Fixfeuer - Jörg Matthias Braun - E-Book

Fixfeuer E-Book

Jörg Matthias Braun

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Beschreibung

Im Jahr 1857 ereignet sich in der Stadt Bernkastel an der Mittelmosel eine Serie von insgesamt sieben Bränden, die von dem einheimischen Tagelöhner Johann Meisterburg gelegt werden und insgesamt mehr als 60 Gebäude zerstören. Angestachelt durch den Hass auf seine Heimatstadt und deren Bewohner, nimmt sich Meisterburg das Großfeuer in der Nachbarstadt Trarbach zum Vorbild, um in Bernkastel sein verwerfliches Spiel mit dem Feuer zu beginnen, welches die Einwohner der Stadt über mehrere Monate in Angst und Schrecken versetzt. Meisterburg kann sich der Faszination und der Sucht der Pyromanie nicht entziehen und muss immer weitere Brände legen. Am Ende glaubt man ihn der Taten überführen zu können, aber sind die gefundenen Beweise stichhaltig genug?

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Morgenstimmung

Die Familie

Die Stadt Bernkastel

Die Mutter

Gendarm Neubeiser

Frühstück

Auf der Amtsstube

Der Schuhmacher

Am Kapuzinerkreuz

Markttag

Papierkram

Heute gibt’s Fisch!

Der fette Zeller

Kontrollgang

Hochwasser

Am Gestade

Soleier

Brand in Zell

„Dä Cusa Nikla“

Der Kaufmann Simon Marx

An der Brauerei

„Schwarzbäckchen“

Die Graacher Gasse

An der Bärenpumpe

In der Kallenfels

Der Hirte

„Trarbach brennt!“

Kühlen Kopf bewahren

Die Vorhut

Aufregung am Rauschenpütz

Die Forelle

Auf dem Weg nach Trarbach

Blick auf Trarbach

Pfarrer Dorbach

Leuchtende Augen

Chaos

Die Idee

Löscharbeiten in Trarbach

Der Agent

Das Opfer

Versicherungsfälle

Die Planung

Die Police

Das Herdfeuer

Die Bernkast'ler Zeitung

Der Schuppen

Zähe Verhandlungen

„Endlich geht’s los!“

Gräwes

„Feuer! Feuer!“

Aufräumarbeiten

Das Wichtigste zuerst

Die Karten lügen nie

Nachbarschaftshilfe

Zurück nach Bernkastel

Kampf gegen die Flammen

Schlechte Nachrichten

In Reih und Glied

Schöne Aussicht

Total erschöpft

Ein Anblick zum Dahinschmelzen

Einen Versuch ist’s wert

Erste Schadensbilanz

Ein Besuch zur Unzeit

Zwei Brände in einer Ausgabe

Der Korinthenkacker

Die Grabutzke

Hoher Besuch

Versicherungsbetrug

Erste Untersuchungen

Scheibchenweise

Unschuldsvermutung

Das Fünf-Minuten-Ei

Das Geschäft muss laufen

Ein möglicher Verdächtiger

Der Kreissekretär

Das Hilfskomitee

Zeugenbefragung

Ablenkungsmanöver

Was für ein Pech

Die Lebensuhr

Spendenaufruf

Der Engländer

Hilferuf für die abgebrannten Trarbacher

Der Schlappeflicker

Die Geier kreisen schon

Es kribbelt wieder

Die Prutsch

Auf dem Eichelfeld

Steff und Paula

Der nächste Streich

Ein Verdächtiger weniger

Paula und Steff

Schon wieder das leidige Thema

Abgebrannt

Überall an der Mosel brennt es

Der Wolf

Der ungezogenste Bengel

Der neue Bürgermeister

Reinhaltung der Straßen

Der Sohn des Feldhüters

Kein Nachtisch, der mundet

Aller guten Dinge sind drei!

Die Römerstraße

Das erste Opfer

Was sollen wir noch tun?

Der bleiche Reiter

Zeugenvernehmungen

Hilfe läuft an

Weitere Spenden für die Mosel

Glück gehabt!

Der Drohbrief

Auferstehen aus Ruinen

Die Zustellung

Feuer allenthalben

Es wird Herbst

Auch schon in Trier gewesen

Lederallergie

Im Haus des Schreiners Burkard

Die Båhr

Schnell erkannt ist halb gebannt

Post aus Altona

Eine Handvoll

Drei zerstörte Dächer

Der kleine Joseph

Brandgeschädigte am Marktplatz

Vom Pech verfolgt

Weitere Geschädigte am Marktplatz

Ein dunkler Winter steht bevor

Gleich zwei Brände

Dä Ahmer Grompere

Expropriation

Die Feuerspritze

Ein sehr guter Herbst

Konstantinopel ist nicht aus der Welt

Die Geschwister Korger

Doch lieber Trier?

Der sechste Brand

Ermittlungen in der Vorstadt

Fixfeuer

Was für ein Scheißleben!

Bitte um kirchlichen Beistand

Dem Himmel sei Dank!

Abermals zwei Brände

Ermittlungen an der Heilig-Geist-Kirche

Neustart in Trier

Hausdurchsuchung im Armenspital

Reichen die Beweise?

Die Verhaftung

Anhang

Das Kreuz

Beim Marx

Die Wallfahrt

Vorwort

Im Jahr 1857 ereignete sich in der Stadt Bernkastel an der Mittelmosel eine Serie von insgesamt sieben Bränden, die von einer einzigen Person – dem einheimischen Tagelöhner Johann Meisterburg – gelegt wurden und insgesamt mehr als 60 Gebäude zerstörten oder schwer beschädigten. Die Fakten rund um die Brände, die Ermittlungen und die Festnahme des Verdächtigen sind dem Buch „Johann Meisterburg – der Brandstifter von Bernkastel“ 1 von Jörg Matthias Braun aus dem Jahre 2019 entnommen.

Das vorliegende Buch schildert die Ereignisse jenes Jahres in Romanform. Aus den zeitgenössischen Protokollen überlieferte Personen und Orte wurden unverändert im Roman übernommen. Andere Passagen des Buches sowie einzelne Charakterzüge der Akteure sind der Phantasie des Autors entsprungen, um die Geschichte für den Leser spannender und interessanter zu machen.

Juli 2023Jörg Matthias Braun

1 ISBN 978-3-86579-156-6

Danksagung

Ich danke meiner lieben Ehefrau für ihr Verständnis und ihre Unterstützung während meiner Arbeit an diesem Werk.

Morgenstimmung

„Kreytzdonnerkeyl nochemål!“

Johann Meisterburg hatte eine Stinkwut im Bauch! Gerade erst war die Sonne über den Weinbergen hinter dem kleinen Häuschen, in dem er und seine Familie wohnten, aufgegangen, da wurde er schon von ihr geweckt. Ein Dutzend Mal hatte er seinem Bruder Heinrich, dem das Haus gehörte – zumindest bildete der sich das ein – gesagt, dass im Fensterladen eine kaputte Lamelle ersetzt werden müsse. Genau durch diese Stelle fielen seit einer Woche die ersten Strahlen der im Osten aufgehenden Sonne genau auf seine Augenlider, sodass das grelle Licht seinem Schlummern ein jähes Ende bereitete. Heute hatte er ausschlafen wollen, denn mal wieder hatte er an diesem Tag nichts Besseres vor. Nicht, dass es für einen Tagelöhner wie ihn in Bernkastel nicht genügend Arbeit gab, wenn man welche wollte, aber arbeiten war nicht sein Ding. Er hatte schließlich ein Dach über dem Kopf und einen Faulenzer sollte seine Familie ja wohl durchfüttern können. Warum also sollte er sich Tag für Tag für andere im Weinberg abrackern, Lastkähne im Hafen entladen oder die schweren Waren mit Sackkarren von der Mosel aus in die Stadt fahren? Viel angenehmer war es doch, den Tag in aller Ruhe zu beginnen, nach dem Frühstück durch die Stadt zu stromern und sich die Deppen anzuschauen, die sich jahrein, jahraus plagten, nur um zu Hause ein keifendes Eheweib und eine Hand voll lärmender Bälger durchfüttern zu können. Ihm reichte es, ab und an ein wenig zu arbeiten, um genug Taschengeld zu haben, mit dem er sich hier und da einen Schoppen Wein oder eine Flasche Bier leisten konnte.

In Bernkastel war es üblich, Alkohol in rauen Mengen zu trinken. Fast jeder verließ die Gastwirtschaft im angetrunkenen Zustand. Johann Meisterburg mochte das nicht. Zum einen fehlte ihm das Geld, um sich zu betrinken. Sein Hauptgrund nüchtern zu bleiben war jedoch ein anderer. Er hatte gelernt, dass sich bei vielen Trinkgesellen mit jedem Glas Wein oder Bier die Zunge mehr löste. In diesem Zustand vergaßen die Leute alle Vorsicht und wurden redselig, manch einer prahlte geradezu vor den anderen, welche wertvollen Gegenstände er zu Hause liegen hatte oder wo im Haus sein Notgroschen versteckt war.

Johann saß gerne still und leise mit am Tisch – wobei, meistens saß er für sich alleine. Zum einen war er bei den Bernkastelern nicht besonders wohl gelitten, was wohl auch damit zu tun hatte, dass er – aus Abneigung gegen die Bernkasteler Winzer – grundsätzlich nur auswärtigen Wein trank, am liebsten einen „Kirchberg“ aus Veldenz oder einen „Himmelreich“ aus Graach, falls auswärtiger Wein im Wirtshaus überhaupt angeboten wurde. Wann immer ihn ein Wirt darauf ansprach, ob er nicht lieber einen guten Tropfen aus Bernkastel trinken wolle, gab er diesem zur Antwort: „Bleib mir bloß mit dem Buppel2 weg!“

Zum anderen mochte Johann selbst kaum jemand anderen leiden und sich mit ihm an einen Tisch setzen. Daher saß er meist an einem Nebentisch, stellte seine Lauscher auf und hörte aufmerksam zu. Auf diese Weise hatte er schon manch gute Beute bei einem seiner vielen Einbrüche gemacht. Viele Haustüren standen tagsüber immer offen und da er selten arbeitete hatte er zu dieser Tageszeit leichtes Spiel. Wenn ein Hausbesitzer vorsichtiger war und die Haustüre während seiner Abwesenheit verriegelt hatte, so brauchte sich Johann in der Regel nur über ein anderes Haus Zugang zum Dachboden zu verschaffen, denn die in der engen Stadt direkt aneinander gebauten Häuser waren oft über den Dachboden miteinander verbunden und jene Verbindungstüren waren so gut wie nie verschlossen. Unverfängliche Beutestücke konnte er in der Stadt selbst zu Geld machen. Bei eindeutig identifizierbaren Dingen, wie beispielsweise einer Taschenuhr mit Monogramm, musste er notgedrungen nach Trarbach oder gar bis Trier reisen, um diese zu versetzen. Nach Trarbach konnte man von Bernkastel aus problemlos in ein paar Stunden hin- und zurückgehen. Eine Reise nach Trier konnte demgegenüber leicht ein paar Tage in Anspruch nehmen, vor allem, wenn man sich die Mitfahrt auf einem Kahn nicht leisten konnte. Wenn aber das finanzielle Ergebnis stimmte, lohnte sich auch dieser Aufwand. Außerdem kam er auf diese Weise ab und an aus dem „Drecksnest“ – wie er seine Heimatstadt Bernkastel zu bezeichnen pflegte – heraus.

Eben sinnierte er, wie früh am Tag es wohl sein mochte, da zeigte die Uhr des auf der Anhöhe gelegenen ehemaligen Kapuzinerklosters mit ihrer Glocke sieben volle und eine halbe Stunde an. Zum Aufstehen war es ihm noch zu früh und Johann verfiel ins Grübeln. Wenn er sich die anderen Männer seines Alters betrachtete, war er froh, dass er unverheiratet geblieben war. Er war nun 25 Jahre alt und manch ein Schulkamerad hatte seiner Ansicht nach schon sein Leben mit einer Ehefrau und Kindern verpfuscht! Die Kleinen fraßen einem die Haare vom Kopf, ständig war das Geld knapp und wenn im Winter oder Frühjahr bedingt durch die dann nasskalte Witterung mal ein Arzt oder Medizin zu bezahlen waren, dann musste der Gürtel noch enger als sonst geschnallt werden. Und wofür das Ganze? Als Familienvater galt es von Montag bis Samstag von früh bis spät zu arbeiten, nur um die Familie durchzubringen. Trotz aller Anstrengung starb einem nicht selten die Hälfte der Kinder weg und wenn man eine Alte zu Hause hatte, die von Jahr zu Jahr mehr herumnörgelte, dann hatte man auch nach Feierabend keine Ruhe. Da half dann nur noch der Gang ins Wirtshaus, aber ein Wirt wollte auch nicht ewig anschreiben, wenn man nicht bezahlen konnte.

2 minderwertiger Wein

Die Familie

Nein, dann war es ihm schon lieber, dass er frei und ungebunden war. Er lebte zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Heinrich und seinen Eltern in einem Häuschen in der Vorstadt von Bernkastel. Da seine Familie wenig Geld hatte, besaßen sie nur ein ganz kleines Häuschen, das nicht vorne an der Straße, sondern hinten an den Weinbergen lag. Sie hatten schon immer in der Vorstadt gewohnt, in der vornehmlich der ärmere Teil der Stadtbevölkerung sein Dasein fristete. Etwas anderes konnten sie sich nicht leisten. Früher hatten sie oberhalb der Heilig-Geist-Kirche gewohnt, aber dieses Haus brannte im Januar 1845 ab. Ein leichtes Grinsen umspielte Johanns Lippen, als er daran dachte. Das Haus, in dem sie nun wohnten, hatte hauptsächlich sein Bruder Heinrich bezahlt. Der hatte zwar auch keinen richtigen Beruf gelernt, war aber so dumm, jeden Morgen zeitig aufzustehen, um sich in der Stadt eine Gelegenheitsarbeit zu suchen. Deswegen beanspruchte Heinrich das Haus als das seinige, worüber es fortwährend zu Streitigkeiten kam, denn nach Johanns Meinung gehörte es der gesamten Familie.

Seine Familie war nie übermäßig wohlhabend gewesen. Eigentlich interessierte ihn die Familiengeschichte nicht sonderlich, aber sein Vater Peter Sebastian hatte ihm ab und zu etwas erzählt. Wenn er sich recht an die Erzählungen erinnerte ging es der Familie im 18. Jahrhundert gar nicht so schlecht. Man war zwar nicht reich, hatte aber sein Auskommen. Sogar ein Jesuitenpater war aus der Familie hervorgegangen. Der wirtschaftliche Niedergang der Meisterburgs begann allem Anschein nach mit seinem Großvater Nikolaus, der schon verstorben war, als Johann im Jahr 1832 geboren wurde. Dieser konnte nicht gut wirtschaften und als er mit nicht einmal 50 Jahren verstarb, hinterließ er seiner Witwe einen Haufen Schulden. Sein Vater war ein Tagelöhner, der keinen Beruf erlernt hatte und diese „Tradition“ hatte er an seine beiden Söhne vererbt. Da sowohl sein Vater Peter Sebastian, als auch dessen Vater Nikolaus als jeweils einzige ihrer Familien geheiratet hatten, war die Verwandtschaft der Meisterburgs in Bernkastel sehr übersichtlich und die aktuelle Zahl der Namensträger auf eben jene vier Köpfe seiner eigenen Familie begrenzt: Er selbst, sein Bruder, sein Vater und seine Mutter. Wobei – eigentlich hielten sich zurzeit nur drei Meisterburg in Bernkastel auf, denn sein Vater saß mal wieder wegen Bettelei seit einigen Monaten im Gefängnis zu Trier!

Die Stadt Bernkastel

Bernkastel war ein kleines Städtchen an der Mittelmosel, ungefähr auf halbem Weg von Trier nach Koblenz, welches sich in ein enges Tal des Hunsrücks auf der stromabwärts gesehen rechten Seite des Flusses schmiegte. Dementsprechend beengt waren die Platzverhältnisse und die Fachwerkhäuser waren Wand an Wand gebaut. Bernkastel lag in der preußischen Rheinprovinz. Innerhalb dieser gab es nur zwei Brücken über die Mosel – eine in Trier und eine in Koblenz. Wollte man von Bernkastel aus auf die gegenüberliegende Flussseite auf der nach links versetzt das Dorf Cues lag, so musste man eine Fähre oder einen Nachen benutzen. Genau gegenüber der Bernkasteler St. Michaelskirche lag das Cusanus-Hospital, welches weit und breit nur von eigenen Ländereien umgeben war. Bernkastel selbst hatte auch ein Armenhospital, welches dem Heiligen Geist geweiht war. Diese Stiftung war sogar noch ein paar Jahrzehnte älter als die des bekannten Kardinals Nikolaus Cusanus. Die dazugehörige Heilig-Geist-Kirche lag in der Vorstadt von Bernkastel neben dem Friedhof.

Die Stadt hatte circa 2.400 Einwohner von denen rund 95% katholisch waren. Es gab eine 4-zügige Schule, die Höhere Knabenschule, sowie eine jüdische Schule. Hauptwirtschaftszweig war der Weinbau, wozu sich die steilen Weinberge mit Schieferböden hervorragend eigneten. Die häufigsten Berufe waren Winzer, Bäcker, Fassbinder, Seiler, Gerber, Schreiner, Schuhmacher, Metzger, Sattler und Zigarrenmacher. Im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern gab es in der Stadt aber auch Ärzte, Goldschmiede, Apotheker und – seit man ein Teil Preußens war – auch Beamte wie Landrat, Notare, Gerichtsvollzieher, Gendarme, Schreiber etc. Diese wurden oft von weit her nach Bernkastel versetzt und hatten den Anteil der Bevölkerung mit protestantischem Glauben deutlich vergrößert.

Insgesamt konnte man in dem Moselstädtchen sein Auskommen finden, wenn man arbeitsam war, auch wenn die letzten Jahre für den Weinbau nicht besonders gut gewesen waren.

Die Mutter

Johann Meisterburgs Mutter Maria Elisabeth – genannt „Lissbeth“ – war eine geborene „Schuh“. Sie war in erster Ehe mit dem Bergmann Johann Beucher verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe brachte sie als Witwe die beiden Kinder Johann und Elisabeth mit, die demnach Johanns und Heinrichs Stiefgeschwister waren. Über diese Seite hatte Johann demnach weitere Verwandtschaft in der Stadt. Seine beiden Stiefgeschwister waren allerdings 19 respektive 14 Jahre älter als Johann, so dass er zu ihnen keine besonders tiefe Beziehung hatte. Man grüßte sich, ging sich ansonsten jedoch eher aus dem Weg.

Ein wirklich gutes Verhältnis hatte er in Bernkastel sowieso nur zu seiner Mutter. Die konnte zwar ein richtiges Luder sein, aber er war ihr Liebling und die beiden kamen im Großen und Ganzen gut miteinander klar. Manchmal nannte sie ihn sogar „mein Hannichen“! Seine Mutter bestritt ihren Lebensunterhalt durch Betteln, Kartenlegen und Wahrsagen, was sie in den Augen der meisten Bernkasteler zu einer Außenseiterin machte. Allerdings hatte sie es in ihrem Leben nicht leicht gehabt. Sie war ein uneheliches Kind und ihre Mutter heiratete erst zehn Jahre nach Lissbeths Geburt, so dass Elisabeth in frühester Kindheit kein wirkliches Familienleben kennengelernt hatte. Auch ihre Mutter Margaretha war bereits mit sechs Jahren Vollwaise gewesen und hatte ebenfalls keine leichte Kindheit und Jugend gehabt.

Nun ja, so war das nun mal im Leben. Es war nicht immer leicht, aber man musste selbst sehen, dass man das Beste daraus machte. Deshalb hatte und wollte er auch keine eigene Familie und arbeitete nur das Nötigste.

Seine Mutter liebte es, innerhalb der Familie über andere Leute herzuziehen und sich über diese lustig zu machen. Sie hatte vielen potentiellen Opfern, bei denen Johann ins Haus einsteigen und etwas stehlen konnte, einen Spitznamen gegeben, so dass niemand außer ihnen beiden wusste, wer gemeint war, falls sie mal bei der Planung einer Tat belauscht würden. Bei der Vergabe der Namen war seine Mutter an Einfallsreichtum kaum zu überbieten. Im Laufe der Zeit hatte er selbst viele gute Namen erfunden, aber seine Mutter war immer noch die Meisterin und die besten Spitznamen stammten von ihr. Allerdings hatte Hanni eine andere Begabung, bei der er besser war als seine Mutter: Gedichte schreiben. Das tat er eher unregelmäßig, aber in der Regel führte er immer ein paar kleine Zettel und einen Bleistift in der Hosentasche mit sich, falls ihn ein Einfall zu einem lustigen Gedicht überkommen sollte.

Es war schon zu so früher Stunde wieder recht warm an diesem Dienstag und die Sonne drückte durch den Fensterladen. Seit Wochen war es heiß und hatte keinen Tropfen geregnet. Er konnte sich nicht an einen so heißen Sommer erinnern und auch die Alten in der Stadt hatte er sagen hören, dass sie Solches selten erlebt hatten.

Johann beschloss aufzustehen. Er hatte zwar nichts vor, aber bei zunehmender Temperatur war an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken. Mühsam und müde vom gestrigen Nichtstun erhob er sich aus seinem Bett und ging zum Waschtisch. Er goss sich ein wenig Wasser aus der Kanne in die Porzellanschale, dann zog er sein Nachthemd aus und vollzog seine übliche „Katzenwäsche“, die wie sonst auch nur eine knappe Minute dauerte. Er trocknete sich ab, nahm das gestrige Hemd vom Stuhl und zog es an. Dann noch schnell die darunterliegende Hose geschnappt und angezogen, die Gallien3 auf die Schultern geschoben und fertig war ein „frischer Johann für einen neuen Tag“.

3 Hosenträger

Gendarm Neubeiser

„Nun lass doch, so schlimm sieht es gar nicht aus.“, sagte Ludwig zu seiner Frau, die letzte Hand an die Jacke seiner grünen Uniform anlegte.

Ludwig, der mit vollem Namen Johann Ludwig Neubeiser hieß, war Gendarm in Bernkastel, genauer gesagt: Fußgendarm, denn in größeren Städten gab es auch Vertreter seines Standes, die hoch zu Ross unterwegs waren, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Er war weit weg von hier geboren, nämlich in Culm an der Weichsel im Osten des Königreiches Preußen. In die Rheinprovinz, die seit 1822 eine Preußische Provinz war und zu der auch das Moselstädtchen Bernkastel gehörte, hatte ihn sein Beruf und die Praxis, dass man Beamte und Bedienstete vorwiegend heimatfern einsetzte, geführt. Sein Vater war mit Ludwigs Berufswunsch nicht besonders glücklich gewesen. Zum einen war jener ein Musiker, zum anderen erachtete er den Beruf des Gendarmen als nicht ungefährlich und damit für einen zukünftigen Familienvater als unangebracht.

Bevor Neubeiser nach Bernkastel kam, hatte er in dem rund zwölf Kilometer entfernt gelegenen Hunsrückdorf Morbach seinen Dienst versehen. Dort hatte er 1849 auch seine Ehefrau Anna Maria Gertrud Mehn geheiratet, die aus Lieser an der Mosel stammte und theoretisch flussabwärts nach Bernkastel hätte schwimmen können, wenn sie dessen mächtig gewesen wäre. Zumindest lag Lieser als moselaufwärts gelegener Nachbarort von Cues – das auf der anderen Seite der Mosel gegenüber von Bernkastel lag – ganz in der Nähe der Stadt. Von dem Berg, auf dem die Burgruine „Landshut“ über Bernkastel thronte, konnte man Lieser sogar sehen. Er hatte damals heiraten „müssen“, denn seine Ehefrau war schwanger und fünf Monate später kam ihr Töchterlein Margaretha zur Welt. Aber er liebte seine Frau und hatte die Entscheidung nie bereut. Zum Zeitpunkt der Heirat war er bereits 37 Jahre alt gewesen und seine Frau auch schon 33 – für beide sozusagen „höchste Eisenbahn“! Seine Ehefrau war als Witwe in ihre zweite Ehe gegangen, hatte aus der kurzen Ehe mit einem Förster jedoch keine Kinder.

Ein Jahr später war er an die Mosel versetzt worden und dieser Standort kam ihm viel mehr gelegen, war er doch auch in einer Stadt aufgewachsen, die an einem Fluss lag. In Bernkastel gesellten sich im regelmäßigen Abstand von zwei Jahren noch ein Mädchen und zwei Buben zur Familie, so dass sie nun zu sechst waren. Viele Kinder verstarben Mitte des 19. Jahrhunderts sehr jung, aber von diesem Schicksal waren sie gottlob bisher verschont geblieben.

„So meine Herzallerliebste, nun wird es Zeit in die Amtsstube zu gehen.“

sagte er seiner Ehefrau, die inzwischen den jüngsten Sprössling – den nach ihm benannten Johann Ludwig – auf ihren Arm genommen hatte. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, drückte seine beiden jüngsten Kinder – die beiden großen waren schon in der Schule – und verließ das Haus. Sein Ziel war das am Marktplatz liegende Rathaus, in dem sich die Amtsstube befand.

Er blickte sich noch einmal um und sah seine Frau mit den beiden Kindern vor der Haustür stehen und ihm zuwinken. Er erwiderte lächelnd ihre Geste und freute sich schon darauf seine Familie heute Abend wiederzusehen.

Frühstück

Johann Meisterburg ging nach unten in die kleine Küche, die er verwaist vorfand. Sein Bruder Heinrich war sicherlich schon bei der Arbeit, aber dass seine Mutter nicht anwesend war, verwunderte ihn ein wenig. Vielleicht war sie ja zum Einkaufen in die Stadt gegangen? Er nahm das Brot aus dem hölzernen Kasten, schnitt sich eine dicke Scheibe davon runter und legte diese auf den Tisch.

Die kleine Turmuhr des „Klösterchens“ schlug acht.

Johann ging zur Kellertür, entriegelte die kleine Tür, nahm das Glas mit der Zwetschgenmarmelade, die seine Mutter letztes Jahr eingekocht hatte und trug es in die Küche. Auf der Kellertreppe bewahrten sie im Sommer die Lebensmittel auf, die kühl stehen mussten. Er öffnete eine Schublade im Küchenschrank, entnahm einen Löffel, den er in die Marmelade tauchte, um diese anschließend auf dem Brot zu verteilen. Gerne hätte er auch Butter auf dem Brot gehabt, aber da sie selbst keine Kuh besaßen, um von deren Milch die Butter selbst herstellen zu können, war diese im Haushalt nicht immer vorhanden. Eine Möglichkeit diesen Zustand zu vermeiden wäre natürlich gewesen, regelmäßiger einer Arbeit nachzugehen, aber so wichtig war ihm die Butter nun auch wieder nicht! Auf dem Herd stand noch eine Kanne mit lauwarmem Kaffee, von dem er sich eine Tasse eingoss. Es war „natürlich“ kein richtiger Kaffee, denn der war für seine Familie unerschwinglich und wurde höchstens mal zu Weihnachten gekauft. Sie tranken normalerweise einen Kaffeeersatz, der aus Getreidekörnern hergestellt wurde. Nachdem er aufgegessen und ausgetrunken hatte, erhob er sich und brachte das Marmeladenglas zurück an seinen angestammten Platz auf der Kellertreppe. Nun konnte der Tag beginnen. Er ging zur Haustür, schlüpfte in seine dort stehenden Werktagsschuhe, nahm seine am Zapfenbrett hängende Mütze und öffnete die Tür. Warme Luft schlug ihm an diesem 21. Juli entgegen, aber glücklicherweise wehte ein leichtes Lüftchen, welches die Temperatur erträglicher machte. „Mal schauen, was in der Stadt so los ist“ dachte er sich, dann betrat er das Pfädchen hinter dem Haus und ging nach links, um zur Vorstadtstraße zu gelangen.

Gerade als Johann in die Straße einbog blickte Susanne Bechter, die im Haus an der Einmündung des Scheuerhofpfädchens in die Vorstadtstraße wohnte, aus ihrem Küchenfenster und sah ihn ums Eck entschwinden.

„Da geht ja der Spitzbub“, sagte sie laut, obwohl außer ihr kein anderer im Raum war.

„Was der wohl wieder vorhaben mag? Nun, egal, ich habe genug Hausarbeit, als dass ich mir darüber den Kopf zerbrechen könnte“.

Auf der Amtsstube

Ludwig Neubeiser betrat das am Marktplatz gelegene Rathaus. Er steuerte auf die Steintreppe zu, deren 17 Stufen ihn in das erste Stockwerk führten. Dort lag rechter Hand im dritten Zimmer seine Amtsstube, was für Ortsunkundige auch anhand eines emaillierten Schildes an der Wand neben dem Türrahmen zu ersehen war. Die Stube war preußisch einfach und zweckmäßig eingerichtet. Es befanden sich drei Stehpulte in Fensternähe, auf denen Tintenfass, Federhalter und Stahlfeder zu sehen waren, die als Schreibutensilien dienten. Auch eine Löschwiege war auf jedem Pult vorhanden, denn schließlich sollte das Geschriebene ja nicht verwischen, sondern gut lesbar bleiben, denn im Königreich Preußen wurde alles akribisch festgehalten. Musste man also mal eine Seite umblättern und auf der Rückseite weiterschreiben, wurde die überschüssige, noch feuchte Tinte auf der Vorderseite zunächst mit der Löschwiege aufgenommen, damit nichts verschmierte. Auf die Wiegen war Ludwig besonders stolz, denn sie waren auf seine Anregung hin eingeführt worden. Vordem wurde auf dem Bernkasteler Amt normales Löschpapier, von den ganz alten Kollegen sogar noch Löschsand aus Streusanddosen verwendet!

Am linken Pult stand sein Kollege, der Polizeidiener Wilhelm Borg, der ihn freundlich begrüßte. Wilhelm gehörte zwar nicht zum Inventar, war heute aber vor Ludwig zur Arbeit erschienen, was eher selten der Fall war. Das mittlere Schreibpult war das des Gendarmen und das rechte Pult war seit einiger Zeit verwaist. Es gehörte dem Feldhüter und Polizeidiener Simon Krämer, der leider schwer an Schwindsucht erkrankt war und von dem man nicht wusste, ob er jemals wieder seinen Dienst würde antreten können.

An der Wand standen zwei Archivschränke und ein Sortierfach, daneben noch ein Schrank zur Aufbewahrung von Büromaterialien wie beispielsweise Schreibpapier oder Tinte. Alles war ohne große Schnörkel geschreinert, aber in ihrer Arbeit kam es darauf auch nicht an, sondern eher auf Korrektheit, Disziplin und bürokratische Zweckmäßigkeit. Ein Schriftstück auch nach einiger Zeit zuverlässig wiederauffinden zu können war wichtiger als ein schmückendes Möbelstück, in dem es verschwunden blieb.

„Du bist mal wieder pünktlich wie ein Maurer,“ meinte Wilhelm nicht ohne Anerkennung zu Ludwig, denn die Turmuhr der Michaelskirche schlug soeben acht Mal.

„Tja, Pünktlichkeit ist eine Zier und für einen Beamten unabdingbar!“, gab er zur Antwort. Wilhelm durfte das durchaus als Kritik an seinem häufigen Zuspätkommen auffassen.

„Mal sehen, was heute so anliegt“, ergänzte Ludwig.

Die Aufgaben eines Gendarmen waren vielfältig. Neben dem Dienst auf der Polizeiwache waren sie für Gefangenentransporte und die Verhinderung von Desertationen zuständig. Bei etwaigen Bedrohungen hatten sie sofortige Hilfe zu leisten. Sie hatten Patrouillen durchzuführen, die primär der Verhinderung von Verbrechen durch Anwesenheit und Abschreckung dienten. War trotzdem eine schwere Straftat geschehen, so galt es die Verfolgung des Verbrechers aufzunehmen. Zu den angenehmeren und ungefährlichen Aufgaben gehörten der Transport behördlicher Briefe, die Unterstützung der Zivilbehörden sowie die Aufnahme von Anzeigen bei Verstößen gegen polizeiliche Vorschriften. Somit war sein Dienst selten langweilig, denn irgendetwas war in einer Stadt wie Bernkastel eigentlich immer los. Das Einzige was – gottlob! – kaum vorkam, waren Kapitalverbrechen.

Mit geübtem Auge überflog er die Dokumente, die auf seinem Schreibpult in der Ablage lagen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Richtig, heute war Markttag und da der Markt gewissermaßen vor der Tür lag und ihm nicht weglief, beschloss er, zunächst die anderen Papiere durchzusehen. Es waren zwei Steckbriefe darunter. Einer von einem Deserteur, der sich der militärischen Musterung entzogen hatte und einer von einem Rendanten, der in die Kasse gegriffen hatte und sich mitsamt dem Geld auf der Flucht befand. Ludwig pflegte sich solche Steckbriefe mit der Beschreibung des Flüchtigen – dem sogenannten Signalement – immer gut durchzulesen, um sich die wichtigsten körperlichen Merkmale des Gesuchten einzuprägen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Person ausgerechnet im hiesigen Städtchen blicken ließ, war zwar äußerst gering, aber wenn dies doch geschehen sollte, so wollte er vorbereitet sein.

Der Schuhmacher

Matthias Stein – genannt „Mättes“ – saß auf der Türschwelle und besohlte ein paar abgetragene Schuhe neu. Die Arbeit der Winzer in den hiesigen Weinbergen mit ihren Schieferböden und scharfkantigen gebrochenen Steinen beanspruchte einen täglich getragenen Schuh stark. Für ihn war das nicht schlecht, hatte er dadurch doch ausreichend zu tun und sein wirtschaftliches Auskommen. Er war ein Schuhmacher, der trotz seiner knapp 80 Lebensjahre noch sehr rüstig war und jeden Tag seiner gewohnten Arbeit nachging. Das bewahrte ihn vor Langeweile und Trübsinn, vor allem seit vor zehn Jahren seine Frau Eva verstorben war. Er wohnte in der Vorstadtstraße im Haus mit der Nummer 187, ungefähr auf einem Drittel der Strecke zwischen dem Kapuzinerkreuz und der Heilig-Geist-Kirche. Mättes hatte sich soeben ein halbes Dutzend kurze Holzstifte – sogenannte Pinne – zwischen die Lippen gesteckt, um mit ihnen die Sohle an den Oberschuh zu nageln, als er im Augenwinkel jemanden gewahr wurde. Es war Johann Meisterburg, der wie üblich die Straße in einem gemächlichen Tempo hinunterschlenderte. Ebenso üblich war es, dass Meisterburg grußlos an ihm vorbeiging, im Gegensatz zu dessen Bruder Heinrich, der vor über einer Stunde auf seinem Weg zur Arbeit vorbeigekommen war und sogar kurz bei ihm verweilte, um ein kleines Schwätzchen zu halten. Dem alten Schuster war es ganz recht, dass er diesmal keinen Gruß erwidern musste, nicht nur, weil ihm das mit den Pinnen zwischen den Lippen schwergefallen wäre.

Nein, der Johann war ein echter Stinkstiefel, den er nicht einmal leiden konnte, als dieser noch ein Junge war. Er hatte nämlich in seiner Vaterstadt den schlechtesten Ruf, so dass man ihn meist nur als „der Spitzbub“ zu bezeichnen pflegte – zumindest, wenn jener nicht anwesend war. Jeder in Bernkastel wusste dann Bescheid, wer gemeint war. Von Jugend auf hatte er sich der Bettelei und dem Müßiggang ergeben und war dafür bereits mehrfach gerichtlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das erste Mal war der Meisterburg kaum älter als 10 Jahre gewesen. Damals wie auch bei den folgenden Taten ging es um Diebstahl. Da er ein scheinbar unbelehrbarer Wiederholungstäter war, hatte er bei seiner letzten Verurteilung wegen Diebstahls ein Jahr Zuchthaus in Trier erhalten. Jemanden zu bestehlen war ohne jeden Zweifel ein zu sühnendes Verbrechen, das insbesondere dann in der Gesellschaft missbilligt wurde, wenn es gegen einen eher ärmeren Mitbürger ging. Immerhin kam bei jenen Taten kein Mensch durch Johann Meisterburg körperlich zu Schaden. Letztes Jahr hatte dieser jedoch jeglichen Anstand verloren, als er seinen eigenen Bruder Heinrich im Streit mit einer Axt niederschlug. Dabei hatte er ihm unter anderem den Arm gebrochen, so dass sein Bruder zwei Monate lang nicht arbeiten konnte und froh sein musste, kein Krüppel geworden zu sein. Hätte Johann die spitze statt der stumpfen Seite der Axt gegen seinen Bruder gewandt, hätte er ihn vielleicht sogar getötet. Nein, dieser Johann war ein Taugenichts, genau wie dessen Mutter, von der er die meisten seiner Lumpereien gelernt hatte. Es wurde Zeit, dass er mal wieder für eine Missetat verurteilt und eine Weile aus dem Verkehr gezogen wurde!

In diesem Moment passierte Johann den Schuster Stein, dem er weder einen Blick noch einen Gruß zuteilwerden ließ. Im Gegenteil: insgeheim wünschte er ihm, dass er die Pinnestifte, die er zwischen den Lippen hatte, verschlucken und daran ersticken möge. Der Mättes war einer, der genau nach seinem Geschmack war! Bei jeder Gelegenheit in die Kirche rennen, „Hosianna“ lispeln und sich als gottesfürchtiger Mensch vor seinen Mitbürgern präsentieren. Johann erinnerte sich allerdings noch genau daran, dass er vor vielen Jahren, als er noch klein war und die Ehefrau des Schuhmachers noch lebte, seine Mutter einmal gefragt hatte, warum jene so häufig blaue Flecken im Gesicht hatte. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass die Eva von ihrem Mann des Öfteren verprügelt würde, vor allem, wenn dieser besoffen aus dem Wirtshaus heimkäme. Johann konnte das damals nicht richtig einordnen und fragte seine Mutter, ob sein Vater das auch manchmal mit ihr machen würde? „Wenn er sich das jemals wagt, werde ich ihm ein Messer zwischen die Rippen jagen!“ hatte er zur Antwort erhalten. Ja, seine Mutter war eine, die sich zu wehren wusste, die arme Eva war das leider nicht gewesen. Heute war Johann zwar selbst kein Kind von Traurigkeit und hatte trotz seines jungen Alters schon einiges auf dem Kerbholz, aber eine Frau zu schlagen, das kam für ihn nicht in Frage!

Am Kapuzinerkreuz

Inzwischen hatte er das Kapuzinerkreuz erreicht, welches an der Kreuzung Vorstadt-, Römer-, Kallenfelsstraße und der Straße „Hinterm Graben“ lag. Gleich daneben führte eine Treppe hoch zum Kapuzinerkloster von dem aus man zur Mandatstraße und weiter zum Marktplatz gelangte, den man vom Kreuz aus auch schneller über die Römerstraße erreichen konnte. Dorthin wollte Johann als Erstes gehen, denn am Markt war meistens etwas los. Sollte es ihm dort zu langweilig werden konnte er sich immer noch dem Hafen zuwenden. Wenn er Glück hatte, wurden dort gerade Waren verladen, die für ihn „interessant“ werden konnten. Dann musste er nur noch dem Deppen folgen, der sich heute als Tagelöhner verdingte und die Ware auf einer Sackkarre zu ihrem Empfänger in der Stadt brachte. Je nachdem, für wen die Ware bestimmt war, wusste er sofort, ob ein Diebstahl möglich war, oder ob das Warenhaus oder Lager zu gut gesichert war. Vor allem die jüdischen Kaufleute trauten niemandem über den Weg und hatten an ihren Türen meist gute Schlösser, an denen er sich schon ein ums andere Mal die Zähne ausgebissen hatte. Ein Schloss zu knacken und in das Gebäude zu gelangen war in jedem Fall mit genügend Kraftaufwand möglich. Aber nur Anfänger begingen solch eine Dummheit! Jemand mit seiner Berufserfahrung war darauf bedacht, ein Schloss so zu öffnen und nach getanem Beutezug wieder zu schließen, dass der Besitzer eben nicht sofort oder am nächsten Tag bemerkte, dass er bestohlen worden war. Und wenn der Eigentümer nicht wusste wann der Diebstahl begangen worden war, konnte er auch nicht die Nachbarn befragen, ob sie in der fraglichen Zeit etwas beobachtet hatten.

Er betrachtete das Kapuzinerkreuz, das auch Doppelkreuz genannt wurde, weil auf beiden Seiten des Kruzifixes ein gekreuzigter Heiland hing. Als Hanni das steinerne Bildnis betrachtete, musste er schmunzeln. Ihm war die Idee zu einem neuen Gedicht gekommen. Er kramte in seinen Hosentaschen und fand darin einen unbeschriebenen kleinen Zettel und einen kaum fünf Zentimeter großen Bleistiftstumpf, dann setzte er sich auf die Kapuzinertreppe gleich neben dem Kreuz. In der Schule war er nie besonders aufmerksam gewesen und daher auch des Hochdeutschen nicht wirklich mächtig, schon gar nicht in Schriftform. Er sprach wie ihm der Schnabel gewachsen war und gleiches galt beim Schreiben. Ihm war es egal, ob andere lesen konnten, was er schrieb, Hauptsache er konnte es später nochmals entziffern, falls nötig.

Johann sah auf die Figurengruppe und fing an zu schreiben. Ab und zu musste er seine Worte umstellen oder ersetzen, bevor es sich reimte aber er kam ganz gut voran. Nach ein paar Minuten betrachtete er sein Werk und las halblaut vor, was er zu Papier gebracht hatte:

Datt Krejz

Wo die Vierstaad äfängt hänn se se higehängt. Ma wäß net genau wer ed eß – die ahne såhn „Jesus Christ“. Die annere såhn „Nä!“, datt seina jå zwä!

Se hänke Rehke än Rehke, fia säich net äseblehke! Hän säich och nejst se så‘, hän säich nie guhd vertrå.

Äich kamma scho denke watt fia zwehn lå henke: Ett scheint ma passabel, datt säj Kain on Abel! 4

Johann grinste und war mit seinem Werk zufrieden. Falls nötig, konnte er später immer noch ein wenig an dem Gedicht feilen.

„Auf zum Marktplatz!“

Sprach’s, erhob sich und stieg die Treppe empor.

4 Die hochdeutsche Version befindet sich im Anhang unter dem Titel „Das Kreuz“.

Markttag

Heute war Markttag in Bernkastel. Es war jetzt kurz vor 9 Uhr, doch die Verkaufsstände waren bereits seit dem frühen Morgen aufgebaut, die Waren ausgelegt und die Kundschaft zahlreich vor Ort. Das sollte ihm genug Abwechslung für den Vormittag bescheren, dachte sich Johann. Erst einmal bezog er Position auf seinem „Ausguck“. Der ideale Platz dafür war der alte Brunnen, der vor dem Rathaus gelegen war und dessen Spitze die Figur des Erzengels Michael krönte, der ein Schwert in seiner rechten Hand hielt und der Namenspatron der hiesigen katholischen Kirche war. Von seiner Position aus musste Hanni sich nur im Kreis drehen und hatte alle Marktstände im Blick. Vor der Apotheke konnte Johann seine Mutter am Stand des Fischers ausmachen. Hatte er mit seiner Vermutung doch richtig gelegen und sie war zum Einkaufen gegangen.

Verkauft wurden hauptsächlich Lebensmittel wie Schweine-, Rind-, Hühner- oder Hammelfleisch, Milch, Eier, Brot, Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Salat, Wein, Bier und anderes mehr. Die Kunden kamen aus dem Umkreis der Stadt und kauften jene Esswaren ein, die sie selbst nicht anbauten oder herstellten. Das waren weniger die Bauern der umliegenden Ortschaften als vielmehr die Handwerker der Stadt, denn ein Gerber konnte schlecht seine Lederhäute verzehren, sondern musste die Esswaren käuflich erwerben. Die in der Stadt ansässigen Juden kauften natürlich bei ihrem eigenen Metzger, denn das Fleisch für sie musste ja koscher sein.

Da er selbst mal wieder kein Geld in der Tasche hatte, mischte sich Johann unter die Leute, belauschte deren Gespräche und hörte den ein oder anderen Fluch, nachdem diese ihn bemerkt hatten und ihm lautstark zu bedeuten gaben, dass er sich vom Acker machen solle. Zumeist waren das ein paar „Waschweiber“ deren Geschwätz er sowieso nur ein paar Minuten anhören konnte, ohne dass er das Gefühl hatte, ihm laufe das Blut aus den Ohren!

Johann ging zum Stand des Bäckers Peter Engel. Dort gab es allerlei Backwaren: Roggenbrot, Roggen-Weizen-Mischbrot, Weißbrot, Brötchen, Losweck, Hefezopf und vieles mehr. Da der Engel ein guter Bäcker war, hatte er reichlich Zulauf.

Meisterburg wusste, dass die Bäcker bei ihren Backwaren ein gewisses Gewicht einhalten mussten, damit beispielsweise ein dreipfünder Brot nicht zu leicht war und der Käufer dadurch vom Bäcker übervorteilt wurde. Johann beschloss, sich daraus einen Spaß mit dem Engel zu machen.

Er ging auf die rechte Seite des Verkaufsstandes, dorthin wo die Brote lagen. Dann nahm er ein Brot in die Hand und sagte in voller Lautstärke:

„Du, Engel, das hier ist doch nie im Leben ein dreipfünder Brot!“

Im Nu waren die Gespräche am Stand verstummt und alle Augen richteten sich auf Meisterburg und den Bäcker. Der Engel war zwar als ehrlicher Bäcker bekannt, aber man konnte ja nie wissen.

„Was sagst Du, du Spitzbub!“, ereiferte sich der Engel. Und an seine Kundschaft gewandt: „Glaubt ihm kein Wort, ihr lieben Leute! Der Verbrecher hat – wir ihr alle wisst – schon mehrfach im Zuchthaus gesessen und ausgerechnet so einer will mich verleumden!“

Die Köpfe der Umstehenden drehten sich beinahe gleichzeitig vom Engel in Richtung Meisterburg, um dessen Antwort nicht zu verpassen.

„Ich mag wohl im Zuchthaus gesessen haben.“ entgegnete Meisterburg ganz ruhig. „Aber drei Pfund kann ich dennoch sehr gut abschätzen und das hier sind keine!“, hielt er seine Anschuldigung weiterhin aufrecht.

„Dann wieg es doch einfach ab“, kam ein Vorschlag aus der Menge.

„Ja genau, dann können alle sehen, wer Recht hat“, sagte ein anderer.

„Oder hast Du etwas zu verbergen, Engel?“, wollte ein dritter wissen.

Die Stimmung drohte gegen den Bäcker zu drehen, so dass dieser sich beeilte, seine Waage auf den Tisch zu stellen, denn er war sich sicher, dass das Brot nicht untermaßig war.

„Überlass das Wiegen besser uns“, traute sich einer der Anwesenden zu sagen.

Was wollte der Bäcker machen? Um des lieben Friedens willen gab er die Aufgabe des Nachwiegens aus der Hand und einer der Kunden trat an die Waage. Er legte den Brotlaib auf die eine Waagschale und ein 3-Pfund-Gewicht auf die andere. Weil die Schale mit dem Brot etwas tiefer hing, legte er noch ein kleines Gewicht in die andere Schale, so dass der Zeiger exakt an der Mittellinie ausgerichtet war. Dann verkündete er das Ergebnis: „Es wiegt genau drei Pfund und zehn Gramm.“

„Hab‘ ich doch gesagt, dass es keine drei Pfund sind!“, rief Meisterburg mit dem breitesten Grinsen und unter höhnischem Gelächter der Anwesenden.

Bäcker Engel war außer sich vor Wut. „Mach Dich vom Acker, sonst stopfe ich Dir das Brot in Dein dreckiges Maul, dass Du daran erstickst!“, schrie er in Richtung Meisterburg.

„Der Klügere gibt nach“, sagte dieser nur und entfernte sich vom Stand.

Papierkram

Neben den beiden Steckbriefen gab es noch ein paar neue Gesetzesvorschriften, die Gendarm Neubeiser lesen musste, bevor er auf den Markt gehen konnte. Man musste sich immer auf dem neuesten Stand halten, sonst sprach man möglicherweise eine Strafe aus, die keine mehr war oder ließ umgekehrt etwas durchgehen, das eigentlich zu ahnden gewesen wäre.

Inzwischen war es bereits 9 Uhr geworden, also höchste Zeit, um auf dem Markt nach dem Rechten zu sehen. Es gab immer den ein oder anderen Verkäufer, der versuchte, die Geschäfte zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Sei es, dass die Ware weniger wog als angegeben bzw. die Gewichte oder die verwendete Waage selbst manipuliert waren. Der geprellte Käufer zahlte in diesem Fall natürlich mehr Ware als er erhielt. Verkäufer von außerhalb mussten sich außerdem ausweisen und je nach Ware eine Einfuhr- respektive Verkaufsgenehmigung vorweisen können. Wein gab es in Bernkastel beispielsweise genug, da musste darauf geachtet werden, dass nicht auch noch Wein von außerhalb im Übermaß eingeführt und verkauft wurde.

„Ich mache mal meine Runde über den Markt“, sagte Ludwig zu seinem Kollegen.

„Soll ich mitkommen?“, sah ihn Wilhelm fragend an.

„Nein, nicht nötig. Sollte es dennoch Ärger geben, dann wirst du den Tumult sicher mitbekommen und kannst mir gleich zu Hilfe eilen“, gab Ludwig, die Türklinke bereits in der Hand, als Antwort.

„Bis nachher.“

„Ja, bis später.“

Heute gibt’s Fisch!

Lissbeth Meisterburg hatte die meisten Einkäufe für heute bereits erledigt. Was noch fehlte, war der Fisch. Sie liebte Fisch, vor allem Forelle, und wenn Markttag war und der Geldbeutel es hergab, dann kaufte sie Fisch. Zielgerichtet bewegte sie sich auf den Stand vor der Apotheke zu, wo der Fischer Selbach immer seine Ware feilbot.

„Was darf’s denn sein, junge Frau? Wie wäre es mit etwas Schuppigem?“, sprach er Lissbeth an.

„Junge Frau ist gut. Du alter Charmeur!“, entgegnete sie dem Fischer. Sie war letzte Woche 65 geworden und dementsprechend sah sie auch aus, aber ein Kompliment ab und an mochte doch jede Frau hören, egal welchen Alters sie war.

„Etwas Schuppiges trifft den Nagel auf den Kopf, denn wie du weißt bin ich keine Freundin von Aal“, erwiderte sie.

„Nun, heute habe ich Hecht, Barsch, Forelle und einen kleinen Wels im Sortiment. Was möchtest du denn haben?“, fragte Selbach.

„Ich nehme eine Forelle.“ brauchte Lissbeth nicht lange zu überlegen und zeigte auf den Bottich, in dem drei oder vier Forellen schwammen.

„Aber eine schöne!“, ergänzte sie.

„Aber gewiss, diese hier ist so schön wie du, meine Gute“, gab der Fischer galant zur Antwort und präsentierte ihr einen Fisch, den er mit geübtem Griff dem Eimer entnommen hatte.

„Du alter Schmeichler! Nicht dass ich am Schluss noch rot werde!“

„Soll ich den Fisch für Dich ausnehmen?“, wollte der Fischer wissen.

„Nein, ich will die Forelle mit Kopf und Schwanz!“, erwiderte die Angesprochene. „Es ist heute zu warm und ich will nicht, dass mir der Fisch bis zum Abendessen vergammelt. Dann mache ich mir lieber selbst heute Nachmittag die Arbeit, ihn auszunehmen.“

„Ganz wie’s beliebt. Mögen sie das Fischlein lieber tot oder lebendig mitnehmen, gnädige Frau?“, fragte Selbach.

„Dummkopf! Halte ich etwa einen Eimer in meiner Hand?“, herrschte Lissbeth den Fischer ungehalten an, der ihr mit seiner übertriebenen Freundlichkeit langsam auf die Nerven ging. „Und hör‘ mit deinen Lobhudeleien auf. Du bist ja heutige schleimiger als ein Karpfen!“

Der so Gescholtene merkte, dass es nun Zeit war, es gut sein zu lassen mit seinen Schmeicheleien. Er betrachtete den Weidenkorb, den Lissbeth am Arm hängen hatte und der seine Frage ziemlich dämlich erscheinen ließ.

„Aber pass auf, dass Du mit Deinem Messer das Herz und nicht wieder die Galle triffst und lass den Fisch noch richtig ausbluten. Ich muss noch kurz zum Apotheker und hole mir die Forelle gleich ab“, sprach die Meisterburgsche und ließ Selbach ohne weiteren Kommentar stehen.

Der Fischer sah ihr nach und als sie außer Hörweite war, sagte er zu sich selbst: „Scheiße, dass man sich seine Kunden nicht aussuchen kann! Die alte Meisterburg geht schon beim geringsten Anlass in die Luft. Da braucht man sich nicht zu wundern von wem ihr Johann sein hitziges Temperament geerbt hat!“

Der fette Zeller

Nachdem Meisterburg des Standes des Bäckers Engel verwiesen worden war, wandte er sich lächelnd nach rechts.

Vor dem Obststand der Witwe Petri standen rund ein Dutzend Leute. Die vordersten interessierten sich für die Waren, während die dahinterstehenden sich miteinander unterhielten und warteten, bis sie an der Reihe waren. Als Johann an ihnen vorbeiging, ließ einer von ihnen plötzlich einen „fahren“. Der Furz war so laut, dass er nicht überhört werden konnte. Johann wusste natürlich nicht, wer aus der Gruppe der Übeltäter gewesen war, sondern sagte instinktiv nur „Ah, läßde nammel de Sau plänke?“ 5

Der Notar Kirsch wurde knallrot im Gesicht und erwiderte: „Entschuldigung, aber bei uns gab es gestern Sauerkraut.“ Man sah ihm an, wie peinlich die Situation für ihn war.