Flug des Sandkorns - Norbert Gramer - E-Book

Flug des Sandkorns E-Book

Norbert Gramer

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Beschreibung

Die Erzählung Flug des Sandkorns. Dissonante Erzählung einer Reise lässt sich nicht so leicht einem Gerne zuordnen. Wie der Untertitel andeutet, handelt es sich um eine Reiseerzählung, diese bildet aber nur den Rahmen für eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Situationen, Religion, Kunst und ihren Beziehungen zu den auftretenden Personen. Sie besteht nicht nur aus verschiedenen Erzählperspektiven wie auktoriale, personale und selten auch Ich-Perspektive, sondern auch aus tatsächlichen Reisebeschreibungen, Zitaten aus der Literatur und Musik, Reflexionen, Tagebuchausschnitten, Beschreibungen touristischer Anziehungspunkte, Rekursen über historische Ereignisse, über Politik und Religion und selbst aus Prospekttexten und assoziativen Passagen. Dabei ergeben sich zeitliche und chronologische Sprünge von der Gegenwart in die Vergangenheit. George, freier Reisejournalist, soll im Auftrag eines Verlegers gemeinsam mit dem Fotografen John James einen Bildband über zwei Inseln der Hawaii-Inselkette, Big Island und Kauai, erstellen. Schon auf seinem Flug verschwimmen für George die Grenzen von Realität und Phantasie, verschieben sich die Ebenen von Zeit und Raum. Bevor George sich mit dem Fotografen trifft, besucht er bei einem mehrtägigem Zwischenstopp Südflorida und fährt von Miami über die Florida Keys und die Everglades bis nach Sankt Petersburg. Von Tampa aus fliegt er nach Hawaii, um sich nicht nur mit John James, sondern auch mit seinem Freund Bertram, der, zivilisationsmüde, vor Jahren nach Hawaii ausgewandert war. Die zeitlichen Dissonanzen, die auch schon den Aufenthalt in Florida mit historischen Einschüben und Reflexionen begleiten, werden besonders deutlich, wenn George auf dem Flug von Deutschland nach Miami schon im Tagebuch Bertrams liest. In der Erzählung folgen auf dem Besuch Floridas chronologisch der Flug nach Hawaii und das Treffen mit Bertram. Nach seiner Rückkehr erfährt er vom Tod Bertrams und erhält erst das Tagebuch. Die zeitliche Konfusion erhält keine Erklärung. Sie unterstützt vielmehr auch in der Rahmenhandlung die Schwankungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit. Doch vor dem Szenario scheinbar heiler Landschaft wird die Berührung mit den Inseln insbesondere für George zu einer Begegnung mit seinem Ich, das Ausdruck der gesellschaftspolitischen und historischen Geschehnisse ist. Er erfährt sich selbst als Spiegelbild und Konglomerat der äußeren Welt.

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Für Christa, Irina, Eliana, Ben & Julian,

George Alexander & Johannes Valentin

„Ich singe, weil ich ein Lied hab,

Nicht, weil es euch gefällt.“

(Konstantin Wecker)

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

STARTVORBEREITUNGEN

FINGERÜBUNGEN

DER START

STACHEL DER TITANIC

08:53 EASTERN STANDARD TIME

ZERSPLITTERTER BLICK

ETIKETTENSCHWINDEL

RITUALISIERTER AUSVERKAUF

OKTOBER 312

14:34 EASTERN STANDARD TIME

LECKEREIEN

FERNE UND …

… NAHE ERINNERUNGEN

ASPHALT IM KOPF

STATOAKUSTISCHES

FERNBLICK

PAHAY-OKEE

Zweiter Teil

MIAMI AIRPORT

WERBETOUR

„DO IT ALL - OR NOTHING AT ALL“

ABSTIEG

UNHEILVOLLES TÊTE-À-TÊTE

HIRE AND FIRE

ALTES UND NEUES

AUF DEM WEG NACH SÜDEN

STOP

UNTERGÄNGE 1

INTERMEDIUM

UNTERGÄNGE 2

INTERMEZZO

UNTERGÄNGE 2 - FORTSETZUNG

ERINNERUNGEN: 1867 AUFGESCHRIEBEN

ATTRACTION

MIT SCHROT UND DRAHT

SURREALISMUS 1

SURREALISMUS 2

Dritter Teil

ZEITSPRUNG

ANKUNFT

ERSTE BERÜHRUNG

ERBROCHEN ERDE

NATUR VIA TV

INSELFAHRT

MONOLOG ÜBERS INNERE - ÄUßERE ...

... UND ÜBERS SCHREIBEN

ZEITEN

VERMISCHTES GRÜN ...

... UND ZERSPALTETES

„IN EINEM HAIN, DER EINER WILDNIS GLICH UND NAH‘ AM MEER EIN KLEINES GUT BEGRENZTE“ ODER BESUCH BEI BERTRAM

ZEITVORSTELLUNGEN

REISEZWECK – GERICHTET, DENNOCH UN TEMPS PERDU

VERZEILTE WELT

TOURISTENPOTPOURRI

JOHN JAMES

ZEITVERSCHIEBUNGEN

VERLORENE ERINNERUNG

POSTKARTENNATUR

SÜDSEESUPERMARKT I

STERNENWEGE

1966 BIS 1996

SÜDSEESUPERMARKT II

REZEPTIONSKÖRPER

CHIASMA OPTICUM (BLOCKED)

ENTLEERUNG

BACKSIDE

VON DER DOMESTIKATION DES KOPFES UND ANDERER TEILE

Vierter Teil

ZIMMER SECHSHUNDERTVIERUNDDREIßIG ODER SYNCHRONGEIST

AUF SENDUNG

MARIA

ANALYTISCHE WIRKUNGSGESCHICHTE

MOUNTED NATURE

FLUGSIMULATION

LUFTAUFNAHMEN

„WEIßT DU, WIE DAS WIRD“

VERLOGENE HOFFNUNG

BERTRAMS BRIEF

EPILOG

Erster Teil

STARTVORBEREITUNGEN

14:21 Uhr. United Airlines 462. Miami. Gate 48. Zwischenstation mit Übernachtungen im Sunshine State auf dem Weg nach Honolulu. Der Flug war schon zweimal aufgerufen worden. Hektisch blinkten die grünen Lampen auf der Anzeigetafel. Kein Zögern war erlaubt. Die meisten Passagiere saßen schon im Flugzeug, hatten das erste Gerangel um die heruntergeklappten Gepäckmulden hinter sich, lasen die Sicherheitsanweisungen, merkten sich die bunt angezeigten Katastrophennotausgänge, dieselben, durch die sie ins Innere geströmt waren, blätterten in den Bordmagazinen oder den rasch zusammengerafften, von der Fluggesellschaft bereitgestellten Zeitungen und Illustrierten, Kinder stritten um Fensterplätze, Fromme beteten, andere fieberten schon nach den flugerleichternden Spirituosen, die die uniformierten Luftkellnerinnen bald servieren würden, wieder andere kramten in ihren Taschen, ordneten das zusammengeworfene, schon wieder zu viel gewordene Handgepäck, fingerten nach Fotoapparaten oder neuerstandenen Videokameras, um das Erlebnis des Starts, des Abhebens vom Festen zu fixieren, um die Phase des Übergangs einzufrieren, in der das Flugzeug die Erschütterungen, die rüttelnden Stöße der unebenen, welligen Rollbahn hinter sich lässt und gleichsam schwerelos abhebt – eine schwerelose Täuschung, denn erst Hunderte Liter heißen, explodierenden Kerosins, die Kraft der vier Rolls-Royce-RB.211-524D4-Turbofantriebwerke mit ihren je vierundzwanzigtausendundneunzig Kilopond Standschub bringen den dreihundertzweiundsechzigtausendachthunderfünfundsiebzig Kilogramm schweren Koloss aus Stahl, Aluminium, Glas, Elektronik, Polstern, Lebensmitteln, Menschen in die Lüfte, auf seine Reisegeschwindigkeit von neunhundertzehn Stundenkilometern in einer Höhe von zehntausendeinhundertneunzig Metern.

FINGERÜBUNGEN

George kam spät. Nicht zu spät. Gepäckaufgabe. Achtzehnkommasieben Kilogramm bestätigte die milchigleuchtende Gewichtsanzeige. Flinke Hände klebten den MIA-Streifen um den Haltegriff des Aluminiumkoffers, kritzelten ein paar Daten auf die Bordkarte, rissen Kopien aus dem Flugticket, reichten George den vorgelegten Reisepass zusammen mit dem in die Bordkarte eingelegten Ticket und wiesen ihn energisch zu Gate 48, bedeuteten ihm, nicht noch länger zu warten, zu zögern.

Tage, Wochen später konnte er sich noch an diese tätigen Hände erinnern, schöne, kräftig-schlanke Hände, denen man sich gerne ergab, nach deren Berührung man sich sehnen konnte, mit gelackten roten Fingernägeln, die die von der weichen, aderwelligen Haut versprochene Zärtlichkeit kaum zurücknahmen, eher ins Erotische steigerten. So sehr er sich aber auch bemühen mochte, weder an das dazugehörige Gesicht noch an die Stimme, die sich Pass und Ticket und Gepäck erbat, konnte er sich erinnern. Nur die spitzendigen Werkzeuge blieben ihm in Erinnerung – vielleicht sind auch Sehende bisher nicht über eine haptische Erkenntnis hinausgelangt, auch das gesehene, angeschaute Ich, das eigene wie fremde, bleibt im Grunde nur ertastbar, fühlbar.

DER START

Langsam rollte das Flugzeug aus seiner Parknische, wiegte sich, jede Unebenheit der Betonbahn weich in den Passagierraum tragend, seiner Startposition entgegen. Kaum merklich verzögerte sich dort die Fahrt. Kurz heulten die Turbinen auf und beschleunigten das bis dahin leicht rollende Flugzeug in kurzer Zeit auf die benötigte Startgeschwindigkeit – dann hob es scheinbar langsam ab. Einige der Passagiere, den sanften Druck der steil steigenden Maschine spürend, hielten ihre schwitzenden Hände, Erstflieger, sie erlebten den Augenblick der Trennung vom Festen am eindrucksvollsten, andere vertieften sich in ihre Gespräche mit den Nachbarn, ihre Zeitungen oder ihre Magazine, beruhigten ihre Kinder, dösten schon seit einiger Zeit vor sich hin.

STACHEL DER TITANIC

Schon während die Maschine zur Dreitausendfünfhundert Meter langen Startbahn 32 R gerollt war, hatte die Cockpitbesatzung mit dem Lesen der Checkliste „vor dem Start“ begonnen, die Klappen waren auf 10° ausgefahren, die Vorflügel fuhren automatisch aus, das Startdatenblatt legte die verschiedenen Geschwindigkeiten, die die Besatzungsmitglieder, Kapitän Walter Lux, Copilot James Dillard und Flugingenieur Alfred Udovich, überprüft hatten, fest: Entscheidungsgeschwindigkeit V1 von einhundertneununddreißig Knoten, sie erlaubte noch einen Startabbruch, Rotier- und Abhebegeschwindigkeit V2 von einhundertfünfundvierzig Knoten, eine minimale Sicherheitsgeschwindigkeit, sollte ein Triebwerk ausfallen, von einhundertdreiundfünfzig Knoten. Klares Wetter mit guter Sicht bis siebenundzwanzig Kilometer versprach einen ruhigen Flug, der frische Wind, der aus nullzwanzig Grad mit zweiundzwanzig Knoten wehte, würde den Start des Flugzeugs nicht behindern, aber Seitenruder erfordern.

15.02:38, „Freigabe zum Start“: 15.02:46, „American 191, auf dem Weg“. 15.02:48, N 110 AA beginnt, nachdem Copilot Dillard den Schubhebel nach vorne geschoben hat, die Startrolle, Startschub achtzig Knoten, das Flugzeug beschleunigt auf einhundertneununddreißig Knoten.

„V1“, bestätigt Kapitän Lux. Unbemerkt von ihm entweichen Rauch und Dampf aus Triebwerk 1. Sekunden später bricht es aus der Tragfläche, reißt die gesamte Pylonbefestigung, hydraulische und elektrische Leitungen mit sich, rollt über die Tragfläche und zerschellt auf dem Asphalt der Rollbahn. Triebwerkschaden suggerieren die Anzeigen im Cockpit. Zersplitternde Teile des Triebwerks spritzen über die Piste, das Flugzeug erreicht die Abhebegeschwindigkeit von einhundertfünfundvierzig Knoten.

„Rotieren“, ruft Kapitän Lux, und Dillard zieht die Steuersäule an. 15.03:38, die Maschine hebt mit leicht geneigter linker Tragfläche von der Startbahn ab. Einhundertneunundfünfzig Knoten Geschwindigkeit. Gegensteuern. Der Copilot zieht die Maschine nach oben, dreihundertundachtzig Meter pro Minute zeigt das Variometer an, alle Instrumente arbeiten einwandfrei. Neun Sekunden nach dem Start, einhundertzweiundsiebzig Knoten, das Flugzeug befindet sich ungefähr einhundertundvierzig Fuß über dem Boden. Konstanter Steigwinkel, konstante Steiggeschwindigkeit.

Doch plötzlich, bei einer Geschwindigkeit von einhundertdreiundfünfzig Knoten, reißt der Luftstrom über der linken Tragfläche ab, die Geschwindigkeit fällt rapide, die linke Tragfläche neigt sich gefährlich nach unten, die Flugzeugnase giert nach links. 15.03:58, dreihundertsechzig Fuß über dem Boden rollt das Flugzeug nach links, 15.04:06 neigt es sich um 90°, Dillard steuert hoffnungslos gegen, tritt, die Situation jetzt erst erkennend, verzweifelt ins Pedal, klammert sich an die Steuersäule, vergebens – zwei Kilometer von der Startbahn entfernt schlägt das Flugzeug mit der linken Tragfläche voran auf dem Boden auf, bricht auseinander, explodiert. Der Flug der American Airlines vom 25. Mai 1979 endet in einem tödlichen Flammenmeer.

Es sind immer die ersten Sekunden des Starts. Sie erinnerten George an die Tonbandaufzeichnungen des DC-10-Flugkapitäns, an seine letzten Worte, die den wenige Sekunden nach dem Start erfolgten Absturz angstvoll kommentierten. Hunderte von Händehaltenden, Redenden, Lesenden, Kinder Ermahnenden, schon Dösenden stürzten in den Tod. „Oh, mein Gott ...“, nicht mehr konnte Dillard in das Mikrofon stammeln. Nur der wohl automatische Anruf der Unfassbarkeitsinstanz. Ein verschlissener Flansch spielte die Rolle des Titanic-Eisberges für Hunderte, ließ sie verglühen, verkohlen bis zur Unkenntlichkeit, während sich anderenorts unaufhörlich schwitzende Hände hielten, Gespräche geführt, Zeitungen und Magazine gelesen, gedöst, fast geschlafen, Kinder ermahnt wurden zwischen null und dreihundert Fuß über der rauen, gummigeschliffenen Betonpiste.

Wer war für diese Katastrophe verantwortlich? Wen traf eine Schuld? Die Flugzeugbesatzung, die die Situation falsch eingeschätzte hatte? Die falsche Informationen liefernden Instrumente? Der fünfundzwanzig Zentimeter lange Riss im Befestigungsflansch? Die Anweisungen der American Airlines über das Verhalten bei einem Triebwerkausfall, die von der Unmöglichkeit eines Triebwerkabrisses mitsamt Pylonbefestigung ausgingen? Fehlerhafte Bedienung des Gabelstaplers, der die Triebwerk-Pyloneinheit zur Wartung absenkte und anhob? Die Missachtung der Möglichkeit, auch eine nahezu unmögliche Störung könne passieren? Die Konstrukteure der DC 10-10? Die jetzt verglühten, in höllischer Hitze zerschmolzenen Opfer, die ehemaligen Passagiere der DC-10, die diesen Flug gebucht, damit erst ermöglicht hatten? Die frühen Luftpioniere, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den Grundstein zum motorisierten Flug gelegt hatten? Leonardo da Vinci? Die Idee, die Sehnsucht des Menschen, fliegen zu können?

Schuld. Verantwortung. Technisches Versagen. Menschliches Versagen. Beides ist schuldfrei. Der Begriff der Schuld, von Priestern erfunden, im christlichen Glauben zur Perfektion getrieben und zur Wurzel biblischen Geschehens erhöht, Erfindung der Erfindung, versagt im Geflecht von wirkenden Ursachen und verursachenden Wirkungen.

08:53 EASTERN STANDARD TIME

Die normale Flughöhe war erreicht, der Start überlebt, erst um die Landung musste man sich wieder Sorgen machen. Für den Kapitän war sie schon gelungen, er informierte über das Wetter in Miami, es sei schwülheiß, und die Temperatur werde bei unserer Ankunft immer noch 28° Celsius betragen, gab uns die amerikanische Uhrzeit durch, plauderte über die Reiseroute – man konnte ihm vertrauen, diesem Kapitän Johannsen, wir waren schon angekommen, obwohl noch auf dem Weg.

ZERSPLITTERTER BLICK

Verschlossen, ungeöffnet ruhte Bertrams Tagebuch auf Georges Schoß. Weniger die Scheu, in fremde Gedanken, geheime Wünsche und Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen voyeuristisch einzudringen, als die, Eigenes, Vergangenes, erfolgreich Verdrängtes zu erfahren, Erinnerungen an eine abgelegte Kindheit, ein nie gelebtes Leben, zu wecken, hinderte George, den speckigen, abgegriffenen Einband aufzuschlagen.

Die wenigen Ereignisse, die als erinnerte Vergangenheitsfetzen auftauchten, blitzen nur kurz auf, ohne zu stören, aber auch ohne Bezug zu seinem Jetztich, wie ichlose Traumgestalten erschienen die Personen der Vergangenheit, das kindliche Selbst ebenso wie die fremden.

Fotografien aus der Vergangenheit, Erinnerung provozierend, spiegelten erstarrte Erlebnisse Fremder, die Abbildung der eigenen Person reizte nur das Erkennen, weckte aber keine Identifikation, fremde, vergangene Kinderaugen starrten mit zersplittertem Blick, seine gewesenen eigenen, schauten unbegriffen ins Jetzt. Manche erinnern sich ihrer Vergangenheit als eines gegenwartsvorbereitenden Kompendiums, als nicht abreißbares Kontinuum persönlicher Erfahrungen, erlebte Geschehnisse – „erinnerst du dich an mich, wir haben doch zusammen ... nein?“, immer peinlich; Georges Erinnerungen flammten nur zeitweise auf, erhellten unbekannte Abbrüche eines fremd Erlebten. Alte Filmaufnahmen versetzten ihn nicht in die Zeit seiner Kindheit oder Jugend. Verstaubte Requisiten: Unförmige dunkle Anzüge mit kurzen Revers, stolze Blicke vor einem alten, dunklen Borgward, unerinnerbar die Farbe, lachende Gesichter, deren Stimmen der Stummfilm verschweigt, ins Gespräch vertiefte Frauen und Männer mittleren Alters, versammelt um eine festliche Kommunionstafel, Gruppenbilder mit alten und jungen schwarz-weißen Gestalten, die jungen mit dem kritischen Blick der Fünfziger Jahre, lässig-provozierenden Gesten, die Zigarette noch mit Stolz, nicht mit schlechtem Gewissen im Mundwinkel, die alten mit hoffnungsvollen, doch immer enttäuschten Augen, die vielleicht die kommenden Enttäuschungen der jungen schon ahnten, glückliche Kinderaugen, in denen die Freude über die mageren Geschenke noch nicht der Sucht nach neuen gewichen war. Nicht Jahrzehnte schienen vergangen. Aus den Bildern sprach eine vor Jahrhunderten begonnene, schon beendete Welt, ohne Beziehung zur Gegenwart, und eine doch alle Wirklichkeit bestimmende.

Bertrams Erinnerungen waren immer klar gewesen. Er konnte lange Passagen aus seiner Kindheit und Jugendzeit erzählen, die dann auch teilweise die Georges umfassten. Würde er sich in den Seiten des Tagebuches wiedererkennen? George zweifelte bisher immer an den monumentalen Erinnerungsleistungen mancher Schriftsteller, er hatte den Verdacht, ein genialer Materialsammler löse aus den schon vergilbten Pappbildern, dem in Fotoalben geklebten, gefalteten Erinnerungsbalast, den alten Dokumenten und Lebensläufen, den Erinnerungen Bekannter und Verwandter, der Freunde und Feinde das erinnerte Lebensbild des sich Erinnernden, um es als ungebrochenen Fluss menschlichen Daseins zu dokumentieren, das doch nur die Brüche, die dem Memoirenverfasser in seinem Leben zugefügt worden waren, verkittet.

Tagebücher sind aber nicht nur zusammengefasste Erinnerungen vergangener Geschehnisse, die Verknüpfung eigener Erlebnisse mit dem was so allgemein und nichtssagend als Umwelt bezeichnet wird, sie spiegeln auch Wünsche, Vorstellungen, Phantasien wider, breiten Innerstes verwundbar offen vor dem Leser aus, der, den Weg des fremden Ich begleitend, sich selbst oft genug begegnet. In ihnen sind dann vielleicht die dünnen Fäden zwischen menschlichen Existenzen und dem Äußeren ahnbar; fühlbar werden die stillen und lauten Wirkungen auf sie, die sich überschneidenden Felder, die mannigfaltigen Berührungspunkte und Beziehungen besonders dann, wenn Chronologie nur als orientierendes Beiwerk und nicht als Datenerfassung auftritt.

Doch das Erlebte stirbt. Erinnerungen sterben.

Oder werden sie aufgehoben? Im Toten, mit ihm begraben? In den Erinnerungen der anderen, in denen, die miterlebt haben? In etwas Jenseitigem?

Robert Spaemann brachte vor einigen Jahren ein kleines Büchlein heraus. Gerade einmal 127 Seiten lang, davon aber nur 32 von ihm selbst. Es geht ihm um den letzten Gottesbeweis, obwohl er davon ausgeht, dass es eigentlich keines Beweises bedarf. Das Erinnern steht im Zentrum dieses Beweises. Spaemann identifiziert den Menschen als „Spur Gottes in der Welt“, die Gott durch sich erkennen wollen muss, da sie ohne ihn nicht existiert. Gott aber, so fügt er schnell hinzu, existiert auch unabhängig davon, egal, ob „wir ihn erkennen, von ihm wissen oder ihm danken“.

Die Vollendung seines Beweises liegt in der Grammatik. Spaemann behauptet, dass die grammatische Form des Futurum exactum, die notwendigerweise Zukunft und Gegenwart miteinander verknüpft, indem sie vergangene Wirklichkeit im Erinnern aufbewahrt, das Sein eigener Wahrheit im Zukünftigen bedingt, denn „das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich“. Vergangenes, so argumentiert er, hat seine „Wirklichkeit eben im Erinnertwerden“; und weil er nicht denken kann, dass gewesene Wirklichkeit zukünftig seine Wirklichkeit verliert, muss die Erinnerung an Vergangenes in einem absoluten Bewusstsein aufgehoben sein – in einem Gott.

George wusste nicht, ob Bertram das Buch kannte. Sicherlich hätte es ihn amüsiert. Auch an den anderen Gottesbeweisen, ob sie den frühen Bemühungen des Aristoteles oder Ciceros oder Thomas von Aquins oder Pascals oder den Hirngespinsten der „intelligenten Designer“ entsprangen, hatte er seinen Spaß. Alle, so meinte er, liefen auf dasselbe hinaus, beweisen zu wollen, was es nicht gibt. Das Unbeweisbare bliebe eine Fiktion, eine Idee, etwas Erfundenes und Vorausgesetztes. Dabei ärgerte ihn nur, dass die Gläubigen sich auch einfach auf Ciceros äußerst schwachen so genannten Beweis stützen können, der meinte, weil so viele an einen Gott oder Götter glaubten, müsse es ihn oder sie wohl geben. Von der gegensätzlichen Behauptung, dass Gott nicht existiere, verlange man einen schlüssigen Beweis. Und immer noch könne einem diese Behauptung das Leben kosten.

siebzehnter juni: flug des sandkorns

„In jedem Moment ihrer Dauer ist die Natur ein zusammenhängendes Ganze; in jedem Moment muss jeder einzelne Theil derselben so seyn, wie er ist, weil alle übrigen sind, wie sie sind; und du könntest kein Sandkörnchen von seiner Stelle verrücken, ohne dadurch, vielleicht unsichtbar für deine Augen, durch alle Theile des unermesslichen Ganzen hindurch etwas zu verändern. Aber jeder Moment dieser Dauer ist bestimmt durch alle ablaufenden Momente, und wird bestimmen alle künftigen Momente; und du kannst in dem gegenwärtigen keines Sandkornes Lage anders denken, als sie ist, ohne dass du genöthigt würdest, die ganze Vergangenheit ins unbestimmte hinauf, und die ganze Zukunft ins unbestimmte herab dir anders zu denken. Mache, wenn du willst, den Versuch mit diesem Körnchen Flugsandes, das du erblickst. Denke es dir um einige Schritte weiter landeinwärts liegend. Dann müsste der Sturmwind, der es vom Meere hertrieb, stärker gewesen seyn, als er wirklich war. Dann müsste aber auch die vorhergehende Witterung, durch welche dieser Sturmwind und der Grad desselben bestimmt wurde, anders gewesen seyn, als sie war, und die ihr vorhergehende, durch die sie bestimmt wurde; und du erhältst in das unbestimmte und unbegrenzte hinauf eine ganz andere Temperatur der Luft, als wirklich stattgefunden hat, und eine ganz andere Beschaffenheit der Körper, welche auf diese Temperatur Einfluss haben, und auf welche sie Einfluss hat. – Auf Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit der Länder, vermittelst dieser und selbst unmittelbar auf die Fortdauer der Menschen, hat sie unstreitig den entscheidendsten Einfluss. Wie kannst du wissen, – denn da es uns nicht vergönnt ist, in das Innere der Natur einzudringen, so reicht es hier hin Möglichkeiten aufzuzeigen, – wie kannst du wissen, ob nicht bei derjenigen Witterung des Universums, deren es bedurft hätte, um dieses Sandkörnchen weiter landeinwärts zu treiben, irgend einer deiner Vorväter vor Hunger oder Frost oder Hitze würde umgekommen seyn, ehe er den Sohn erzeugt hatte, von welchem du abstammest? – dass du sonach nicht seyn würdest, und alles, was du in der Gegenwart und für die Zukunft zu wirken wähnest, nicht seyn würde, weil – ein Sandkorn an einer anderen Stelle liegt.“

Fichte war ein schlauer Philosoph.

dreiundzwanzigster juni

den ganzen nachmittag mit s. zusammengesessen. stundenlang darüber diskutiert, ob ein wiederaufleben des nazismus in der bundesrepublik möglich sei. ich glaube, der nazismus wiederholt sich nicht, denn unsere junge, wenn auch noch brüchige demokratie, erscheint mir doch gefestigt genug – auch angesichts der ummauerung älterer europäischer demokratien –, faschistische tendenzen in der gesellschaft zu bekämpfen, rechter propaganda zu begegnen.

s. ist ganz anderer meinung. sie wirft mir vor, ein träumer wie heinrich mann zu sein. er habe auch noch an den sieg der demokratie geglaubt als die nazis schon ihr unwesen trieben. für sie ist der nazismus noch gar nicht zu ende, wese ungebrochen fort in der fassadendemokratie, teils verdeckt, teils offen agierend. man dürfe den begriff des nazismus auch nicht so eng fassen, zu ihm gehörte in der vergangenheit der denunziantenstaat, die ausrottung von millionen andersdenkender in konzentrationslagern, ssterrorherrschaft, heute sei er nicht mehr so sehr in den alltäglichen ereignissen beobachtbar, wohl aber in vielen äußerungen und handlungsweisen einzelner ablesbar, er sei auch nicht unbedingt auf die deutschen alleine beschränkt. wie ein virus habe der nazismus auch andere staaten, andere bevölkerungen infiziert, er sei überall dort anzutreffen, wo der mensch missachtet und misshandelt würde. und dann sitzen sie heute sogar wieder in den parlamenten, marschieren mit alten fahnen durch die straßen.

der sogenannte gute kern in jedem menschen ist sowieso erlogen. seit sie der levante entsprungen ist, betont s. immer wieder, sei die ganze menschliche rasse, bannte man sie auf eine zeitmessende evolutionsskala, nur wenige millimeter von ihrem ursprung entfernt, optisch, äußerlich habe sich schon etwas verändert, der kräftige wulst über den augen ist verschwunden, die abgeflachte stirn hat sich erhöht – unbezweifelbar religiöser einfluss –, der unterkiefer zurückgeschoben, der aufrechte gang sichtbar eingeführt, geistig hause sie aber immer noch in erdhöhlen, jage und horte, fresse aas, selektiere ihre eigenen mitglieder rücksichtslos, nicht mehr mit körperlicher geschicklichkeit und kraft – außer im sport –, sondern im selbsterfundenen konkurrenzkampf. george pflichtete ihr bei, er glaubt auch, dass der nazismus noch nicht überwunden sei, dass er vielmehr wieder erstarken wird.

s. provoziert in diskussionen dauernd, versucht, mit der verbreitung von allgemeinplätzen, mit schlagworten, nicht mit argumenten ihre meinung einzubringen – obwohl gerade in ihren provokativen slogans oftmals die wahrheit verborgen liegt, sie mit der krudesten vereinfachung den kern einer sache trifft, wenn auch nur punktuell, blank darlegend.

doch darf der kern zur pointe schrumpfen? der gesamte, noch so entfernte und entfernende zusammenhang ist der kern, er ist entwicklung, entfaltung.

sechsundzwanzigster juni

mit gaya zum essen. schöner abend. sie ist hinreißend. ihr lachen gefällt mir. möchte mit ihr schlafen.

kein interesse mehr an kunst. nur wiederholungen. und profit.

siebenundzwanzigster juni

„i had a dream last night ...“ – nicht von frieden oder freiheit, das ist vergangene spinnerei; ganz greifbar, wirklich: blaue augen, glatte, lange schwarze haare, göttliches (oder schwachsinniges) lächeln, nacht – das ist mein traum, er hätte auch grün sein können, es ist das bild des unerreichbaren, des abgeschiedenen, des anderen. das vergangen ist.

verlust verfolgt mich.

ETIKETTENSCHWINDEL

Bertram würde sich heute wundern.

S. verdingt sich als eine der bestbezahltesten Steuerberaterinnen in M. Ihr Philosophiestudium hatte sie schon nach dem dritten Semester aufgegeben. Arbeitet nur für bestimmte, „finanzkräftige“ Kunden, erläutert ihnen die Tricks, Steuern zu hinterziehen, Gelder ins Ausland zu transferieren, meldet sich am Telefon als Nummer 43 76 91, trägt niemals zweimal dieselben Kleidungsstücke, ihr „Outfit“ entspricht dem neuesten Modejournal, ihre Redensart den Werbeslogans, sie ist Werbeträger. Das Wort Nazismus kommt schon seit langem nicht mehr über ihre Lancasterlippen, Narzissmus auch nicht, es könnte ihre Kundschaft verprellen, die aus ihm gewachsen ist.

Obwohl er wieder in aller Munde ist. Die Rechte geistert wieder durch die Republik. Seit dem 3. Oktober. Jetzt Feiertag. Hängt wohl nicht ursächlich zusammen. S. hatte damals ganz Recht. Wir sind ein rechtes Volk. Andere auch. Aber wir sind rechter. Ganz recht. Rechts. Links ist schlimmer. Da gab’s früher schon was auf das Händchen. War das unschöne. Eben nicht die rechte. Dennoch. Viele Amerikaner schreiben links. Sind aber trotzdem rechts. Sind eh citizens of God’s own country. Links oder rechts. Machens immer recht. Linkshänder. Rechtshänder. Hat was mit den Hirnhälften zu tun. Rechtsextremismus auch. Aber mit welcher Hälfte. Vielleicht ist da auch nur eine vorhanden. Oder gar keine. Reine Vegetativisten. Im Stechschritt und laut. Deshalb so gefährlich. Aber lange ungehört. Unerhört. Vielleicht weil die Politiker nur ihre eigenen Stimmen schreien hören? Klingt oft auch gleich. Gleichheit. Gab‘s auch mal als Triumvirat unter der Trikolore. Im Dreierpack: liberté, egalité, fraternité. Märchen, Sagen und die Dreiheit. Ein unverbrüchliches Gespann. Gleichheit von Gleichen unter Gleichen. Sind auch noch Brüder. Deutsche Brüder. Nur Deutsch. So Deutsch. Und freie Fahrt für freie – Brüder. Die anderen sind nicht: Nichtfrei, nichtgleich, nichtbrüderlich. Nichtfreiefahrt. Sammellager. Abschiebung in Handfesseln. Zäune und Mauern sind auch nicht schlecht gegen Nichtgleiche. Tortilla Curtain. Rückzug ins Gleiche. Hinterm Zaun andere Freie und Gleiche und Brüder. Eingegrenzt. Ausgegrenzt. Grenzenlos begrenzt. Mein Nachbar grinst. Im Schlaf. Der macht gleich. Besonders sein Bruder. Oder sein Nichtbruder. Auch Lüge. Die Toten sind nicht gleich, sondern nur tot. Vor Gott sind alle... Auch Lüge, weil Er Lüge ist. Nackte gleiche Seelen stehen vor Gericht am Jüngsten Tag. Die ganze Bagage aus ihren Gräbern trommeln. Das wird ein Gedränge. Jeder Touri will wieder der erste am baggage claim sein – besonders der deutsche. Hoffentlich dauert die Zollkontrolle nicht so lange wie das letzte Mal. Bald werden sie auch die Einreiseformulare verteilen.

RITUALISIERTER AUSVERKAUF

Bertrams Tagebuch. Eine unzusammenhängende Episodensammlung, keine Auflistung seines Lebens. Bemerkungen zu persönlichen Begegnungen und zu Ereignissen des Tagesgeschehens wechselten mit Zitaten aus literarischen Werken, die manchmal einen Tag bestimmten, ein anderes Mal unterstrichen sie vorangestellte Beschreibungen oder dienten als deren Motto.

Das knisternde Geräusch umgeblätterter Seiten lockte Georges Blick auf die Lektüre seines Flugnachbarn. Er liest Erich Fromms schon 1930 geschriebenen Essay The Dogma of Christ. Seit der Trennung von den Frankfurtern haftet ihm Unwissenschaftlichkeit an, Religiosität als Philosophieersatz – als sei sie nicht auch Ersatz. The economic situation led to a system of social ties and dependencies that came to their peak politically in the Roman-Byzantine absolutism. The new Christianity came under the leadership of the ruling class. The new dogma of Jesus was created and formulated by this ruling group and its intellectual representatives, not by the masses. The decisive element was the change from the idea of man becoming God to that of God becoming man.

Sein Nachbar blickte auf. Kluge, müdgelbe Augen forschten ihn aus. Aus seinem trockenen Mund, froh, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihn anhören musste, gefangen, angeschnallt, denn die angekündigten Turbulenzen zwangen die Passagiere, die Sitzgurte anzulegen, rann unaufgefordert ein eintöniger Monolog.

„Ich sage ihnen, individuelles Sein, gründet es sich auf Einbildungen, Erfindungen, Hirngespinste, wird als geisteskrankes eingestuft, als psychotisch behandelt, dass aber die ganze Menschheitsgeschichte von ihren Anfängen her aus Einbildungen und angstgeborenen Erfindungen sich entwickelte, stört niemanden, vielmehr werden diese verteidigt, diejenigen, die anderen Erfindungen anhängen, verfolgt, zu Tode gehetzt, gequält, selbst bis in unser aufgeklärtes Jahrhundert hinein. Ganze Philosophien, Literaturen, Wirtschaftssysteme sind aus religiösem Glauben erwachsen, sie bestimmen alltägliches und politisches Leben. Am Anfang war der Irrtum. Der Wahn, alles Dasein sei gottgeschaffen, spukt noch immer durch die Hirne der Menschen, die irrige Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode geistert durch die Gefühle. Vielleicht war der Irrtum aber auch immer schon als solcher erkannt, der Glaube an ihn nur Überlebenstrieb, Unterdrückungsmittel, geistiges Therapeutikum, von den Mächtigen jedes Zeitalters erfundenes, übernommenes und weiter gepflegtes Massenbetrugsmittel. Vielleicht war Religion immer schon nur Mittel, ihre legendenumrankten Gestalten, wundersamen Gespenster einer heilvollen Verheißung nur Ideenbrut. Und die Ideen von Gott, von Unsterblichkeit der Seele sind nur Ideen einer Idee. Sie leben fort, nicht die von den Ideen Infizierten. Der Mensch braucht die Idee eines Gottes nur, um in seiner wahnhaften Vorstellung einer Gottgleichheit sich über andere zu erheben, sich anderen gegenüber überlegen fühlen zu können, die Unterdrückung anderer vor sich selbst zu rechtfertigen – eine menschliche Religion wäre nur eine gottlose!

All die lächerlichen Kirch-, Moschee- und Synagogengänger, mit ihrem ritualisierten Frömmigkeitsgehabe, die im wirklichen Leben ihren kleingeistigen, selbstsüchtigen Geschäften nachgehen, ihre ungeliebten Kinder prügeln, den Arbeitsplatz zum Konkurrenzschlachtfeld verkommen ließen, glauben sie an ihre Wochenendillusion oder befriedigen sie nur ihr Versammlungsbedürfnis, ihren exhibitionistischen oder auch voyeuristischen Trieb? Und all die bekutteten Lügner, Inhaber der ethischen Wahrheit, Glaubensverkäufer – seit der Erfindung des Priestertums werden sie nicht müde, das Volk zu verdummen und zu betrügen, es wertlosen Zielen zu opfern.

Die gesamte Religionsgeschichte, seit den Menschenopfern der Azteken bis zum fortdauernden Diktum der Gebärpflicht für Frauen durch den damaligen Papst Paul II, ist Blutgeschichte, Opfergeschichte, abgelehnt wird das Selbstbestimmungsrecht des individuellen Menschen, gerichtet für ersponnenen Despotismus, dabei sind die großen Religionen, die christliche, moslemische, jüdische, unübertroffene Meister ihres Faches. An den Händen vieler auch heute noch verehrter Kirchenmänner klebt das Blut des uneinsichtigen Volkes. Bischof von Sardes, Melito, Goldmund Chrysostomos, der heiliggesprochene Bischof von Konstantinopel, Ambrosius, Bischof von Mailand, selbst Thomas von Aquin und Luther legten bereits früh den Grundstein für die nachfolgenden Pogrome gegen Juden. Der Unsinn vom Gläubigen und Ungläubigen bestimmt jede Religion; Heuchler sind die, die den wahren Kern der Religion in den so genannten heiligen Schriften suchen, abseits der offiziellen Kirche, schon der wahre Kern, der Liebe, Mitleid, nicht Hass beinhalten soll, ist nur schmückendes Beiwerk. Religion war immer nur Machtpolitik. Sie reißt die Kluft zwischen die Völker, streut den unüberwindbaren Hass.“

„Möchten sie etwas zu trinken? Orangensaft? Tee? Kaffee? Etwas Alkoholisches?“, unterbrach die Stewardesse den Redeschwall des Flugphilosophen. George dankte. Endlich. Was schert mich das. Gott und das alles. Hat mich nie interessiert. Verleugnet Nichtexistentes – und hofft doch nur, Unrecht zu haben. „Jack Daniels, bitte“. Ist nur so zu ertragen. Und das vielleicht noch sechs Stunden. An seinem Glas nippend wendete sich George ab, blickte durchs Fenster, eiskalt da draußen, die Wolken faszinieren mich immer wieder. Ihr ruhiges Auftürmen, wildes Verballen oder kilometerweites Zerschlieren oder Knäuelteppichlegen. Dann die Sonne im weißen Gewölke, färbt es in Purpur und Orange und Gelb, strahlenfächernd. Schöpfungsdrama. Genesis, Musik Ennio Morricone. Zu bunt. Was passierte am achten Tag? Thornton Wilder wusste es. Es geht weiter. Und davor? Zeitraffer. Der siebte wurde gesegnet und geheiligt, dann ausgeruht. Für Schäuble Gesetz. Verbietet Sonntagsarbeit, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, denn wir sind wie er, oder sie sind wie er, weil sie es befehlen sind sie er. Verbietet aber nicht die Abschiebung von Flüchtlingen in Kriegsgebiete, in die Zerstörung, in den Tod. Verlogenes Pack paktiert mit seiner eigenen Schöpfung. Lügenmärchenerzähler auch realpolitisch.

OKTOBER 312