Spectaculum - Gina Greifenstein - E-Book

Spectaculum E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Sie liebt ihr Motorrad, gutes Essen und hat ihren italienischen Freund gerade in die Wüste geschickt. Kriminalkommissarin Paula Stern, frisch aus München ins pfälzische Landau versetzt, wird noch vor ihrem ersten Arbeitstag zu einem Fall gerufen. Auf Burg Landeck gibt es einen Toten – und zwar genau während eines der beliebten Mittelalterfeste. War es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord, der den Scheidungsanwalt Ernst Kaltwein so unsanft aus dem Leben gerissen hat? Mit ihrem neuen Kollegen Bernd Keeser ermittelt Paula Stern in Kaltweins Umfeld und findet jede Menge Verdächtige. Ob die Exfrau, der eigene Sohn, gehörnte Ehemänner oder ruinierte Scheidungsopfer – sie alle haben gute Gründe, dem Toten die Pest an den Hals zu wünschen … Mit der jungen, unkonventionellen und leicht chaotischen Kriminalkommissarin Paula Stern kommt neuer Schwung in die Pfalz. In "Spectaculum" ermitteln und schlemmen sie und der gemütliche Keeser sich durch ihren ersten gemeinsamen Fall. Ein köstliches, durch und durch pfälzisches Krimivergnügen mit liebenswerten, skurrilen Figuren. Im Anhang gibt Gina Greifenstein Tipps zu den wunderbaren Ausflugszielen ihres Duos und verrät deren Lieblingsrezepte.

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Seitenzahl: 344

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Gina Greifenstein

ist gebürtige Unterfränkin. Vor über 20 Jahren ist sie jedoch in der Pfalz gestrandet – in der Südpfalz, um genau zu sein. Dort lebt und arbeitet sie als freie Autorin. Gina Greifenstein schreibt Krimis, Kochbücher und Romane.

Ihre Ausbildung zur Hauswirtschafterin war der Grundstein für das, womit sie heute am erfolgreichsten ist: mit Kochbüchern. Bei Gräfe und Unzer sind bisher acht erschienen, darunter die Bestseller 1 Teig – 50 Kuchen und 1 Teig – 50 Torten. Und im Leinpfad Verlag viereinhalb: Das erste Pfälzer Tapas-Kochbuch, das ganz schlicht Pfälzer Tapas heißt, das zweite Tapas-Kochbuch, Noch mehr Pfälzer Tapas, das Pfälzer Kartoffelbuch, Ginas Plätzchen-Buch. Mit Plätzchen durchs Jahr und (zusammen mit Herbert Michel) Lust auf Blutwurst.

Gina Greifenstein ist aber auch Krimi-Autorin – jede Menge Kurzkrimis und inzwischen zehn Romane (darunter die Pfalz-Krimi-Reihe um Kommissarin Paula Stern) so wie Krimi-Anthologien stammen von ihr.

Im Leinpfad Verlag hat sie die Weihnachts-Anthologie Tödlicher Glühwein. 21 Weihnachtskrimis aus der Pfalz herausgegeben.

Sie ist jederzeit buchbar – für Lesungen, Buchvorstellungen, Koch- und Backkurse oder Koch- und Backvorführungen, egal ob Tapas oder Plätzchen. www.gina-greifenstein.de

GINA GREIFENSTEIN

Spectaculum

Paula Sterns erster Fall

Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

© Leinpfad Verlag

Überarbeitete Neuauflage 2019

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: U. Kosa, Ingelheim

Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-945782-53-8

Inhalt

1. Samstag, 25. Juni

2. Sonntag, 26. Juni

3. Montag, 27. Juni

4. Dienstag, 28. Juni

5. Mittwoch, 29. Juni

Nachwort

Die „Tatorte“

Rezepte

Danke, danke, danke …

1.Samstag, 25. Juni

Mit angezogenen Beinen saß Paula auf ihrem Lieblingssessel und sah sich in ihrem neuen Wohnzimmer um – oder besser gesagt: in dem Raum, der mal ihr Wohnzimmer werden sollte. Denn im Moment sah es eher aus wie ein unaufgeräumtes Möbellager, kombiniert mit einem schlecht organisierten Paketdienst. Der große Sessel, in dessen dunkelgrünes Leder sie sich schmiegte, war wie eine Insel im Chaos.

Viel Arbeit lag vor ihr, und sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wo sie anfangen sollte. In der Tat gab es nicht viel, was sie mehr hasste als Umzüge.

Immerhin stand die Kaffeemaschine schon mal dort, wo sie hingehörte, und funktionierte einwandfrei, was man vom Fernseher und dem Telefon nicht behaupten konnte.

Paula umfasste den riesigen Kaffeehumpen mit der sinnigen Aufschrift Mamas Liebling mit beiden Händen und sog den köstlichen Duft ein, was irgendwie tröstlich war.

Jetzt hockte sie also in der Provinz – in der südpfälzischen Provinz, um ganz genau zu sein. Krasses Kontrastprogramm zu den letzten drei Jahren mitten in München. Bis vor drei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, wo genau die Pfalz in Deutschland liegt. Immerhin hatte sie das inzwischen herausgefunden. Ebenso, dass Mainz die Hauptstadt von Rheinland-Pfalz ist. Morgen in einer Woche würde sie ihren Dienst antreten – hier in Landau. Als ihr das vor etwas über einem Monat mitgeteilt wurde, freute sie sich sehr darüber: Bodensee, dachte sie damals, tolle Gegend, nicht weit nach Österreich, Italien oder in die Schweiz! Mittlerweile wusste sie, dass Lindau im Bodensee liegt und mit ihrem Landau kein bisschen zu tun hat. Erdkunde war nie ihre Stärke gewesen. Auf der Landkarte hatte sie aber entdeckt, dass Frankreich nur einen Katzensprung von Landau entfernt ist, und bis zu ihren Eltern waren es nur etwa zweihundertfünfzig Kilometer – nah genug, um in einem Sehnsuchtsanfall schnell mal an einem freien Tag zu ihnen zu fahren; weit genug entfernt, um eine gute Ausrede zu haben, wenn ihre Mama mal wieder nörgelte, sie würde ihre Eltern viel zu selten besuchen. Und allemal besser als der Ruhrpott, denn dahin hätte es sie auch verschlagen können – oder gar in die neuen Bundesländer!

Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Milchkaffee und seufzte. Wie würde es werden, ihr neues Leben? Wie waren die Pfälzer überhaupt – eher nett und aufgeschlossen? Oder zugeknöpft und unfreundlich? Und die Kollegen, wie würden die wohl sein? – Verbohrte alte Dickköpfe? Frauenfeindlich vielleicht? Sie musste grinsen: Damit konnte sie inzwischen umgehen, die Münchner waren in dieser Beziehung ja auch etwas altmodisch gewesen.

Es war still in der Wohnung, die Einzelteile der Stereoanlage waren noch in irgendwelchen Kisten verstaut, und sie konnte sich nicht aufraffen, sie zu suchen und auszupacken. Es ging auch mal ohne Musik. Sogar an einen neuen Radiosender würde sie sich gewöhnen müssen.

Eine Woche hatte sie noch, um die Wohnung einzurichten und sich ein bisschen in der Gegend umzusehen, dann war Schluss mit lustig, und ihr neuer Lebensabschnitt würde beginnen. Und das, was sie sich im Moment noch nicht vorstellen konnte, würde in ein paar Monaten schon Routine sein.

Irgendwo zwischen den Umzugskartons ertönte der Klingelton ihres Handys. Paula hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Sie kam zu dem Schluss, dass das nur ihre Mama sein konnte. Bestimmt machte sie sich schon wieder unnötige Sorgen, weil sie sich noch nicht, wie versprochen, bei ihr gemeldet hatte. Sie fragte sich, ob sie für immer und ewig das kleine Mädchen für ihre Mutter sein würde, Mamas Liebling. Oder hörte das irgendwann mal auf?

Wenig begeistert rappelte sie sich hoch und stellte die Tasse recht wackelig auf einem der Kartons ab, um sich auf die Suche nach dem Handy zu machen. Insgeheim hoffte sie, dass die Klingelei aufhörte, bevor sie es fand. Aber den Gefallen tat ihr das Telefon nicht.

Endlich entdeckte sie ihre Lederjacke, die sie vorhin bei der Ankunft achtlos zwischen die Kartons geschmissen hatte, und fischte das bimmelnde Handy aus der Innentasche. Sie zögerte kurz. Vielleicht war ER es ja – zum gefühlt hundertsten Mal heute?, dachte sie mit einem plötzlichen Gefühl der Beklemmung. Konnte er nicht endlich damit aufhören?

Zögernd klappte sie den kleinen Apparat auf. Unbekannter Anrufer verkündete das Display. Also nicht ihre Mutter. Vielleicht doch ER. Er war sehr fantasievoll, das wusste sie inzwischen – vielleicht rief er ja dieses Mal vom Telefon eines Kumpels an, um sie zu überrumpeln? Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr.

„Ja“, meldete sie sich gegen ihr Gefühl, es nicht zu tun.

„Spreche ich mit Paul Stern?“, erkundigte sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Mit Paula Stern – wer will das wissen?“

„Kripo Landau. Hier steht aber Paul Stern“, monierte die Anruferin.

„Tut mir schrecklich leid, aber ich bin definitiv weiblich, ich schwör’s.“

„Dann muss das wohl ein Schreibfehler sein“, gab sich die andere Frau geschlagen. „Es geht um einen Toten auf der Landeck, Sie sollen sofort dort hinkommen. Ihr Kollege ist schon vor Ort.“

„Ich?“ Paula war mehr als verblüfft. „Aber mein Dienst beginnt doch erst übernächste Woche …“ Und welcher Kollege bitteschön? Da wusste jemand mehr als sie selbst!

„Hören Sie, das geht mich alles nichts an, ich teile Ihnen nur mit, was man mir aufgetragen hat: Sie sollen schnellstmöglich an den Fundort der Leiche kommen“, sagte die Stimme ruhig, aber bestimmt.

„Wo soll ich hin? Könnten Sie mir das noch einmal sagen?“ Paula klemmte sich das Minitelefon zwischen Schulter und Kinn und kramte in einer Kiste, auf der Büro stand, nach etwas zum Schreiben.

„Auf die Landeck“, wiederholte die Stimme artig.

„Und was ist das, die Landeck?“ Sie fand Locher, Lineal, eine Schachtel mit Heftklammern, Tipp-ex, aber verflixt noch mal nichts zum Schreiben!

„Burg Landeck“, antwortete die Stimme jetzt schon etwas ungehaltener.

Endlich stieß Paula auf einen Post-it-Block.

„Und wo ist diese Burg? Ich bin nicht von hier …“ Verflixt, dachte sie, wenn der PC schon ausgepackt und angestöpselt wäre, könnte sie diese blöde Burg ruckzuck googeln und müsste sich von dieser Tussi nicht wie eine Idiotin behandeln lassen! Sie sah sich um, konnte die Kiste mit dem Laptop aber nicht entdecken.

„In Klingenmünster“, teilte die Stimme derweil mit.

Klingenmünster kritzelte Paula mit einem hellgrünen Buntstift, den sie schließlich doch noch in den Tiefen des Kartons gefunden hatte, auf das rosa Papier, was fast nicht zu erkennen war. Irgendwo gelesen hatte sie den Ortsnamen schon mal. War da nicht eine Wohnung angeboten worden?

„Und wo ist dieses Klingen…“ Weiter kam Paula nicht, die andere hatte einfach aufgelegt. Ungläubig sah sie das Telefon an.

„Und ich habe kein Auto, du doofe Schnalle!“, rief sie noch in ihr Handy, bevor sie es zornig zuklappte.

Paula überlegte, ob sie sich mit dem Taxi zu besagter Burg bringen lassen sollte. Das wäre wohl das Einfachste gewesen. Ihr Blick fiel auf den Sturzhelm, der neben der Eingangstür am Boden lag.

Ein Auto hatte sie nicht, aber ein Motorrad.

Kurzentschlossen stieg sie wieder in die Lederhose, die sie erst vor etwas über einer Stunde ausgezogen hatte, und schnappte sich die Lederjacke. Hastig schlüpfte sie hinein und stieß mit der Hand an die Kaffeetasse auf dem Karton. Die kippte natürlich um, und fast ein halber Liter lauwarmen Kaffees ergoss sich über Karton und Boden.

Na bravo, dachte sie wütend, genau das brauchte sie jetzt! Aber die Sauerei würde auf sie warten müssen, als erstes musste sie diese Burg ausfindig machen.

Paula trat in den Hof des schönen alten Stadthauses, in das sie sich bei der Besichtigung auf den ersten Blick verliebt hatte und in dem sie ab sofort wohnte. Es war jetzt schon dunkel – nicht die beste Voraussetzung, sich in einer völlig fremden Umgebung zurechtzufinden. Irgendwie würde sie schon zu dieser Burg kommen. Aber würde sie später auch wieder nach Hause finden? Sie stülpte sich den Helm über und schwang sich auf ihre Honda. Sie verwarf diese Sorge – Landau war doch sicherlich groß genug, dass es überall ausgeschildert war.

Paula ließ die Maschine an und freute sich wie stets über das tiefe Wummern, das der Motor erzeugte. Ob sich ihre Nachbarn um diese Uhrzeit darüber auch so freuten?, fragte sie sich. Wohl eher nicht, das Wummern wurde durch den eng umbauten Raum des Hofes um ein Mehrfaches verstärkt und hallte von den Wänden wider. Im Schritttempo umkurvte sie langsam das Haus und fuhr hinaus auf die Straße. Sie glaubte sich zu erinnern, wo die nächste Tankstelle war, bog nach rechts ab und fuhr den Westring entlang. Bevor sie das Visier runterklappte, betrachtete sie im Vorbeifahren das Kripogebäude zu ihrer Linken. Das war ihre neue Arbeitsstätte. Wie es aussah, würde sie den Laden jetzt eher von innen kennenlernen, als sie gedacht hatte.

Zufrieden stellte sie fest, dass es wirklich nur ein Katzensprung von ihrer Wohnung hierher war – ideal, wenn sie mal verschlafen sollte. Dumm allerdings auch, weil sie an ihren freien Tagen immer schnell greifbar sein würde.

Paula nahm alles in der Straße bewusst in sich auf, um sich später besser orientieren zu können. Links gab es eine Apotheke, gut zu wissen, rechts eine Tanzschule. Himmel, wie lange war das her, dass sie eine Tanzschule besucht hatte? Gefühlte tausend Jahre!

Dann bog sie nach rechts ab und musste an einer roten Ampel halten. Links an der Ecke war ein nicht besonders einladend wirkendes China-Restaurant. Schlagartig kam ihr der Gedanke, dass sie seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Jetzt eine saftig-knusprige Frühlingsrolle … sie konnte sie fast schmecken! Allerdings roch es bis unter ihren Helm nach altem Fett. Dann vielleicht doch lieber keine Frühlingsrolle, entschied sie. Ihr gegenüber entdeckte sie ein Bestattungsinstitut, was sie ausgesprochen witzig fand, weil man es nicht sehr weit hätte, wenn mit dem chinesischen Essen mal was nicht in Ordnung sein sollte.

Besonders beeindruckend fand sie das schlossähnliche Gebäude mit Türmen und Zinnen an der Ecke zu ihrer Linken. Wow, dachte sie neidisch, da würde ich auch gerne drin wohnen!

Die Ampel schaltete endlich auf grün, und sie fuhr los. Ein Schild zeigte nach links zum Vinzentius-Krankenhaus – auch das war gut zu wissen, wenn man nicht gleich den Bestatter brauchte. Die kleine Tankstelle auf der linken Seite war schon geschlossen. Sie überlegte, ob sie eventuell in die falsche Richtung fuhr.

Es kam ein Bahnübergang und rechts sah sie einen Plus-Markt. Einkaufen musste sie so bald wie möglich, der Kühlschrank war zwar schon angeschaltet, aber bis auf eine angebrochene Milchtüte, ein paar Eier und eine halbvolle Butterdose war er leer.

Und dann erstrahlte rechts vor ihr endlich das helle Licht der Shell-Tankstelle. Vorsichtshalber machte sie noch ihren Tank randvoll, denn sie hatte keine Ahnung, wie weit es bis zu dieser Burg sein würde.

„Nach Klingeminschder?“, wiederholte der junge Mann an der Kasse ihre Frage und strahlte sie an. „Des is gleich um die Eck!“ Dann erklärte er ihr in ungelenkem Hochdeutsch, dass sie wieder ein Stück zurückfahren und vor der Bahnlinie links abbiegen müsse. Wenn sie dann auf dieser Straße immer geradeaus fahren würde, dann käme sie haargenau nach Klingenmünster. Und die Burg, ha, die wäre ja hell erleuchtet und gar nicht zu übersehen. Gleich nach dem Pfalzklinikum – dabei machte er kreisende Bewegungen mit seinem Zeigefinger in Stirnhöhe und rollte mit den Augen – müsse sie rechts abbiegen. Ganz einfach.

Derart beruhigt stieg Paula wieder auf ihre Maschine und schlug die angegebene Richtung ein. Sie fuhr aus Landau hinaus, auf den letzten Schimmer der untergegangenen Sonne zu, in dem sie die Umrisse der Berge gerade noch erkennen konnte. Ihre neue Heimat hätte sie eigentlich lieber im Hellen erobert.

Als sie Landau hinter sich ließ, sah sie vor sich in der Ferne sogar zwei beleuchtete Burgen. Schilder mit unbekannten Ortsnamen huschten an ihr vorbei: Wollmesheim, Ilbesheim, Eschbach – irgendwann würde sie sie alle kennen.

Wenig später landete sie tatsächlich in Klingenmünster. Von einer beleuchteten Burg war jetzt allerdings weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie haderte mit sich, ob es vielleicht die Burg war, die sie gerade hinter sich gelassen hatte. Zögernd fuhr sie weiter. Zu ihrer Rechten lag nun laut Beschilderung das weitläufige Areal des Pfalzklinikums, aber auf eine Burg wies nichts hin.

Dann sah sie endlich ein braunes Schild, das nach rechts zeigte. Nur mit Mühe konnte sie im Dunkeln Burg Landeck darauf entziffern.

Sie nahm das Gas weg und bog rechts ein.

Ganz sicher war sie sich nicht, dass sie hier richtig war. Zu beiden Seiten waren noch immer Gebäude, die offensichtlich zum Klinikum gehörten. Gerade, als sie mit dem Gedanken spielte, wieder umzukehren, sah sie ein weiteres Burg-Schild, das jetzt nach links zeigte. Eine schmale Straße führte sie stetig den Berg hinauf, wand sich durch einen Wald. Ein bisschen gruselig fand sie das schon.

Ein Rettungswagen kam auf sie zu, gefolgt von einem Notarztauto, und sie musste ganz nach rechts ausweichen. Wäre sie mit einem Auto hier hochgefahren, wäre es wirklich eng geworden.

Nach der nächsten Biegung landete sie im Chaos: Flutlicht erhellte den Weg und einen großen Parkplatz. Dienstfahrzeuge der Polizei standen kreuz und quer. Zur Linken erhob sich düster das uralte Mauerwerk einer Burg – kein Zweifel, sie hatte den Tatort gefunden!

Es war jetzt halb zwölf.

„Na, Herr Keeser, so ällänich unnerwechs? Wo is dann Ihr Kolleech abgebliwwe? Hot der ebbes Besseres vor?“ Polizeiobermeister Hans Becker klopfte dem gähnenden Kriminalhauptkommissar Bernd Keeser freundschaftlich auf die Schulter.

„Kann man wohl sagen“, brummte Keeser und sah die hell angestrahlte Burgmauer hinauf. Er versuchte ihre Höhe zu schätzen.

„Urlaub?“, hakte Becker nach.

Keeser schüttelte den Kopf. „Viel besser: Rente. Der muss sich jetzt nicht mehr nachts an irgendwelchen düsteren Tatorten rumdrücken!“

„Ja“, kicherte Becker neben ihm, „mir hätte halt ebbes Aaschdändiges lerne solle!“

„Soll ich Ihnen mal sagen, was das Schlimmste an diesem Einsatz hier ist?“

Becker sah Keeser abwartend an.

Der sagte daraufhin wehmütig: „Das wunderbare Rindermedaillon, perfekt auf den Punkt gebraten – innen saftig-rosa, außen knusprig-würzig -, das ich gerade mal bis zu einem Drittel aufgegessen hatte, als das Telefon klingelte und ich hierher beordert wurde. Mutterseelenallein liegt es jetzt zuhause auf seinem Teller, bestimmt schon kalt, ganz zu schweigen von dem köstlichen Zucchini-Tomatengratin.“

Er zeigte die Burgmauer hinauf. „Wie hoch ist das wohl?“

„Elf Meter“, sagte Becker wie aus der Pistole geschossen.

„Echt jetzt, das wissen Sie tatsächlich?“

„Hab vorhin än von denne Dagobertsrittern g’froocht, die kenne sich hier aus.“ Becker zeigte hinüber zu einer Gruppe mittelalterlich gekleideter Männer und Frauen, die aufgeregt tuschelnd zu ihnen herübersahen.

„Wie heißen diese Leute?“

„Die Ritter König Dagoberts“, informierte ihn der Beamte mit wichtiger Miene.

Keeser grinste. „Ah ja, man lernt halt nie aus.“ Er inspizierte die illustre Gruppe genauer. „Ist ja wie Fasching.“

„Des is weche dem Landeck-Fescht“, informierte Becker ihn. „Do treffe sich solsche Gruppe aus ganz Sieddeitschland und lewwe hier dann übers Wocheend wie im Mittelalder. Des sin echte Freaks, Herr Kommissar! Bei Wind un Wetter hause die in ihre Zelte und zieh’n vun ääm Mittelalterfescht zum nächschte.“

„Und am Sonntagabend fahren sie dann mit ihren Autos heim, steigen unter die heiße Dusche und hocken sich vor die Glotze. Dann genießen sie wieder die Vorzüge der Zivilisation.“ Ein spöttisches Lächeln umspielte Keesers Mundwinkel. „Logisch, wer will schon auf Dauer wie im Mittelalter leben? Also, für mich wäre das nichts!“

Er beobachtete die Kollegen von der Spurensicherung, die damit beschäftigt waren, den Tatort von allen Seiten zu fotografieren und alle relevanten Hinweise festzuhalten, bevor er sich den Toten selbst genauer ansehen konnte.

„Wer hat überhaupt die Polizei gerufen?“

„Enrer vun denne Ritter, en gewisser Junker Gieselher…“

„Junker was?“, unterbrach Keeser mit missmutig zusammengezogenen Augenbrauen.

„… ähm, Frank Müller, scheint der Aaführer – saacht mer des so? – zu sei“, brachte Becker seinen Satz zu Ende.

„Und wie hat er das gemacht? Mit der Buschtrommel oder mit Rauchzeichen?“

„Mit’m Handy, denk ich mool.“

„Aha, wie im Mittelalter leben wollen, aber ein Handy mit sich herumschleppen – nicht gerade konsequent, nicht wahr?“

„Aach widder wohr“, stimmte Becker ihm zu. „Un wer isch Ihrn neier Kolleech? Kenn ich ihn?“, wollte er noch wissen.

„Ein Jungspund aus München, Paul Stern heißt er, wenn ich mich recht erinnere. Gerade mal achtundzwanzig“, schnaubte Keeser, „als ob wir nicht selbst genug Polizeinachwuchs hätten. Und dann noch einer aus Bayern, das kann ja heiter werden!“

„Un wo blääbt er?“

„Fängt zum Glück erst nächste Woche an, da hab ich noch ein bisschen meine Ruhe.“

„Do habt ihr bei der Kripo ja bald die Galaxie beisamme“, bemerkte Becker grinsend.

„Welche Galaxie denn?“ Keeser stand auf der Leitung.

„Na, euer Oberboss heißt Sonne – jetzt bekommt Ihr noch en Sschdern dazu – wenn des nit witzich isch!“, erklärte der Beamte.

So besonders witzig schien Keeser das nicht zu finden, denn er wechselte das Thema: „Hat sonst noch irgendjemand was gesehen?“

Becker schüttelte bedauernd den Kopf. „Bisher wisse mir des noch nit. Im Burghof war jo den ganze Owend das Skye-Konzert, des wollte sisch wohl kenner entgehe losse!“

„Skye? – Die hab ich mal bei einem Adventskonzert in der Birkenhördter Kirche gehört. Machen echt schöne Musik! – Schien Junker Giselher wohl nicht besonders interessiert zu haben, wenn er sich lieber hier herumgetrieben hat.“ Keeser betrachtete den Leichnam vor sich. „Weiß man schon, wer der arme Teufel ist?“

Viel zu sehen war von der Person nicht: Ein paar nackte, stark behaarte Beine, die in einem recht unnatürlichen Winkel zum Körper lagen, die Füße steckten in nicht gerade modischen Ledersandalen. Der Rest des Mannes wurde größtenteils von einem dunkelbraunen sackleinenartigen Gewand verdeckt. Nur noch ein ebenfalls sehr haariger Arm ragte daraus hervor.

„Bisher nit – Junker Friedhelm werd jo wohl nit sein rischdischer Name sein.“

„Junker Gieselher, Junker Friedhelm?“, sagte Keeser spöttisch. „Man sollte die Typen gleich alle hier im Klinikum einsperren!“

„Des is sein Name bei denne Ritter König Dagoberts – wie er im wahre Läwe hääßt, konnte känner saache. Interessiert aach kän, es geht denne Leit nur um des Läwe im Mittelalter“, erklärte Becker.

„Sind wohl alle im falschen Jahrhundert auf die Welt gekommen“, stellte Keeser fest.

Die Leute von der Spurensicherung packten ihre Gerätschaften zusammen und schleppten sie in Richtung Parkplatz.

„Guten Abend, Herrschaften.“ Werner Dreißigacker von der Kriminaltechnik stellte sich zu ihnen. „Jetzt gehört er euch und der Rechtsmedizin.“

„Ein Unfall? Selbstmord? Oder wonach sieht es Ihrer Meinung nach aus?“

„Was ihr immer alles wissen wollt! Ich sammle nur die Spuren, für die Rückschlüsse seid ganz allein ihr zuständig.“ Er deutete in die Höhe. „Jetzt gehen wir noch nach oben und sichern da alles. Vielleicht wissen wir dann mehr. Da kommt übrigens Knopp. Fragen Sie dem doch die Löcher in den Bauch.“

Keeser drehte sich um und sah Andreas Knopp, den Rechtsmediziner, auf sich zukommen.

„So sieht man sich wieder, Bernd!“ Knopp klopfte Keeser zur Begrüßung auf die Schulter. Interessiert betrachtete er den Leichnam. „Kam er von dort oben?“ Sein Blick wanderte die großen, grauen Quader der Mauer hinauf, bis sie elf Meter über ihm mit dem schwarzen Nachthimmel verschmolzen.

Becker und Keeser nickten.

„Echt klasse, da wird bestimmt kein Knochen mehr heil sein, und ich muss auch noch in dem Matsch rumstochern! Immer erwischt es mich bei den unappetitlichen Fällen“, maulte Knopp und schlug den groben Stoff des Gewandes zur Seite.

„Ach du Scheiße, der Kaltwein!“, entfuhr es Becker, als er das blasse Gesicht des Toten im hellen Flutlicht erkannte. Die Augen des Toten blickten starr in den nächtlichen Himmel. Ein getrocknetes Rinnsal aus Blut, das sich von seinem Mundwinkel aus über das spitze, schlecht rasierte Kinn hinweg bis hinab zum stark verdrehten Hals zog, bildete auf seinem kalkweißen Gesicht einen harten Kontrast.

„Sie kennen den Mann?“, fragte Keeser.

„Klar, fascht jeder g’schiedene Mann in der Palz kennt den Kerl: Des is der Ernst Kaltwein, Scheidungsaawalt, lebt in Annweiler, hot awwer e Kanzlei in Landau. Hot sich selbscht zum Rächer der Ehefraue ernannt und nimmt uns Männer aus wie die Woihnachtsgäns!“ Er sagte das in einem Ton, als wollte er gleich auf den Toten spucken.

Keeser sah ihn von der Seite an. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie geschieden sind?“

„Ganz rischtisch aag’nommen! Siebzehn Daach vum Monat geh ich fer den mehr als iwwerhöhte Unterhalt vun meinrer holden Ex schaffe! Was vum restliche Monat iwwerichbleibt, reicht mir hinne un vorn nit, wesweche ich meini Freizeit als Hausmäschder inrem Senioreheim verbring. So hawich mir moi Lääwen wirklich nit vorg’schdellt!“ Becker war jetzt richtig in Rage.

„Tja, mein Lieber, ich weiß schon, warum ich mein Leben lieber ohne Eheweib zubringe“, sagte Keeser wenig tröstlich.

Paula fand eine geeignete Stelle, wo sie das Motorrad abstellen konnte. Da im Burggraben jede Menge Polizisten und mehrere andere Personen herumstanden, vermutete sie, dass sich dort der Tatort befand. Allerdings wunderte sie sich, wie die aussahen. Sie trugen wallende Gewänder, Kapuzenmäntel, seltsame Jacken mit Pluderärmeln und – sie wollte ihren Augen nicht glauben – Kettenhemden! Paula fühlte sich in ein anderes Jahrhundert katapultiert.

Während sie auf diese Gruppe zuging, nahm sie den Helm ab. Gegen diese Leute sah sie in ihrer rot-weiß-grauen Lederkombi wie ein Besucher von einem anderen Stern aus.

„Seid gegrüßt, holde Dame! Was ist Euer Begehr?“, fragte ein Mann in weitem, dunkelgrünem Kapuzenumhang, der aus der Menschengruppe heraustrat und sie unter seiner Kapuze hervor freundlich anlächelte.

Die Handbewegung des Tankstellenmenschen kam ihr in den Sinn – war das hier etwa eine Irrenanstalt?

„Ich bin von der Kripo, ich will zum Tatort“, informierte sie den Mann knapp.

Der schob die Kapuze zurück und sah sie betrübt durch dicke Brillengläser an. „Oh, Ihr seid ein weiterer Arm des Gesetzes! Wahrlich, der Sensenmann hat unsere kleine Gruppe durchschritten und einen der Unsrigen, Junker Friedhelm, mit sich genommen. Wie bedauerlich. Mit Verlaub, meine Name ist Junker Gieselher, ich war es, dem das Schicksal zuteil wurde, seine sterblichen Überreste zu finden. Nun, junge Dame, dort hinab!“ Er wies ihr mit theatralischer Armbewegung den Weg.

„Junker Friedhelm, ich verstehe“, stammelte Paula und sah zu, dass sie von diesem Verrückten wegkam.

Ein Polizeibeamter aus dem gegenwärtigen Jahrhundert trat ihr in den Weg.

„Hier könne Se nit dorch, des is än Tatort. Bitte gehn Se zu ihrm Fahrzeuch zurick und verlosse Se die Burch!“, sagte er.

„Ich weiß sehr wohl, dass das hier ein Tatort ist, ich wurde schließlich herzitiert! Ich bin Kriminaloberkommissarin Paula Stern vom K 9.“

„Vum K 9 is awwer schun jemand do“, wehrte der Beamte ab. „Zeiche Se mir mol Ihr’n Dinschtausweis!“

Genau verstand Paula nicht, was er von ihr wollte, nur das Wort „Dienstausweis“. Da sie ja eigentlich noch gar nicht im Dienst war, hatte sie natürlich auch noch keinen Ausweis bekommen!

„Hab ich noch keinen“, gab sie ein wenig kleinlaut zu.

„Woll’n Se mich uff’n Arm nemme? Verschwinde Se, bevor ich uugemiedlich werd!“ Der Beamte wurde zusehends unfreundlicher.

„Fragen Sie doch den Kollegen vom K 9, der wird Bescheid wissen!“ Auch Paula wurde jetzt ärgerlich. Was bildete sich dieser Tropf überhaupt ein?, dachte sie zornig.

„Und wie hääßt dieser Kolleech?“, hakte ihr Gegenüber überheblich nach.

„Keine Ahnung“, fauchte Paula ihn jetzt an. „Ich bin von der Einsatzzentrale hierher beordert worden, und jetzt bewegen Sie ihren Arsch gefälligst rüber zu dem Kollegen und sagen ihm, dass ich hier bin. Und das ein bisschen zackig, ich bin nämlich nicht zum Spaß hier!“

Hauptkommissar Bernd Keeser sah den Motorradfahrer sofort, was kein Wunder war, denn in dem roten Lederanzug leuchtete er aus dem Haufen der dunkel gewandeten Mittelalterleute hervor. Er beobachtete den heftigen Disput, der zwischen einem der Beamten und dem Biker stattfand.

Schließlich kam der besagte Beamte mit hochrotem Kopf und sichtlich wütend zu ihnen herübergestapft.

„Gäbt’s Ärcher?“, sagte Becker.

„Wie es aussieht, werden wir es gleich erfahren“, orakelte Keeser.

„Herr Kommissar, die Person dort driwwe behauptet, vum K 9 zu soi – hot aber kän Dinschtausweis. Schdern hääßt se und sie määnt, Sie wüsste Bescheid.“

„Stern? Sollte der nicht erst nächste Woche seinen Dienst antreten? Das ist in Ordnung, lassen Sie ihn durch!“

„Ihn? – Des is e Sie un e recht frechi noch dezu!“, schnaubte der Beamte und stapfte den Weg wieder zurück.

„Eine Sie?“, rief Keeser ihm verwundert hinterher, wurde aber nicht mehr gehört. Dann sah er, wie sich die Person im roten Leder mühelos unter dem weiß-roten Absperrband durchbückte. Resolut kam sie auf ihn zu.

„Des is ja e Frä!“, stieß Becker hervor, als Paula sich näherte.

„Was hat er gesagt?“, erkundigte sie sich, da sie kein Wort verstanden hatte.

„Dass Sie eine Frau sind“, übersetzte Keeser schmunzelnd.

„Wow, die pfälzische Polizei ist offensichtlich ein wahres Ermittlungswunder“, bemerkte sie spitz. „Natürlich bin ich eine Frau – haben Sie was anderes erwartet?“

„Ehrlich gesagt ja, nämlich einen Paul.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Keeser, Bernd Keeser“, stellte er sich vor. „Anscheinend sind wir zwei das neue Dreamteam vom K 9.“

„Paul? Jetzt fangen Sie auch noch damit an! Die Einsatzzentrale wollte schon einen Paul aus mir machen! Paula Stern“, stellte sie sich vor und reichte ihrem Kollegen die Hand. Paula war mit ihren eins achtundsiebzig nicht gerade klein, aber zu Keeser musste sie regelrecht hochsehen. Ihre Hand verschwand fast in der seinen.

„Fer än Paul isse ach viel zu schä!“, stellte Polizeiobermeister Becker wohlwollend fest und reichte ihr ebenfalls die Hand.

„Hans Becker.“

„Was hat er vor dem Hans Becker gesagt?“ Paula sah Keeser hilfesuchend an.

„Dass Sie für einen Paul viel zu schön sind“, sagte der Kommissar grinsend.

„Himmel, was ist denn das für eine Sprache?“, fragte Paula mit gerunzelter Stirn. „Sprechen die hier alle so?“

„Das ist Pälzisch oder auch Pfälzisch, und ja, in der Pfalz sprechen die meisten Menschen so – zumindest die Eingeborenen. Betrachten Sie mich als Ihren persönlichen Dolmetscher.“

„Na bravo, das kann ja heiter werden!“ Fast drei Jahre hatte Paula gebraucht, um die Bayern einigermaßen zu verstehen, und jetzt fing alles von vorne an. „Wo bin ich hier bloß gelandet?“, fragte sie mit einem Anflug von Verzweiflung und sah sich kopfschüttelnd um.

Keeser klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. „Nicht verzweifeln, auf den ersten Blick sieht alles oft schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist“, versuchte er zu trösten.

„Finden Sie? Und was ist mit denen da drüben?“ Sie deutete zu den Mittelaltermenschen hinüber.

„Ach die!“ Keeser lachte. „Ja, die sind schon ein spezielles Völkchen. Aber vollkommen harmlos!“

„Harmlos?“ Paula betrachtete die Leiche auf dem Boden. „So harmlos wohl doch nicht, oder?“

„Das wird sich rausstellen. Vielleicht ist Junker Friedhelm ja freiwillig in den Tod gegangen?“

„Zum Glück sind unsere Ermittlungsmethoden aus diesem Jahrhunnert!“, meldete sich Becker zu Wort.

„Sieh an, Sie können ja auch ganz normal sprechen!“ Paula sah ihn überrascht an.

„Ist er nicht!“, ertönte eine Stimme aus der Nähe der Leiche.

Andreas Knopp richtete sich auf und zog die Handschuhe mit einem schnalzenden Geräusch aus.

„Was ist er nicht?“ Keeser sah ihn erwartungsvoll an.

„Freiwillig in den Tod gegangen, wie du es so schön ausgedrückt hast, Bernd. Es wurde ihm dabei geholfen.“ Er reichte Paula die Hand. „Andreas Knopp von der Gerichtsmedizin. Sie sind wohl Bernds neue Kollegin?“

„Richtig, Paula Stern, sehr erfreut.“

Knopp grinste breit. „Mann, Bernd, wenn das keine optische Aufwertung für dein Team ist!“

„Wie meinst du das denn, bitteschön?“ Keeser strich sich wohlwollend über seinen unübersehbaren Bauch, und seine dunklen Augen blitzten übermütig unter seinen buschigen Augenbrauen. „Bin ich dir etwa nicht schön genug?“

„Nichts für ungut, mein Lieber, aber sie ist eindeutig um einige Klassen hübscher!“ Der Gerichtsmediziner tätschelte Keeser die stoppelige rechte Wange.

„Ihr Kerle geht immer nur nach dem Äußeren!“, maulte Keeser und zwinkerte seiner neuen Kollegin vergnügt zu.

„Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass dieser Junker Soundso getötet wurde?“, sagte Paula, um dem Geplänkel ein Ende zu machen. Sie war müde und wollte nach Hause.

„Genaues kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen, aber so, wie es aussieht, wurde ihm mit einem scharfen Gegenstand in den Rücken geschlagen. Die Wunde ist nicht tief, war also sicherlich nicht tödlich. Wahrscheinlich hat der grobe Stoff seiner Kleidung einiges abgefangen, auch wenn er von der Waffe durchtrennt wurde. Und hier“, – Knopp hob den Kopf des Toten leicht an und drehte ihn etwas, damit Paula und Keeser besser sehen konnten, was er ihnen zeigen wollte, – „haben wir eine recht große Wunde seitlich am Schädel, oberhalb des rechten Ohres.“

Paula ging in die Hocke, um besser sehen zu können.

„Diese Verletzung hätte ihm hundertprozentig einige Kopfschmerzen bereitet, aber sie wäre sicherlich nicht tödlich gewesen – ich denke, der Sturz hat ihm den Rest gegeben.“

„Könnte er auch selbst gesprungen sein und hier unten auf etwas Scharfes gefallen sein? Einen scharfkantigen Stein zum Beispiel?“, wollte Paula wissen.

„Das hab ich auch schon in Betracht gezogen, bei einem Sturz aus solcher Höhe könnte schon ein etwas dickerer Ast solche Verletzungen hervorrufen. Aber unter ihm ist nichts, nur Gras.“ Er nickte ihr wohlwollend zu. „Wie gesagt: Genaueres nach der Obduktion! Aber erst müssen wir den armen Kerl ein bisschen zusammenkratzen und so weit wie möglich an einem Stück auf einen meiner Tische bekommen.“ Er winkte seinen Mitarbeitern, die das für ihn erledigen sollten. „Wir sehen uns!“ Er hob zum Abschied die Hand und eilte davon.

„Knopp ist übrigens auch Bayer, Frau Stern“, klärte Keeser die neue Kollegin auf.

„Ich bin Fränkin, keine Bayerin!“

„Ich dachte, Sie kommen aus München?“

„Ich bin gebürtige Würzburgerin, und das liegt in Unterfranken. Wir sind also Franken und keine Bayern – da legen wir übrigens großen Wert drauf“, informierte ihn Paula. „In München, also in Bayern, habe ich nur die letzten drei Jahre gearbeitet.“

„Awwer Franken g’heert doch zu Bayern?“, wunderte sich Becker.

„Das ist schon richtig, aber wir Franken sind trotzdem keine Bayern!“, insistierte Paula.

„Ist ja gut, die Franken sind mir eh viel lieber als die Bayern, weil die einen guten Wein machen.“ Keeser grinste fröhlich. „Obwohl so ein gutes Bier auch nicht zu verachten ist!“

Paula sah nach oben und entdeckte auf einer breiten Holzbrücke noch mehr mittelalterlich gewandete Schaulustige, die neugierig zu ihnen herabsahen. „Da sind ja noch mehr von der Sorte! Ist hier ein Nest?“

„Hier findet gerade ein großes Mittelalterfest statt, ein sogenanntes Spectaculum“, erklärte Keeser. „Kollege Becker kann Ihnen da aber mehr erzählen als ich. Aber jetzt sollten wir mal da hochgehen.“

Paula marschierte vor den beiden Beamten her, wobei ihr langer blonder Zopf lustig hin und her pendelte.

„Wenn der Hüftschwung und Zopf nicht wären, könnte man Sie glatt für einen schlaksigen jungen Mann halten“, sagte Keeser halblaut.

„Die hot echt kään Arsch in der Hos’!“, bestätigte Becker.

„Hoffentlich ist sie keines von diesen Magerhühnern, die kein Gramm zunehmen wollen und deshalb nur an langweiligen Salatblättern herumknabbern.“

Die männlichen Mittelalterfans drehten sich alle nach ihr um und glotzten ihr nach.

„Das ist doch wieder mal typisch“, sagte Keeser amüsiert, als er das sah. „Egal, ob Mittelalter oder Gegenwart, da sind doch alle Kerle gleich: Sie schauen jedem Weiberrock hinterher – auch wenn es eine Lederhose ist!“

Auf dem Parkplatz angekommen, betrachtete er Paulas Motorrad eingehend.

„Das ist ja ein nettes Teilchen!“, brummte er anerkennend. „Wie viele PS hat sie denn?“

„Hundertvierundsiebzig“, sagte Paula stolz.

„Wow, das sind ja mehr, als mein Auto hat!“

„Sie g’höre wohl aach zu der Fraktion, die wie die Bekloppte zum Johanniskreuz hochjaache un widder runner?“, meldete sich Becker zu Wort. „Und wir misse euch dann widder vun der Strooß abkratze!“

„Johanniskreuz?“ Paula hatte keine Ahnung, was er meinte.

„Ein beliebter Treffpunkt für Motorradfahrer hier ganz in der Nähe, das Wellbachtal geht’s da recht kurvig hoch. Jedes Jahr gibt es auf dieser Strecke ein paar Tote“, erklärte Keeser.

„Man kann mit viel PS auch langsam und vernünftig fahren“, sagte Paula.

„Wer’s glääbt, werd selich!“ Becker ließ sie mit abfälliger Gebärde stehen und ging weiter zur Brücke.

„Wollen Sie den Hut in meinen Wagen legen? Dann müssen Sie ihn nicht immerzu mit sich rumschleppen!“, bot Keeser an.

„Gute Idee.“ Paula legte ihren Helm in den Kofferraum, den Keeser für sie öffnete.

Sie folgten Becker auf die Brücke, die über den Burggraben führte. Ehrfürchtig bildeten die Schaulustigen eine Gasse für sie.

„Essen Sie gerne?“, platzte es aus Keeser heraus, als sie das kleine Burgtor durchschritten.

„Essen?“ Paula sah ihn überrascht von der Seite an. „Jetzt im Moment würde ich besonders gern etwas essen, am besten eine Kuh, gefüllt mit einem Elefanten! Ich habe nämlich zuletzt was in München gegessen, bevor ich in die Pfalz gefahren bin – gefrühstückt, um genau zu sein.“

Er lachte. „Ob Sie generell gerne essen, wollte ich wissen. So schlank, wie Sie sind …“

Paula lachte ebenfalls. „Ich esse für mein Leben gerne – und viel. Ich mag Kalorien und Cholesterin in jeglicher Form!“

Keeser lächelte erleichtert. „Das beruhigt mich sehr, so eine Abnehm-Missionarin oder verbissene Salatschnecke als Kollegin wäre für mich nämlich ein echter Alptraum!“

Paula und Keeser näherten sich der Stelle, von der aus Ernst Kaltwein gestürzt sein musste. Sie war großräumig abgesperrt, auch hier waren zwei große Strahler installiert, die die Szenerie beinahe unwirklich erscheinen ließen. Die immer wieder aufflammenden grellen Blitzlichter des Fotografen taten ihr Übriges.

„Können Sie kochen?“, bohrte Keeser weiter.

„Zum Überleben langt’s. Ich bin eher die perfekte Wärmerin. Aber backen kann ich recht gut.“ Paula beugte sich über die knapp einen Meter breite Mauer und sah in die Tiefe, wo gerade die Leiche abtransportiert wurde.

„Auch Frankfurter Kranz?“

„Was?“ Sie sah ihren neuen Kollegen irritiert an.

„Also, mein Hobby ist Kochen – und Essen, wie man unschwer erkennen kann.“ Er liebkoste abermals seinen Bauch. „Mit dem Backen hapert’s leider ein wenig – aber ich esse sehr gern Kuchen. Wenn Sie also wirklich gut backen können, würden wir uns doch wunderbar ergänzen!“

„Ich dachte, ich soll Sie beruflich ergänzen.“

„Das eine muss ja das andere nicht ausschließen, oder? So ein kleiner Kuchen zum Arbeitseinstand wäre doch eine exzellente Gelegenheit, Ihr Können unter Beweis zu stellen!“ Keeser zwinkerte ihr zu.

„Verstehe ich das richtig? Meine Fähigkeiten in Bezug aufs Kuchenbacken sind Ihnen derzeit wichtiger als meine Fähigkeiten im Job?“

„Nun, Ihre Fähigkeiten im Job werde ich ja zwangsläufig miterleben. Aber wenn wir das Thema Kuchenbacken nie angesprochen hätten, würden Sie vielleicht nie auf die Idee kommen, einen Kuchen für die Abteilung zu backen – ich mään jo blooß“, sagte er frech grinsend. „Ich meine ja bloß“, fügte er betont hochdeutsch hinzu.

Paula grinste zurück. „Mal schaun, was ich für Sie tun kann.“ Er scheint ja recht nett zu sein, dachte sie erleichtert.

Werner Dreißigacker kam zu ihnen herüber.

„Das ist Paula Stern, meine neue Kollegin“, stellte Keeser sie dem Kriminaltechniker vor.

„Na, endlich mal nicht so ein dicklicher, muffiger Kerl!“, sagte Dreißigacker und schüttelte ihr sichtlich erfreut die Hand.

„Was soll das denn bitteschön heißen?“, brummte Keeser gespielt beleidigt.

„Hier gab es eindeutig einen Kampf“, kam Dreißigacker ohne Umschweife zur Sache. „Muss recht heftig gewesen sein, nach den Spuren zu urteilen. Allerdings sind hier so viele Fußabdrücke im Sand, dass es schwer sein wird, die relevanten herauszufiltern. Es waren hier in den letzten Tagen halt doch recht viele Menschen unterwegs.“

„Haben Sie eine Waffe gefunden?“, wollte Paula wissen.

„Nein, bisher noch nicht, aber wir sind ja noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Hier oben werden wir noch heute Nacht alles absuchen, aber da unten“ – er zeigte in Richtung Mauer – „wird das schon schwieriger werden. Morgen ist hier wieder die Hölle los.“

„Und morgen Abend packen die Mittelaltertypen alles wieder zusammen und verschwinden?“, fragte Paula.

Becker nickte zustimmend.

„Dann sollten wir am besten gleich mit der Zeugenbefragung beginnen. Ich hab heute eh nichts Besonderes mehr vor.“

Keeser schickte seufzend einen letzten wehmütigen Gedanken an sein Essen.

„Eben, was könnte man schon Schöneres machen, als müden Menschen die Würmer aus der Nase zu ziehen?“, brummte er.

„Zwä vun meine Kolleeche sinn schun dabei, alle Name uffzuschreiwe.“ Becker war wieder in breitestes Pfälzisch verfallen.

„Was der werte Kollege Becker mitteilen wollte, ist, dass zwei seiner Männer schon damit beschäftigt sind, alle Anwesenden auf der Burg namentlich zu erfassen“, übersetzte Keeser ungefragt.

Paula schenkte ihm einen dankbaren Blick. „Na, dann mal los!“

Auf dem Weg zur Brücke kam ihnen ein weiterer Beamter entgegen, der ihnen mit den Worten „Viel Spaß damit!“ ein Klemmbrett mit einer mehrere Seiten langen Namensliste überreichte.

Paula blätterte durch die Liste. „Sechs Seiten – das schaffen wir ja heute nie und nimmer!“

„Und das sind nur die Leute, die hier oben lagern. Die Konzertbesucher von außerhalb waren alle schon verschwunden.“

„Konzertbesucher? Das wird ja immer komplizierter!“, stöhnte Paula.

„Hat keiner behauptet, dass es einfach werden würde.“ Keeser tätschelte ihr väterlich den Rücken.

„Gibt es irgendwelche Räumlichkeiten, wo wir die Leute befragen können?“

„In der Burgschänke, gleich hier um die Eck“, sagte Becker. „Des is schun mitem Wirt abgeklärt.“

Paula ging voraus in die angewiesene Richtung, kam durch ein Burgtor und trat auf den großen Burghof. Auch hier war alles hell erleuchtet. Unzählige Reihen von Holzbänken standen unter riesigen alten Bäumen, zwischen denen Lichterketten im Wind schaukelten. Es musste herrlich sein, hier zu sitzen, ein Bierchen oder einen Kaffee zu trinken und den Blick ins Land schweifen zu lassen! Paula fand es schade, dass sie dieses fantastische Gemäuer unter solch unangenehmen Umständen kennenlernen musste. Fasziniert lief sie nach links zur hüfthohen Mauer und sah hinab auf das erleuchtete Klingenmünster. Direkt unter ihr, im früheren Wehrbereich, waren Zelte aufgebaut. Hier hausten also die Mittelalterfans.

Als sie sich umdrehte, sah sie die Schänke, dicht angeschmiegt an die mächtige Burgmauer und den alles überragenden Burgturm. Die Tür stand offen, und sie betrat einen kleinen, gemütlichen Raum mit ein paar rustikalen Tischen.

Keeser folgte ihr. „Gibt’s noch was zu essen?“, rief er über die Theke in die Küche hinein.

„Kummt druff aa, was Se wolle“, kam die Antwort zurück.

„Flammkuchen?“, fragte Keeser laut. Er beugte sich zu Paula hinab und raunte ihr zu: „Der ist hier besonders gut!“

„Des geht, der Offe is noch hääß!“ Der Mann, dem die Stimme gehörte, kam aus der Küche und betrachtete die beiden. „Ääner oder zwää?“

„Flammkuchen? Kenn ich nicht – was ist denn das?“ Paula spürte bei dem Gedanken an Essen ihren leeren Magen rumoren.

„Mögen Sie Speck, Sauerrahm und Zwiebeln?“

„Grundsätzlich ja“, sagte Paula vorsichtig.

„Dann mögen Sie Flammkuchen ganz bestimmt“, entschied Keeser. „Zwää!“, sagte er und streckte zur Bestärkung seiner Bestellung Zeige- und Mittelfinger in die Luft.

„Sinn Sie vun der Bolizei?“, wollte der Mann noch wissen.

„Ja, das sind wir“, bestätigte Keeser.

„Alles klar, Herr Kommissar – zwää Flammkuche fer die Bolizei! Kummt sofort!“

Sie setzten sich gerade an einen Tisch, als Becker hereinkam. „Wie solle mers denn mache, Herr Keeser? Soll ich Ihne gleich ään roischicke?“

„Machen Sie nur – je eher, desto besser!“, sagte Paula.

„Na, Sie verstehen den guten alten Becker ja schon ganz gut.“ Keeser zwinkerte ihr zu.

Ein betörender Duft zog von der Küche herüber. „Wenn das so gut schmeckt, wie es jetzt schon riecht, dann werde ich hundertprozentig ein großer Fan von diesem Flammkuchen!“

„Aach ebbes zum Dringe?“, erkundigte sich der Koch.

Paula bestellte ein alkoholfreies Hefeweizen, Keeser eine Rieslingschorle.

„Des is awwer e schäni Frau Kommissarin“, stellte er fest, als er die Getränke brachte. „Die im Fernseh sinn ja määst so derwe Weiwersleit!“

„Vielen Dank“, murmelte Paula und errötete leicht.

„Was heißt denn derwe Weiwersleit?“, erkundigte sie sich bei Keeser, als sie wieder alleine waren.

„Derbe Frauen“, übersetzte er gutmütig. „Ihr Einstand war ja mehr als positiv: Alle Kerle sind in Sie verliebt!“

Paula winkte verlegen ab. „Ach, die kennen mich nur noch nicht näher, das wird sich schnell wieder legen!“

Becker brachte den ersten Zeugen herein.

„Oh, Junker Gieselher“, erinnerte sich Paula. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Sie zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber.

Ein Strahlen erhellte sein rundes Gesicht mit der Brille.