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Eine rätselhafte Mordserie an der Flensburger Förde hält die Kripo in Atem. Alle Opfer werden am Ostseestrand gefunden und tragen ein geheimnisvolles Brandmal am Rücken. Kommissarin Kristin Voss und ihr Kollege Lars Reimers aus Eckernförde ermitteln mit Hochdruck, denn der Mörder tötet im Stundentakt. So beginnt für die Kripo an der Förde ein atemberaubender Wettlauf gegen die Zeit, der sie schließlich bis an die Westküste führt. Haben sie es mit einem „Cold Case“ zu tun und kommen sie rechtzeitig, um einen weiteren Mord zu verhindern?
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Andreas Schmidt
FördeGrauen
Küstenkrimi
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Lars Gieger / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3210-6
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Die Sonne blendete ihn, als er vor die hohen Mauern der Justizvollzugsanstalt Lübeck trat. Diese Freiheit, von der er in den letzten Jahren geträumt hatte, fühlte sich plötzlich eigenartig an. Die Mauern, die ihn eingesperrt hatten, gab es nicht mehr. Die Türen, die sich hinter ihm geschlossen hatten, sobald er einen Raum betreten hatte, waren weg. Der Gedanke daran, dass er jetzt wieder selbst für sein Leben verantwortlich war, ängstigte ihn. Doch davon ließ er sich nichts anmerken, als er sich von den beiden Schließern, die ihn zur Pforte begleitet hatten, verabschiedete.
»Tschüs«, sagte der ältere der beiden uniformierten Justizvollzugsbeamten und tippte sich an den Rand der Mütze. »Auf Wiedersehen sagen wir lieber nicht.«
»Nee.« Er schüttelte den Kopf und setzte sich die Sonnenbrille auf. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage im März, und er schwitzte in seinem Kapuzenshirt. Die Reisetasche mit seinen wenigen Habseligkeiten hielt er am langen Arm. Gern hätte er sich ein Taxi rufen lassen, doch dafür fehlte ihm das Geld. Und jemanden, der ihn abholte, gab es nicht. Es sei denn …
Bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, röhrte der Motor eines Sportwagens auf. Ein Porsche 993 Cabriolet in Rivierablau bog mit quietschenden Reifen in die Zufahrt ein. Hinter dem Steuer saß eine blonde zierliche Frau mit einer modischen Sonnenbrille. »Moin«, rief sie gut gelaunt durch das offene Verdeck und winkte, nachdem sie den Boliden neben ihm zum Stillstand gebracht hatte. »Sorry, bin spät dran.« Sie sprang aus dem Sportwagen und umrundete die flach abfallende Haube, dann stand sie vor ihm. Von einer Sekunde zur anderen fühlte er sich nicht mehr so einsam. Als er sich umwandte, waren die JVA-Beamten bereits wieder im Eingangsbereich verschwunden.
Sie warf sich an seine Brust, er ließ die Tasche fallen und zog sie an sich, um sie leidenschaftlich zu küssen. Fast hatte er vergessen, wie gut sie sich anfühlte, wie gut sie schmeckte. Viel zu lange schon hatte er auf die Nähe einer Frau verzichten müssen. Nicht im Traum hatte er damit gerechnet, dass sie ihn abholen würde. Nicht nach allem, was geschehen war. So etwas wie der Lauerhof passte nicht in ihr Leben. Ihrem Vater gehörte eine Fabrik für große Windkraftanlagen. Als feststand, dass er in den Knast sollte, hatte ihr Vater ihr nahegelegt, sich von ihm zu trennen. Doch das war nie eine Option für sie gewesen.
Dass sie ihn jetzt mit dem Porsche ihres Vaters abholte, grenzte an ein Wunder. Vermutlich wusste ihr alter Herr nicht, was sie mit seinem Wagen vorhatte.
»Schön, dass du da bist«, sagte er, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. Er spürte die Sehnsucht in sich aufsteigen, als er sich nach der Reisetasche bückte und sie lässig auf die kleine Rückbank warf.
»Kann dich doch nicht hängen lassen.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und schwang sich hinter das Lenkrad. Der Boxermotor im Heck röhrte auf. Bevor er in den Porsche stieg, wandte er sich ein letztes Mal zum Lauerhof um. Die hohen Backsteinmauern der Justizvollzugsanstalt reckten sich wie eine uneinnehmbare Festung in den fast wolkenlosen Himmel über Lübeck. Massive Gitter, das Schlagen der knallgelben Stahltüren und hohe Mauern mit Stacheldraht, die nicht enden wollenden Rufe der Inhaftierten an ihren Zellenfenstern, heimliche Geschäfte beim täglichen Hofgang – das alles gehörte für ihn jetzt der Vergangenheit an.
Er war der Erste, der raus durfte, nach dem, was sie auf dem Kerbholz hatten. Doch dabei würde es nicht bleiben, denn sein Mentor fehlte ihm schon jetzt. Er würde ihn herausholen, koste es, was es wolle.
Es war nicht das erste Mal, dass jemand einen Entlassungsbrief erpresste. Ihm fehlte noch der richtige Plan, doch auch das war eine Frage der Zeit. Er würde seine Vaterfigur nicht hängen lassen. Und mit jedem Kilometer, den sie sich vom Lauerhof entfernten, festigte sich sein Entschluss.
»Was guckst du mich so komisch an?«, fragte sie. Der Wagen schnurrte die Zufahrt hinunter, sie zirkelte den Porsche gekonnt durch die Straßen von Sankt Gertrud. Nachdem sie Lübeck hinter sich gelassen hatten, folgte sie der Beschilderung nach Bad Segeberg, dann würde es bei Bad Bramstedt auf die Autobahn in Richtung Norden gehen. Er schätzte, dass die Fahrt bis Husum anderthalb, vielleicht sogar zwei Stunden dauern würde, bis sie in seinem neuen, alten Leben angekommen waren. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Als er sie von der Seite betrachtete, fühlte er sich ertappt. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem hübschen Gesicht.
»Ich freue mich, dich zu haben«, sagte er wahrheitsgemäß. Als sie stumm nickte, lehnte er sich in den ledernen Sportsitzen zurück und schloss die Augen. In ihm reifte bereits ein Plan. Doch noch war es nicht so weit.
Eckernförde, 23.55 Uhr:
Er ist da.
Als sie am späten Abend erwachte, musste sie nicht aufstehen, um sich zu vergewissern, dass er da war. Sie wusste, dass er da war, fast konnte sie seine Anwesenheit spüren. Mit einem Blick auf den Receiver des Fernsehers stellte sie fest, dass sie mehr als zwei Stunden auf dem Sofa der kleinen Stube geschlafen haben musste. Das Gerät war in den Standby-Modus gegangen und schwieg. Die leuchtenden Ziffern in der Front zeigten ihr an, dass es kurz vor Mitternacht war. Sie fragte sich, ob er niemals schlief.
Er ist wieder da.
Bei dem Gedanken daran raste ihr Herz. Sie hielt die Luft an und lauschte in die Dunkelheit, die sich längst über die kleine Stadt gesenkt hatte. Kein einziges Geräusch war zu vernehmen, und trotzdem wusste sie, dass sie nicht alleine war. Lange Schatten schienen über den Dielenboden ihrer Wohnung zu kriechen. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und wenn sie die Luft anhielt, hörte sie das Blut in ihren Ohren rauschen. Obwohl sie nicht geheizt hatte, perlte kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie die Wolldecke auf die Sofalehne warf. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Er ist gekommen, um mich zu quälen.
Von der Wut getrieben, setzte sie sich aufrecht hin. Ihr Blick glitt zu den beiden Fenstern der Stube. Die bodenlangen Gardinen hatte sie vorhin zugezogen, nachdem sie sich beobachtet gefühlt hatte. Jetzt krochen lange Schatten wie Wesen aus einer fremden Welt über den Boden des dunklen Zimmers. Sie fröstelte und starrte wie gebannt zu den Fenstern. Ihre Füße tasteten nach den kuscheligen Pantoffeln, die vor dem Sofa standen, und schlüpfte hinein. Ruckartig sprang sie auf. Die erst kürzlich frisch versiegelten Dielen knarrten leise unter ihrem Gewicht, als sie die Stube durchquerte, um ans Fenster zu treten.
Er ist da.
Sie streckte die Hand nach den Vorhängen aus, dann zögerte sie. Kurz verließ sie der Mut, doch sie wollte sich Gewissheit verschaffen, dass ihre Sinne sie nicht getrogen hatten.
Der Gedanke daran, dass er nicht von ihr ablassen konnte, ließ ihr keine Ruhe. Sie verharrte in der Bewegung, um ins Nichts zu lauschen. In der Küche sprang der Kühlschrank an. Wie erstarrt hielt sie einen Augenblick inne, dann schalt sie sich eine hysterische Närrin und versuchte, ihren Puls zu normalisieren.
Die orangefarbenen Vorhänge klafften einen winzigen Spalt breit auseinander. Das genügte schon. Sie atmete ein paar Mal tief durch.
Er macht mich fertig.
Einen Moment lang rührte sie sich nicht. Es kostete sie Überwindung, den Vorhang etwas weiter zur Seite zu ziehen. War es die Angst davor, das zu sehen, was sie spürte, ja, was sie wusste, seitdem sie erwacht war?
Fürchtete sie die Realität?
Es war mehr als ein dumpfes Gefühl, dass er ihr wieder auflauerte, es war gewiss. Angst lähmte ihren Körper. Seit Tagen schon verfolgte er sie auf Schritt und Tritt, er lungerte nachts vor ihrem Haus herum und observierte sie. In letzter Zeit schreckte er auch vor makaberen Scherzen nicht zurück, um sie aus der Reserve zu locken.
Bei der Polizei hatte man sie nicht ernst genommen, als sie sich über den Stalker beschwert hatte. Sie fühlte sich von den Behörden im Stich gelassen und war auf sich alleine gestellt.
Und jetzt war er wieder da.
Mit einem Blick sah sie zu der kleinen Kommode, auf der das Telefon in der Basis steckte. Sollte sie die Polizei rufen und um Hilfe bitten?
Wahrscheinlich würden die Beamten sie für verrückt halten.
Was, wenn er sie abhörte? Konnte er ihre Telefonate mithören? Oft genug hatte er damit geprahlt, technisch so versiert zu sein, um aus ihr einen gläsernen Menschen machen zu können. Gab es Hoffnung, wenn sie die Polizei jetzt anrief, oder würde sie ihn damit erst recht auf den Plan rufen?
Helfen würde man ihr sowieso nicht, dachte sie resigniert. Wut keimte in ihr auf, als ihr klar wurde, dass sie auf sich selbst gestellt war. Es galt zu handeln. Auch wenn er sie noch nicht bedroht hatte, war gewiss, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Dabei war ihre Zeit längst vorbei. Was wollte er noch von ihr? Wollte er sich rächen? Wollte er sie für sich zurückgewinnen?
Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufrichteten und ein Schauer ihren Rücken herunterrieselte. Es dauerte einen Augenblick, dann nahm sie allen Mut zusammen und riss den blickdichten Vorhang mit einem Ruck auf. Verlassen lag die Straße da, kein Mensch und kein Auto waren um diese Zeit noch unterwegs. Doch er war da. Sein alter Pick-up stand mit beschlagenen Scheiben am gegenüberliegenden Straßenrand. Die Gestalt hinter dem Steuer des schweren Fahrzeuges konnte sie nur schemenhaft erkennen.
Auf ihn ist Verlass, dachte sie in einem Anflug von Galgenhumor, doch das Lachen blieb ihr im Halse stecken.
Er wartet auf mich.
Kaum, dass sie den Gedanken zu Ende geführt hatte, glitt das Fenster auf der Fahrerseite herunter. Es war, als hätte er sie durch die beschlagenen Autoscheiben gesehen, um jetzt den direkten Blickkontakt zu suchen, als hätte er gespürt, dass sie an das Fenster getreten war, um nach ihm zu sehen. Sein Blick war nach oben gerichtet, direkt auf ihr Fenster. Seine Miene regungslos, starr wie eine Maske.
Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus, dann wich sie zurück.
Er ist da und er sieht mich an, schrie alles in ihr.
Hört das denn nie auf?
Panisch wich sie zurück, presste die Hände vor das Gesicht und ordnete ihre Gedanken. Tränen schossen ihr in die Augen. Dann gab sie sich einen Ruck und griff zum Telefon. Erst jetzt sah sie, dass jemand angerufen hatte. Das Blinken verriet ihr, dass er bereits versucht hatte, sie zu erreichen. Doch sie hatte das Telefon auf lautlos gestellt, um nicht gestört zu werden.
Mit zitternden Händen wählte sie die Nummer des Polizei-Notrufes. Bereits nach dem zweiten Freizeichen wurde ihr Gespräch angenommen. »Er ist wieder da«, flüsterte sie in den Hörer, bevor sie schluchzend auf das Sofa sank.
*
Auf diesen Moment hatte er lange warten müssen. Als im Haus das Treppenhauslicht aufflammte, wusste er, dass sich das Warten gelohnt hatte.
»Na bitte«, grinste er, richtete sich eilig im Fahrersitz auf und erwartete ihre Ankunft. Gleich würde sie bei ihm sein. Der Gedanke daran, ihr in wenigen Augenblicken gegenüberzustehen, versetzte ihn in eine Art Trance. Hastig stieß er die Fahrertür auf und stieg aus. Mit betont lässig vor der Brust verschränkten Armen lehnte er sich an den Wagen. Ein triumphierendes Grinsen legte sich auf seine Lippen, als die Haustür aufflog und sie die Straße überquerte. Sie war sichtlich aufgebracht, sogar im Widerschein der Straßenlaternen sah er, dass ihr Gesicht eine tiefrote Färbung angenommen hatte.
Mit einer zufriedenen Miene sah er ihr entgegen. Sie trug eine ausgebeulte Jogginghose, in der sie für ihn äußerst anziehend wirkte, und ein T-Shirt mit einem albernen Mickymaus-Aufdruck. Früher hatte er es geliebt, dass sie sich ihre kindliche Art bewahrt hatte. Und er sah sofort, dass sie keinen BH trug. Ihre Füße steckten in pinkfarbenen Crocs.
»Was soll der Scheiß?«, schrie sie ihn schon von Weitem an. »Hast du noch immer nicht die Schnauze voll? Die Bullen wissen schon Bescheid und dürften gleich hier sein, weit haben sie es ja nicht.«
Sie ist so süß, wenn sie wütend ist.
Er stieß sich ohne Eile vom Wagen ab, um ihr entgegenzugehen.
»Bleib stehen!«, gellte ihre Stimme durch die verlassene Straße.
»So wütend?« Sein Lächeln wurde eine Spur breiter.
»Ja – so wütend. Du bist einfach nur krank, mir hier Tag und Nacht aufzulauern. Hast du keine Hobbys?«
»Nee.« Langsam schüttelte er den Kopf. Forschend suchte er die Fenster der umliegenden Häuser ab. Noch schien sie mit ihrem Lärm niemanden geweckt zu haben, alles war dunkel. »Jetzt beruhige dich, du weißt, warum ich hier bin.«
»Weil du krank bist, Alter!« Sie griff in die Hosentasche.
Kurz fürchtete er, dass sie eine Waffe oder eine Dose Tränengas ziehen würde, um ihn auf Distanz zu halten. Erleichtert stellte er fest, dass es sich um einen zerknitterten Zeitungsausschnitt der Eckernförder Zeitung handelte.
Sie hat es also entdeckt, dachte er. Schön.
Jetzt wusste er, was sie so auf die Palme brachte.
»Ach das«, sagte er und winkte ab. »Das war ein kleiner Weckruf, nicht mehr und nicht weniger.«
»Du hast nicht alle Latten am Zaun«, rief sie aufgebracht, während sie die Zeitungsseite auseinanderfaltete. Er bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Als sie gefunden hatte, wonach sie gesucht hatte, präsentierte sie ihm den Papierfetzen. »Du lässt eine Todesanzeige mit meinem Namen schalten?« Sie tippte sich an die Stirn. »Das ist wirklich nicht normal.« Den letzten Satz hatte sie leise gesprochen, gefährlich leise, denn wenn sie die Stimme trotz Wut senkte, wurde sie gefährlich.
Er wich einen Schritt zurück. Nicht, weil er Angst hatte, aber er wollte zur späten Stunde kein Aufsehen erregen.
»Seitdem der Mist in der Zeitung war, steht mein Telefon nicht mehr still.«
»Und?« Er hatte seine Selbstsicherheit zurückgewonnen. »Freu dich doch – deine Community sorgt sich um dich. Sonst würde niemand auf die bescheuerte Idee kommen, eine Tote anzurufen.« Er kicherte und freute sich über seinen ausgefallenen Geniestreich. Ihm war es gelungen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jetzt musste er sie nur noch von sich überzeugen. Dann gehörte sie wieder ihm.
»Sei nicht sauer«, bat er sie in einem versöhnlichen Tonfall. »Das war nur ein Spaß.« Mit dem Kinn deutete er auf die Zeitung in ihrer Hand. »Hat doch funktioniert.«
»Du bist echt nicht ganz dicht.« Sie warf ihm die Zeitungsseite vor die Füße. Das Papier sog sich innerhalb weniger Sekunden mit dem Wasser des nassen Asphalts voll und verwandelte sich in eine graue unansehnliche Masse. Bevor er sich versehen konnte, schnellten ihre Hände hoch. Wie besessen prügelte sie auf seinen Oberkörper ein, so schnell, dass er kaum reagieren konnte. Insgeheim wunderte er sich über die Kraft, die sein zierliches Gegenüber aufbrachte. Gerade, als ihre rechte Faust sein Kinn traf und er zurücktaumelte, setzte sie nach. Seine Arme schnellten hoch, er griff zu und bekam ihre Handgelenke zu packen. Hastig drückte er sie von sich, um ihr einen Tritt zu verpassen.
»Lass mich los«, presste sie hervor, doch er lachte nur.
»Ist es das, was du wolltest?«
»Du sollst mich verdammt noch mal loslassen!« Sie zerrte an ihm, doch er war stärker und dachte nicht im Traum daran, seinen Griff zu lockern. Es fühlte sich gut an, sie in seiner Gewalt zu haben, denn jetzt konnte sie ihm nicht mehr weglaufen. Sie gehörte ihm, und das Machtgefühl, das in ihm aufbrandete, war mit nichts zu vergleichen.
Als er sie rückwärts zum Auto ziehen wollte, mobilisierte sie sämtliche Kräfte. Sie zog ein Knie an und rammte es ihm in den Schoß.
Ihm blieb die Luft weg. Blitze tanzten vor seinen Augen, und im falschen Moment lockerte er seinen Griff. Er keuchte, rang nach Atem, stolperte vor, als er bemerkte, dass sie ihm entkommen war, griff zu und zog sie mit einer ruckartigen Bewegung zu sich, genau in dem Moment, als ihn die Kräfte verließen und er zu Boden sackte. Er ließ los, sie stürzte rückwärts, ruderte wild mit den Armen, um unter einem spitzen Schrei auf den Lippen auf den harten Asphalt zu stürzen. Dabei schlug sie unsanft mit dem Hinterkopf auf der Bordsteinkante auf. Ein dumpfer Laut entrang sich ihrer Kehle, dann kehrte Stille ein.
Unter Schmerzen rappelte er sich wieder auf. Fassungslos betrachtete er ihr Gesicht, sah in die panisch aufgerissenen Augen, starrte auf den Mund, der wie zu einem lautlosen Schrei geöffnet war, und fühlte sich machtlos. Er holte tief Luft und versuchte, das Ziehen in seinen Lenden zu ignorieren, so gut es ging. Als er sich über sie beugen wollte, sah er die Blutlache, die sich unter ihrem Kopf ausbreitete. Der Schock ließ seinen eigenen Schmerz in den Hintergrund rücken.
Hektisch blickte er sich um. Niemand außer ihm war auf der Straße zu sehen, auch in den Fenstern der umliegenden Häuser brannte längst kein Licht. Zitternd ging er neben ihr in die Hocke. »Geht es dir gut?«, fragte er und hoffte vergeblich auf ein Lebenszeichen. Im Nu waren die Knie seiner Jeans durchnässt. »Sag was!« Panisch schüttelte er sie, tätschelte ihre Wangen und bereute, dass der letzte Besuch bei einem Erste-Hilfe-Kurs schon viel zu lange zurücklag. Er war nicht einmal in der Lage, die stabile Seitenlage herzustellen. Mit zitternden Händen tastete er nach ihrem Puls, ohne die richtige Stelle an ihrem Handgelenk zu finden – oder es gab keinen Puls mehr.
Panik ergriff ihn. Was, wenn sie tot war?
Hektisch sah er sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich bin doch kein Mörder, schrie alles in ihm, während er sie mit panisch aufgerissenen Augen betrachtete. Sie ist tot!, hörte er eine innere Stimme rufen. Du hast sie auf dem Gewissen!
Wieder blickte er sich um. Es gab keine Zeugen. Er war sich darüber im Klaren, dass er im Knast landen würde, wenn sie ihn erwischten. Hastig sprang er in die Höhe, kämpfte einen Augenblick gegen den Schwindel an, dann atmete er ein paarmal tief durch, bevor er zu seinem Wagen rannte. Aufgebracht ließ er sich auf den Fahrersitz fallen, tastete mit zitternden Fingern nach dem Zündschlüssel und startete den Motor. Wie ein wildes Tier brüllte der Achtzylinder auf, als er den Fuß auf das Gaspedal stellte. Mit durchdrehenden Reifen trat er die Flucht in die Nacht an. Der Gedanke daran, dass er sie auf dem Gewissen hatte, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er musste verschwinden, sonst würden ihn die Bullen in den Knast stecken.
Flensburg, 23.55 Uhr:
Zufrieden blickte sich Kristin Voss in ihrer kleinen Wohnung um. Der Arbeitstag im Ersten Kommissariat der Flensburger Bezirkskriminalinspektion war ruhig verlaufen, und so stand nach einem pünktlichen Feierabend einem ausgiebigen Putztag ihrer Wohnung in der Angelburger Straße nichts mehr im Wege. Jetzt stand alles an seinem Platz, die Kissen auf dem Sofa waren frisch aufgeschlagen, die Fenster geputzt, das Bad blitzte und glänzte, auch die Bücher im Regal standen der Größe nach aufgereiht auf den Brettern. Die Fernbedienungen auf dem flachen Wohnzimmertisch bildeten eine Flucht mit der linken Tischkante und waren auf den imposanten Fernseher ausgerichtet. Die beiden Wolldecken am Fußende des Sofas lagen ordentlich zusammengelegt und gefaltet übereinander. Ein frischer Duft hing in den Räumen. Sie liebte es sauber und aufgeräumt. Kurz dachte sie an ihren Ex-Freund Felix, der sie immer als »Monk« bezeichnet hatte, weil es sie wahnsinnig machte, wenn nicht alles an seinem Platz stand.
Früher hatte sie nach der Arbeit immer eine Zigarette geraucht und sich an der frisch geputzten und aufgeräumten Wohnung erfreut, doch das Rauchen hatte sie sich kurz nach ihrem Umzug an die Förde abgewöhnt. Wobei sie in bestimmten Situationen noch immer das Verlangen nach Nikotin verspürte. Doch bisher war sie nicht schwach geworden, und das erfüllte sie mit Stolz. Zufrieden ging sie in die Küche, um sich einen Tee aufzusetzen, den sie sich aus ihrer ostfriesischen Heimatstadt Leer mitgebracht hatte, als sie nach Flensburg gezogen war. Kristin gab Wasser in den Wasserkocher und setzte das Gerät in Gang. Währenddessen trat sie an den Hängeschrank, in dem sich die Teebox aus Bambusholz befand. Sie entschied sich aufgrund der späten Stunde für einen Ingwer-Limettentee aus dem Beutel, den sie in ihre Lieblingstasse fallen ließ. Als der Wasserkocher mit einem vernehmlichen Knacken abschaltete, gab sie Wasser in die Tasse. Aus dem Bluetooth-Lautsprecher auf dem Küchenregal erklang leise Musik. Wie immer hörte sie RSH, den Privatsender für Schleswig-Holstein.
Kristin war angekommen in ihrer neuen Heimat, hatte sogar am Neujahrstag beim traditionellen Anbaden in Sandwig teilgenommen und sich, wenn auch nur für ein paar Minuten, in das eiskalte Wasser der Ostsee gestürzt. Den heißen Tee danach hatte sie sich mehr als verdient. Das Gefühl, zu den Menschen, die an der Flensburger Förde lebten, zu gehören, war unbezahlbar gewesen, denn ihre Freunde im ostfriesischen Leer vermisste sie immer noch.
Kristin zuckte zusammen, als es an der Wohnungstür klingelte. Sie fragte sich nach einem Blick auf die Armbanduhr, wer das zu dieser späten Stunde noch sein mochte. Als sie auf das Handy sah, entdeckte sie dort eine Textnachricht von Birthe Jensen, ihrer Kollegin aus dem Sechsten. »Bist du zu Hause?«, fragte sie. »Wir müssen reden.« Die Nachricht hatte Birthe vor 20 Minuten geschickt.
Kristin legte das Smartphone auf die Arbeitsplatte und begab sich in den Flur, um den Türöffner zu betätigen. Das Summen im Treppenhaus malträtierte ihre Ohren. Unten schnappte die schwere Haustür im Schloss, im nächsten Augenblick flammte das Licht auf. Kristin trat an das hölzerne Geländer des Altbaus und warf einen Blick nach unten. Tatsächlich erkannte sie den blonden Haarschopf ihrer Kollegin, die wenig später außer Puste das Obergeschoss erreichte. »Moin«, sagte sie mit einem spitzbübischen Schmunzeln. »Danke, dass du aufgemacht hast.«
»Sorry, ich habe deine Nachricht eben erst gesehen. Ich habe aufgeräumt und … was rede ich? Komm doch erst mal rein.« Kristin umarmte Birthe und musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen, da ihre Kollegin einen guten Kopf größer war als sie. Birthe trug eine cremefarbene Bluse, eine hölzerne Perlenkette und ein buntes Halstuch unter der Jacke. Ihre schlanken Beine steckten in modischen Jeans, dazu leichte Schuhe. Wann auch immer sie auftauchte – Birthe war stets angemessen gekleidet, sie zelebrierte ihren eigenen Stil, ohne dabei arrogant zu wirken. Schmunzelnd dachte Kristin an den Spitznamen, den sie der Kollegin am ersten Tag ihrer Zusammenarbeit heimlich gegeben hatte – Birthe war für sie »die nordische Schönheit«, denn sie strahlte eine gewisse Coolness und eine gute Portion Stolz aus.
»Danke noch mal.« Birthe sah ihr zu, wie sie die Wohnungstür ins Schloss drückte.
Kristin betrachtete ihre Kollegin mit einem prüfenden Blick. »Ist etwas passiert?« Sie warf einen Blick auf die Uhr im Flur. »Ich meine, es ist unüblich, dass du um diese Zeit…«
»Richtig, du hast es erraten.« Birthe nickte mit geröteten Wangen. Nachdem sie die Schuhe abgestreift hatte, folgte sie Kristin auf Socken in die Küche, wo es verführerisch nach frisch aufgesetztem Tee duftete.
»Auch einen?«
»Gerne.«
Kristin nahm eine zweite Tasse, goss Wasser ein und zog einen weiteren Teebeutel aus dem Teekästchen. Kurze Zeit später saßen sie nebeneinander auf dem gemütlichen Sofa in Kristins Stube. »Also schieß los«, forderte Kristin voller Ungeduld. »Was brennt dir unter den Nägeln?«
»Thomas«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Birthe hielt die Teetasse mit beiden Händen und trank in kleinen Schlucken. »Er hat mir immer noch nicht die Sache mit Uwe verziehen.«
»Oha.«
»Jo.« Birthe nickte. »Erst heute Abend hat er mich gefragt, ob ich über die Sache von damals hinweg bin.«
»Bist du nicht.« Eine Frage, keine Feststellung.
Birthe blickte sie an und deutete ein Kopfschütteln an. »Und es wird mir langsam etwas unheimlich, denn ich habe heute im Intranet gelesen, dass die Cold-Case-Unit im LKA verkleinert wird. Sie bauen Stellen ab und versetzen die Ermittler zurück in ihre alten Dienststellen, die sich permanent über Personalmangel beklagen.«
»Und im Fall von Uwe heißt es, dass er zurück nach Flensburg kommt.« Kristin nahm einen Schluck Tee und spürte das fruchtige Aroma auf der Zunge.
»Richtig. Noch habe ich nichts von ihm gehört, aber so wie es aussieht, wird er in die Bezirkskriminalinspektion und damit zum K1 zurückkehren.«
»Aber du bist im Sechsten«, erinnerte Kristin die Kollegin.
»Eben, du weißt ja, dass wir oft während der Ermittlungen zu einem Fall mit euch zusammenarbeiten.«
»Und du möchtest Uwe am liebsten nicht begegnen?«
Birthe wich sekundenlang Kristins Blick aus. »Ich mag seine Gegenwart und ich arbeite gern mit ihm zusammen, aber ich habe Angst, dass wir wieder Dinge tun, die nicht in Ordnung sind.«
Kristin dachte fieberhaft nach. Die künftige Konstellation war wirklich nicht förderlich, wenn sich zwei Menschen aus dem Weg gehen wollten. Und es war sicher leichter gesagt, es bei den Kontakten auf dienstlicher Ebene zu belassen, als getan. »Wie steht es um deine Ehe mit Thomas?«
Birthe zuckte die Schultern. »Es herrscht Flaute. Wir reden miteinander, wir sitzen zum Essen gemeinsam am Tisch und wir teilen das Bett. Wir kennen uns seit dem Studium, und ich denke, jetzt ist die Luft raus. Nachdem Thomas hinter meine Affäre kam, sowieso.«
»Irgendwie verständlich«, murmelte Kristin.
»Natürlich. Ich glaube, dass ein Seitensprung für mich sogar ein Scheidungsgrund wäre.«
»Aber Scheidung ist keine Option?«
»Nein – Thomas ist Pfarrer. Stell dir mal das Gerede der Leute in der Gemeinde vor!« Birthe winkte entrüstet ab.
»Also macht ihr alles, um den Schein nach außen zu wahren.« Kristin nickte verstehend.
»So schwer es uns auch an manchen Tagen fällt – ja. Wobei ich glaube, dass Thomas sich nach einer heilen Welt sehnt. Einer Welt, die ich ihm aber nicht bieten kann. Ich liebe ihn, weiß aber nicht, ob es nicht nur Freundschaft ist, die uns verbindet. Eine Freundschaft, die ich aus purer Verbundenheit am Leben halte.«
»Und dabei zu viele Kompromisse eingehst«, dachte Kristin weiter. »Du steckst zurück, lebst in einer unglücklichen Beziehung, um dem Ruf deines Mannes nicht zu schaden. Natürlich wäre es für die Gemeinde fatal, wenn dem Pfarrer die Frau davonläuft. Aber denk mal an dich, Birthe. Du bist schlau und hübsch, sicherlich hast du ganz andere Chancen, mit einem Mann vom Glück begünstigt zu werden.«
»Mit Uwe?« Birthe trank Tee, stellte die Tasse auf den niedrigen Tisch und sah ihre Gastgeberin an.
»Wenn du mit ihm glücklich wirst?«
»Er ist verheiratet.«
Kristin beobachtete ihre Freundin mit den elegant geschwungenen Augenbrauen, die sie jetzt in gespielter Empörung hochzog. »Ist er denn glücklich in seiner Ehe?«
»Wäre es dann zum Seitensprung gekommen?«, antwortete Birthe mit einer Gegenfrage.
»Wahrscheinlich nicht«, musste Kristin ihr recht geben. »Und wie willst du jetzt mit der Situation umgehen?«
»Ich weiß es offen gestanden nicht.« Birthe seufzte, und es war für Kristin offensichtlich, dass sie sich einen Ratschlag erhofft hatte, mit dem sie erleichtert nach Hause fahren konnte. Doch aus der Erfahrung heraus wusste Kristin, dass es keine allgemeinverträgliche Lösung gab.
»Ich würde sagen, dass du die Dinge einfach auf dich zukommen lässt«, empfahl sie ihr nach einer kleinen Schweigepause. »Sieh, wie es Uwe damit geht, wieder in Flensburg zu arbeiten, beobachte, wie er sich dir gegenüber verhält und ob da noch das Feuer der Leidenschaft in euch brennt.« Kristin zwinkerte Birthe verschwörerisch zu. »Und dann reflektiere dich und deine Ehe. Wäge ab, ob eine Scheidung von Thomas nicht doch eine Option sein könnte, um den Rest deines Lebens eine glückliche Frau zu sein.«
»Danke«, sagte Birthe erleichtert. Auch wenn sie keine Lösung von Kristin bekommen hatte, schien sie doch froh darüber zu sein, dass sie sich ihr anvertrauen konnte.
»Sprich ganz offen mit Thomas über deine Gefühle«, riet Kristin ihr. »Und wenn du nichts als Freundschaft empfindest, dann solltest du ihm das sagen.«
»Stimmt.« Birthe leerte ihre Tasse und erhob sich. »Ich kann dir aber nicht versprechen, dass ich den Mut dazu habe, offen mit ihm zu sprechen. Natürlich weiß ich, dass er es verdient hat, ehrlich zu ihm zu sein. Auf der anderen Seite habe ich Angst vor seiner Reaktion. Er ist verletzlich, auch wenn er das nach außen nicht oft zeigt. Und eines steht für mich schon fest: Sobald ich ihm sage, dass ich ihn verlasse, wird für Thomas eine Welt zusammenbrechen.«
*
Er wusste nicht, wie lange er durch die verlassenen Straßen gefahren war. Ziellos steuerte er den Wagen durch das nächtliche Eckernförde, lauschte der leisen Musik aus dem Radio und hing seinen Gedanken nach. Die Nacht war feuchtkalt, und der Frühling in der Bucht ließ auf sich warten. Die Uhr im Armaturenbrett sagte ihm, dass der neue Tag bereits vor einer knappen Stunde begonnen hatte, eigentlich hätte er längst schlafen sollen. Eine innere Unruhe, die ihn seit Tagen umtrieb, hielt ihn davon ab.
Jetzt galt es, keine unnötige Zeit mehr zu verlieren.
Mit 30 Stundenkilometern ließ er den Wagen über die Reeperbahn rollen, wohl wissend, dass die Polizei ihren gefürchteten Radaranhänger vor einigen Tagen hier aufgestellt hatte. Er hatte keine Lust auf Ärger mit den Bullen und hielt sich an die Regeln. Ein Foto wegen einer Geschwindigkeitsübertretung könnte fatale Folgen für ihn haben.
Am ZOB drosselte er das Tempo und hielt nach einem brauchbaren Opfer Ausschau, doch auch dort befand sich um diese Zeit niemand, der für seine Mission infrage kam. Außer einem Busfahrer, der im Licht der Innenraumbeleuchtung hinter dem Lenkrad seine Pause verbrachte, war der Platz vor dem Bahnhof menschenleer. Busse waren videoüberwacht. Wenn er sich die Mühe machen würde, den Mann am Steuer zu überwältigen und ihn aus seinem Fahrzeug zu ziehen, würde er sich verraten. Nein, der eignete sich nicht für sein Vorhaben. Mit einem frustrierten Seufzer auf den Lippen beschleunigte er den Wagen, bog links in die Preußerstraße ab und hielt Ausschau nach Passanten, die um diese Zeit noch unterwegs waren.
Ein Obdachloser, der irgendwo in einem Hauseingang seinen Rausch ausschlief, war sicher ein leichtes Opfer für sein Vorhaben. Doch keiner der Landstreicher tat ihm den Gefallen. Weit und breit war niemand zu sehen.
Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wenn er in Eckernförde nicht fündig wurde, dann musste er in einen größeren Ort fahren. Nach Flensburg oder Kiel vielleicht. Doch noch gab er nicht auf, denn weite Wege waren ihm zuwider.
Eines stand fest: Er würde nicht unverrichteter Dinge heimkehren. Es war an der Zeit, ein Zeichen zu setzen und seine Mission zu beginnen.
*
Das Gespräch mit Birthe verfolgte Kristin bis in den Schlaf. Als sie später im Bett lag und in der Dunkelheit an die Dachschräge ihres Schlafzimmers blickte, gingen ihr die Worte nicht aus dem Kopf. Lange hatte sie damals mit sich gehadert, Felix mit ihrem Wunsch zu konfrontieren, die Beziehung zu beenden. Er hatte die Nachricht nach außen hin gelassen zur Kenntnis genommen, doch sie kannte ihn lange und gut genug, um zu sehen, dass es ihm das Herz zerriss. So war es Kristin nicht leichtgefallen, die Trennung zu vollziehen. In aller Konsequenz, denn anschließend war ihr in Leer die Decke auf den Kopf gefallen. Sie hatte Glück gehabt, als in Schleswig-Holstein die Planstelle bei der Bezirkskriminalinspektion Flensburg frei wurde, hatte sich darauf beworben und war angenommen worden. Ihr Einstellungsgespräch mit Jens Beck hatte sie damals per Videocall geführt. Jetzt lebte sie seit einem halben Jahr im Norden und fühlte sich wohl in Flensburg. Angekommen zu sein, behauptete Kristin jedoch nicht. Es fehlte ihr an Freunden, mit denen sie die knappe Freizeit verbringen konnte. Außer Birthe hatte sie niemanden, mit dem sie sich austauschen konnte. Und Heike, ihre alte Freundin, lebte in Husum an der Westküste.
Was Kristin aber viel mehr vermisste, war Zweisamkeit. Sie sehnte sich nach einem Partner, der für sie da war und für den sie da sein konnte, nach einer starken Schulter, an die sie sich in schwachen Momenten anlehnen konnte, an ein gemeinsames Leben, und sie sehnte sich nach einem Freund, der Verständnis für ihren Job als Polizistin hatte. Doch diesen Mann schien es einfach nicht zu geben. Über diesen trüben Gedanken fiel Kristin irgendwann in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Schlaf.
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Kai Wiesemann liebte seinen Job. Als leidenschaftlicher Frühaufsteher war er einer der Ersten auf den noch leeren Straßen von Eckernförde. Im Morgengrauen, Stunden, bevor der Berufsverkehr einsetzte und die Urlauber die Straßen bevölkerten, sorgte er mit seiner orangefarbenen Kehrmaschine für Sauberkeit. Der Job war nicht allzu anspruchsvoll, gleichwohl krisensicher und einigermaßen gut bezahlt. Dinge, die nicht selbstverständlich waren. Sein Kumpel Holger fuhr bei einer Spedition in Kappeln und war mit seinem Vierzigtonner die ganze Woche unterwegs. Sonntagabends rollte er mit dem Ende des Lkw-Sonntagsfahrverbotes vom Hof, um nach Dänemark, Schweden und Norwegen aufzubrechen und freitags, manchmal sogar erst am Samstag, heimzukehren zu seiner Frau und den Kindern. Holger verpasste eine Menge, war an sämtlichen Geburtstagen seiner Lina und den Lütten unterwegs, er sah sie kaum aufwachsen und ahnte mit einem mulmigen Gefühl, dass seine Frau sich in unregelmäßigen Abständen mit einem Geliebten traf, wenn sie sich nach zwischenmenschlicher Nähe und Zärtlichkeit sehnte. Doch das alles hielt Holger nicht davon ab, sein Geld als Fernfahrer zu verdienen.
Für Kai wäre das nichts gewesen. Da hatte er es schon besser. Er schlief jede Nacht in seinem Bett anstatt in der engen Schlafkabine des Lkw, er sah seine Kinder aufwachsen und konnte die Abende mit seiner geliebten Leonie verbringen. Kai Wiesemann war zufrieden mit sich und seinem Leben. Alles verlief in geordneten Bahnen, und während Leonie sich halbtags im Büro der Eckernförder Tourist- und Marketing-GmbH etwas dazuverdiente, sicherte er mit seinem Einkommen den Unterhalt der Familie. Längst waren das kleine Haus in Borby nicht abbezahlt und ein ausgiebiger Auslandsurlaub nur selten möglich, doch sie hatten alles, was sie brauchten, um ein sorgenfreies Leben zu führen.
So drehte er auch heute seine Runden durch das noch verschlafene Eckernförde, betrachtete den Widerschein der orangefarbenen Rundumkennleuchte auf dem Führerhaus und summte ein Lied, da die Kehrmaschine nicht über ein Radio verfügte. Nachdem er die Hauptstraßen gereinigt hatte, rollte er im Schritttempo durch die engeren Nebenstraßen. Hier musste er sich konzentrieren, denn einige Zeitgenossen parkten ihre Autos so, dass er mit seinem schweren Arbeitsgerät kaum an ihnen vorbeikam. Doch heute war es eine ruhige Schicht. Nun bog er in ein Wohngebiet ein, das aus alten Mehrparteienhäusern bestand. Die Klinkerfassaden der Mietshäuser waren nachgedunkelt und wirkten unansehnlich. Nein, hier würde er nicht wohnen wollen. Doch auch in einer Kleinstadt wie Eckernförde musste es bezahlbaren Wohnraum geben. So wie hier.
Als Kai den Blick durch die große Windschutzscheibe nach vorn richtete, ging er kurz vom Gas. Zwei Gegenstände fielen ihm auf. Eine zerknüllte Zeitung flatterte im aufkommenden Wind, gleich daneben lag ein verwaister Schuh auf der Straße.
»Wer zum Geier verliert denn einen Schuh?«, fragte er sich halblaut und erkannte im Schein seines Arbeitsscheinwerfers einen dieser modernen Gummilatschen, die es in allen möglichen Farben gab. Dieses Exemplar war knallig pink und hatte offenbar einem Mädchen oder einer Frau gehört. Bevor Kai sich weitere Gedanken machen konnte, wurden Schuh und Zeitung von der großen rotierenden Bürste erfasst und landeten eine Sekunde später im Sammelbehälter der Kehrmaschine.
»Komische Sachen gibt’s«, murmelte Kai noch, dann hatte er den Zwischenfall schon wieder vergessen.
Als sie zu sich kam, spürte sie jeden Knochen. Sie spannte die Muskeln an und stöhnte unter den Schmerzen auf, die ihren Körper fast lähmten. Ihre Mundhöhle war wie ausgedörrt, und es dauerte einen Augenblick, bis sie registrierte, dass sie geknebelt war. Ihr Schädel dröhnte entsetzlich. Es schien, als würde ihr Kopf gleich explodieren. Jede noch so kleine Bewegung erzeugte höllische Qualen, also versuchte sie, sich ruhig zu verhalten.
Als sie die Augen öffnete, konnte sie nichts von ihrer Umgebung erkennen. Tiefe Dunkelheit umfing sie. Nur der muffige Geruch ließ sie vermuten, dass sie sich in einer Art Keller befand. Wieder spannte sie die Muskeln an, um sich aus ihrer unbequemen Lage zu befreien. Diesmal bereiteten ihr die höllischen Schmerzen Übelkeit. Erst jetzt realisierte sie, dass man sie gefesselt hatte. Hand- und Fußgelenke waren mit Stricken fixiert. Feuchte Kälte durchströmte ihren Körper. Langsam begriff sie, dass sie auf dem Steinboden lag. Das erklärte ihre Schmerzen, denn die unbequeme Haltung auf dem harten Untergrund ließ sie jeden Knochen spüren. Sie fühlte sich ausgemergelt und kraftlos, wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte.
Sie erschrak, als ein Schatten durch die Dunkelheit huschte, keine dreißig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Ein schrilles Piepsen drang an ihre Ohren.
Ratten, durchzuckte es sie panisch, man hat mich in ein verdammtes Rattenloch gesperrt.
Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz raste. Übelkeit und Schmerzen vermischten sich zu einem dumpfen Gefühl der Ohnmacht. Panik ergriff von ihr Besitz, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht nur die Orientierung, sondern auch die Erinnerung an die letzten Stunden verloren hatte. Lag das an dem höllischen Schmerz im Hinterkopf? Sie wusste weder, wer sie hierher gebracht hatte, noch, wo sie sich befand. Unter Schmerzen versuchte sie sich aufzurichten, denn man hatte sie auf den Bauch gelegt. Schnell gab sie den Versuch auf, nicht einmal eine halbe Drehung war drin. Zäh löste sich der Nebel ihrer Gedanken auf. Schimmelpilz an den Wänden verstärkte das Gefühl von Übelkeit, und so versuchte sie, möglichst flach zu atmen. In Todesangst richtete sie den Blick auf ihn.
Ich muss weg von hier, rief ihre innere Stimme immer wieder.
Ich muss weg von hier!
Gleichwohl hatte sie keine Vorstellung, wie ihr eine Flucht gelingen sollte, denn wer auch immer sie verschleppt hatte, er würde sie eingesperrt haben in ihrem Versteck. Vergeblich versuchte sie, sich an ihren Peiniger zu erinnern, doch in ihrem Kopf war nichts als eine unendliche Leere. Vermutlich hatte man sie mit Drogen außer Gefecht gesetzt, ihr irgendetwas eingeflößt, um sie wehrlos zu machen. Als sie den Kopf halb zur Seite wandte, bemerkte sie einen pulsierenden roten Punkt, der in der Luft zu schweben schien.
Eine Kamera, durchzuckte es sie. Man beobachtet mich mit einer verdammten Kamera. Sie fühlte sich nackt und ausgeliefert. Wer war so krank, ihr so etwas anzutun? Krampfhaft versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie hierher gelangt war. Doch in ihrem Kopf waberte ein großes Nichts, ein Nebel der Leere, der sie um den Verstand brachte. Wieder streifte ihr Blick das monoton blinkende Licht der Kamera. Noch während sie sich fragte, wer sie wohl beobachtete, hörte sie Schritte, die sich rasch näherten.
Jemand kommt, schrie alles in ihr. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, das Blut rauschte in ihren Ohren, während die Ohnmacht sie in den Wahnsinn zu treiben drohte. Obwohl sie klar bei Verstand war, fühlte es sich an, als würden die Gedanken zäh wie Kaugummi durch ihren Kopf fließen. Die Schritte näherten sich schnell, dann wurde ein Schlüssel in ein Schloss geschoben und gedreht. Knarrend öffnete sich eine Tür. Ein Licht schien aus dem Nichts heranzuschweben. Nach der Dunkelheit der letzten Stunden blinzelte sie in den Lichtschein, der jetzt direkt vor ihrem Gesicht herumgeisterte. Erst langsam begriff sie, dass es sich bei der Lichtquelle um eine alte Stalllaterne oder eine Sturmlampe handeln musste. Die Person, die sie trug, hielt das Licht an seinem Tragegriff in die Höhe. Leise quietschten die rostigen Scharniere des Griffes. Mit einem panischen Blick betrachtete sie die hoch gewachsene Gestalt hinter der Laterne, die sich nur als Umriss abzeichnete. Der Statur nach handelte es sich um einen Mann, er war groß und breitschultrig. Jetzt hielt er die Lampe so, dass sie einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Eine schrecklich verzerrte Miene in einem totenbleichen, wächsernen Antlitz ließ sie erschaudern. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, der leblose Mund war zu einem kalten Grinsen verzogen. Sein Atem ging rasselnd. Seine regungslose Miene hatte etwas Bedrohliches an sich. Wie ein Monster stand er da, um sie zu betrachten.
Nachdem sie den ersten Schrecken verarbeitet hatte, fiel ihr auf, dass der Unheimliche eine Plastikmaske trug, um seine Identität zu verbergen. Fieberhaft überlegte sie, wo sie eine derartige Maske schon einmal gesehen hatte.
Ich bin total hysterisch, schrie alles in ihr. Der feige Typ trägt eine verdammte Maske.
»Oh«, sagte er jetzt. »Habe ich dich erschreckt?« Seine Stimme klang hinter der Maske hohl und unheimlich. »Das wollte ich nicht.« Er lachte überheblich und ließ die Lampe sinken. Dabei fiel ihr auf, dass er schwarze Handschuhe trug. Jetzt konnte sie etwas von ihrer Umgebung erkennen. Sie befand sich in einem elenden Loch, das die Bezeichnung Keller nicht verdiente. Es gab kein Licht, die nackte Glühbirne an der niedrigen Decke schien nicht zu funktionieren. Jetzt sah sie auch die Kamera in der Ecke des Gewölbes. Sie stand auf einem Stativ. Das kleine Objektiv war auf sie gerichtet.
Da sie am Boden lag, erkannte sie nur seine schweren Stiefel und Beine, die in einer schwarzen Hose steckten.
»Du bist wach«, stellte der Mann mit tiefer Stimme fest. »Wie schön.« Seine Worte trieften von Spott.
»Dann können wir beginnen.« Er ging neben ihr in die Hocke, stellte die Laterne auf den Boden, griff sie an den Stricken, mit denen man sie verschnürt hatte wie ein Paket, und drehte sie brutal auf den Rücken. So gut es ging, versuchte sie ihn zu beobachten. Hinter ihr hantierte er mit einem Werkzeug herum, das sie an einen Lötkolben erinnerte.
Was zum Teufel hat er vor?, schrie alles in ihr.
Ein Lötkolben, dachte sie in Todesangst. Er hat einen verdammten Lötkolben. Sie hatte keine Vorstellung, was er vorhatte, und beobachtete gebannt, wie er das kleine Gerät einschaltete.
Der Typ ist krank.
»Einen Moment dauert es noch«, erklärte er wie ein Vater, der sein Kind um Geduld bittet. »Und dann machen wir dich schön.«
Sie schüttelte den Kopf, presste unartikulierte Laute in den Knebel und sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln, doch die Stricke hatten tiefe Wunden an Fuß- und Handgelenken hinterlassen. Der Schmerz war unerträglich, und schon nach wenigen Sekunden sackte sie erschöpft und geschunden in sich zusammen, musste wehrlos zusehen, wie er sein teuflisches Werk begann.
Inzwischen hatte der Lötkolben – oder was immer das Ding auch war – seine Betriebstemperatur erreicht, denn die kleine Spitze glühte tiefrot.
»Es kann beginnen.« Während er in der einen Hand das Gerät hielt, drehte er sie mit der freien Hand wieder auf den Bauch. Sie spannte die Muskeln an, versuchte vergeblich, sich zu wehren, und resignierte, als sie bemerkte, dass sie keine Chance hatte, ihm zu entkommen. Indessen zerrte er an ihrem T-Shirt herum, sie spürte seine Hände auf ihrer Haut und kämpfte gegen das Gefühl an, sich übergeben zu müssen. Brutal riss er das Oberteil hoch. Es war ihr nicht peinlich, dass sie keinen BH trug – sie hatte andere Sorgen.
Der Stoff des Shirts riss mit einem hässlichen Geräusch. Kurz schien er zu zögern, dann kniete er sich erbarmungslos auf ihren Rücken. »Jetzt solltest du dich nicht gegen das, was kommt, wehren«, empfahl er ihr. Im Augenwinkel sah sie, dass er den Lötkolben – oder was immer es auch war – auf ihren Körper senkte. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihren geschwächten Leib, als er mit dem Folterwerkzeug ihre Haut berührte. Sie schrie in den Knebel, sah Lichtblitze vor ihren Augen aufleuchten, konnte sich aber nicht gegen ihn wehren. Brutal trieb er die glühende Spitze in ihren Rücken. Es schien, als wolle er sie mit dem Gerät aufschlitzen. Ein leises Zischen ertönte. Schweißperlen traten auf ihre Stirn.
Sie wimmerte, presste Laute in den Knebel, versuchte erneut, sich zu wehren, und gab auf, denn er war ihr überlegen.
Der Schmerz breitete sich höllisch schnell aus, fraß sich in ihre Haut und schien sie zu zerreißen. Etwas zischte, dann kroch der Geruch von verbranntem Fleisch in ihre Nase. Es war ihr eigenes Fleisch, das verbrannte. Sie fand nicht die Zeit, sich zu fragen, was er tat, und gab sich der Qual hin. Unablässig trieb er das glühende Werkzeug in ihr Fleisch. Tränen schossen in ihre Augen und rannen auf den staubigen Boden, sie wand sich unter ihm und spürte, wie die Kraft sie verließ.
»Nicht wackeln«, zischte er und erhöhte den Druck. »Es soll doch schön werden.« Ihr blieb die Luft weg, wieder blitzten Lichtpunkte vor ihren Augen. »Wenn es schnell geht, fahren wir gleich noch ans Meer, also halte durch, ich will den Sonnenaufgang mit dir erleben.«
Ihr gesamter Körper schien ein einziger Schmerz zu sein, dann wurde sie von einer alles verschlingenden Ohnmacht umfangen. Die Dunkelheit, die sie umgab, empfand sie als unendliche Erleichterung. Der Druck auf ihrem Rücken ließ nach, ihr Körper fühlte sich federleicht an. Geräusche drangen wie durch Watte an ihre Ohren. Der Schmerz verwandelte sich in eine wohlige Wärme. Das Letzte, was sie hörte, war sein erleichterter Seufzer, als er von ihr abließ.
Der Spuk war vorbei.
War sie gestorben?
Campingplatz Steinberghaff, 6.35 Uhr:
»Geht schon mal raus zum Spielplatz«, brummte Jacob Köpper verschlafen, als er im vorderen Bereich des alten Wohnwagens leises Getuschel und kindliches Kichern vernahm. Jana und Julia, seine acht- und zehnjährigen Töchter, waren eben erwacht, während sich Janina schlafend an ihn schmiegte. Ihre Atemzüge waren gleichmäßig, er legte liebevoll einen Arm um sie und betrachtete sie. Im Schlaf wirkte ihr Gesicht sanft wie das eines Engels. Es war der erste Urlaub seit einigen Jahren, denn nachdem sie das Reihenhaus im holsteinischen Nahe, nördlich von Hamburg, gekauft hatten, war für ausgiebige Ferien kein Geld mehr vorhanden. Jacob, der seit seiner Kindheit seine Schulferien auf Campingplätzen verbracht hatte, war es bisher nicht gelungen, seine Frau vom einfachen Leben in einem Wohnwagen zu überzeugen.
Während Janina es liebte, sich rund um die Uhr in Hotels verwöhnen zu lassen, so genügte ihm das minimalistische Leben auf einem Campingplatz irgendwo im Norden. Er brauchte weder Wellness- noch Spa-Anwendungen, um sich entspannen zu können. Ihm reichte der stundenlange Ausblick über die Weite der See, um glücklich zu sein. Wenn es dann abends ein kühles Bier und eine heiße Wurst vom Grill gab, umso besser.
Janina sah das anders: Obwohl sie einen finanziellen Engpass durchlebten und sie sich eine teure Reise nicht leisten konnten, war ein verlängertes Wochenende auf dem Campingplatz kein Urlaub für sie. Irgendwann hatte sie dem Drängen ihres Mannes und dem Betteln der Kinder nachgegeben und schweren Herzens zugestimmt.
Jacobs Vater hatte ihnen seinen alten Wohnwagen geliehen, und so waren sie an die Ostsee gefahren, um hier ihr Lager aufzuschlagen.
»Es sind ja nur ein paar Tage«, hatte Jacob ihr vor Reiseantritt Mut zugesprochen. »Und ich kümmere mich jeden Tag um das Frühstück.« Die anfallenden Arbeiten wie das Leeren der Campingtoilette und den Wechsel von Gasflaschen sowie das Befüllen des Wassertanks waren ebenfalls seine Aufgaben, doch das machte ihm nichts aus. »Hauptsache, wir kommen mal raus«, hatte er noch gesagt. »Und für die Mädchen ist es auch schön auf dem Campingplatz.«
Zähneknirschend hatte Janina mit einem »Ich werd’s überleben« zugestimmt und von ihm im Gegenzug ein verlängertes kinderfreies Wochenende im Herbst in einem Wellness-Hotel eingefordert. Obwohl er sich nichts aus Sauna, Massagen und anderen Spa-Anwendungen machte, hatte Jacob eingewilligt.
Die Mädchen schoben gerade tuschelnd die Trennwände zum Schlafbereich der Eltern einen Spalt auseinander und lugten in das Heck des Wohnwagens. Ihre Haare waren strubbelig, die Schlafanzüge ein paar Nummern zu groß.
»Lasst Mama noch schlafen«, bat Jacob flüsternd und legte den Zeigefinger der rechten Hand auf die Lippen. »Wenn ihr mögt, könnt ihr zum Spielplatz, aber haltet euch vom Wasser fern.«
»Dürfen wir so raus?«, fragte Jana und zupfte an ihrem Pyjama herum.
»Auf gar keinen Fall«, entgegnete Jacob. »Ihr könnt die Jogginganzüge drüberziehen – und die Gummistiefel.«
»Ist gut«, nickte die zehnjährige Julia und gab ihrer jüngeren Schwester ein Zeichen. Die beiden zogen sich zurück, kicherten und waren wenig später verschwunden. Als sie die Wohnwagentür ins Schloss drückten, erwachte Janina.
»Was ist los?«, murmelte sie mit geschlossenen Augen.
»Nichts ist los«, versicherte Jacob und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir sind alleine.«
»Wie praktisch.« Jetzt blinzelte Janina zu ihm auf. Als er sich über sie beugte, erwiderte sie seine leidenschaftlichen Küsse, zog ihn dichter an sich heran und gab sich seinen Zärtlichkeiten hin. Schnell gewann Jacob den Eindruck, dass seine Frau zum ersten Mal in diesen Ferien völlig entspannt war.
Glücksburg, 7.10 Uhr:
Verschlafen blinzelte Jens Beck auf die Ziffern seines Weckers. Brummend wie eine wütende Hummel schob sich das Mobiltelefon über den Nachtschrank. »Nee, oder?«, murmelte er, als er sah, dass es sich um einen Notruf handelte. Der Leiter des Flensburger Kriminalkommissariates 1 schüttelte unwillig den Kopf, als er die Nummer der Dienststelle im Display sah. »Nicht heute.« Er hatte frei und warf seiner noch schlafenden Frau einen raschen Seitenblick zu, bevor er nach dem Telefon angelte, die Bettdecke fortstieß und barfuß und in Boxershorts das verdunkelte Schlafzimmer verließ.
Hannah hatte einen leichten Schlaf, und er wollte sie nicht wecken. Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass sie schlief. Seine Frau lag in embryonaler Haltung im Bett und hatte offenbar von dem Anruf nichts mitbekommen. So leise wie möglich zog Beck die Tür hinter sich zu und erklomm einen der Barhocker in der kleinen Küche, bevor er das Gespräch annahm.
»Ich weiß, du hast frei heute, aber es hat einen Leichenfund am Steinberghaff gegeben.«
Beck erkannte die Stimme von Max Paulsen. »Du hast Notdienst und schaffst das sicher alleine«, brummte er. »Informier das K6 und fahr hin, ich schicke dir Kristin.«
»Muss das sein?«
Beck stöhnte und fuhr sich mit der freien Hand durch die kurz geschorenen blonden Haare. Zu früher Stunde hatte er keine Lust auf die Machtspiele seines Mitarbeiters. Als Erster Kriminalhauptkommissar teilte er sein Team ein. Und er setzte große Hoffnungen auf die junge Kollegin aus Ostfriesland, die seit einiger Zeit beim K1 in Flensburg ihren Dienst zu seiner vollsten Zufriedenheit verrichtete. Kristin Voss verfügte über eine außergewöhnliche Auffassungs- und Kombinationsgabe. Beck klemmte sich das Telefon zwischen Wange und Schulter und schaltete das kleine Licht über der Arbeitsplatte ein, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Er machte sich nichts vor – mit dem Anruf des Kollegen war sein freier Tag gestrichen. Zwar wusste er noch nicht, wie er das Hannah beibringen konnte, doch sie war lange genug mit ihm verheiratet, um zu wissen, dass er immer losmusste, wenn es ein Gewaltverbrechen gab.
»Versteh mich nicht falsch, Max, aber ich werde Kristin mit der Leitung der Ermittlungen beauftragen. Punkt.«
Paulsen stöhnte auf. »Versteh mich nicht falsch«, äffte er den Ton seines Vorgesetzten nach, »aber ich werde den Verdacht nicht los, dass du das nur tust, weil sie Titten hat.«