thunder, Lagos.
»Das gibt’s doch nicht … die haben doch tatsächlich ihren Namen am Rumpf! Als würde man John Dillinger mit einem Namenschild auf der Brust finden«, lacht Meyerson.15
Hammarstedt ruft über Sprechfunk:
»Thunder, Thunder, Thunder. Hier spricht die Bob Barker. PC9519. Wir rufen Sie auf Kanal 16«
»Hier ist die Thunder auf Kanal 16.«
»Guten Tag, Thunder. Hier ist die Bob Barker. Ihr fischt illegal in einer CCAMLR-Region ohne eine Genehmigung zum Fischen.«
»Sorry, sorry. Kein Englisch. Nur Spanisch.«
«Das trifft sich gut, weil hablo español también«, sagt Hammarstedt und bittet den Kapitän der Thunder zu warten, bis er die spanischstämmige Kamerafrau Alejandra Gimeno auf die Brücke geholt hat.
»Ihr fischt illegal. Habt ihr eine Genehmigung zum Fischen?«
»Wir haben eine Genehmigung, wir haben eine Genehmigung. Das Schiff läuft unter nigerianischer Flagge und wir befinden uns in internationalen Gewässern. Over«, antwortet die Thunder.
»Ihr fischt in der CCAMLR-Region 58.4.2, und wir haben eine auf euch ausgestellte Interpolfahndung.«
»Wir sind auf Fahrt und fischen nicht. Übrigens, was seid ihr für ein Schiff? Ich sehe, ihr habt eine Piratenflagge. Was soll das?«, fragt der Kapitän der Thunder.
»Sag ihm, dass wir die internationale Umweltschutzpolizei sind und dass sie unter Arrest stehen«, sagt Hammarstedt zu Gimeno.
»No, no, no. Negativo. Ihr seid nicht befugt, dieses Schiff festzuhalten. Wir setzen die Fahrt fort. Over«, antwortet die Thunder.
»Wir sind befugt. Wir haben eure Position an die australische Polizei weitergegeben.«
»Ok, ok, ihr könnt unsere Position senden, aber ihr könnt nicht unser Schiff entern. Ihr könnt es auch nicht unter Arrest stellen. Wir bewegen uns in internationalen Gewässern und wir fahren weiter.«
»Wir werden euch verfolgen und ihr steht unter Arrest. Ändert euren Kurs nach Fremantle, Australien. Sehen wir, dass ihr fischt, stoppen wir euch mit Gewalt«, droht Hammarstedt.
Er spürt das Adrenalin durch den Körper jagen, hastet hinunter auf Deck, um das Foto zu schießen, von dem er geträumt hat. Er an der Reling stehend mit der Interpolfahndung in der Hand und im Hintergrund die Thunder.
Zurück auf der Brücke ordnet er an, eine halbe nautische Meile Abstand zur Thunder zu halten. Er will ihr nicht zu nahe kommen, aber zugleich schnell genug reagieren können, falls das Schiff den Kurs ändert.
»Das Schlimmste haben wir jetzt geschafft«, sagt Adam Meyerson.
Bevor er hinunter in die Kapitänskajüte geht, klappt Hammarstedt das Logbuch auf, beugt sich darüber und schreibt:
»Die ›Hot Pursuit‹ beginnt.«16
Von seinem Büro am Ufer der Rhône aus kann Alistair McDonnell den Morgennebel sehen, der wie ein dünner Schleier über dem Wasser des Flusses liegt. Fast den ganzen Dezember schon liegt Lyon unter einer dicken Wolkendecke und jetzt fällt die Stadt in einen stillen, kühlen Weihnachtsschlummer. McDonnell, verantwortlicher Leiter von Project Scale, der neuen Abteilung von Interpol gegen die Fischereikriminalität, freut sich auf die ersehnten Weihnachtsferien zu Hause in Hastings.17
Im Hauptquartier von Interpol lässt sich der letzte Monat des Jahres als Erfolg feiern.
Man war daran beteiligt, eine Bande hochgehen zu lassen, die Uran aus Moldawien schmuggelte und man hat die Hintermänner eines Syndikats eingekreist, das Elfenbein aus Tansania schmuggelte. In Mittelamerika wurden fast 30 Tonnen Rauschgift beschlagnahmt.
Was die »Operation Spillway« betrifft, gibt es vorläufig nicht viel zu feiern. Hauptziel der geheimen Operation sind die Piratenschiffe Thunder und Viking. Seit acht Monaten überlegt Alistair McDonnell, wie er sie kriegen kann.
Dann, um die Mittagszeit des 17. Dezember, bekommt das »Command and Coordination Centre« einen Anruf aus dem Südpolarmeer.18 Trotz des schlechten Empfangs über Satellit wird klar, dass der Anrufer Peter Hammarstedt ist. Er stellt sich als Kapitän der Bob Barker vor und teilt mit, eben die von Interpol gesuchte Thunder gefunden zu haben.
Als die Nachricht McDonnells Büro erreicht, stößt er die geballte Faust in die Luft. Auf diesen Moment hat der britische Ermittler gewartet. Schnell verwandelt er einen Teil des Großraumbüros in einen »Emergency Room« und markiert auf den elektronischen Karten die Position der Thunder. Dann sagt er die Weihnachtsferien ab.
Die »Operation Spillway« ist das Ergebnis einer beharrlichen und langwierigen Lobbyarbeit zwischen Ministerien und Umweltschützern. Die Fischereikriminalität wurde lange als unwichtig abgetan und gehörte nicht zu den vordringlichen Betätigungsfeldern der Polizei, obwohl sie Kennzeichen organisierter Kriminalität aufwies. Schiffsdokumente und Fangprotokolle wurden gefälscht; Kontrolleure und Hafenbehörden bestochen. Die Besatzungen auf den Schiffen hatten Sklavenverträge und der Profit wurde in undurchschaubaren Gesellschaften weiß gewaschen. Ein Betrug, der über 20 Milliarden Dollar jährlich einbrachte.
2012 ergriffen Norwegen und die USA die Initiative zur Einrichtung einer eigenen Arbeitsgruppe, die die gesetzlosen Zustände auf dem Meer bekämpfen sollte – »illegaler, undokumentierter und ungeregelter Fischfang«.19 Im Herbst desselben Jahres startete Interpol die erste geheime Operation gegen Fischwilderei. In jedem Interpol-Mitgliedsland saß je ein Fischereiinspektor mit ein paar Einzelteilen eines verwirrenden Puzzles. Sie registrierten, wann die Schiffe in die Häfen einliefen, wie der Fang deklariert wurde, Piratenschiffe wurden aus der Luft beobachtet, in einem Hafen lag eine Liste der Besatzung, in einem anderen ein Bußgeldbescheid. Gemeinsam hätten sie vielleicht genügend Informationen, die sich zu einer Anklage in einem Gerichtsprozess gegen Schiffsoffiziere und Hintermänner verwenden ließen.
Eine Gruppe von Schiffen erwies sich als eindeutiges Ziel für Interpol: die Flotte von Trawlern und Fangschiffen, die in der Antarktis den Schwarzen Seehecht plünderte. Das war vermutlich die lohnendste und am längsten andauernde illegale Fischerei in der Geschichte, die sich in einem begrenzten geografischen Bereich abspielte, gezielt auf eine Fischart gerichtet war und in Hunderten von Berichten, Büchern, Zeitungsreportagen und Rechtsdokumenten festgehalten war. Jedes Schiff verdiente bis zu fünf Millionen Dollar pro Jahr, die Fischbestände wurden ernstlich bedroht und die wirtschaftliche Existenz normaler Fischer zerstört.20
Im Unterschied zu Kokainschmugglern, die ihre illegale Ware sorgfältig verstecken, sind die Schiffe der Fischwilderer leicht zu verfolgen, sie fallen auf wie »Elefanten im Schnee«, denkt sich Alistair McDonnell.21 Jetzt können sie endlich testen, ob sich die Datenbanken und Kommunikationssysteme von Interpol im Kampf gegen Fischpiraterie bewähren.
Doch obwohl die Thunder und die Viking zahllose Spuren an Land hinterlassen haben, sind sie schwer zu kriegen. Ihr kriminelles Tun spielt sich in internationalen Gewässern ab, die Gewinne verschwinden in Steuerparadiesen und es ist fast unmöglich, Insider der Operationen zum Sprechen zu bringen. Die »Informanten« der Polizei sind gewöhnlich die Nachbarn, die Geheimnisse ausplaudern, aber auf dem Meer betrachten sich die meisten als Komplizen und verraten einander nicht. Außerdem umfasst das Jagdgebiet der Piratenschiffe das Meer, gut 70 Prozent der Erdoberfläche.
Für die »Operation Spillway« haben McDonnell und seine Kollegen eine Strategie erarbeitet, die hoffentlich funktioniert. Den Schiffen soll in jedem Hafen, in dem sie auftauchen, mit akribischen Überprüfungen das Leben schwer gemacht werden. Jeder kleinste Gesetzesverstoß soll aufgedeckt und verfolgt werden. Diese Strategie nennt McDonnell »Tod durch tausend Stiche«.
Jetzt hat Sea Shepherd von früh bis spät die Augen und Kameras auf die Thunder gerichtet, die Interpolfahndung nach Paul Watson erschwert allerdings den Dialog. Außerdem ist die Meeresschutzorganisation berüchtigt wegen ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Ungeduld im Umgang mit den Behörden. Als McDonnell eine E-Mail von dem für Asien zuständigen Direktor der Organisation über das Auffinden der Thunder bekommt, sieht er trotzdem eine Möglichkeit.
»Danke für die Information, wir werden die Position überwachen und aktualisieren ebenso wie das Material zur Identifikation des Schiffes, das ihr uns überlasst«, antwortet McDonnell kurz und knapp.
Er hofft, dass Sea Shepherd den Fingerzeig versteht: Haltet uns ständig auf dem Laufenden. Auch wenn wir nicht antworten, verfolgen wir die Angelegenheit.
Alles ist in Bewegung.
Die Albatrosse lassen sich mit ihren langen Flügeln – sie haben eine Spannweite von drei Metern – im Luftstrom mühelos treiben. Sie kreuzen gegen den Wind, wenden sich dann in einem weiten Bogen zur windabgewandten Seite, stürzen hinunter zur Wasseroberfläche, um schließlich gegen den Wind wieder aufzusteigen.
Im Süden, von der Prydz-Bucht aus, fließt ein ewiger, unsichtbarer Strom, der das Eis vom Innern der Antarktis zur Küste mitnimmt.22 Vom Inland fegt der Wind. Von der dicht geballten Kaltluft des antarktischen Kontinents braust er das steile Polarplateau hinunter und weiter bis über die Küste.
Der Wind hat eine Geschwindigkeit von vier Knoten und bläst aus Südwest, das Meer bewegt sich in gleichmäßiger, ruhiger Dünung um die beiden Schiffe, die Wellen sind knapp einen Meter hoch. Die Thunder nimmt Kurs nach Westen. Wissen die Piraten schon, wer ihr Verfolger ist? Schlägt der Steuermann der Thunder deshalb die entgegengesetzte Richtung zum Heimathafen der Bob Barker in Tasmanien ein? Vielleicht will er testen, wie lange Hammarstedt bereit ist, ihn zu verfolgen.
Unvermittelt ändert die Thunder den Kurs hin zu einem Packeisgürtel. Der Steuermann verringert die Fahrt auf zwei Knoten, fährt nach Nordwest und umfährt eine quadratische Eisdecke. Die beiden Schiffe halten sich lange an den nördlichen Rand des Treibeises. Als sie in eine breite, von Eis gesäumte Bucht kommen, stoppt die Thunder. Als würde das Schiff einen Moment lang auf die vor ihm liegende Gefahr aufmerksam.
»Da ist jede Menge Packeis. Mal sehen, was die Burschen tun. Zwei Möglichkeiten, umdrehen oder reinfahren«, sagt Adam Meyerson, der Erste Steuermann. »Sie verschwenden nur ihre Zeit und unsere. Sie testen uns vielleicht. Wir sind schneller als sie, entkommen können sie uns also nicht. Wollen wohl unseren Biss lockern. Ich bin sicher, die sind verzweifelt. Sie haben keine andere Möglichkeit«, sagt er.
»Sie wollen wohl abwarten, was wir machen, denke ich. Wir fahren einfach direkt auf ihr Heck zu«, sagt Peter Hammarstedt.
In dem kurzen Augenblick des Stillstandes läuft der Fotograf der Bob Barker an Deck, um die Tiefgangsmarken zu fotografieren. Daran lässt sich ablesen, wie tief die Thunder im Wasser liegt. Das kann ein Hinweis darauf sein, wie viel Proviant und Treibstoff sie an Bord haben.
Dann wendet die Thunder ihren Bug trotzig in Richtung Packeis, zuerst vorsichtig und prüfend, als wolle der Skipper testen, wie die Kollision mit dem Eis das Schiff beeinträchtigt. Plötzlich erhöht sie die Geschwindigkeit, die Schiffsschraube gräbt eine eisfreie Rinne, in der die Bob Barker folgt, ohne selbst das Eis brechen zu müssen. Hammarstedt muss dicht hinter der Thunder bleiben, 700 bis 800 Meter etwa, sonst schließt sich die offene Rinne im Eis vor ihm wieder.
»Was treiben die für ein Spielchen?«, fragt Simon Ager, der kanadische Fotograf an Bord.
»Sie wollen vermutlich testen, ob wir uns ins Eis wagen. Sie wollen sicher ausprobieren, ob sie schneller durchs Eis kommen als wir«, sagt Meyerson, reibt sich das Kinn und wirft einen skeptischen Blick auf das Manöver vor seinen Augen.
Einen Augenblick überlegt Kapitän Hammarstedt, den Kapitän der Thunder anzurufen um zu fragen, ob er das Manöver hinein ins Eis für verantwortlich hält, aber er lässt es bleiben. Er will nicht zeigen, dass er selber unruhig ist.
Hammarstedts größte Sorge ist, dass ihn das Eis zwingt, stehen zu bleiben. Dann wird es sich hinter der Bob Barker schließen und kann sich zwischen Rumpf und Ruder festsetzen und so das empfindlichste Teil des Schiffes funktionsunfähig machen. Ein Albtraum, wenn man zwei Wochen vom nächsten Hafen entfernt ist und das einzige Schiff in der Nähe alles tut, um sich aus dem Staub zu machen. Am gefährlichsten ist das Navigieren zwischen dem Eis und dem antarktischen Kontinent, wenn der Wind plötzlich die Richtung ändert, die Eismassen auf das Schiff zu schiebt und der Wind den Rumpf sorgfältig in Eis einpackt und das Schiff einsperrt. Dann fängt der Stahl an, nachzugeben und der Druck des Eises droht, den Rumpf aufzureißen. Da ist es zwecklos, in die Rettungsboote zu gehen.
»Im Moment handelt die Thunder unberechenbar. Versucht irgendeinen Ausweg zu finden. Mit diesen Burschen haben wir noch nie zu tun gehabt. Wir werden sie fertigmachen. Ich glaube nicht, dass sie das lange durchhalten«, sagt Meyerson auf der Brücke.
Das Eis schabt am Rumpf entlang, wie ein Stein gegen eine Schleifscheibe, das Geräusch beherrscht alle Kajüten, manchmal hört man den Knall von verräterischen Treibeisstücken. Das sind »bergy bits« (Eisbrocken), die an der Oberfläche nicht größer sind als zwei bis drei Meter im Durchmesser, aber nichts an der Wasseroberfläche verrät, wie tief sie reichen. Wenn sie sich von treibenden Eisbergen lösen und ins Meer gelangen, kippen sie um, waschen den Oberflächenschnee ab und bleiben liegen, dümpeln mit einer Oberfläche aus glasiertem Eis dahin und lassen sich am Radarschirm nur schwer identifizieren. Mit einem Gewicht von bis zu 500 Tonnen können sie ein Schiff ohne weiteres versenken.
Der Erste Maschinist Erwin Vermeulen hält den Blick fest auf das Heck der Thunder gerichtet.
»Das ist ein ziemliches Risiko für die Crew, aber auch für die Umwelt. Wenn diese Schiffe scheitern, verlassen sie sich darauf, dass andere Schiffe zu ihrer Rettung kommen«, stellt er fest.
Einige Monate zuvor verschwand das Piratenschiff Tiantai in der antarktischen Eiswüste. Als die australische Hauptrettungsleitstelle das Notsignal empfing, versuchte sie zunächst, Kontakt mit dem Eigner aufzunehmen. Doch das war zwecklos. Das Schiff war in Tansania registriert, es gab jedoch keine Angaben über das Schiff und mit wem man in einer Notsituation Kontakt aufnehmen sollte. Die einzig verlässliche Angabe über die Tiantai war, dass sie wegen illegalen Fischfangs in der Antarktis auf der Schwarzen Liste stand.
Gleichzeitig mit dem Auslösen des automatischen Notsenders fand eine umfassende Suchaktion im südlichen Indischen Ozean nach einem Flugzeug der Malaysia Airlines mit 239 Passagieren und Besatzung statt, das spurlos verschwunden war.23 Eines der australischen Flugzeuge, die bei der Suche nach der verschwundenen Maschine im Einsatz waren, wurde umdirigiert, um nach der Tiantai zu suchen. Außerdem wurde eine Orion, ein Flugzeug der australischen Luftwaffe, zum Ort des Schiffbruchs geschickt.
Als die Flugzeuge eintrafen, sendete der Notfunksender immer noch, die Wellen schlugen bis zu sieben Meter hoch, die Lufttemperatur betrug minus 17 Grad. Nirgends die Spur eines Schiffes, einer Besatzung oder von Rettungsinseln. Das einzige, was man aus der Luft erkennen konnte, waren verstreute Wrackteile. 180 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt bemerkten die Piloten das berüchtigte Piratenschiff Kunlun. Der Skipper der Kunlun antwortete nicht auf den Sprechfunkkontakt; schweigend setzte der Fischtrawler seine Fahrt nach Norden fort.
Die Einschätzung der medizinischen Experten war verheerend. In dieser Kälte und bei der rauen See konnte niemand überlebt haben, auch nicht in einem Rettungsboot. Am nächsten Tag wurde die Suchaktion aufgegeben.24
Während die Medien überall auf der Welt ausführlich über das unerklärliche Verschwinden des Flugzeugs der Malaysia Airlines berichteten, wurde die Tiantai mit keinem Wort erwähnt. Niemand wusste, was mit dem Schiff oder der Crew passiert war, aber anscheinend interessierte das auch kaum jemanden. Als Hammarstedt unterwegs war, um Spenden zu sammeln für die geplante »Operation Icefish«, erzählte er meistens auch vom Schicksal der Tiantai. Die Fischwilderer aus der Antarktis zu vertreiben bedeutete auch, der gesichtslosen Mannschaft auf den verwahrlosten Seelenverkäufern, die im Südpolarmeer fischten, zu helfen.
Um die Thunder und um die Bob Barker wird das Eis dicker und dicker. Zuerst schließt es die Thunder ein, dann die Bob Barker. Die Schiffe sind vom Eis eingekesselt und sie pflügen sich behutsam vorwärts. Da erspäht Adam Meyerson einen klaren, blauen Streifen offenes Meer. Die Thunder kommt zuerst aus dem Eis heraus, nimmt Fahrt auf und steuert Kurs nach Norden, weg vom Eis.
Auf der Brücke sehen sie, wie die Thunder am Horizont kleiner und kleiner wird, aber sie wissen, dass es für sie kein Problem ist, den Fischtrawler wieder einzuholen, sobald sie sich durch die letzten Eisschollen gekämpft haben.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht sind beide Schiffe in offenem Wasser.
»Na kommt schon, Leute, ab nach Fremantle und ich spendier euch ein Bier. Und dann liefere ich euch im Knast ab«, lacht Adam Meyerson.
Es war der 23. März 1969. Ein hoffnungsvoller Frühlingstag in Ulsteinvik an der norwegischen Westküste. Am Dock der Hatlö Werft lag ein nagelneuer Hecktrawler, ausgestattet mit dem Neuesten vom Neuen, Geräten zum Filetieren und Ausnehmen, einem gewaltigen Kühlraum und Räumlichkeiten für eine Besatzung von 47 Mann. Das Schiff war auch mit Klimaanlage ausgestattet, um es in tropischen Gewässern kühl zu haben.
Es war der modernste Fabriktrawler, der je in der alteingesessenen Werft gebaut worden war. Das Schiff war für die Färöer bestimmt, es sollte die Fischerei der Färöer in die moderne Zeit führen.
»Mögest du deinem Namen Ehre machen. Vesturvón soll dein Name sein«, las die Schiffspatin vor und ließ die Champagnerflasche am Bug des Schiffes zerschellen, das viele Jahre später unter dem Namen Thunder Bekanntheit erlangen würde. Dann bat der Geschäftsführer der Werft die Patin, das Schiff zeit seines Lebens mit guten Gedanken zu begleiten.
Auf den Färöern wurde der Fischtrawler von einem Blasorchester und einer jubelnden Volksmenge empfangen.25 Der erste Skipper, der schweigsame und barsche Davor Poulsen, hielt jeden Sonntag im Salon eine Andacht, egal wie gut der Fang war. Einige Jahre fischten sie an den Bänken um Grönland, zweimal hatte das Schiff einen Motorschaden und musste südwärts geschleppt werden. Aber die Vesturvón war zäh. Während der Sturm die Dächer von den Häusern auf den Färöern fegte und die Schlepptrosse rissen, kam der Trawler wie durch ein Wunder zu einer Werft in Dänemark.
Nach 17 Jahren Einsatz im Dienste der Dorschfischerei um Grönland und die Färöer wurde die Vesturvón an die alteingesessene Familienreederei Boyd Line verkauft. Als das Schiff 1986 in der englischen Hafenstadt Kingston upon Hull anlegte, bekam es den Namen Arctic Ranger.
Früher gehörte Hull zu den weltgrößten Fischereihäfen. In den 1950er Jahren war die Stadt Heimathafen für 350