Fleeschknepp - Gina Greifenstein - E-Book

Fleeschknepp E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Paula Stern und Bernd Keeser in ihrem neunten, sehr persönlichen Fall. Kriminalhauptkommissar Bernd Keeser und »seine höchstpersönliche« Staatsanwältin Marianne Renner haben es endlich getan: Sie haben geheiratet! Nach dem Ja-Wort soll in einem Restaurant in der Südpfalz fröhlich gefeiert werden. Alle Gäste sind da – nur die Braut fehlt. Gut, dass Keesers Kollegin Paula Stern auch vor Ort ist. Eine fieberhafte Suche beginnt, denn während die Torte langsam zerläuft, wird dem Bräutigam klar: Das ist keine normale Brautentführung ...

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Gina Greifenstein wuchs im unterfränkischen Würzburg auf, lebt und arbeitet aber seit über zwanzig Jahren als Autorin in der Südpfalz. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Bestsellerkochbücher, aber auch Romane. Insbesondere die Pfalz-Krimi-Reihe um die junge Ermittlerin Paula Stern wird regelmäßig fortgesetzt – vor der eigenen Haustür mordet es sich schließlich am besten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Helmut Meyer zur Capellen/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-146-1

Pfalz Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Liebe an sich ist nicht strafbar.

Der Bund fürs Leben

SAMSTAG, 5. MAI

14.25Uhr

»Ich freue mich so für euch!« Endlich hatte Kriminaloberkommissarin Paula Stern die Gelegenheit, Marianne Renner fest in den Arm zu nehmen und zu drücken. Nach dem Standesamt war das Gedränge um ihren Kollegen Bernd Keeser und seine frisch Angetraute zu dicht gewesen, um an sie heranzukommen.

Er hatte es tatsächlich getan: Er hatte seine »höchstpersönliche Staatsanwältin« geheiratet! Einerseits war Paula mächtig stolz auf ihn, dass er so mutig war, sein Dauersingleleben endgültig und verbrieft aufzugeben. Andererseits setzte sie sein mutiger Schritt ins Verheiratetsein gehörig unter Druck: Ihr Matthias wartete seit einer halben Ewigkeit vergeblich auf diesen Gang vor einen Standesbeamten. Und er wurde zunehmend ungeduldiger deswegen. Sie hatte zwar Ja gesagt, schon vor Monaten, und sie hatte sich sogar zu einem Heiratstermin hinreißen lassen, aber so richtig überzeugt war sie nicht von der Ehe an sich. Von einem Bis-ans-Ende-unserer-Tage schon mal gar nicht. Und dieser Termin rückte genauso wie ihr einunddreißigster Geburtstag unaufhaltsam näher, denn sie hatte genau diesen Termin als Tag X vorgeschlagen. Damit er endlich Ruhe gäbe. Allerdings war das unter einem gewissen Druck von seiner Seite geschehen, gepaart mit den unangenehmen Nachwehen einer zuvor durchzechten Nacht und den anstrengenden Ermittlungsarbeiten an einem Mordfall. Vor Gericht könnte man das glatt als Nötigung und als Ausnutzen einer Schwäche des Opfers auslegen. Jedenfalls waren es bis zu jenem Tag X von heute an exakt noch achtundvierzig Tage – wobei, wenn man es genau betrachtete, sie ja eigentlich gar keine Jahreszahl genannt hatte …

Marianne löste sich aus ihren Armen und strahlte sie an.

»Und als Nächste bist du dran«, sagte sie vergnügt, nicht ahnend, dass sie damit in eine offene Wunde stach.

»Hm«, war dann auch alles, was Paula dazu äußerte.

Prüfend sah Marianne sie an. »Was denn? Heiraten ist toll – ich, als frisch verheiratete Frau, muss es ja wohl wissen.«

»Alles Glück der Welt für dich und Keeser.« Noch einmal nahm Paula sie in den Arm.

Heute war Mariannes Tag, da wollte sie nicht von ihren Zweifeln und Ängsten reden.

»Ich muss dann mal für kleine Bräute.« Mit ihrem perlenbesetzten Handtäschchen winkend und übertrieben mit den wohlgeformten Hüften schwingend, stöckelte Marianne in Richtung Toiletten davon.

In ihrem cremefarbenen eng anliegenden Seiden-Etuikleid sah sie auch von hinten atemberaubend aus. Ihre schlanken Beine steckten unten in farblich passenden Pumps mit Absätzen, für die man eigentlich einen Waffenschein haben sollte, nach oben hin verschwanden sie unter dem knapp über den Knien endenden Saum des ärmellosen Kleides. Das schulterlange brünette Haar war von einer Friseurin kunstvoll hochgesteckt und mit Perlen verziert worden.

Paula musste anerkennend schmunzeln, Kollege Keeser hatte sich da wirklich ein wahres Sahneschnittchen ausgesucht.

»Paula, kommst du mal? Die Torte soll aufgebaut werden, und keiner vom Personal traut sich ran.«

Wenn man an den Teufel dachte – Keeser stand in der geöffneten Glastür, die vom Lokal aus in den Eingangsbereich mit den Toiletten führte. Seiner frisch Angetrauten, die sich beim Klang seiner Stimme noch einmal umgedreht hatte, warf er einen Luftkuss zu, den diese pantomimisch mit der Hand auffing und in ihrer Handtasche verschwinden ließ, in die nach Paulas Einschätzung höchstens ein zusammengefaltetes Taschentuch, ein Handy und ein Lippenstift passten. Und ein nicht realer Luftkuss natürlich. Mit einem neckischen Augenaufschlag öffnete Marianne die Tür der Damentoilette und verschwand dahinter.

Der sonst eher lässig gekleidete Keeser steckte in einem schicken Hochzeitsanzug in Dunkelblau. Mit Weste, Fliege und allem Pipapo. Er sah ebenfalls verdammt gut aus. Was ein Anzug doch aus einem Mann machen konnte! Sogar beim Friseur war er gewesen. Seine normalerweise wilde Mähne lag ordentlich geschnitten an seinem Kopf, sein obligatorischer Fünf-Tage-Bart war dem Rasierapparat komplett zum Opfer gefallen. Und er strahlte pures Glück aus, genauso wie Marianne. Mit einer galanten Armbewegung machte er Platz für eine Bedienung, die sonst aufgrund seines nicht eben zierlichen Körperbaus nicht an ihm vorbeigekommen wäre.

Paula folgte ihm in den geschmackvollen Nebenraum, wo drei festlich eingedeckte Tafeln auf die Hochzeitsgäste warteten. Noch saß niemand, alle standen um einen großen Tisch am linken Ende des Raumes, der für den Sektempfang vorbereitet worden war. Anders als ursprünglich vorgesehen, fand dieser Empfang drinnen statt, nicht bei dem ausrangierten Zugwaggon direkt an den Gleisen neben dem Haus, dem früheren und wunderschön restaurierten Bahnhof von Rohrbach. Trotz der an diesem Tag angenehm warmen Temperaturen hatte direkt nach der Trauung einsetzender Nieselregen diesen Plan leider durchkreuzt. An der Stimmung schien dies jedoch nicht zu kratzen, fröhliche Stimmen und Gelächter erfüllten den Raum.

Vorne, gleich links neben der Tür, war ein Büfett aufgebaut. Auf der weißen Tischdecke standen schon zwei Kuchenboxen, unter deren transparenten Deckeln Paula einen trockenen Kranzkuchen und einen mit Erdbeeren belegten Biskuitboden erkennen konnte. In zwei schlichten Tortenkartons und einer großen selbst gebastelten Pappbox für die durch die Mittelstange etwas höher geratene Basis, die nebeneinander auf dem Büfett standen, ruhten noch die Einzelteile von Paulas dreistöckiger Hochzeitstorte, die Marianne und Keeser sich von ihr gewünscht hatten.

Zwei Bedienungen trugen silberne Thermoskannen herein und verteilten sie auf den Tischen. Mit ihnen waberte der verlockende Duft von frisch gebrühtem Kaffee in den Raum.

»Dann wollen wir mal«, sagte Paula, um sich selbst Mut zuzusprechen. Zusammengebaut hatte sie den Tortenständer, den sie extra für diesen Tag gekauft hatte, zwar schon einmal, allerdings nicht mit Kuchen auf den Böden.

Sie zog ihre Lederjacke aus, die sie über dem kurzen hellgrauen Strickkleid trug, und hängte sie über eine Stuhllehne. Nacheinander nahm sie die Deckel der Kartons ab und sah hinein. Den Transport hierher hatten die einzelnen Torten schon mal gut überstanden. Vorsichtig holte sie sie heraus und ließ die Schachteln unter dem Büfett verschwinden, wo sie durch die herabhängende Tischdecke nicht zu sehen waren.

»Sieht sehr lecker aus«, lobte Keeser.

Mit seiner Hilfe setzte Paula den zweiten Boden auf die Stange der Basis, schraubte das nächste Stück Mittelstange samt der obersten Platte ein und klebte mit doppelseitigem Klebeband die Pappunterlage fest, auf der die kleinste Torte saß. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Sie war zufrieden. Dafür, dass das ihre erste selbst gebackene Hochzeitstorte war, konnte sich das mehrstöckige Zuckerwerk tatsächlich sehen lassen. Ein heller Boden, gefüllt mit Erdbeersahne, ein Schokoboden mit Kaffeepuddingfüllung und zuoberst ein Nussboden mit einem Herz aus Nusssahne und Mandarinen.

Drei Tage Arbeit steckten darin – vorgestern hatte sie die Böden gebacken, diese gestern gefüllt und heute Morgen schnell einheitlich mit Schlagsahne bestrichen und üppig mit verschiedenen Beeren dekoriert. Eigentlich fand sie die Torte viel zu schön zum Anschneiden. Aber ihre Zerstörung stand kurz bevor, bald würde sich das scharfe Tortenmesser durch die dünne Sahneschicht in ihre süßen Eingeweide vorarbeiten und ein Stück nach dem anderen von ihr abschneiden. Über kurz oder lang würde nichts von dem feinen Backwerk übrig bleiben.

Seufzend nahm Paula ihr Handy aus der Lederjacke und machte ein paar Fotos.

Keeser, der neben ihr stand und den Aufbau quasi überwacht hatte, nickte zufrieden. »Ich hab ehrlich gesagt Hunger.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte Paula spöttisch. »Wann bitte schön hast du keinen Hunger?«

»Na, hör mal, ich hatte heute kein Frühstück! Es war alles viel zu hektisch, dann hab ich mich noch geschnitten …« Er deutete auf eine kleine, kaum sichtbare Verletzung vor dem rechten Ohr.

»Würdest du dich öfter rasieren, hättest du mehr Übung und würdest dich überhaupt nicht schneiden«, frotzelte Paula.

Die ersten Gäste, allesamt in festlicher Kleidung, lösten sich aus der Traube im hinteren Teil des Raumes und schlenderten mit ihren halb gefüllten Sektgläsern in den Händen die Tafeln entlang, um ihre Namensschildchen zu suchen.

Dr. Andreas Knopp, Rechtsmediziner und Keesers ältester Freund, kam mit seiner Frau Simone, die Paula trotz jahrelanger Zusammenarbeit mit ihrem Mann erst heute kennengelernt hatte, auf sie zu. Die kleine zierliche Frau mit der pfiffig aussehenden Kurzhaarfrisur war ihr beim Begrüßen vor dem Standesamt sofort sympathisch gewesen. Schon nach ein paar wenigen gewechselten Sätzen hatte sie gemerkt, dass ihr Humor ganz nach ihrem Geschmack war. Paula war sehr erfreut gewesen, als Simone ihr gleich das Du angeboten hatte. Mit ihrem Mann, dem Herrscher über die »Katakomben des Grauens«, sprich über die Räumlichkeiten des Landauer rechtsmedizinischen Instituts, war Paula allerdings noch per Sie.

»Die hast du gebacken?« Simone Knopp begutachtete das Tortenkunstwerk sichtlich beeindruckt.

»Ja, backen kann sie«, sagte Keeser mit süffisantem Unterton.

»Was soll das denn heißen?« Mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen musterte Paula ihren Kollegen.

»Na ja, Haushalt ist ja ansonsten nicht so dein Ding, oder?«

»Aber Schießen ist mein Ding«, erwiderte sie spitz. »Und wenn du noch mal in aller Öffentlichkeit verrätst, dass ich eine miese Hausfrau bin, dann erschieß ich dich. Und die Torte nehme ich auch wieder mit.«

»Das wäre aber äußerst schade«, sagte Dr. Knopp mit einem begehrlichen Seitenblick auf das sahnige Gebilde. »Könnten Sie mit dem Erschießen bitte bis nach dem Kaffee warten?«

»Da will jemand zu seiner Mama«, sagte eine Stimme hinter Paula, und etwas Klebrigfeuchtes legte sich auf ihren Nacken.

Als sie sich umdrehte, sah sie genau in die großen dunkelgrauen Augen ihrer Tochter. Ein strahlendes Lächeln erhellte das Kindergesicht und traf sie mitten in ihr Mutterherz. Die ausgestreckten Ärmchen ihrer kleinen Lotta taten ihr Übriges, um sie mit Glücksgefühlen zu durchfluten. Die letzte Nacht war schlagartig wie ausgelöscht. Eine Nacht, in der dieses jetzt so bezaubernd lächelnde kleine Wesen sie heulend und schreiend wach gehalten hatte. Abwechselnd waren Matthias und sie mit dem plärrenden Kind auf dem Arm Runde um Runde durch die Wohnung gegangen. Alles wegen eines blöden Zahnes. Kaum eine halbe Stunde Schlaf am Stück hatte sie dadurch bekommen. Als dann um sieben Uhr morgens der Wecker geklingelt hatte, weil ja die Torte fertig gemacht werden musste, da war Lotta endlich tief und fest eingeschlafen. Und Matthias auch. Bis kurz nach zehn. Wenigstens die beiden hatten ein bisschen Schlaf nachholen können.

Aber wie gesagt: Das war vergessen, als sich Lottas kleine Arme um ihren Hals legten und die Süße sich fest an sie schmiegte.

»So ein entzückendes kleines Mädchen«, schwärmte Simone Knopp. »Wie alt ist sie jetzt?«

»Ziemlich genau dreizehn Monate.«

»Läuft sie schon?«

»Seit ein paar Tagen«, bestätigte Matthias, ganz stolzer Vater. »Auch wenn man es nicht wirklich als Laufen bezeichnen kann, es sieht eher aus wie bei einem schwankenden Matrosen bei hohem Seegang.«

Auch er sah ausgesprochen gut aus in seinem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd, dessen oberste drei Knöpfe geöffnet waren, seit er die Krawatte abgenommen hatte. Sein dunkles Haar trug er zum ersten Mal etwas länger und dazu die ozeanblauen Augen … Paula musste ihn immerzu ansehen. Dass sie diesen Mann anfangs auf gar keinen Fall hatte haben wollen, war graue Vergangenheit.

»Willst du mal auf meinen Arm kommen?«, fragte Simone Knopp mit verführerisch sanfter Stimme. »Ich bin nämlich schon eine Oma und kenne mich aus mit so kleinen süßen Mäusen, wie du eine bist.«

Doch Lotta stellte ihr Lächeln ein und wich der Hand aus, die ihre Wange streicheln wollte. Abrupt drehte sie den Kopf weg und deutete mit dem Finger auf Keeser.

Der trat abwehrend einen Schritt zurück. »Da hast du dir genau den Falschen ausgesucht, junge Dame. Ich und Kinder – das ist wie der berühmte Elefant und das zerbrechliche Porzellan. Schau dir nur meine großen Hände an!« Zum Beweis hielt er seine Pranken vor ihr Gesicht und bewegte die Finger. »Damit mach ich nur was kaputt, verstehst du?«

Lotta jedoch griff nach einem seiner Zeigefinger und giggelte vergnügt.

»Ich bin schrecklich langweilig, und spielen kann ich auch nicht«, versuchte Keeser weiter, sich aus der Affäre zu ziehen.

Was jedoch nicht fruchtete, Lotta ließ den Finger nicht los.

»Tja, Keeser, da kannst du nichts machen, die Frauen fliegen eben auf dich.« Paula drückte ihm das Kind in den Arm.

Unübersehbar unsicher stand der eins dreiundneunzig große, nicht eben zierliche Mann da, das Unbehagen war ihm ins Gesicht geschrieben. Lotta störte das jedoch nicht im Geringsten, sie spielte mit seiner Fliege und brabbelte dabei Unverständliches in ihrer Lotta-Sprache.

»Steht dir gut, Bernd!« Lachend klopfte Knopp ihm auf die Schulter.

»Ja, du mich auch!«, brummelte Keeser grantig.

Gerade bohrte Lotta mit ihrem Zeigefinger forschend in dem tiefen Grübchen, das sein Kinn zierte.

Als Keeser so tat, als würde er zuschnappen, quietschte sie vor Vergnügen.

Während die Gäste sich auf ihre Plätze setzten, entfernte Paula die Tortenhauben der beiden Kuchen. Nachdem sie mit dem bereitgestellten Tortenmesser schmale Stücke geschnitten hatte, nahm sie ihrem Kollegen die Kleine wieder ab.

»Onkel Keeser muss jetzt gleich die große Torte anschneiden, dafür muss er die Hände frei haben.«

»Da«, sagte Lotta und deutete auf die Hochzeitstorte.

»Ganz genau, meine Süße, da muss er mit seiner Marianne für jeden von uns ein Stück abschneiden.«

Voller Tatendrang rieb Keeser sich die Hände.

»Jetzt fehlt nur noch die Braut.«

Suchend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, um letztendlich Paula fragend anzusehen. »Wo ist sie denn?«

»Woher soll ich das wissen – ist das deine Ehefrau oder meine?«

»Aber du hast doch vorhin noch mit ihr gesprochen.«

»Ja, aber das war vor dem Aufbauen der Torte, seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie ja noch für kleine Mädchen? Bei dem engen Kleid, das sie trägt, ist es sicherlich nicht so einfach. Soll ich mal nach ihr sehn?«

Keeser nickte. »Wir sollten nämlich langsam anfangen.«

14.52Uhr

Die Tür der einen Kabine war geöffnet, die der anderen geschlossen, als Paula die Damentoilette betrat.

»Marianne? Bist du bald fertig? Dein Mann hat Sehnsucht nach dir.« Paula wusch sich die Hände und betrachtete sich dabei prüfend im Spiegel über dem Waschbecken. Vor ein paar Stunden hatte sie ihr langes blondes Haar zu einem einfachen lockeren Zopf geflochten, und obwohl sich inzwischen ein paar kürzere Strähnen daraus gelöst hatten, sah die Frisur noch recht ordentlich aus.

Nichts tat sich hinter der geschlossenen Tür.

»Marianne?«

Erst jetzt bemerkte Paula, dass die Kabinentür nicht verriegelt war. Sie machte einen Schritt darauf zu. Etwas kullerte über den gefliesten Boden, stieß mit einem leisen Ping irgendwo an, kullerte noch ein wenig weiter, dann war es wieder still.

Ein ungutes Gefühl überkam sie. Leise klopfte sie an die Tür.

»Marianne, bist du dadrin?«

Als sie wieder keine Antwort bekam, legte sie die Hand auf die Klinke, hielt aber inne. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, verstärkte sich.

Langsam öffnete sie die Tür. Die Kabine war leer. Nur eine weiße Perle lag am Boden zu ihren Füßen, das musste das Kullerding gewesen sein, das sie gehört hatte. Wahrscheinlich war sie mit dem Schuh daran gestoßen. Paula bückte sich, hob sie auf und drehte sie zwischen den Fingern.

Marianne trug heute Perlen im Haar, erinnerte sie sich. Diese hier hatte aber ein durchgehendes Loch, was für eine Kette sprach. Hatte nicht auch eine kurze Perlenkette Mariannes Dekolleté geschmückt?

In der Nebenkabine entdeckte Paula noch mehr von diesen Perlen, überall lagen sie herum, auch unter dem Waschbecken, sie hatte sie vorher nur nicht bemerkt.

Die Tür zum Gang öffnete sich einen Spaltbreit.

»Kommt ihr endlich?« Keesers Stimme klang ungeduldig.

Paula starrte in den Spiegel, als könnte ihr die Frau, die sie daraus ansah, helfen. Es war aber nur ein zutiefst ratloser Blick.

»Marianne ist nicht hier«, sagte sie und öffnete die Tür ganz.

»Was soll das heißen, sie ist nicht hier?«

»Sie ist nicht auf der Toilette.«

Seine buschigen Augenbrauen hoben sich fragend, und als würde er ihr nicht glauben, sah er prüfend an ihr vorbei zu den leeren Kabinen.

»Aber wo ist sie dann?«

»Keine Ahnung. Vielleicht draußen, womöglich hat sie ja was im Auto vergessen?« Ihr Gefühl, das ihr etwas ganz anderes sagte, wollte sie vorerst nicht erwähnen. Vielleicht irrte sie sich ja, und es gab eine ganz harmlose Erklärung für Mariannes Nicht-Dasein.

»Es regnet. Wenn, dann hätte sie mich geschickt. Sie hat ein Heidengeld beim Friseur gelassen, sie wird also einen Teufel tun und in den Regen gehen. Ganz zu schweigen von ihren Schuhen, die nun wirklich nicht für den Parkplatzbelag da draußen gemacht wurden.« Keeser kramte in seiner Jacketttasche und hielt seinen Schlüsselbund hoch. »Außerdem hab ich den Schlüssel.«

Paula hob zwei weitere Perlen auf und zeigte sie ihm.

»Die liegen hier überall auf dem Boden.«

»Marianne trägt heute so eine Kette …« Mitten im Satz stockte Keeser und sah sie an.

Sein Blick drückte genau das aus, was Paula fühlte: Hier stimmt was nicht.

»Ich schau mal rüber ins Lokal, vielleicht ist sie ja dort, um mit den Steverdings noch etwas wegen des Ablaufs oder des Abendessens zu besprechen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ Paula allein.

Mit den Perlen in der Hand trat sie vor die Damentoilette und wartete auf Keesers Rückkehr. Dabei sah sie auf den Parkplatz hinaus, der mit seinen hellen Kieselsteinchen tatsächlich nichts für Stöckelschuhe war. Nur Frauen, die das Tragen solcher Schuhe Tag für Tag übten, Frauen wie Marianne, konnten ohne Schaden für Knöchel und Absätze darüberlaufen.

Keeser war extrem blass, als er aus dem Gastraum kam.

»Hier ist sie auch nicht.« Nervös strich er sich durchs Haar, und sofort sah er wieder wie der verstrubbelte Alltags-Keeser aus, den sie so gut kannte.

»Meinst du, sie hat kalte Füße bekommen?«, fragte er besorgt.

»So kühl ist es heute doch gar nicht … oh, du meinst das nicht wörtlich.«

»Hat sie was zu dir gesagt? Hatte sie Zweifel? Hat sie am Ende erst auf dem Weg hierher erkannt, dass es ein Fehler war, mich zu heiraten, und jetzt ist sie auf und davon? Paula, hat sie mich einfach sitzen lassen?«

»Quatsch, sie wusste genau, was sie tat. Und wie ich Marianne kenne, hätte sie die Hochzeit knallhart abgesagt, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre. Nein, es muss eine andere Erklärung für ihr … dafür geben.« Das Wort »Verschwinden« wollte sie nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen.

»Ich geh rüber und frag die anderen, ob sie was wissen.« Mit großen Schritten steuerte Keeser den Saal an.

Paula schlug die andere Richtung ein und ging durch die Glaseingangstür nach draußen. Vom erhöhten Treppenpodest aus hatte sie einen guten Blick über den Parkplatz, wo Auto an Auto parkte, aber kein Mensch zu sehen war. Auch keine Marianne.

Zwischen den etwa zwanzig eher neuen Fahrzeugen stand Keesers alter roter Golf, mit dem er zur Feier des Tages offensichtlich durch die Waschanlage gefahren war und der tatsächlich für seine angerosteten Verhältnisse gar nicht so übel aussah. Vielleicht lag das aber auch am Regenwasser, durch das die ausgeblichene Farbe etwas aufgefrischter wirkte. Die weißen Schleifen, die er zur Feier das Tages an die Außenspiegel und die Antenne gebunden hatte, hingen traurig-nass herunter.

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, nur ein paar vereinzelte Tropfen trafen sie, und es roch angenehm frisch, so wie es nur im Frühling roch. Kalt war es nicht.

Martina Geiger-Beckers hellblauer Twingo fehlte, stellte sie fest, als sie die Reihe der Autos entlangsah. Auf der Herfahrt vom Standesamt in Bad Bergzabern war der Kleinwagen mit der auffallenden Farbe, den die Sekretärin der Mordkommission sich ein Jahr zuvor während ihrer hellblauen Phase angeschafft hatte und der jetzt wie eine farbliche Auffrischung ihres Grau-in-grau-Outfits war, direkt hinter ihnen gefahren. Jetzt war er nicht da, das war seltsam.

Aber wie sie Martina kannte, hatte die bestimmt etwas für die Hochzeitsfeier geplant … Schnell ging sie wieder hinein, um Keeser von ihrer Idee zu erzählen. Vor der Garderobe traf sie auf ihn.

»Geigerlein und Becker sind nicht da«, sagte er. »Was meinst du, könnten die beiden die Braut entführt haben?«

Das entsprach genau ihren Überlegungen. Auch wenn ihrem Gefühl nach eine zerrissene Perlenkette nicht so recht ins Bild passte. Andererseits musste es ja nicht Mariannes Kette sein, deren Perlen auf dem Boden der Damentoilette lagen.

»Geigerlein traue ich alles zu.« Obwohl Paula diesen Hochzeitsbrauch schon immer unmöglich gefunden hatte, weil dadurch die ganze Hochzeitsfeier gesprengt wurde und die Gäste sich stundenlang allein überlassen waren, spürte Paula Erleichterung. Sie schalt sich eine doofe Kuh, die immer erst ans Schlimmste denken musste. Und sie fragte sich, ob das bei allen Polizeibeamten der Fall war. So wie Keeser reagiert hatte, schien es ihm ähnlich gegangen zu sein, allerdings sprach sie ihn lieber nicht darauf an.

Mit den Händen klopfte er die Taschen seines Anzuges ab, in der Innentasche des Jacketts fand er schließlich sein Handy. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marianne so eine Aktion gefällt. Ich ruf sie an, bestimmt verrät sie mir, wo ich sie finden kann«, sagte er, während er wählte. Mit zusammengekniffenen Lippen lauschte er in den kleinen Apparat.

Gespannt sah Paula ihn an, doch dann verzog er das Gesicht.

»Die Mailbox. Sie geht nicht ran.«

Unschlüssig betrachtete er das Handy in seiner Hand.

»Dann müssen wir wohl los und sie suchen.«

Kaum hatte Paula das gesagt, kam Matthias mit der an seine Schulter geschmiegten Lotta auf dem Arm aus dem Saal.

»Was ist denn los? Alle fragen sich, wo das Brautpaar bleibt.«

Liebevoll streichelte Paula ihrer Tochter über die zarte, jetzt stark gerötete Wange – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Kleine müde war und eigentlich ihren längst überfälligen Mittagsschlaf bräuchte.

»Marianne wurde entführt«, klärte Keeser ihn grantig auf. »Wie es aussieht, von Geigerlein und ihrem Hansi.«

Verwundert sah Matthias sie an. »Vor dem Kaffee und bevor die Hochzeitstorte angeschnitten wurde? Das ist aber eher ungewöhnlich. Normalerweise macht man das doch zwischen Kaffee und Abendessen oder auch nach dem Abendessen, nämlich dann, wenn die Gäste anfangen, sich zu langweilen.«

»Ungewöhnlich oder nicht, Keeser und ich ziehen jetzt jedenfalls los, um sie ordnungsgemäß zu suchen und diesen Quatsch so schnell wie möglich zu beenden. Dabei würde ich jetzt lieber Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen. Nur ein Idiot kann diesen saublöden Brauch erfunden haben. Jeder, der so was macht, sollte verhaftet und eine Nacht lang in einer unbequemen Zelle eingesperrt werden.«

»Und wo wollt ihr suchen? Denn abgesehen davon, dass es gar nicht so viele Lokale in der Nähe gibt, hat um diese Uhrzeit auch so ziemlich alles geschlossen.«

»Keine Ahnung. Wo würdest du denn hinfahren, wenn du eine Braut entführt hättest?«

Matthias überlegte kurz, während er die inzwischen eingeschlafene Lotta sanft wiegte. »Auf die Landeck hoch, da ist rund um die Uhr bewirtschaftet. Oder nach Landau ins Detox, die haben leckere Cocktails.«

»Detox?«

»Das Bistro in der Filmwelt, die öffnen mit den Nachmittagsvorstellungen. Oder rüber nach Rülzheim – das Eiscafé Cortina wäre auch eine gute Anlaufstelle.«

»Das ist doch schon mal was, danke dir. Falls dir noch was anderes einfallen sollte, dann ruf mich auf dem Handy an.«

»Also los, Paula«, drängelte Keeser und war schon auf dem Weg zum Ausgang.

»Und was ist mit den Gästen?«, rief Matthias ihm nach.

Keeser blieb stehen und drehte sich noch einmal um.

»Sag ihnen, es kann noch ein bisschen dauern, und sie sollen inzwischen trinken, was sie wollen. Gerne Champagner, denn eins sag ich euch: Die Rechnung bekommt Geigerlein!«

Mit einem Kuss verabschiedete sich Paula von Matthias und ihrer Kleinen, dann eilte sie hinter Keeser auf den Parkplatz hinaus. Der Regen hatte inzwischen ganz aufgehört, an manchen Stellen blitzte nun immer wieder blauer Himmel zwischen den grauen Wolken hervor. Regentropfen funkelten in den ersten Sonnenstrahlen, die ihren Weg zur Erde fanden. Jetzt wäre der perfekte Moment für die Hochzeitsfotos gewesen …

15.10Uhr

Als sie bei seinem Golf ankam, saß Keeser schon hinter dem Steuer und startete den Motor. Schnell stieg Paula in den Wagen. Mit den drei Perlen in der Hand schnallte sie sich an. »Wohin zuerst? Landau? Cocktails würden zu Geigerlein passen.«

Keeser nickte stumm. Mit schmerzhaftem Krachen legte er den Rückwärtsgang ein und löste die Handbremse.

»Bisher fand ich Brautentführungen immer toll«, sagte er düster. »Aber wohl nur, weil ich immer einer der Entführer war und wir jede Menge Spaß hatten. Jetzt, da meine Braut weg ist, finde ich es echt kacke!«

»Ich versuch’s noch mal.« Paula hatte ihr Handy aus der aufgenähten Tasche ihres Kleides genommen und wählte Mariannes Nummer. Sie hielt den Apparat so, dass er mithören konnte, falls seine Braut sich melden sollte.

Abwartend hielt Keeser inne.

Es läutete viermal am anderen Ende der Leitung, das Tuten übertönte das nicht sonderlich gesund klingende Rasseln des laufenden Motors. Dann schaltete sich die Mailbox an.

Mit einem enttäuschten »Mist« drückte Paula die rote Taste.

»Versuch’s doch gleich noch bei Geigerlein und verpass ihr einen ordentlichen Anschiss, wenn sie rangeht.«

Aber genau wie bei Marianne schaltete sich nur die Mailbox ein.

»Geigerlein, wenn du das abhörst, dann melde dich sofort bei mir oder bei Keeser. Und eins kann ich dir vorab sagen …«

»Bewegen Sie Ihren Arsch hierher, Geigerlein, und zwar presto, sonst reißt ihn Ihr Commissario ganz gewaltig auf!«, brüllte Keeser dazwischen.

»Du hast es gehört, die Luft hier ist verdammt dick!«, ergänzte Paula noch und beendete den Anruf.

Die Augen auf den Rückspiegel geheftet, fuhr Keeser mit zu viel Gas aus der Parklücke, sodass der helle Kies nach allen Seiten spritzte. Doch dann trat er abrupt auf die Bremse, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden.

»Da sind sie«, sagte er dumpf.

»Wer?«

»Gerade kommt Geigerleins Twingo auf den Parkplatz gefahren.« Er drehte den Schlüssel im Schloss, der Motor erstarb.

Verwundert sah Paula nach hinten. »So schnell kann sie unsere Nachricht doch gar nicht abgehört haben.«

»Bestimmt haben die beiden Hirnis eingesehen, dass es eine idiotische Idee war.« Er löste den Gurt und stieg aus.

Durch die geöffnete Tür hörte Paula, wie Martina Geiger-Beckers Wagen über den gekiesten Platz heranrollte. Sie stieg ebenfalls aus und sah zu, wie er in die Lücke zwischen Matthias’ Kombi und Kriminaloberrat Sonnes großem SUV fuhr und dort zum Stehen kam.

Die Beifahrertür öffnete sich, und Becker entstieg dem kleinen Wagen. In aller Ruhe ging er um das Heck des hellblauen Hüpfers herum und öffnete die Beifahrertür.

Martinas Kopf mit den seit ein paar Tagen in überraschend dezentem Grau gefärbten kurzen Haaren erschien über dem Autodach. Weniger dezent waren sie in alle Richtungen geföhnt.

»Na endlich«, rief Paula ihr nicht sonderlich freundlich zu. »Alle warten!«

»Auf uns?« Erstaunen war in Martinas rundliches Gesicht geschrieben. Knirschenden Schrittes kam sie um das Auto herum, wobei ihr der lockere Kies das Gehen mit den hochhackigen Stiefeletten nicht leicht machte. Die weit geschnittene, batikähnlich gemusterte Tunika in verschiedenen Grautönen umwehte dabei die rundlichen Formen ihres Körpers, und der Tortenkarton in ihren Händen schwankte gefährlich.

»Ja, auf euch. Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«

»Wir haben nur …« Mitten im Satz brach Martina ab, weil Keeser sich regelrecht auf ihr kleines Auto stürzte und die linke hintere Tür aufriss.

»Wo ist sie?«, blaffte er ungehalten, als er erkannte, dass der Rücksitz leer war.

Ratlos hob Martina den Karton. »Wenn Sie den Rahmkuchen suchen, Commissario, den hab ich hier.«

»Rahmkuchen? Was reden Sie denn da? Ich meine Marianne, wo ist Marianne?«

»Mir ware doch nur korz dehääm, um de Kuche zu hole. Wo die Frau Renner isch, des wisse mir doch nit!« Schützend stellte Obermeister Becker sich vor seine Frau und den Karton.

Keeser erstarrte. »Wie? Ihr habt Marianne gar nicht entführt?«

»Nein. Wie kommt ihr denn darauf? Wie Hansi schon sagte: Wir haben nur den Kuchen geholt. Was ist denn mit Frau Renner?«

Keesers Blick verdüsterte sich. »Wenn ich das nur wüsste!«

»Ich hab Frau Renner doch nach dem Standesamt in Ihr Auto einsteigen sehen, sie muss also mit Ihnen hierhergefahren sein, Commissario.«

»Ist sie auch«, bestätigte Paula, denn Keeser stand nur da und raufte sich die Haare. Jetzt war es gänzlich vorbei mit dem gut sitzenden neuen Schnitt. »Ich hab auch noch mit ihr gesprochen, als sie auf dem Weg zur Toilette war. Doch seitdem ist sie nicht mehr da, keiner der Gäste hat sie gesehen. Marianne ist wie vom Erdboden verschluckt. Und da euer Auto nicht da war, sind wir davon ausgegangen, dass ihr die Braut entführt habt.«

Die drei Perlen brannten regelrecht in ihrer Hand.

»Oje! Habt ihr schon versucht, sie anzurufen?« Martina drückte ihrem Mann den Karton in die Hand und wühlte suchend in ihrer hellgrauen Großraumhandtasche.

»Natürlich, mehrmals, aber sie geht nicht ran«, sagte Keeser ruppig.

Endlich fand Martina ihr Handy.

»Eine Nachricht von dir, Paula?«

»Ignorier sie, am besten löschst du sie, hat sich ja inzwischen erledigt.«

Mit dem grau lackierten, strassverzierten krallenähnlichen Nagel ihres rechten Zeigefingers tippte Martina auf dem Display ihres Handys herum und hielt den Apparat dann in die Runde.

Es tutete aus dem Smartphone, aber gleichzeitig klingelte auch ein Handy, und zwar ganz in der Nähe. Irritiert sahen sich die vier um. Paula war die Erste, die sich aus der Erstarrung löste und um den blauen Twingo herumging. Der Klingelton – Paula hatte ihn schon so oft gehört – kam aus dem Gebüsch, das den Parkplatz einrahmte. Jetzt erstarb er, doch sie hatte schon entdeckt, wo er hergekommen war. Etwas Helles leuchtete aus dem Grün der Äste und Zweige hervor, und als sie sich danach bückte, um es aufzuheben, bekam sie Gänsehaut: Es war Mariannes perlenbesetztes Täschchen.

Erst die Perlen auf der Toilette, jetzt das hier – ihr ungutes Gefühl von vorhin verstärkte sich, und sie fragte sich, was zum Henker da geschehen war.

»Die gehört Marianne«, stellte Keeser fest, als Paula ihren Fund präsentierte.

Er nahm ihr das zierliche Teil ab. In seinen großen Händen wirkte es noch winziger, als es tatsächlich war. Seine Finger gehorchten ihm kaum, als er umständlich den Knipsverschluss öffnete. Ein Schlüsselbund kam daraus zutage. Und ein Smartphone. Alle erkannten die dunkelgelbe Schutzhülle.

»Ihr Handy.« Seine Stimme hörte sich brüchig an.

Martina schob ihre Brille ein Stück die Stupsnase hinauf. »Kein Wunder, dass sie auf unsere Anrufe nicht reagiert!«

»Was ist denn jetzt? Warum müssen wir denn warten, wenn ihr alle da seid?«

Alle vier drehten sich zum Eingang des Lokales um, wo Dr. Knopp oben auf der Treppe stand und zu ihnen herübersah.

»Ich hab schon befürchtet, dir könnte deine Braut davongelaufen sein, Bernd. Hat mich eh gewundert, dass Marianne ausgerechnet dich kauzigen Kerl genommen hat«, scherzte Knopp, nichts Böses ahnend. Er stellte jedoch abrupt sein Lächeln ein, kam mit schnellen Schritten die Stufen herunter und stand gleich darauf bei ihnen.

»Bernd, was ist los? Du bist ja so blass.« Fragend sah er in die Runde und auf das Damentäschchen in der Hand seines Freundes. »Ist etwas mit Marianne?«

»Sie ist … verschwunden.« Keeser steckte das Telefon zurück in das Täschchen. Mit der freien Hand zerrte er wild an seiner Seidenfliege, als bekäme er keine Luft damit. Da er keinen Erfolg hatte, schob Paula seine Hand weg und löste den Verschluss. Er nahm sie ihr ab und pfefferte sie auf den Boden. Eng geschnürte Krawatten waren überhaupt nicht sein Ding, das wusste Paula, und Fliegen schon mal gar nicht.

Paula zeigte auf die Perlentasche in Keesers Hand. »Die haben wir hier auf dem Parkplatz im Gebüsch gefunden. Und die auf der Toilette.« Sie hielt ihm die einzelnen drei Perlen auf ihrer Handfläche hin.

»Dann sollten wir die Toilette sofort absperren, bevor irgendwelche Spuren vernichtet werden«, sagte Knopp pragmatisch und war schon auf dem Weg zu seinem Auto. Gleich darauf ertönte das typische Geräusch einer Fernbedienung, und ein weiter hinten abgestellter Audi begrüßte seinen Besitzer mit freundlichem Blinken.

Vier Augenpaare beobachteten Knopp, wie er den Kofferraum öffnete, kurz mit dem Oberkörper unter der Klappe verschwand, wieder auftauchte und ihn schloss. Mit einer Rolle polizeilichem Absperrband kam er zu ihnen zurück.

»Absperrband?« Sichtlich aus der Fassung sah Keeser ihn an.

»Hab ich immer dabei.« Knopp setzte sich in Bewegung, hielt aber auf der untersten Stufe inne. »Vielleicht sollten wir Dreißigacker Bescheid geben?«

Paula wurde flau im Magen. Auch wenn sie ebenfalls der Meinung war, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war – dass Knopp gleich die ganze Kavallerie, sprich die Kriminaltechnik, antanzen lassen wollte, das würde ja bedeuten, ja, das würde bestätigen, dass etwas Schlimmes passiert sein konnte. Und daran durfte sie gar nicht denken. Sie hoffte immer noch, dass Marianne plötzlich mit einer völlig harmlosen Erklärung für ihr Verschwinden um die Ecke käme. Das wollte sie immer noch hoffen.

Mit raschen Schritten folgte sie Knopp die Stufen nach oben.

»He, schaut mal.«

Paula drehte sich um. Unter ihr stand Martina. In der einen Hand hielt sie Keesers Fliege, die sie vom Boden aufgehoben hatte, in der anderen einen cremefarbenen Schuh mit sehr hohem Absatz. Mariannes Schuh.

»Den hab ich gerade unter dem Wagen von Kriminaloberrat Sonne gefunden.«

Mehr Bestätigung, dass hier etwas Schlimmes passiert war, brauchte Paula nicht. Das Täschchen im Gebüsch und der verlorene, sicherlich teure Schuh sprachen Bände. Aschenputtel und Cinderella ließen grüßen.

15.25Uhr

Als Paula in den Vorraum trat, hatte Dr. Knopp schon einen Stuhl vor die Tür der Damentoilette gestellt, dessen Rückenlehne er mehrmals mit dem Absperrband umwickelt hatte.

Kritisch betrachtete Paula sein Werk.

»Nicht sonderlich schön, aber anders ging es nicht«, entschuldigte er sich.

»Glauben Sie wirklich, dass das nötig ist?«

»Möchten Sie sich später vorwerfen müssen, nicht alles für das Auffinden von Frau Renner getan zu haben?«

Nein, das wollte Paula auf gar keinen Fall. Aber irgendwie war das alles hier für sie noch so unwirklich.

»Ist das jetzt eines dieser Hochzeitsspiele?« Paulas Chef, Kriminaloberrat Heribert Sonne, stand auf einmal hinter ihr. Wie sonst auch im edlen Anzug, mit Weste und Fliege, und wie immer stark schwitzend und mit einem übergroßen weißen Stofftaschentuch in der Hand, mit dem er sich Stirn und Nacken trocken zu wischen versuchte.

Paula wünschte, dem wäre so.

»Nein, kein Spiel«, sagte sie knapp und hoffte, dass Sonne sich schnell wieder verzöge. Sie war der Meinung, dass es besser war, wenn so wenige Menschen wie möglich von der momentanen Situation erführen.

Den Gefallen tat ihr ihr Chef allerdings nicht. Ganz im Gegenteil, er schien den Braten zu riechen.

»Kein Spiel, aha. Also verstopft?«

Natürlich bemerkte er ihr Zögern.

»Ich bin Kriminalist, Frau Stern, und ich merke schon seit einiger Zeit, dass hier etwas vorgeht, das nicht zum normalen Ablauf einer Hochzeitsfeier gehört. Auch wenn ich zugegebenermaßen nicht wirklich erfahren bin, was Hochzeitsfeiern angeht. Wenn ich jetzt Ihre Installation vor der Damentoilette, das seltsame Verhalten mancher Gäste und die Tatsache, dass die Braut seit geraumer Zeit nicht mehr aufgetaucht ist, in einen logischen Zusammenhang bringe, würde ich sagen, dass es sich hier um einen Tatort handelt. Würden Sie mich also bitte ins Bild setzen, Frau Kollegin?«

Er hatte ins Schwarze getroffen.

»Marianne ist weg. Verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo sie sein könnte«, gab Paula zu.

»Werden Bräute nicht gelegentlich spaßeshalber bei Hochzeiten entführt?«

»Das mag sein, Chef, aber von einer üblichen Brautentführung gehen wir inzwischen nicht mehr aus.«

»Aha, also was Ernstes. Was ist mit Frau Renners Handy? Können wir das nicht orten lassen?«

Sonne hatte tatsächlich wir gesagt. Er war also mit von der Partie, ob sie wollten oder nicht. Und er nahm die Sache mindestens so ernst wie sie.

»Fehlanzeige, wir haben es draußen auf dem Parkplatz gefunden.«

»Ungünstig, aber nicht zu ändern.« Sonne wandte sich an Knopp. »Was schlagen Sie vor, Herr Doktor?«

»Kollegin Stern hat Perlen auf der Damentoilette gefunden, die mutmaßlich von Frau Renners Kette stammen. Wenn dem so ist, könnten auch noch andere Spuren zu finden sein. Ich bin dafür, dass wir die Kriminaltechnik an Bord holen. Soll ich Dreißigacker anrufen?« Dr. Knopp hatte sein Handy schon in der Hand.

Sonne wiegte den runden Kopf, an dem sein schütteres blondes Haar schweißnass klebte.

»Das würde nicht nur fürs Erste zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen, ich müsste den Einsatz der Kriminaltechnik natürlich auch offiziell machen. Was ich aber nicht verantworten kann, da Frau Renner noch nicht lang genug abgängig ist. Sie beide kennen die Vorschriften genauso gut wie ich. Bis wir die ersten Erkenntnisse haben beziehungsweise bis wir offiziell tätig werden dürfen, sollten wir unter dem Radar bleiben. Wir sind hier ein Rechtsmediziner, zwei Kommissare und ich – das müsste doch vorerst genügen, um die ersten Schritte zu unternehmen.«

»Und ich bin ja auch da.« Martina Geiger-Becker war mit Hans Becker und Keeser im Schlepptau ebenfalls zu ihnen getreten. »Und mein Hansi auch. Wir lassen unseren Commissario auf gar keinen Fall hängen.« Begleitet von einem mitleidsvollen Blick, tätschelte sie Keesers Rücken.

»Umso besser.« Sonne wischte sich erneut über Gesicht und Nacken. »Wenn wir dann nach achtundvierzig Stunden offiziell loslegen können, sind wir schon mittendrin, was alles erleichtern wird. Gesetzt den Fall natürlich, Frau Renner taucht nicht vorher schon wieder auf, was ja sehr zu wünschen wäre.«

Knopp nickte zustimmend. »Die Spurensicherung kann natürlich ich übernehmen. Ich muss nur in meinen Katakomben Bescheid geben, dass mir jemand meinen Koffer vorbeibringt.«

»Gut, machen Sie das«, bestätigte Sonne. »Hier können wir aber nicht bleiben, ich schlage daher unsere alte Dienststelle als Einsatzzentrale vor. Der Großteil der Büros ist schon in die neuen Räumlichkeiten in der Paul-von-Denis-Straße umgezogen, wir können also schalten und walten, wie es uns beliebt, ohne groß Staub aufzuwirbeln. Sind Sie damit einverstanden, meine Herrschaften?« Fragend sah er in die Runde.

Ein synchrones Nicken war die Antwort.

Keiner sagte ein Wort, als Knopp in der Rechtsmedizin anrief.

»Hallo, Herr Kellermann«, hörten sie ihn sagen. »Holen Sie mir doch bitte mal den Kollegen Armbrüster ans Telefon.«

»Gut«, sagte er nach kurzem Lauschen, »wenn er nicht abkömmlich ist, dann müssen Sie eben etwas für mich tun: Holen Sie meinen silbernen Koffer aus meinem Büro … ja, Sie dürfen in mein Büro gehen, auch wenn ich nicht da bin … und dann kommen Sie damit nach Rohrbach zum früheren Bahnhofsgebäude … nein, es hat sich niemand vor einen Zug geworfen, Herr Kellermann, hören Sie mir einfach zu! Kommen Sie zum früheren Bahnhofgebäude, da ist jetzt ein Restaurant drin. Ich warte hier auf Sie. Ach, und noch was: Fahren Sie hier bitte völlig unauffällig vor, haben Sie mich verstanden?«

Nach einer offenbar positiven Antwort beendete er das Telefonat und steckte das Handy wieder ein. »Läuft.«

»Gut«, sagte Sonne. »Was machen wir mit der Hochzeitsgesellschaft? Wollen Sie sie einweihen, Kollege Keeser?«

Paula fand es gut, dass ihr Chef das Ruder übernommen hatte. So unschlüssig, wie Keeser nämlich aus der Wäsche sah, war der momentan nicht in der Lage, irgendwelche logischen Schritte zu unternehmen.

»Wir könnten sie erst einmal Kaffee trinken lassen«, schlug Paula daher an seiner statt vor. »Bis wir genauer wissen, was hier geschehen ist. Selbstverständlich ohne Hochzeitstorte, die pack ich wieder ein. Wir sagen einfach die Wahrheit, na ja, die halbe Wahrheit: dass Marianne entführt wurde, wie es sich für eine anständige Hochzeit gehört, und dass Keeser mit ein paar Gästen losgezogen ist, um sie zu suchen.«

»Das klingt zwar plausibel und würde die Gäste erst einmal stillhalten.« Nachdenklich zupfte sich Sonne am rechten Ohrläppchen. »Aber wir haben keine Zeit, wir benötigen schnell Hinweise, die der Auffindung dienen können. Das heißt: Wir brauchen die Menschen dadrinnen, wir brauchen alle ihre Erinnerungen an die letzten Stunden. Und alle Fotos und Filme auf Handys, Kameras und Videokameras. Das heißt: Jeder Einzelne von ihnen muss befragt werden – und das geht nur, wenn wir ihnen reinen Wein einschenken.«

»Ihr geht also davon aus, dass die Braut nicht freiwillig verschwunden ist?«

Ohne dass Paula es bemerkt hatte, war Matthias hinter sie getreten.

»Wir haben draußen im Gebüsch ihr Täschchen mit dem Handy und einen ihrer Schuhe gefunden …« Paula konnte nicht weitersprechen.

»Kann ich irgendwie helfen?«

»Das können Sie in der Tat.« Sonne wischte sich über das beängstigend gerötete Gesicht. »Frau Stern und Sie bleiben hier und übernehmen die Befragungen, während wir im Büro schon mal die nötigen Vorkehrungen treffen.«

Entschlossen nahm Paula Becker den Tortenkarton ab und reichte ihn an Matthias weiter. »Gut, dann fahrt ihr mal los. Du auch, Keeser. Wir kümmern uns hier um den Rest und kommen dann nach.«

»Und was wird mit dem Abendessen?«

Diese Frage hatte Keeser gestellt, und alle sahen ihn irritiert an.

»Du denkst jetzt aber nicht wirklich ans Essen, Bernd?« Knopps Frage klang vorwurfsvoll.

»Natürlich denke ich ans Essen, aber nicht so, wie ihr meint. Ich würde jetzt keinen Bissen hinunterbringen. Ich denke an die Fleeschknepp für vierzig Personen. Was wird damit, wenn wir Marianne nicht finden sollten …?« Die Stimme versagte ihm.

»Ich regle das.« Paula klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Los, Hansi, wir fahren. Dann schmeiß ich im Büro schon mal die Kaffeemaschine an. Kaffee kann nie schaden.« Martina schob ihren Mann zum Ausgang. »Kommen Sie auch, Chef? Und Sie, Commissario?«

Noch einmal wischte sich Sonne den Schweiß aus dem Gesicht. »Keeser, Sie fahren mit mir. In Ihrem Zustand sind Sie nicht verkehrstüchtig.« Nach einem »Wir sehen uns dann alle im Büro« ging er nach draußen.

Keeser drückte Paula seinen Autoschlüssel in die Hand und trottete wie betrunken hinterher. Er ging gebeugt, so als würde er eine schwere Last auf seinen Schultern tragen. Dr. Knopp, Matthias und Paula sahen ihm nach.

»Hoffentlich nimmt das einen guten Ausgang«, sagte Knopp leise.

Wenn nicht, dann würde Keeser daran zerbrechen, da war sich Paula sicher. Sie betrachtete den schwarzen Plastikschlüssel, der allein am Ring eines ovalen silbernen Schlüsselanhängers hing. »Lieblingsmann« war darin eingraviert, Keeser hatte ihn von Marianne gerade erst zum Valentinstag bekommen. Mit einem Seufzen steckte sie ihn zu ihrem Handy in die Tasche ihres Kleides.

Die Perlen, die sie die ganze Zeit fest umklammert gehalten hatte, übergab sie Knopp und sah ihn und Matthias eindringlich an. »An etwas Schlimmes dürfen wir einfach nicht denken. Marianne ist jetzt seit etwa einer Stunde verschwunden, wir haben also beste Aussichten, sie wohlbehalten zu finden.« Das mussten sie sich nur ganz fest einreden. Schon als Kind hatte Paula fest daran geglaubt, dass nichts Böses geschehen kann, wenn man ihm in seinen Gedanken keinen Raum gab. Wie sagte Keeser immer so schön? »Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.« Es blieb also nur eins: so lange wie möglich optimistisch sein!

»Sehe ich auch so«, sagte Matthias. »Und jetzt gehen wir da rein und versuchen so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegen.«

Dankbar sah Paula ihn an.

15.58Uhr

Während Knopp vor den Toiletten auf das Eintreffen seines Praktikanten wartete, gingen Paula und Matthias in den Saal zurück. Die Gespräche verstummten, als sie eintraten, die etwa dreißig verbliebenen Hochzeitsgäste sahen sie erwartungsvoll an.

»Die Braut wurde entführt«, sagte Paula eine Spur zu laut in die entstandene Stille hinein, woraufhin ein Raunen durch den Raum ging und sich einige der Anwesenden bestürzt ansahen.

Nachdem Matthias den Tortenkarton abgestellt hatte, drückte er ihr fest die Hand.

»Und wenn ich sage entführt, dann meine ich richtig entführt. Von wem, wissen wir derzeit nicht. Wir wissen nur, dass es zwischen vierzehn Uhr dreißig und etwa fünfzehn Uhr passiert sein muss. Also zu einem Zeitpunkt, als Sie alle mit dem Sektempfang beschäftigt waren und hier alles für den Kaffee vorbereitet wurde.«

»Etwa um diese Zeit hab ich Marianne gesehen, sie war auf dem Weg zu den Toiletten und wollte sich frisch machen«, meldete sich Mariannes beste Freundin zu Wort, die Paula vor ein paar Stunden als Angela vorgestellt worden war.

»Ich habe sie im Eingangsbereich getroffen und kurz mit ihr gesprochen«, bestätigte Paula. Sie musste innehalten und schlucken. »Danach hat sie niemand mehr gesehen«, fügte sie mit flattriger Stimme hinzu.

»Keine harmlose Brautentführung? Sind Sie sich da sicher?«, rief der Mann dieser Freundin in den Raum.

Paula konnte nicht antworten, nur den Kopf schütteln. Der Gedanke, was eventuell genau in diesem Moment mit Marianne geschah, schnürte ihr den Hals zu.

»Leider sprechen die Indizien nicht dafür«, fuhr Matthias an ihrer Stelle ruhig und sachlich fort und machte dabei eine raumgreifende Bewegung mit der Hand. »Zumal ja alle Gäste anwesend sind. Und von denen, die zu dem Zeitpunkt nicht anwesend waren, wissen wir inzwischen, dass sie nichts mit Mariannes Verschwinden zu tun haben.«

»Sicher?«

»Ganz sicher, es handelt sich dabei um Kollegen.«

»War ja nur ’ne Frage.« Entschuldigend hob Angelas Mann die Hände.

»Und was werdet ihr jetzt tun?« Angela war aufgestanden. Mit ihrem bodenlangen hellgelben Kleid mit den aufgedruckten großen Sonnenblumenköpfen und dem passenden Tuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte, war sie wie ein heller Sonnentupfer im eher gediegenen Farbensammelsurium aus Beige, Grau, Dunkelblau und Schwarz der anderen Gäste. Das Tuch sah exotisch aus, beinahe wie ein Turban, doch Paula wusste von Marianne, dass es sich dabei nicht nur um ein Modeaccessoire handelte – Angela versteckte darunter eine Glatze, die Nebenwirkung einer langwierigen Chemotherapie.

»Wir …«

»Haben sich schon irgendwelche Entführer gemeldet?«, rief ein Mann dazwischen, an dessen Namen Paula sich nicht erinnern konnte.

»Bisher nicht«, antwortete Matthias.

»Noch einmal: Was werdet ihr jetzt tun?«, insistierte Angela, die Hände zu Fäusten geballt.

»Wir werden mit den Kollegen, die heute hier mit uns feiern wollten, wie bei jedem anderen Fall vorgehen. Das heißt, wir werden systematisch ermitteln und allen Spuren nachgehen«, sagte Matthias ruhig.

In Paulas Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Sie war heilfroh, dass Matthias so souverän blieb.

»Haben Sie denn Spuren?« Ein Onkel von Marianne hatte diese Frage gestellt.

Paula und Matthias wechselten einen schnellen Blick.

»Wenn wir ehrlich sind, noch nicht«, gestand Paula und sah in die ernsten Gesichter der Hochzeitsgesellschaft. Nichts war geblieben von der Fröhlichkeit und ausgelassenen Feierlaune. »Aber wir werden alles Erdenkliche tun, um Marianne zu finden.«

»Und dafür brauchen wir Sie«, rief Matthias, um das aufbrandende Gemurmel zu übertönen. »Sie alle können uns dabei helfen. Wir haben uns das so gedacht: Sie bleiben vorerst alle hier, trinken Kaffee und …«

»Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass wir hier in aller Ruhe Kaffee trinken werden?«, höhnte Angelas Mann.