Die großen Lügenmärchen - Norbert Gramer - E-Book

Die großen Lügenmärchen E-Book

Norbert Gramer

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Beschreibung

In einer fiktiven Fernsehdiskussion greifen vergangene Philosophen, Johann Most, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Thomas Paine, Ludwig Feuerbach, Anonymus, die Argumentationen der Gegner und Befürworter der Religionen auf, um die Entbehrlichkeit und den Unsinn religiösen Denkens und Handelns zu zeigen. Dabei spannen einen weiten Bogen vom Glauben an Horoskope und an magisches Denken über das dumpfe religiöse Gefühl, das angeblich immer verletzbar ist, bis zur Entwicklung ausgefeilter monotheistischer Systeme und zu deren Auswüchsen und Fundamentalismen; von den Gottesbeweisen, von religiösen Praktiken und den Einflüssen der Religionen auf das alltägliche und politische Leben über die fiktiven Kernaussagen der so genannten heiligen Bücher bis zur Diskussion einer Ethik ohne Religion und der Möglichkeiten, moralisches Verhalten ohne Religion zu entfalten. Sie weisen aber auch auf die Wunden, die die Religionen geschlagen haben und immer noch schlagen, und auf die Hauptursachen der ständigen Weiterverbreitung religiösen Gedankenguts: Die Erziehungspraxis, die Medien, die mit religiösen, spiritualistischen und übersinnlichen Inhalten und Hinweisen durchsetzt sind, und die politisch-gesellschaftliche Notwendigkeit, gläubige, unwissende und unmündige Bürger heranzuziehen.

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Seitenzahl: 208

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Für Christa, Irina, Eliana, Ben & Julian George, Johannes & Harry

Mache das Fenster auf, damit die Lügen hinausfliegen.

(Brüder Grimm: Das Dietmarsische Lügenmärchen)

Imagine there's no countries It isn't hard to do Nothing to kill or die for And no religion, too

(John Lennon)

Nur die Götter gehn zugrunde, wenn wir endlich gottlos sind

(Konstantin Wecker)

Inhalt

Vorbemerkung zum Text

Vorspiel vor noch nicht laufenden Kameras

„Darf ich vorstellen“

Das Was? – Der Anfang, geistiges Tohuwabohu

Der Gott. Die Beweise: Der Un-Sinn?

Das Warum? Warum nicht? Auch schon: Deshalb!

Erfindungen

Von Gummibärchen und bösen Schweinen, scharfen Messern und allerlei Zaubereien

Traditionen und ein Trichter

Ethik ohne Gott

Von Pro-Reli-Wellen und agnostischen Hintertüren

Am Ende

Literatur (verwendete und weiterführende)

Editorische Notizen

Dramatis Personae oder Die Gewesenen

Johann Most (*1846 – 1906) Friedrich Nietzsche (*1844 – 1900) Arthur Schopenhauer (*1788 – 1860) Thomas Paine (*1737 - 1809) Ludwig Feuerbach (*1804 - 1872)

Der namenlose Überraschungsgast (irgendwann im 18. Jahrhundert)

Moderatorin

VORBEMERKUNG ZUM TEXT

Der nachfolgende Text beruht auf der Aufzeichnung einer Fernsehdiskussion, die vor einiger Zeit gesendet wurde. Die Beiträge wurden ohne Kürzungen übernommen, allerdings mussten manche akustisch schwer verständlichen Passagen nachgetragen werden. Die Überprüfung der Veränderungen konnte nicht mehr durchgeführt werden, da die teilnehmenden Personen, außer der Moderatorin, nicht mehr erreichbar waren.

Hinzugefügt wurden auch gedankliche Bemerkungen der Teilnehmenden während der Diskussion, die den schriftlichen Notizen, die sich die Anwesenden machten, entnommen wurden. Diese sind im Text kursiv gesetzt. Die Gedanken des gerade Sprechenden wurden direkt in den Text in Parenthese eingefügt, die der anderen Teilnehmer abgesetzt. Die Gesprächsbeiträge der einzelnen Teilnehmer wurden im Text etwas abgesetzt, da keine Zuordnung der Texte stattfand.

Außerdem wurden Gespräche oder Gesprächsfetzen während der Werbepausen sowie – nur bruchstückhaft – Werbetexte aufgeführt, diese sind in KAPITÄLCHEN gesetzt.

Die einzelnen Gesprächsthemen wurden nachträglich zur Orientierung mit einer Überschrift versehen.

Im Gespräch wurden auch fremdsprachige Texte zitiert, die während der Diskussion übersetzt eingeblendet wurden; in der schriftlichen Übertragung wurden sie als Fußnote eingefügt.

Am Ende des Textes sind Werke aufgeführt, aus denen die Teilnehmer zitiert, oder auf die sie sich berufen haben.

VORSPIEL VOR NOCH NICHT LAUFENDEN KAMERAS

In dem tragischen, autobiographischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis von Amos Oz erinnert sich der Autor an seinen Vater, der, vor der Entscheidung stehend, seinen Sohn auf eine religiösstrenge oder eine sozialistische Arbeiterschule zu schicken, meinte, das Ende der Religion sei nah, der Fortschritt dränge sie schnell beiseite, und selbst wenn es ihnen dort gelingen würde, für eine Weile einen kleinen Klerikalen aus mir zu machen, so würde ich doch bald ins Leben hinausgehen und all diesen archaischen Staub abschütteln, auch die religiöse Gesetzestreue würde bestimmt keine bleibenden Spuren bei mir hinterlassen, ebenso wie in wenigen Jahren die religiösen Juden überhaupt, mit all ihren Synagogen, aus der Welt verschwinden würden, so dass alsbald nur noch eine verschwommene folkloristische Erinnerung an sie bliebe.

Das haben sich viele für sämtliche Religionen erhofft, gewünscht. Doch sie wurden enttäuscht. Das so genannte Religiöse ist nicht nur nicht verschwunden, es ist lebendiger denn je, es haust in verzückten, Sinn suchenden Köpfen und in denen von zerplatzenden Selbstmordattentätern. Es ist keine folkloristische Erinnerung, sondern paranoide, zuweilen immer noch blutige Realität.

Ja. Ich weiß. Und das soll jetzt diese Diskussion zum x-ten Male wiederkäuen?

Die soll endlich einmal Klarheit schaffen!

Lächerlich! Es ist doch wohl schon alles gesagt worden zu diesem Thema.

Das glaub ich nicht. Es gibt doch viel Neues.

Ja, das Altes aufwärmt. Im Grunde kann es nie etwas Neues zu diesem Thema geben, weil gerade bei ihm die Wahrheit nur durch private und öffentliche Verführung und Wahnsinn bestimmt ist. Und damit ist diese Wahrheit keine Wahrheit, sondern von vorneherein Unwahrheit.

Wer kommt denn außer uns sonst noch, weißt du das?

Ludwig kommt. Es wird also so eine richtige Männertruppe, eine alte Männertruppe.

Nicht nur: Eine Frau moderiert. Ist ja so Mode heute, dass eine Frau moderiert.

Kommt Immanuel?

Nein, hat schon abgesagt.

Warum?

Nun, er meinte, er könne zu dem Thema nichts mehr beitragen. Er habe alles gesagt, was zu dem Thema Gott, Religion und diesem Kram zu sagen sei. Über zweihundert Jahre seien nun seine kritischen Schriften alt. Und was habe sich geändert? – Nichts. Geschichte sei nur ein großer Austausch der Abhängigkeiten und Götter, Mündigkeit eine Illusion, im Grund liefe – das tat mir gut – alles nur auf Macht und deren Erhalt hinaus. Und das Volk habe immer noch nicht gelernt, selbst zu denken, ließe sich immer noch verführen; er klang ziemlich verbittert, hatte ich den Eindruck. Er fühlt sich auch missverstanden, glaub ich, kann ich auch verstehen; zuerst entwickelt er ein großes System, in dem er mögliche Erkenntnis auf den Erfahrungsraum beschränkt, die Moral auf den Menschen zurückwirft, seine Verantwortlichkeit herausfordert, und immer noch spekuliert man über seine Gottesgläubigkeit – nur um sich nicht ernsthaft mit dem Kern seiner Arbeit zu befassen.

Er ist selbst schuld, warum hat er sich nicht klarer ausgedrückt, sich nicht klarer abgegrenzt. Na, vielleicht gibt es einen Überraschungsgast. Das ist doch jetzt auch so üblich. Einen Philosophen aus dem Karton. Surprise: hier ist der, der es weiß.

Ja, vielleicht der ....

… der dich so schön biographiert hat?

… oder sein Gesprächspartner oder der Hübsche, mit den langen Haaren, oder der Ältere, der hat es sogar schon einmal mit Politik versucht. Die haben Erfahrung. Im Fernsehen. Und mit schlauen Feuilletons.

Du scherzt. Das sind doch nur philosophische Talk-Touristen. Das Thema ist zu ernst. Schau dir an, was heute im Namen der Religion wieder alles möglich ist. Und wie sie verteidigt wird: Sie sei es ja nicht, sondern das, was die Menschen daraus machen.

So etwas Lächerliches.

Da kommen die anderen.

„DARF ICH VORSTELLEN“

Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren an den Bildschirmen zu unserer Themensendung RÜCKKEHR DER RELIGIONEN.

Wer hat sich diesen banalen Titel denn einfallen lassen? Da gab es doch vor nicht allzu langer Zeit einen Kongress mit gleichem Titel. Rückkehr, Wiederkehr, Renaissance. Waren sie jemals weg? Sollte es nicht besser: Der wiederkehrende Unsinn der Religionen heißen. Postsäkularität? Der Unsinn war auch nie weg.

Guten Abend, meine Herren. – Herren, nur Männer, als seien nur die prädestiniert, dem Thema die notwendige Tiefe zu geben. Na, die Wahl des Chefredakteurs eben. Aber, Philosophinnen haben sich meist auch um sich selbst, heißt, um die Frauen und Frauenrechte gekümmert, und sich auch gerne gegeneinander aufgerieben. Religion spielte dabei unverständlicher Weise eine untergeordnete Rolle, oder man vertrat eine – Wir sind hier zusammengekommen, um, ja, um über was zu diskutieren?

Schlechter Start.

Über Religion? Über Religionen? Über Gott? – Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen – Über die neue Religiosität? Auch die „Macht der Religionen“, wie ein Wochenmagazin kürzlich titelte, wird Gegenstand unseres Gesprächs sein. Um uns diesen Themen zu nähern, haben wir kompetente Gesprächspartner eingeladen, die sich in ihrer Vergangenheit kritisch mit Religionen auseinandergesetzt haben. Warum, werden Sie sich vielleicht fragen, besteht diese Runde nur aus Religionskritikern. – Frag ich mich auch – Wo bleibt die Ausgewogenheit? Einseitigkeit werden uns die Gazetten vorwerfen. In jede Diskussion um Religionen gehören doch auch Vertreter dieser Religionen, nur sie können die Hintergründe und Tiefen ihrer Religion aus erster Hand erhellen und erläutern, werden Sie sagen. Diese werden mit Recht behaupten, dass alle Argumente gegen die Religionen von Laien vorgebracht wurden, zwar von Kennern der Religionsgeschichte, aber nicht des Glaubens. Nun, meine Damen und Herren, gerade das war nicht das Ziel unserer Redaktion, dass angeblich Laien sich mit Religion beschäftigen, sondern Personen, die mit einem möglichst objektiven Auge die Religionen betrachten ...

Und nicht nur die, die sich in den Glauben flüchten, wenn man sich den Unwahrheiten nähert. Aber vielleicht zur Erheiterung der Runde einen Billy Graham oder Kenneth Copeland, besser nicht, letzterer hätte die Runde zum Schluss noch laut verflucht.

… und diese Runde nicht zu einer Werbeshow für ihre religiösen Anliegen umfunktionieren. Ich darf Ihnen zunächst meine Gesprächspartner für den heutigen Abend vorstellen, die das Thema mit mir diskutieren werden. – Mal sehen, ob wir diskutieren, sind ja doch alle einer Meinung – Zu meiner Rechten ein Mann – ich kann mich trotzdem nicht genug darüber aufregen, dass die Redaktion nur Männer ausgewählt hat –, auf dessen Schriften sich alle demokratischen Staaten berufen und beziehen können. Die Inhalte eines seiner Hauptwerke: The Rights of Man finden sich in Grundzügen in fast allen demokratischen Verfassungen seit der Französischen Revolution wieder. Mit seinem Spätwerk: The Age of Reason zog er sich, obwohl er wirklich nicht als Atheist bezeichnet werden kann, gänzlich den Zorn der Machthaber und Kleriker auf sich. Wie würden Sie eine der Kernaussagen dieses Buches umreißen?

Nun, meine Meinung wird ganz gut in einem Satz des ersten Kapitels zu Age of Reason dargelegt: „All national institutions of churches, whether Jewish, Christian, or Turkish, appear to me no other than human inventions set up to terrify and enslave mankind, and monopolize power and profit“.1

Das Werk meines Gesprächspartners zu meiner Linken wird meistens mit Schlagwörtern und aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen und Bemerkungen paraphrasiert: „Umwerthung aller Werthe“, „Nihilismus“, „Alles ist falsch“, „Welt als Wille zur Macht“, „Übermensch als Überwinder Gottes und des Nichts“; die wohl bekannteste Phrase, wenn ihr Name fällt, ist aber „Gott ist tot“. Wird diese Aussage nicht durch die jüngsten Entwicklungen, das Erstarken der Religiosität – ich werde dazu später noch Beispiele anführen – und die Wiederbelebung des Gottesglaubens widerlegt?

Nein, nicht im Mindesten. Sie erinnern sich: einer der Aphorismen, in dem dieser Passus steht, ist überschrieben mit der „tolle Mensch“, es ist also ein vom Wahn Ergriffener, der diese Aussage trifft – und sie ist Ausdruck seines Glaubens. Für mich bedeutet „Gott ist tot“: Gott ist nicht, nicht, er ist nicht mehr. Das er sterben könnte, ermordet durch das morallose Volk ist nur Ansicht des „tollen Menschen“, der glaubt, es war einmal ein Gott. Es ist aber auch der „tolle Mensch“, der Gott als den Initiator seiner Moral sieht, die ja nur seine Erfindung ist. Und die vermeintlichen Mörder Gottes führen ihre eigene Moral ad absurdum. Es ist die Moral der Religionen, die er ad absurdum führt. Als Beispiel habe ich das Christentum in das Zentrum meiner Arbeit gestellt, aber es betrifft jede Religion. Denn Religionen entwickeln immer eine Moral, um ihre Anhänger zu knechten und die Sklavenmoral aufrecht zu erhalten, die durch ihren Gott geheiligt wird. Moral ist, und das ist der Gegenstand meiner Thesen in der Genealogie der Moral, Erfindung bestimmter Menschen in bestimmten Zeiten, deren Wahrheit, die es nicht gibt, die nicht ist, Gott ist, der tot ist, nicht ist, nicht war.

Er ist immer noch ziemlich verwirrt.

Ja, wir werden das in der weiteren Diskussion noch vertiefen.

Interessant. Sie hat nichts verstanden.

Neben Ihnen sitzt ein Mann, der, ähnlich dem leider vor wenigen Jahren verstorbenen Karlheinz Deschner – dessen kritischer Detailreichtum allerdings unübertroffen ist –, das Christentum bis zu seinen Wurzeln kritisiert, dabei mit einer bis heute unübertroffenen Bissigkeit – wenngleich auch äußerst polemisch und einseitig, aber gleichwohl übertragbar auf alle Monotheismen. Die Entwicklung des Christentums unterliegt Ihrer spöttischen Kritik und erschüttert das gesamte religiöse Fundament und entlarvt es als baren Unsinn.

Leider ohne nennenswerten Erfolg, wer kennt heute noch den Namen Most – und heute: wer kennt denn Deschner?

Den Tenor Ihrer Kritik umschreibt die Eingangspassage zu dem Buch Die Gottespest: „Wie Alles eine Geschichte hat, so ist auch diese Seuche nicht ohne Historie, nur schade, dass es mit der Entwickelung vom Unsinn zum Verstand, wie sie im Allgemeinen aus dem Historismus oft gefolgert wird, bei dieser Art Geschichte ganz gewaltig hapert. Der alte Zeus und sein Doppelgänger, Jupiter – das waren noch ganz anständige, fidele, wir möchten sagen, gewissermaßen aufgeklärte Kerle, verglichen mit den jüngsten Drillingssprossen am Stammbaume der Götterei, welche sich, bei Licht besehen, an Brutalität und Grausamkeit getrost mit Vitzliputzli messen könnten.“ Glauben Sie, dass die Menschen heute aufgeklärter sind, dass die Religionskritik der vergangenen Jahrhunderte Früchte trägt?

Nein! Jedenfalls nicht viele. Religionskritik ist die eine Seite, Kritik am Gottesglauben die andere, die nicht so stringent verfolgt wird. Viele kritisieren zu Recht das Religionsgebäude, in das sie geboren wurden, die Kirchenhierarchie, lehnen es vielleicht sogar ab, binden sich dann aber an ein anderes religiöses oder quasireligiöses Hirngespinst. Religionskritik, Herrschaftskritik sind unverbrüchlich mit Aufklärung und Mündigkeit verbunden, und Unmündigkeit im Sinne Immanuels, als selbstverschuldete, kann nur durch eine Aufklärung verhindert werden, die das Subjekt selbst will, selbst leistet, dazu gehört auch Auseinandersetzung. Auseinandersetzung mit dem Glauben, mit der Religion, ...

Nicht von ungefähr ist Religionskritik und Aufklärung in der westlichen Welt aus den eigenen Reihen des Christentums erwachsen.

… da reicht eine einfache Ablehnung, Religions- und Glaubensverdrossenheit nicht aus, das führt nur zu anderen Abhängigkeiten.

Grundsätzlich, so glauben Sie, hat sich am wahnwitzigen Glauben an das große Etwas nichts geändert. Ich hoffe, wir werden die Ursachen hierfür heute etwas erhellen.

Sie wurden schon oft erhellt – aber der Wahn ist stärker.

Ein Wahn, genährt von Angst und Erziehung.

Ihnen gegenüber begrüße ich einen Mann, der, sagen wir einmal, dem Kern des Christentums nicht grundsätzlich abgeneigt gegenüberstand, dem Brahmanismus und östlichen Weisheiten sogar freundlich.

Das sieht, wenn ich Ihnen ins Wort fallen darf, auf den ersten Blick vielleicht sogar so aus, besonders wenn man meine Schriften nur aus späteren Biographien kennt. Die Religion spielte in meiner Philosophie keine so entscheidende Rolle wie bei Johann oder Friedrich, oder – ich habe leider nichts von ihm gelesen – bei Karlheinz. Auffallend ist nur, dass, wenn es um meine Konstruktion des einzigen Antriebes moralischen Handelns geht, um das Mitleid, nur Bruchstücke der zentralen Gedanken des Christentums oder des Buddhismus Berührungspunkte mit meiner Philosophie aufweisen. Diese sind aber nicht konstitutiv, denn das gesamte Gebäude ist, nicht nur vom historischen Gesichtspunkt aus betrachtet, äußerst fragwürdig und schädlich.

Äußerst fragwürdig und schädlich – er windet sich immer noch ums Konkrete.

Mich ermüdet die ganze Sache jetzt schon.

Zuletzt begrüße ich in unserer Runde einen Mann, der nicht nur die Grundfesten der Religionen im Allgemeinen erschütterte und mit seiner Ansicht, dass „das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist“, neueste religionskritische Arbeiten wie die von Dawkins oder Dennet vorwegnahm, sondern sich auch eingehend mit den „Frömmlingen“ und ihren ganz persönlichen, aus dem Wissen um die Vergänglichkeit ihres Lebens resultierenden Ängsten und Befürchtungen auseinandersetzte.

Eher mit den Hirngespinsten, die sich aus den einzigen unhintergehbaren Fakten Tod und Sterblichkeit ergeben. Aber, das muss ich hinzufügen, es geht mir nicht um die Verhöhnung der Frömmlinge wie das oft kolportiert wird, sondern um Präzisierung der Aufgabe der Philosophie: Sie muss sich endlich aus dem Bann der Theologie befreien und gleichzeitig zu deren schärfster Kritikerin werden, das hat sie immer noch nicht gänzlich geschafft. Immer noch überwiegen die positiven Reputationen, es sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die die Theologie ins Wanken bringen, wirksamer aber, tiefer und gründlicher wäre die philosophische Entthronung. Sie muss den Irrglauben an Unsterblichkeit und einen allmächtigen Lenker und an all die anderen abergläubischen Spinnereien desavouieren und Moral, deren Ursprung und Triebfeder noch zu oft in der Religion als alleinige ethische Instanz und Autorität angesiedelt wird, als im Menschen verankerte und bildbare erkunden, begreifen und postulieren.

Na, das war mal ein Plädoyer. Das sollten sich so manche Fernsehphilosophen mal hinter die Ohren schreiben, die immer noch ihre Theo-Philosophie verbreiten – als gäbe es keine Aufklärung.

Vielen Dank für diese einführende Runde. Manche von Ihnen haben es, so glaube ich aus einem Gespräch herausgehört zu haben, schon geahnt, wir werden an einem bestimmten Punkt der Diskussion einen Überraschungsgast begrüßen dürfen.

Also doch.

Ich habe es vermutet.

Hoffentlich nicht einer dieser philosophischen Talktouristen.

Ich möchte nur so viel verraten: Er war schon zu seiner Zeit im 18. Jahrhundert ein Rätsel, hat eklektisch vieles von anderen Philosophen entlehnt und geht in seinen Aussagen so weit zu behaupten, dass die Stifter der großen Monotheismen Betrüger waren und das Gerede von Seele und Unsterblichkeit schlicht Unsinn ist.

Ah, der große Namenlose.

1 [Untertitel] „Alle nationalen kirchlichen Einrichtungen, ob jüdisch, christlich oder türkisch (islamisch), erscheinen mir als nichts anderes als menschliche Erfindungen, um die Menschen zu beherrschen und zu versklaven und Macht und Reichtum der Herrschenden zu vermehren.“

DAS WAS? – DER ANFANG, GEISTIGES TOHUWABOHU

Kurz vor Weihnachten, meine Damen und Herren, erscheinen immer Zeitschriften mit abgedroschenen Phrasen, sie verbreiten sich wie die rührseligen Weihnachtssoaps und –filme, die uns die heile, heilige Familienwelt vorspielen. Die einen wissen plötzlich, dass Gott aus dem alten Ägypten kam, die anderen wissen endlich, warum Religionen uns etwas nützten.

Alles Schmarren, darf ich das sagen? – Alles Schmarren. Lenkt nur vom Thema ab!

Ein Marxzitat käme hier gut, auch abgedroschen? – Ich denke wir müssen versuchen, wissenschaftlich an die Sache heranzugehen.

Oh, mein … – nein, infiziert. Das kann ich hier jetzt nicht bringen – … Lieber; wissenschaftlich? Wie soll das gehen. Willst Du die Physik und Astrophysik, die Evolutionstheorie und Gen- und Hirnforschung bemühen? Wir können so viel Wissenschaft anführen wie wir wollen, einem Gläubigen können wir so nichts beweisen. Wer denkt, dass ein paar alte Fußabdrücke in der Gegend, in der es einmal Dinosaurier gab, den Beweis lieferten, dass der Mensch zur gleichen Zeit wie die Saurier gelebt hätten, oder der denkt, dass ihn nach seinem Opfertod im Paradies viele Jungfrauen empfingen, oder inkarniert nach dem Tod eine zweite Chance erhielte, oder denkt, der einzige, der wahre Gott gäbe ihm Hinweise, wie er sein Leben zu führen habe, nähme direkten Einfluss auf alles, was er tue, der lässt sich nicht durch Wissenschaft beeindrucken.

Der lässt sich durch nichts beeindrucken, und besonders nicht durch wissenschaftliche Abhandlungen. Erinnere dich an Zweigs Worte gegen die Monotonisierung: „Was immer man auch schriebe, es bliebe ein Blatt Papier, gegen einen Orkan geworfen“. Viele Bücher sind geschrieben worden, die die Unterschiede, aber auch die gemeinsamen Wurzeln des Menschen und des Tieres darlegen: der aufrechte Gang, die lange Unmündigkeit und Abhängigkeit, das Großhirn, die evolutionäre Verwandtschaft nicht nur zu den Primaten, die marginale Verschiedenheit der Genstruktur; dabei ist es einfach seine Dummheit, sich etwas wie göttliche Wesen vorzustellen, daran zu glauben und selbst dafür zu sterben. Die Naturwissenschaften finden Erklärungen, nicht Sinn, den finden Menschen in Mythen und Religionen, aber Sinnhaftigkeit bedeutet nicht Vernünftigkeit, Wahrheit, sondern Konzentration und Festhalten an eigenen Sinnentwürfen – oder den Sinnentwürfen der Führer: der Tanz ums Feuer, die Anbetung von Totems, der Schöpfungsmythos eines Indianerstamms oder der der Bibel oder der Tolkiens haben letztlich die gleiche Qualität und Sinnhaftigkeit, aber keine Wahrheit.

Und er Glaube ist stabiler als das Wissen

Ich sehe das ähnlich. Individuelles Sein, gründet es sich auf Einbildungen, Erfindungen, Hirngespinste, wird als geisteskrankes eingestuft, als psychotisch behandelt, dass aber die ganze Menschheitsgeschichte von ihren Anfängen her aus Einbildungen und angstgeborenen Erfindungen sich entwickelte, stört niemanden, vielmehr werden diese verteidigt, diejenigen, die anderen Erfindungen anhängen, verfolgt, zu Tode gehetzt, gequält, selbst bis in unser aufgeklärtes Jahrhundert hinein.

Na ja. Aufgeklärtes Jahrhundert. Noch nicht mal Jahrhundert der Aufklärung.

Ganze Philosophien, Literaturen, Wirtschaftssysteme sind aus religiösem Glauben erwachsen, sie bestimmen alltägliches und politisches Leben.

Am Anfang war der Irrtum.

Der Wahn, alles Dasein sei gottgeschaffen, spukt noch immer durch die Hirne der Menschen, die irrige Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode geistert durch die Gefühle. Vielleicht war der Irrtum aber auch immer schon als solcher erkannt, der Glaube an ihn nur Überlebenstrieb, Unterdrückungsmittel, geistiges Therapeutikum, von den Mächtigen jedes Zeitalters erfundenes, übernommenes und weiter gepflegtes Massenbetrugsmittel. Vielleicht war Religion immer schon nur Mittel, ihre legendenumrankten Gestalten, wundersamen Gespenster einer heilvollen Verheißung nur schiere Ideenbrut. Und die Ideen von Gott, von Unsterblichkeit der Seele sind nur Ideen einer Idee. Sie leben fort, nicht die von ihnen Infizierten. Der Mensch braucht die Idee eines Gottes nur, um in seiner wahnhaften Vorstellung einer Gottgleichheit sich über andere zu erheben, sich anderen gegenüber überlegen fühlen zu können, die Unterdrückung anderer vor sich selbst zu rechtfertigen.

Eine menschliche Religion wäre nur eine gottlose!

All die lächerlichen Besucher ihrer Gotteshäuser oder –paläste oder Tempel, mit ihrem ritualisierten Frömmigkeitsgehabe, die im wirklichen Leben ihren kleingeistigen, selbstsüchtigen Geschäften nachgehen, ihre ungeliebten Kinder prügeln, ihr Leben vom Kindergarten bis zur Auswahl des Sarges zum Konkurrenzschlachtfeld verkommen ließen, glauben sie an ihre Illusion oder befriedigen sie nur ihr Versammlungsbedürfnis, ihren exhibitionistischen oder auch voyeuristischen Trieb? Und all die bekutteten oder in Anzüge gepressten Lügner, Inhaber der ethischen Wahrheit und Glaubensverkäufer werden seit der Erfindung des Priestertums nicht müde, das Volk zu verdummen und zu betrügen, es wertlosen Zielen zu opfern.

Die gesamte Religionsgeschichte – und ich trenne nicht zwischen Religion und Kirche, denn nur Religion ist der kleine, private Wahn, Kirche der verwaltete –, seit den Menschenopfern der Azteken über das fortdauernden Diktum der Gebärpflicht für Frauen durch Papst Paul II bis zu den paranoiden islamistischen Selbstmordattentäter, ist Blutgeschichte, Opfergeschichte. Abgelehnt wird das Selbstbestimmungsrecht des individuellen Menschen, gerichtet für ersponnenen Despotismus, dabei sind die großen Religionen, die christliche, moslemische, jüdische, unübertroffene Meister ihres Faches. An den Händen vieler auch heute noch verehrter Kirchenmänner klebt das Blut des uneinsichtigen Volkes. Bischof von Sardes, Melito, Goldmund Chrysostomos, der heiliggesprochene Bischof von Konstantinopel, Ambrosius, Bischof von Mailand, selbst Thomas von Aquin und Luther legten bereits früh den Grundstein für die nachfolgenden Pogrome gegen Juden. Der Unsinn vom Gläubigen und Ungläubigen bestimmt jede Religion. Heuchler sind die, die den wahren Kern der Religion in den so genannten heiligen Schriften suchen. Schon der wahre Kern, der Liebe, Mitleid, nicht Hass beinhalten soll, ist nur schmückendes Beiwerk. Religion war immer nur Machtpolitik. Sie reißt die Kluft zwischen die Völker, streut den unüberwindbaren Hass.

Die legen ja hier ganz schön los.

Nein, nein, du machst es dir zu einfach! – Wie in deinen Büchern auch – Die Ursachen liegen weiter zurück. Du darfst die tiefe, jahrtausende alte Sehnsucht nach dem Religiösen nicht einfach mit Dummheit gleichsetzen. Das greift zu kurz, wird auch der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht. Die blutigen Spuren, die die Religionen seit es das religiöse Gefühl, den religiösen Gedanken gibt, hinterlassen haben, die Millionen Opfer religiösen gegenseitigen Hasses haben eine ernsthafte Beschäftigung verdient.

Irgendwie hat er ja Recht.

Modern könnte man also sagen, und darauf spielst du an: Es gibt eine religiöse Veranlagung, gar ein religiöses Gen? Entwickelt in Millionen von Jahren. Und vielleicht ist es auch in unseren Verwandten, den Primaten, ein Stück weit vorhanden.

Warum nicht! Schauen wir uns die Verführten doch an. Das kann nicht nur anerzogen sein, das kann nicht nur verführte, fehlgeleitete Überzeugung sein.

Doch.

Knapp, aber wie immer falsch!

Schaut doch in unsere Erziehungsbunker. Immer noch träufeln wir den Schülern das Religiöse ein, immer noch sind die Konfessionen getrennt, auch im Klassenzimmer. Schaut in die Koranschulen, in die Kader der Kreationisten, in denen sich Anhänger und Verführte in Taumel beten – das braucht kein Gen.

Und selbst, wenn es eines gäbe, was beweist das schon. Doch nur, dass sich im Laufe der Jahrtausende eine Anlage im Menschen gebildet hat, die durch Erziehung und Wiederholung, Tradition, Gewalt und Angst, durch den gesamten Werdungsprozess des Menschen bis zum Homo Sapiens hindurch erst entstanden ist – ein rein menschliches Gefühl oder Bedürfnis, dessen Existenz nicht auf Wahrheit deutet, egal wie alt es ist. Es ist ein Gefühl, dass rationalisiert wurde, im wahrsten Sinne des Wortes, es wurde zum Vernunftausdruck geadelt.

Bei solchen Ehrungen sollte man immer an Humes Erkenntnis und Diktum denken: „Reason is, and ought only tobe the slave of the passions“.2

Seltsam, dass andere Gefühle, zum Beispiel der Altruismus, der ja auch sehr alt ist und schon in Primaten nachgewiesen werden kann, nie solche Ehre erlangten. Da streiten sich die Philosophen heute immer noch, ob es überhaupt in der ethischen Diskussion etwas zu suchen hat.

Mit ihm lässt sich ja auch kein Krieg anzetteln.

Korrekt! Das religiöse Gefühl ist bestens dazu geeignet, um zu unterdrücken und unterdrückt zu werden, um seinen Machtgelüsten eine verlogen rationale Basis zu geben und anderen den Stempel der Unwahren, der Ketzer, Ungläubigen, Häretikern aufzudrücken, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die eigene Wahrheit so erlogen wie die der anderen ist.

Ich glaube außerdem, dass in diesem Zusammenhang die Frage, ob es einen Gott gibt, überhaupt niemanden mehr interessiert. Nicht, dass ich sagen will, dass der Säkularisierungsprozess vollendet ist, nein – so viel Intelligenz trau ich meinen Mitmenschen nicht zu –, aber ich denke, dass es nur noch um das Ausleben eben jenes religiösen Gefühls geht, dass alle Schranken niederreißt, dass den Anhänger ungestraft zum Mörder, Verleugner, Attentäter werden lassen kann, ohne dass eine Einsicht in mögliches falsches Tun notwendig ist.

Nun, meine Herren, wir sind nun schon mitten in der Diskussion, obwohl Ihre einleitenden Statements doch sehr plakativ waren – antireligiöse Stammtischparolen