Formbarkeit von Globalisierung - Bastian Linneweh-Kaçmaz - E-Book

Formbarkeit von Globalisierung E-Book

Bastian Linneweh-Kaçmaz

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Beschreibung

Der Handel mit Kautschuk nahm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts globale Dimensionen an. Zu Gummiprodukten weiterverarbeitet, hat dieser exotische Rohstoff eine enorme Bedeutung für moderne Gesellschaften und besitzt damit einen hohen strategischen Wert. Diese Studie befasst sich erstmals intensiv mit dem Wandel globaler Rohstoffmärkte in der Zwischenkriegszeit und stellt gängige Vorstellungen von De-Globalisierungsprozessen zur Diskussion: Langfristig führte im Wettstreit um die Versorgungssicherheit nicht autarkes Gedankengut zur Lösung, sondern die internationale Kooperation und Zusammenarbeit.

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Bastian Linneweh-Kaçmaz

Formbarkeit von Globalisierung

Kautschuk, Warenketten und Marktinterventionen (1900–1965)

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Der Handel mit Kautschuk nahm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts globale Dimensionen an. Zu Gummiprodukten weiterverarbeitet, hat dieser exotische Rohstoff eine enorme Bedeutung für moderne Gesellschaften und besitzt damit einen hohen strategischen Wert. Diese Studie befasst sich erstmals intensiv mit dem Wandel globaler Rohstoffmärkte in der Zwischenkriegszeit und stellt gängige Vorstellungen von De-Globalisierungsprozessen zur Diskussion: Langfristig führte im Wettstreit um die Versorgungssicherheit nicht autarkes Gedankengut zur Lösung, sondern die internationale Kooperation und Zusammenarbeit.

Vita

Bastian Linneweh-Kaçmaz, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Die Kautschukindustrie – Innovationen, Produkte und Nachfragestrukturen

I.

Teil: Warenketten des Kautschuks

1.1

Wildkautschuk

1.1.1

Die Ökonomie des Hevea brasiliensis-Baumes im Amazonasgebiet

Der Kautschuksammler »Seringueiro« im Amazonas. Produktionsprozess und Arbeitsorganisation

Der Zwischenhandel auf dem Amazonas. Abhängigkeiten und Kreditstrukturen

Der Kautschukhandel in Brasilien. Zwischenhändler und Exporteure

Die Kautschukmärkte in London und New York

1.1.2

Afrikanische Wildkautschukökonomien

O’Swald & Co. und die Warenkette des Wildkautschuks in Deutsch-Ostafrika

Konzessionsgesellschaften als alternative Warenkette des Wildkautschuks

Der Handel mit afrikanischem Kautschuk in Europa. Die kleineren Handelsplätze Hamburg und Antwerpen

1.2

Kultivierter Kautschuk

1.2.1

Plantagenkautschuk im Agency-System

Britische Händler und das Agency-System in der Kautschukplantagenwirtschaft

Die Kautschukplantage als Produktionsort. Aufbau, Kosten, Arbeiter und Organisation der tropischen Landwirtschaft

Märkte für Plantagenkautschuk und neue Handelspraktiken

1.2.2

Vertikale Integration von Verarbeitern

Probleme und Strategien bei der Integration von Plantagen. Goodyears Erfahrungen auf Sumatra

Performance der vertikalen Integration am Beispiel von Dunlop und Goodyear

1.2.3

Smallholder und andere Akteursgruppen

Smallholder als Kautschukproduzenten. Definition, Anreize und Anbaupraktiken

Die Rolle von einheimischen Zwischenhändlern in der Smallholder-Wirtschaft

Neue Marktplätze und Handelspraktiken in Südostasien

1.3

Synthetischer Kautschuk

Die Synthese der verschiedenen synthetischen Kautschuksorten und ihre Eigenschaften

Zentrale Faktoren für die Synthese. Debatten um die Versorgung am Beispiel der Hüls AG in 1950er Jahren

Das Verhältnis des Syntheseproduzenten zu den Verarbeitern, Händlern und die vertikale Integration

1.4

Resümee: Warenketten im globalen Kautschukmarkt

II.

Teil: Kräfte der Veränderung. Versuche, globale Warenketten zu steuern (1900-1945)

2.1

Imperiale Einflüsse in der Kautschukwirtschaft vor 1914

2.1.1

Von Brasilien nach Südostasien. Koloniale Maßnahmen beim Aufbau einer neuen Plantagenökonomie

Die Rolle von imperialen Institutionen im Transfer des Hevea brasiliensis nach Asien

Botanische Gärten als Zentren der Erforschung und der Vermittlung des landwirtschaftlichen Kautschukanbaus

Kolonialstaat, Landvergabe und Arbeitsmarkt in Britisch-Malaya

Unternehmer und Investoren als Treiber der wirtschaftlichen Integration in Britisch-Malaya

2.1.2

Kautschuk in den deutschen Kolonien. Vom Wildkautschuk zur Plantagenökonomie

Kautschuk in den deutschen Kolonien Afrikas. Natürliche Vorkommen und die Suche nach der »richtigen« Pflanze

Kautschuk in der Ära Dernburg. Der Wildkautschuksektor und die Arbeiterprobleme

Von der Wildkautschuk- zur Plantagenökonomie. Infrastrukturausbau, Kapitalgeber und die Professionalisierung der kolonialen Institutionen

2.1.3

Die Verschiebung des Markts. Reaktionen und Konflikte zwischen den Warenketten für Wild- und kultiviertem Kautschuk

Der Durchsetzungsprozess des Plantagenkautschuks

Brasilianische Markteingriffe und der »defensa a borracha« als Antwort auf den Plantagenkautschuk

Forderungen und Maßnahmen zur Lösung der »Kautschuk-Krisis« in den deutschen Kolonien

2.2

Globale Märkte kontrollieren: Staatliche Eingriffe im Kautschukmarkt der Zwischenkriegszeit

2.2.1

Reorganisation globaler Warenketten in Krieg und Frieden. Staatliche Eingriffe in die deutsche Kautschukwirtschaft 1914–1923

Von der Blockade zur Reorganisation der Warenketten in der deutschen Kautschukwirtschaft

Die neue Versorgung mit Kautschuk in der Kriegswirtschaft. Freier Einkauf, Beschlagnahmungen und das Kautschuk-Konsortium

Die Nutzung inländischer Vorkommen: Altgummi als Alternative zu neuem Kautschuk

Unternehmer und Staat in der Kriegswirtschaft. Motivationen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit

Vom Abbau der Kriegswirtschaft zum Aufbau der Außenhandelskontrolle

Konflikte und Probleme in der Außenhandelskontrolle von Kautschuk. Das neue Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft

2.2.2

Nationale Eingriffe in globalen Märkten. Die Stevenson-Restriktionen und ihre Reaktionen

Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die globale Kautschukwirtschaft

Die Probleme bleiben: Britische Überlegungen, in den Markt einzugreifen

Internationale Kooperation oder nationaler Alleingang? Der Weg zum Markteingriff

Die Stevenson-Restriktionen in den Warenketten des Kautschuks

»Rubber Nationalism« in den USA als Antwort auf den Markteingriff

Probleme in der Umsetzung des »Rubber Nationalism«

Neuer Wettbewerb im globalen Kautschukmarkt. Die Reaktion einheimischer Bauern in Südostasien auf die Regulierungen

Der britische Kampf um Kontrolle im Markt und das abrupte Ende der Stevenson-Restriktionen

2.2.3

Kontrolle durch internationale Kooperationen. Das »International Rubber Regulation Agreement«

Die Weltwirtschaftskrise im Kautschuk. Reaktionen der Produzenten auf den Nachfrageeinbruch

Diskussionen um einen internationalen Markteingriff: Die Verhandlungen zwischen den Pflanzerverbänden und den staatlichen Instanzen

Internationale Rohstoffabkommen als Lösung für Marktprobleme. Die World Economic Conference 1933 und die neuen Impulse für ein Kautschukabkommen

Das IRRA im globalen Kautschukmarkt: Internationale Zusammenarbeit und nationale Umsetzung

Konfliktfeld I: Die Regulierung der Kleinbauern in den niederländischen Kolonien

Konfliktfeld II: Das Verhältnis der USA zum IRRA

Konfliktfeld III: Die Verlängerung des IRRA und die Autonomie der kolonialen Gebiete

Das zweite IRRA und der Zweite Weltkrieg

2.3

Synthetischer Kautschuk als Substitut zwischen nationaler Wirtschaftspolitik und ökonomischen Realitäten

2.3.1

Methylkautschuk im Ersten Weltkrieg

Ein Markt für Synthesekautschuk? Die Erfahrungen der Bayer AG vor dem Ersten Weltkrieg

Substitute in der deutschen Kriegswirtschaft. Die Warenkette des Methylkautschuks

Eine Zukunft für den Methylkautschuk? Staatliche Autarkievorstellungen und unternehmerischer Protest

2.3.2

Substitute und Specialities am Markt und in der Heimat

Ein neues Substitut für den Kautschukmarkt. Die IG Farben und Continental bei der Erprobung von BUNA

Eine Marktnische für Spezialkautschuke. DuPonts Vermarktung von Duprene und die Reaktion der IG Farben

2.3.4

Staatliche Subventionen neuer Warenketten in Deutschland und den USA

Autarkieforderungen des NS-Staats für Kautschuk und die Rolle der IG Farben

Der Vierjahresplan und die deutsche Warenkette des synthetischen Kautschuks

BUNA als globaler Rohstoff? Das Engagement der IG Farben in den USA

Die Bedeutung und Expansion der Warenketten für Synthesekautschuk im Zweiten Weltkrieg

Die Warenkette des Synthesekautschuks in den USA. Staatliche Förderungen und privatwirtschaftliche Interesse

Der Zwang zum Substitut. Die japanische Eroberung Südostasiens und die Ausweitung der staatlichen Syntheseindustrie

Globalisierungsprozesse im Zweiten Weltkrieg? Die globalen Versorgungssysteme der deutschen und alliierten Kriegswirtschaften mit Kautschuk

2.4

Resümee: Nationen und globale Warenketten

III.

Teil: Globale Kooperationen und nationale Strategien. Kautschuk nach dem Zweiten Weltkrieg

3.1

Globale Steuerung: Die International Rubber Study Group und die neuen Probleme in der Ökonomie des Kautschuks

Globale Marktregulierung oder freier Wettbewerb? Britische Diskussionen über die Zukunft des IRRA-Abkommens

IRRA-Reform oder Ende? Globale Pläne für die Neuordnung des Kautschukmarkts

Die britische Strategie des »Cheap Rubber« als Grundlage für den Kautschukmarkt der Nachkriegszeit

Die Rubber Study Group als neue Plattform des Austauschs im globalen Kautschukmarkt

Der verzögerte Überschuss. Probleme beim Wiederaufbau der Naturkautschukwirtschaft

Ein neuer Kautschukboom? Das Nachfragewachstum in der Nachkriegszeit

3.2

Staatliche Kontrollen und globale Märkte. Der synthetische Kautschuk in der Nachkriegszeit

Das Inter-Agency Policy Committee on Rubber und die Suche nach einer »Rubber Policy« in den USA

Internationaler Druck auf die US-Kautschukpolitik. Ein neues internationales Kautschukabkommen als Antwort auf den »Rubber Act« von 1948

Der Korea-Krieg und das Ende des »cheap rubber«

Die Ottawa-Konferenz 1952 und die neuen Verhandlungen um ein internationales Kautschukabkommen

Privatisierung oder internationales Abkommen. Der Weg zum freien Markt der Nachkriegszeit

Synthesekautschuk in der frühen Bundesrepublik. Die alte BUNA-Technologie und der gesetzliche Preisausgleich

Eine neue Syntheseanlage für die Bundesrepublik. Staatliche Hilfen und privatwirtschaftliche Lösungen

Die Expansion der Syntheseindustrie ab Mitte der 1950er Jahre

3.3

Dekolonisation, Smallholder und der neue globale Kautschukmarkt

Die Probleme im malaiischen Naturkautschuksektor: Benachteiligung der Kleinbauern, Produktivität und politische Unruhen

Staatliche Fördermaßnahmen in der Kautschukwirtschaft Malaysias

Der Übergang zur modernen Warenkette des Naturkautschuks

Die Bedeutung der IRSG für den Naturkautschuksektor

Staatliche Probleme und neue Wettbewerber: Andere Produzentenländer im globalen Naturkautschukmarkt

3.4

Resümee: Der Weg zur neuen Marktkonstellation

Fazit und Schlussbetrachtung

Anhang

Abkürzungen

Dank

Quellen und Literatur

Archivalische Quellen

Archival Services, University of Akron, Akron Ohio (UAA)

Bayer Archiv Leverkusen (BAL)

Bundesarchiv (BArch) Berlin

Bundesarchiv (BArch) Koblenz

Evonik Industries Archives (EIA)

London Metropolitan Archives (LMA)

Staatsarchiv Hamburg (StAHH)

The National Archives, London (TNA)

The National Archives, Washington (NARA)

Gedruckte Quellen

Zeitungen und Zeitschriften

Literatur

Abbildungen

Tabellen

Register

Einleitung

Das Konzept der Globalisierung schien wie kaum ein anderes Paradigma die Entwicklung der Welt im beginnenden 21. Jahrhundert erklären zu können. Doch der Glaube an die ständig zunehmende Integration globaler Märkte, an die kulturelle Homogenisierung und allgegenwärtige Kommunikation bekam bereits mit der Finanzkrise von 2008 erste Risse. Seitdem sind Experten unsicher, ob sich die Globalisierung weiter fortsetzen werde oder sich bereits ein Zeitalter der »De-Globalisierung« am Horizont abzeichne.1 Mit der weltweiten Covid-Pandemie und den Sanktionen gegenüber Russland nach der Invasion der Ukraine hat sich diese Sichtweise verhärtet, und in immer mehr Artikeln wird von einem »Ende der Globalisierung« gesprochen.2

Die Abhängigkeit und Verwundbarkeit von globalen Lieferketten, die Verbraucher anhand der steigenden Inflation und an den Energiepreisen spüren, führen aber auch in der Politik zu einer neuen Bewertung von Globalisierung. Schnell verstärkten sich daher die Debatten um die Renationalisierung wichtiger Produktionszweige.3 Daten spiegeln diese Entwicklung ebenfalls wider. Der Handel zwischen den Kontinenten, der in den 2010er Jahren bereits zunehmend stagnierte, ging nun massiv zurück.4 Dennoch bleibt die Frage offen, ob und wie sich die Globalität der Welt in den folgenden Jahren verändern wird.

In der gesamten Diskussion bleibt dabei der Begriff der »De-Globalisierung« überaus schwammig. Obwohl besonders ökonomische Faktoren als Indikatoren für das Ende der Globalisierung genutzt werden, kommt politischen Maßnahmen mittlerweile eine ebenso große Bedeutung zu. Diese zielen und zielten aber nicht unbedingt auf ein Ende globaler Verflechtungen ab. Stattdessen kämpften viele Politiker5 um Kontrolle in der globalisierten Welt.6 Ein zentrales Ziel politischer Maßnahmen lag in der Steuerung von Wertschöpfungsketten. Ein zuvor unbekanntes Maß an globalem Wettbewerb beschleunigte die Globalisierung seit den 1980er Jahren und revolutionierte die Strukturen in zahlreichen Branchen. Unternehmen nutzten Standortvorteile in der ganzen Welt, um Kosten zu sparen. Politische Eingriffe in Wertschöpfungsketten, wie sie beispielsweise der US-Präsident Donald Trump in seiner Amtszeit mit der Verhängung von Strafzöllen umsetzte, sollten diesen Wettbewerb aufhalten und inländische Akteure stärken.7 In der EU dagegen suchen die Mitgliedsländer gegenwärtig nach Möglichkeiten, sich vom russischen Gas zu lösen, und versuchen dafür ebenfalls die Wertschöpfungsketten umzulenken.8

Politische Entscheidungen bestimmen damit über die Zukunft der Globalisierung. Eingriffe in die globale Wirtschaft sind aber keine grundsätzlich neue Erscheinung des 21. Jahrhunderts. In der Zwischenkriegszeit waren Diskussionen gerade über Abhängigkeiten zentraler Rohstoffe ebenso präsent. Einer dieser Rohstoffe war Kautschuk. Ursprünglich aus wildwachsenden Pflanzen und Bäumen in Lateinamerika und dem tropischen Afrika gewonnen, hatte sich Südostasien mit einer von britischem Kapital dominierten Plantagenindustrie zum Produktionszentrum entwickelt. Schnell bemerkten viele industrialisierte Nationen ihre Abhängigkeit von dem Stoff, allen voran die USA mit ihrer expandierenden Automobilindustrie. Forderungen nach einem rubber nationalism unter dem Motto »America should grow its own rubber« infolge britischer Marktrestriktionen setzten sich jedoch nicht durch, da die Unternehmen weiterhin auf die Wohlfahrtsgewinne aus der globalen Arbeitsteilung setzten.9 Im Zweiten Weltkrieg musste US-Präsident Franklin D. Roosevelt nach der japanischen Besetzung Südostasien einsehen, dass »[…] modern wars cannot be won without rubber«.10 Öffentlich rief er seine Landleute dazu auf, Kautschuk einzusparen und den Verbrauch zu senken. Den staatlichen Planern in Deutschland war die Abhängigkeit von Kautschuk bereits im Ersten Weltkrieg aufgefallen, und so stellte der Rohstoff im NS-Staat einen zentralen Faktor für die propagierte Autarkie dar. Das Deutsche Reich zählte zu einem Vorreiter in der Entwicklung des synthetischen Kautschuks und subventionierte eine neue Wertschöpfungskette, um sich vom globalen Markt zu lösen.11

Anhand dieser kurzen Episode wird bereits deutlich, wie stark die Zwischenkriegszeit von diesen Konflikten um Versorgungssicherheit und Wohlfahrtsgewinne in globalen Märkten gekennzeichnet war. Dennoch bleiben einige Fragen offen: Zu welchen Ergebnissen haben diese Eingriffe in den globalen Markt geführt? Welche Praktiken nutzten Akteure, um Kontrolle in den Wertschöpfungsketten auszuüben, und welchen Einfluss hatte dies wiederum auf die Globalisierung? Folgte auf staatliche Interventionen stets eine Phase nachlassender globaler Kräfte, wie heutige Medien suggerieren, oder stabilisierten die Auseinandersetzungen sogar globale Verflechtungen? Das vorliegende Buch nähert sich diesen Fragen anhand der Veränderungen der Wertschöpfungsketten am konkreten Gegenstand des globalen Markts für Kautschuk.

Ausgehend von den historischen Erklärungsmodellen der Globalisierung werden im folgenden Abschnitt zunächst die bisherigen theoretischen Erkenntnisse über eine Trennung zwischen Globalisierung und »De-Globalisierung« wiedergegeben. Im darauffolgenden Abschnitt wird der methodische Zugriff auf den globalen Markt als Untersuchungsgegenstand über die Analyse von Waren- und Wertschöpfungsketten begründet. Der dritte Abschnitt setzt sich genauer mit dem Fallbeispiel Kautschuk auseinander, bevor abschließend die Gliederung der Studie erläutert wird.

Globalisierung und De-Globalisierung in historischer Perspektive

Globalisierung bleibt selbst nach Jahrzehnten intensiver Debatten in unterschiedlichsten Disziplinen ein höchst umstrittener Begriff. Soziologen begannen in den 1980er Jahren mit diesem Wort, ein neues Zeitalter zu beschreiben.12 Die zunehmenden Verflechtungen mittels Telekommunikation und Containerisierung sowie die steigende Macht multinationaler Konzerne waren Ausdruck dieser neuen Epoche. Dabei prognostizierten viele soziologische Studien das Ende von Nationalstaaten. Diese würden zusehends an Macht verlieren, da sich Konzerne ihrem Zugriff entzögen. Gleichzeitig führe der Einfluss der Unternehmen zu einer kulturellen Vereinheitlichung der Welt. Begleitet werde diese Veränderung von einem technologischen Fortschritt, der die Kompression von Raum und Zeit verstärke und das Leben aller Menschen beeinflusse.13

Nicht ganz so weit gingen Ökonomen, die die Zunahme globaler Verflechtungen seit den 1980er Jahren ebenfalls als neuen Forschungsgegenstand entdeckten. Wirtschaftliche Globalisierung ließ sich vor allem in der Analyse der Interaktion multinationaler Unternehmen nachvollziehen, die ihre Geschäftsmodelle mit dem neuen Grad an Internationalisierung veränderten.14 Volkswirtschaftliche Studien begründeten das immense Wachstum des globalen Handels mit der anhaltenden Welle an Deregulierungs- und Liberalisierungsschritten in den 1980er Jahren.15

Die Geschichtswissenschaft zeigte sich ebenfalls offen für das neue analytische Leitkonzept, positionierte sich aber kritisch. Erste Studien zur Weltwirtschaft bestätigten weder die Einmaligkeit von Globalisierung noch deren Unaufhaltsamkeit. Stattdessen weisen auch andere historische Zeiträume eine Zunahme an globaler Vernetzung auf. Besonders für das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg sind sich Wirtschaftshistoriker einig, dass zahlreiche Parameter wie der internationale Handel, die Auslandsinvestitionen oder die Migrationsströme ähnliche Wachstumsmuster wie die zeitgenössische Globalisierung aufweisen.16 Der Erste Weltkrieg beendete diese Phase globaler Verflechtungen, sodass Historiker die teilweise behauptete Linearität des Globalisierungsprozesses damit klar entkräften.17 Obwohl auch in der Vormoderne globalisierende Prozesse auftraten, wird die Geschichte der modernen Globalisierung bislang in drei Phasen unterteilt.18 Ein erster Schub schuf zwischen 1860 und 1914 eine Weltwirtschaft, die aber in der anschließenden Periode der »De-Globalisierung« wieder auseinanderdriftete, bevor in den 1980er Jahren ein weiterer Schub die gegenwärtig globalen Strukturen hervorbrachte.

Eine stärkere Diskussion der Phase zwischen den beiden Globalisierungsschüben ist bis heute überraschenderweise ausgeblieben. Weder existieren feste zeitliche Periodisierungen der »De-Globalisierung« noch einheitliche Abgrenzungen, welche Faktoren die Phasen voneinander unterscheiden. Zwei analytische Probleme sind hierfür verantwortlich: zum einen der methodische Zugang und zum anderen das Fehlen einheitlicher Definitionen. Wie sich dies auswirkt, wird am Beispiel der Periodisierung deutlich. Ökonometrisch arbeitende Wirtschaftshistoriker setzen den Einschnitt für die Phase der »De-Globalisierung« basierend auf den vorliegenden Daten zum globalen Handel zwischen 1914 und 1945.19 Unternehmenshistoriker wie Geoffrey Jones verweisen dagegen auf die zunehmenden Verflechtungen von Konzernen in den 1920er Jahren, sodass für sie erst die Weltwirtschaftskrise von 1929 eine Zäsur darstellt.20 Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel hingegen sieht bereits ab den 1880er Jahren einen Wandel, den er als »Politisierung der Globalisierung« bezeichnet.21

Diesen Interpretationen liegen dabei unterschiedliche Definitionsmodelle von Globalisierung zu Grunde, die verbunden mit dem methodischen Zugang durchaus verschiedene Vorstellungen von »De-Globalisierung« hinterlassen. Ökonometriker konzentrieren sich auf die Zunahmen im weltweiten Handel, auf grenzüberschreitende Investitionen und Preiskonvergenzen auf den Marktplätzen. Sinkende Werte und divergierende Daten sind daher klare Indikatoren für eine »De-Globalisierung«. Diese lassen sich besonders in der Zwischenkriegszeit nachweisen.22 Geoffrey Jones setzt sich hingegen mit Unternehmen als zentrale Akteure der Globalisierung auseinander. Anreize für Tätigkeiten oder Investitionen in anderen Ländern sind Faktoren, die eine Zunahme der globalen Verflechtungen zur Folge haben.23»De-Globalisierung« tritt dem folgend bei einem politischen oder wirtschaftlichen Rückzug aus bestimmten Regionen auf.

Definitionen, die sich von den wirtschaftlichen Dimensionen lösen, ermöglichen es, globale Verbindungen auch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erkennen. Für Jürgen Osterhammel und Niels Petersson spielen deshalb »die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen eine zentrale Rolle« bei der Erforschung der Globalisierung.24 Die Beziehungen müssen dabei nicht wirtschaftlichen Ursprungs sein, sondern können ebenso kulturelle oder soziale Verflechtungen ausdrücken. Ein Rückgang oder gar Abbruch von Beziehungen im Sinne einer »De-Globalisierung« würden sich damit auf zahlreichen Ebenen nachweisen lassen, ohne dass sich dies in Daten oder der Arbeit von Unternehmen zeigt. Gleichzeitig verschwimmen dadurch aber auch die Grenzen, die den Unterschied zwischen zunehmender und abnehmender Globalisierung markieren. Zusammengefasst erschweren die verschiedenen Definitionsmodelle und methodischen Zugänge eine klare Unterscheidung zwischen Globalisierung und »De-Globalisierung«.

Neue Impulse verspricht daher die Analyse der vornehmlich als »De-Globalisierungsphase« bezeichneten Zwischenkriegszeit, wie Gabriele Lingelbach erst kürzlich festhielt. Bisher beschäftigten sich Globalhistoriker mit den zunehmenden Verflechtungen und nicht der Entflechtung, sodass eine Vielzahl an Studien 1914 endet.25 Die Untersuchung der Veränderung von Globalisierung in der Zwischenkriegszeit blieb bislang weitgehend aus.26 Erste Studien, die von diesen Paradigmen abwichen, kamen dabei zu interessanten Befunden und stellen die bisherige Periodisierung zur Diskussion. Dazu zählt Michael Millers Untersuchung zur maritimen Welt und Europa.27 Seine Definition der Globalisierung verfolgt weniger den Prozess der Marktintegration, sondern vielmehr die Intensität globaler Verflechtung der maritimen Akteure wie Händler, Reeder oder Spediteure. Handel und Transport bilden dabei überlappende Netzwerke, die mitnichten in der Zwischenkriegszeit auseinanderbrachen, sondern sich in vielen Fällen »nur« von Europa weg verschoben.28 Eine »Ent-Europäisierung« der globalen Verbindungen konnte auch in anderen Studien belegt werden.29 So zeigt Adam McKeown für den Bereich der Migration, dass Asien in der Zwischenkriegszeit eine weiterhin anhaltende Dynamik entfaltete, während die europäische Massenmigration über den Atlantik spätestens mit dem Ersten Weltkrieg endete.30 Überspitzt gesagt könnte die bisherige Diagnose einer klaren ersten De-Globalisierungsphase vor allem auf eine zu eurozentristische Perspektive zurückgehen.

Die Zwischenkriegszeit bleibt aber mit ihren divergierenden Entwicklungen gerade in der globalen Wirtschaft überaus widersprüchlich. Auch in Europa bildeten sich neue Institutionen heraus, die globale Interaktionen aufbauten.31 Der Völkerbund ist ein Beispiel dafür. Christof Dejung und Niels Petersson kommen zu der Schlussfolgerung, dass der internationale Austausch über den Strom an Waren zwischen Nationalstaaten hinausgeht und ein komplexes institutionelles Netz an Verflechtungen aufweist. Staaten und Unternehmen suchten dabei nach dem Ersten Weltkrieg neue Möglichkeiten, um in der globalen Welt zu agieren.32 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Jan-Otmar Hesse zur Weimarer Republik. Hesse neigt bei einem ersten Blick auf die Wertschöpfungsketten dazu, nicht von einer »De-Globalisierung« zu sprechen, sondern lediglich von einem Formwandel der Globalisierung, der durch die politischen Rahmenbedingungen beeinflusst wurde.33 Peter Fäßler stellt sogar fest, dass sich die derzeitigen Vorstellungen von »De-Globalisierung« nur auf konjunkturabhängige Marktindikatoren konzentrieren und weniger die eigentlichen Veränderungen innerhalb des Prozesses der Globalisierung behandeln.34 Die Analyse der Veränderung der Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit darf sich somit nicht nur auf die Marktindikatoren beziehen, sondern muss auch andere Verbindungen zwischen den Akteuren berücksichtigen.

Eine Untersuchung der globalen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit muss daher folgende Perspektiven beachten. Erstens darf sich die Untersuchung nicht nur auf die Analyse klassischer Außenhandelsindikatoren beziehen, sondern muss auch andere Arten globaler Verbindung rekonstruieren, um den Wandel zu fassen.35 Die Studie stützt sich deshalb nicht nur auf das Wirken von Wirtschaftsakteuren und Unternehmen, sondern sucht darüber hinaus nach Belegen, ob die von Osterhammel und Petersson genannte Ausweitung, Verdichtung oder Beschleunigung von weltweiten Beziehungen auch im De-Globalisierungszeitraum in anderer Form zu finden sind.36

Zweitens lohnt sich die Analyse eines konkreten globalen Markts, um die Veränderungen im Globalisierungsprozess aufzudecken. Dafür wird das Fallbeispiel des Kautschukmarkts genutzt. Die starke Verflechtung der Welt im Kautschuksektor mit seinen vor allem im globalen Süden bestehenden Produktionsregionen und den fehlenden Alternativen zum Rohstoff führten zwangsläufig zu einem Austragen der Konflikte im globalen Raum. Trotz kurzer Rückgänge steigerte sich der Verbrauch von Kautschuk über die Zwischenkriegszeit hinweg massiv, von knapp 50.000 t im Jahr 1900 auf über 4,4 Mio. t im Jahr 1960.37 Ein Formwandel der Globalisierung lässt sich hierbei an den sich verändernden Strukturen in der Kautschukwirtschaft ablesen, die trotz einer kontinuierlich bestehenden Nachfrage auftraten.38 Über die globalen Märkte lassen sich zudem die politische Eingriffe und die Debatten über nationale Kontrolle rekonstruieren, um die Entstehung der »De-Globalisierung« kritisch zu hinterfragen. Anknüpfen lässt sich an zahlreiche Studien für die Zeit vor 1914. So verweist Alexander Engel auf die Facetten der Analyse eines globalen Markts mit seiner Studie zu den Farbstoffmärkten.39 Doch während Engel den Schwerpunkt auf die Bereiche Wissen, Preise und Institutionen legt, fragt die vorliegende Untersuchung nach dem anschließenden Wandel, der sich in den Märkten durch politische oder wirtschaftliche Maßnahmen ergab.40

Drittens muss sich eine solche Untersuchung auf das Handeln der Marktakteure beziehen. An ihnen lässt sich der Wandel der Beziehungen rekonstruieren. Veränderungen oder Verschiebungen eröffnen dabei einen Einblick, an welchen Stellen Kennzeichen nachlassender Globalisierung auftreten und welche Praktiken sie nutzen, um diesen zu begegnen. Marktakteure sind nicht nur Unternehmen, Arbeiter, Händler oder Konsumenten, sondern auch Staaten.41

Viertens muss der Untersuchungszeitraum über die Zwischenkriegszeit hinausgehen. Wie im Fall des Kautschuks bereits angedeutet, endeten die globalen Konflikte um den Rohstoff nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Außerdem entstanden Abhängigkeiten nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg. Um diese Prozesse miteinzubeziehen, wird der Untersuchungszeitraum von 1900 bis in die 1960er Jahre reichen. Damit kann zunächst die Entstehung des globalen Kautschukmarkts analysiert werden, um anschließend die Veränderungen der Zwischenkriegszeit zu untersuchen. Weiterhin kann so auch die Eingliederung des synthetischen Kautschuks als ein Produkt des Zweiten Weltkriegs nachvollzogen werden.

An diesen vier grundlegenden Überlegungen orientiert sich die weitere Untersuchung. Als methodischen Zugriff zur Beantwortung der anfangs gestellten Leitfragen wählt das Buch einen akteurszentrierten Zugang mit der Analyse von Waren- bzw. Wertschöpfungsketten. Mit diesem lässt sich nicht nur die Unternehmensperspektive in globalen Märkten nachvollziehen, sondern ebenso Entwicklungen, die über nationalstaatliche Logiken hinausgehen.42 Allerdings müssen für das Fallbeispiel einige Modifikationen in der Warenkettenanalyse vorgenommen werden, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden.

Warenketten und globale Märkte als methodischer Ansatz

Der methodische Zugriff auf globale Industrien und Märkte mithilfe von Produkt- oder Rohstoffanalysen gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der Globalisierungsforschung.43 Ursprünglich diente dieser Ansatz der Erklärung von Systematiken innerhalb der Weltsystemtheorie.44 Bereits in den 1980er Jahren beschrieben Immanuel Wallerstein und Terence Hopkins den Begriff der »Commodity Chain« als »a network of labor and production processes, whose end result in a finished commodity«.45 Eingebettet in das Denken der Weltsystemtheorie, ist die Warenkette eine Möglichkeit, die internationale Arbeitsteilung zwischen dem Zentrum und der Peripherie abzulesen. Laut Wallerstein war das Weltsystem von einem Verhältnis der Ausbeutung zwischen dem Zentrum und der Peripherie bestimmt. So bedienten sich europäische Länder an der Arbeitskraft und den Ressourcen aus Lateinamerika und Afrika, um ihren Wohlstand zu vermehren. In den Warenketten lassen sich diese Ungleichheiten zwischen verschiedenen Teilen der Welt ablesen und in den Abschnitten von der Produktion bis zum Konsum wiedergeben. Für Wallerstein bestätigen Praktiken wie die Sklaverei die Thesen eines Weltsystems, das auf einer Ausbeutung der Peripherie beruht.46 Kritiker werfen dem Ansatz aber einen ökonomischen Determinismus vor. So handeln nach Wallersteins Systematik alle Staaten oder wirtschaftlichen Akteure nach ökonomischen Zwängen und brechen nur selten, wie in Krisenzeiten, aus den festgelegten Mustern aus. Die Warenkettenanalyse verspricht aus dieser Perspektive nur wenig neue Erkenntnisse, sondern reproduziert diesen Determinismus lediglich.47

Erst eine Dekade später entstanden neue Impulse für den methodischen Zugriff. Die Globalisierung hatte in den 1990er Jahren zu einer weitverbreiteten Arbeitsteilung in verschiedenen Weltregionen geführt. Unternehmen entwickelten sich mit Praktiken wie Outsourcing und der Verlagerung von Produktionsprozessen ins Ausland zu komplexen, multinationalen Konzernen. Neue Organisationsformen waren notwendig, um Kontrolle in den verschiedenen Teilen der Welt auszuüben. Der Soziologe Gary Gereffi entwickelte vor diesem Hintergrund eine modifizierte Methode der Untersuchung von Warenketten, die er als »Global Commodity Chains« (GCC) bezeichnete.48 Der Ansatz löste sich in zahlreichen Punkten von der Weltsystemtheorie. Stehen bei Wallerstein und Hopkins historische Entwicklungen im Zentrum, konzentrieren sich GCCs auf Phänomene des gegenwärtigen, globalisierten Kapitalismus.49 Dabei ergaben sich für Gereffi und Korzeniewicz drei wichtige Untersuchungsebenen innerhalb der Warenketten: die In- und Output-Struktur der Kette, die territoriale Konfiguration und die Governance-Formen. Hierarchien bilden zwar weiterhin einen Schwerpunkt in den Untersuchungen, doch müssen diese nicht ausschließlich von Ausbeutung und Ungleichheit geprägt sein. Mit dem Blick auf die Organisation moderner Unternehmen stellt sich die Frage, wie es führenden Firmen (bei Gereffi »Chaindriver« genannt) neben den klassischen Methoden von horizontaler und vertikaler Integration gelang, Kontrolle entlang dieser Abschnitte zu entfalten und Wertschöpfung zu betreiben.50 Die Kette verbindet dabei nicht nur die einzelnen Akteure innerhalb ihres eigenen Raumes, sondern sie stellt gleichzeitig über eine Kombination von Mikro- und Makroebenen einen Bezug zum Weltmarkt her.51

Diese Emanzipation von der Weltsystemtheorie erleichtert die historische Analyse. Für die Untersuchung von globalen Verbindungen bietet der GCC-Ansatz eine sinnvolle Alternative zu anderen Methoden der Globalgeschichte, die sich schwertaten, Globalität zwischen den handelnden Akteuren zu konkretisieren. Die Ware lässt sich leicht als verbindendes Element zwischen den beteiligten Personengruppen nutzen. So stellt sie eine Beziehung von Menschen in verschiedenen Abschnitten der Warenkette und der Welt her – von den Produzenten über den Handel bis hin zum Konsumenten. Für Globalhistoriker, so Bernd-Stefan Grewe, ergibt sich damit eine Art »Königsweg« für die Analyse.52 Vorteile liegen besonders in der linearen Darstellungsweise der Kette. Über die Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren lassen sich zudem Abhängigkeitsverhältnisse in verschiedene Richtungen wiedergeben. Neben der Verbindung von lokaler und globaler Ebene erblickt Grewe auch in der Offenheit gegenüber kulturwissenschaftlichen Interpretationen eine große Stärke der Warenkettenanalyse. Die primär auf wirtschaftliche Verhältnisse abzielende Methode kann deswegen auch dazu dienen, breitere gesellschaftliche Veränderungsprozesse wiederzugeben.53 Für Steven Topik und Allen Wells gelingt es bei der Analyse globaler Märkte ebenfalls, die Vorstellung eines allumfassenden Markts infrage zu stellen und die verschiedenen einzelnen Segmente der Konstrukte zu zeigen.54

Doch der »Königsweg« ist auch mit einigen Nachteilen verbunden. So verbleiben in den Betrachtungen von GCCs weiterhin Systematiken der Weltsystemanalyse erhalten. Die historische Analyse führt in zahlreichen Industriesparten unweigerlich dazu, dass zwischen einer rohstoffproduzierenden Peripherie und einem konsumierenden Zentrum unterschieden wird, bei denen einige Akteure nur eine reagierende Rolle aufweisen. Eurozentrismus wird somit unbeabsichtigt reproduziert, obwohl die Analyse oft das Gegenteil erreichen will.55 Die Linearität der Kette verbirgt teilweise Konkurrenzsituationen, die parallel zur Kette verlaufen. Auch die Darstellung von Marktwissen, einer zentralen Komponente des Handels, lässt sich nur schwer integrieren. Gleiches gilt für informelle Praktiken innerhalb von Warenketten oder deren Scheitern.56

Die Weiterentwicklung der Kettenanalyse ist aber noch nicht beendet, wie Jennifer Bair mehrfach betont hat.57 Besonders in drei Bereichen sieht sie weiterhin Diskussionsbedarf, der auch für die historische Analyse eine Rolle spielt.58 Diese sind die Operationalisierbarkeit der Warenketten, die Unterscheidung von Governance-Formen und die soziologischen sowie politischen Konsequenzen aus der Erforschung der Ketten. Ersteres zielt auf die Reichweite der analysierten Netzwerke ab. In einer Untersuchung können diese überaus variabel gehandhabt werden. Eine zu starke Konzentration auf den Untersuchungsgegenstand kann den Blick auf andere Faktoren verschließen, die Einfluss auf die Kette haben. Auf der anderen Seite führt aber ein zu laxer Umgang mit der »Hauptkette« zur Vernachlässigung ihrer zentralen Strukturen.59 Zudem kann der globale Einfluss bei einigen Ketten kritisch hinterfragt werden, wenn ein Großteil der Einzelaspekte nur in nationalen Räumen abläuft.60

Im Hinblick auf die Analyse von Veränderungen in globalen Märkten konzentrieren sich viele Studien bisher nur auf einzelne, führende Unternehmen, von denen aus die Kette entlang der Partner, der Zulieferer und der anderen Verbindungen rekonstruiert wird. Globale Märkte weisen aber oft eine große Vielfalt an Ketten auf. So konstruieren beispielsweise Automobilhersteller ihre Supply Chains (Lieferketten) sehr individuell nach Kriterien, die von kulturellen Unterschieden und ihrer historischen Entwicklung geprägt sind.61 Bei der Analyse von Märkten müssen daher auch mögliche Varianten der Ketten einbezogen werden. Im Idealfall sollte auf mehrere Fallbeispiele zurückgegriffen werden, um die Komplexität eines globalen Markts auszudrücken. Mit dieser Ausrichtung können zudem auch Veränderungen innerhalb verschiedener Ketten in dem gleichen Markt in Beziehung zueinander gesetzt werden.62

Dies ist gerade beim Fallbeispiel des Kautschuks mit seinen unterschiedlichen Produktionssystemen zentral. Bis in die 1910er Jahre versorgte eine, auf wildwachsenden Bäumen beruhende extraktive Ökonomie die Fabriken des industrialisierten Nordens. Schwerpunkte lagen vor allem in Brasilien und in den europäischen Kolonien im tropischen Afrika wie dem Kongo, aber auch in den deutschen Kolonien Kamerun, Togo und Ostafrika. Danach stellte der landwirtschaftlich geprägte Anbau von Kautschukbäumen auf Plantagen oder von Kleinbauern die wichtigste Quelle für Naturkautschuk dar. Führend waren hierbei die europäischen Kolonien in Britisch-Malaya, Niederländisch-Ostindien und auf Ceylon, wobei sich auch im französischen Indochina, Siam und einigen Gebieten Indiens und Afrikas dieser Wirtschaftszweig herausbildete. In der Zwischenkriegszeit arbeiteten einige Unternehmen an der Erzeugung von synthetischem Kautschuk, der vor allem in den USA und dem Deutschen Reich auf den Markt drängte. Diese unterschiedlichen Produktionsweisen lassen sich nur schwer in einer einzigen Warenkette zusammenfassen, weshalb die Untersuchung verschiedenen Ketten folgen wird.

Diese Konstellation knüpft auch an Bairs zweiten Kritikpunkt an, nämlich die Debatten über Governance-Formen und die Frage nach deren dominanten Akteuren. So unterscheidet Gereffi nur zwischen zwei Arten, den »producer-driven« und den »buyer-driven commodity chains«.63 Bei der ersten handelt es sich um Industriezweige, die von starken Verarbeitern geprägt sind, wie beispielsweise die Automobilindustrie. Zulieferer werden eng an den jeweiligen Produkthersteller gebunden, sodass diese auch ohne finanzielle Beteiligung Kontrolle ausüben können. Beim zweiten Typus agiert eine Firma in einem extensiven Netzwerk an Partnern und kontrolliert diese als zentraler Käufer. Dies ist beispielsweise in der Modeindustrie zu beobachten. Peter Gibbon reagierte auf diese Dichotomie und stellte diesem das Modell der »trader-driven-chain« entgegen, da Händler auf Rohstoffmärkten eine deutlich wichtigere Position als andere Akteure einnehmen.64 Zahlreiche Studien erweitern die Perspektive und fügen neue Formen wie die »bipolar« oder »technology-driven chain« hinzu.65 Jedoch bleibt die Frage, ob globale Industrien oder Märkte von nur einer Form beherrscht werden oder ob sich multiple Varianten herausbilden. Die historische Perspektive des Kautschukmarkts kann mit seinen unterschiedlichen Wertschöpfungsketten zu dieser Debatte beitragen und zeigen, wie sich die Position der Akteure innerhalb der Ketten wandelte.

In vielen Warenkettenanalysen wird zudem oft der Einfluss von Nationalstaaten vernachlässigt, da sich deren Eingriffe nur in längeren Zeiträumen offenbaren. Steven Topik verweist in seiner Studie zur Geschichte des Kaffees bereits auf den Einfluss von Staaten in globalen Märkten.66 Oft treten staatliche Akteure und Regelungen in der Warenkettenanalyse nur im institutionellen Kontext in Erscheinung und nehmen eine eher passive Rolle ein. Diese Eigenschaft korreliert mit der Vorstellung von Globalisierung als Folge einer weitgehenden Deregulierungswelle in den 1980er Jahren, in der Staaten gegenüber multinationalen Firmen an Einfluss verloren. Das Fehlen von Regulierungen in den theoretischen und methodischen Überlegungen zu den GCCs thematisierten ebenfalls schon Raikes, Friis und Ponte.67 Dass sich der Nationalstaat aber weiterhin als wichtige Steuerungsinstanz wahrnimmt, zeigt sich gerade in den aktuellen Debatten am deutlichsten.68 Erst kürzlich argumentierte der Historiker Andreas Wirsching, dass es sich bei der Globalisierung in den 1980er Jahren um ein politisches Projekt handelte. Der politische Wille ermöglichte die Öffnung von Märkten und die Senkung von Zöllen.69 In der Langzeitanalyse des Kautschukmarkts werden daher staatliche Entscheidungsträger als wichtige Akteure in den Warenketten verstanden, die einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung hatten. Damit kommt die Untersuchung auch aktuellen Forderungen nach einer Verbindung globaler und nationaler Perspektiven in globalhistorischen Studien nach.70

Einem Teil der beschriebenen Problematiken und Einwände versucht Gary Gereffi bereits mit einer Weiterentwicklung des theoretischen Modells zu begegnen. Unter dem Namen der »Global Value Chains« (GVC) konzentriert sich die Methode mehr auf die wertschöpfenden Bestandteile der Kette.71 Damit integrieren GVCs vor allem Elemente der Neuen Institutionsökonomik. Über Transaktionskosten lassen sich unternehmerische Entscheidungen nachvollziehen, die zu einer bestimmten Ausrichtung der Kette führen.72 Auch die Organisationsökonomik mit ihrem Konzept der »production networks« ist in die GVC-Analyse eingebettet. Daneben versucht Gereffi auch, den Bereich des Wissens innerhalb der Kette zu integrieren, und stellt dabei eine Verbindung zu Konzepten von »firm capabilities and learning« her. Mit diesen Modifikationen ergeben sich neue Formen von Governance. Diese können von offenen Märkten bis zur vollständigen Integration aller Bereiche der Wertschöpfungskette in einem Unternehmen reichen. Insbesondere die Frage, warum sich bestimmte Formen nur in einigen Industriezweigen manifestieren, beschäftigt die GVC-Forschung weiterhin. Oft versuchen Leitunternehmen, den größten Wertgewinn im eigenen Haus zu sichern, während weniger profitable Abschnitte ausgelagert werden, um die Profitabilität zu erhöhen.73

Die Aspekte der Wertschöpfung sind wiederum für die Entwicklungsökonomie interessant. Aus der Analyse der GVCs können so im Idealfall Ansatzpunkte oder Praktiken abgeleitet werden, die es Entwicklungsländern ermöglichen, die Wertschöpfung im eigenen Land zu erhöhen.74 Gleichzeitig bieten die Wertschöpfungsketten aber auch für die Unternehmensgeschichte eine neue Perspektive, wie Jan-Otmar Hesse und Patrick Neveling betont haben.75 So stützt sich die bisherige Analyse der Globalgeschichte zwar auf den Nachweis der globalen Verflechtungen, jedoch fehlt ein Einblick, wer die Ketten wie steuert.76 Historische Studien können mithilfe von GVCs die Wandlungsprozesse der Zwischenkriegszeit den gängigen Vorstellungen von De-Globalisierung gegenüberstellen und Reaktionen am globalen Markt von mehr als einem Unternehmen integrieren, die in der Analyse der Unternehmenskonzentration oft am Chandler’schen Paradigma orientiert bleibt.77 Zusätzlich nähert sich die Unternehmensgeschichte mit dieser Perspektive dem stärkeren Interesse von Ökonomen am Supply Chain Management, wie Espen Storli, Andrew Perchard und Mats Ingulstad hervorheben.78

Anknüpfungspunkte bietet die Betrachtung von globalen Wertschöpfungsketten auch hinsichtlich der aktuellen Debatten zur neueren »History of capitalism«. Friedrich Lenger verweist auf die zentrale Bedeutung einer globalgeschichtlichen Perspektive für eine »neue« Kapitalismusgeschichte.79 Warenketten können dabei helfen, so Lenger, das Verständnis von Globalisierungsprozessen und ihren zentralen Akteuren mikrohistorisch zu fundieren.80 Die Analyse globaler Wertschöpfungsketten hilft, die Ausbreitung kapitalistischer Strukturen auf lokaler Ebene zu verstehen und deren Flexibilität sowie Wandelbarkeit je nach Branche nachzuvollziehen.

In eine ähnliche Richtung argumentieren auch Sven Beckert, Ulbe Bosma, Mindi Schneider und Eric Vanhaute mit ihrem Konzept der »Commodity Frontiers«.81 Anstatt die Entstehung des Kapitalismus in den Städten zu analysieren, versuchen sie, die Bedeutung von ländlichen Räumen in einer globalhistorischen Perspektive zu stärken und deren Transformation in den Mittelpunkt zu stellen.82 Sie beginnen nicht bei Unternehmen in den Zentren, sondern heben die Produzenten und deren »Commodity Frontiers« hervor. Dabei sind die Ähnlichkeiten zur Wertschöpfungskette mit dem Blick auf die verschiedenen Akteure und einer Einbettung in lokale sowie globale Zusammenhänge groß.83 Die Überlegungen rücken dabei die Bedeutung von Rohstoffen für den Kapitalismus erneut in den Fokus. Diese Perspektive lässt sich auch für die Analyse von De-Globalisierungseffekten nutzen. Zahlreiche Studien belegen die Bedeutung von gehandelten Rohstoffen für den ersten Globalisierungsschub.84 Ein Wandel würde sich damit erheblich auf den Bereich der Rohstoffproduktion auswirken und deren Struktur verändern. Folglich eignet sich die Untersuchung eines Rohstoffmarkts besonders gut, um den Wandel in der Zwischenkriegszeit nachzuvollziehen.

Zusammenfassend nimmt die Untersuchung also einige Adaptionen in der methodischen Nutzung der Kettenanalyse vor, um diese für die historische Betrachtung von globalen Märkten zu öffnen. So wird nicht singulär mit einer »idealisierten« Kette gearbeitet, sondern es werden mehrere Ketten mit entsprechenden Fallbeispielen gegenübergestellt. Zudem werden Nationalstaaten als zentrale, dynamische Akteure begriffen, die mit unterschiedlichen Intentionen die globalen Warenketten langfristig beeinflussen können.85

Das Fallbeispiel: Kautschuk

Der Rohstoff Kautschuk eignet sich besonders gut für die Analyse von Globalisierungsprozessen in der Zwischenkriegszeit. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dieser zu einem zentralen Handelsgut für die sich industrialisierenden Staaten. Zeitgenossen gingen gar so weit, Kautschuk als den »Rohstoff des Jahrhunderts« zu bezeichnen.86 Als Kautschuk wird der geronnene Milchsaft (Latex) von verschiedenen Pflanzen und Bäumen bezeichnet, der in einer chemischen Reaktion mit Schwefel zu Gummi umgewandelt und anschließend verarbeitet wird. Gummi verfügt über einzigartige Eigenschaften. Er ist außerordentlich breit anwendbar und auch heute noch in einer Vielzahl von Produkten enthalten. Kaum ein anderer Stoff weist eine ähnliche Elastizität auf. Selbst bei hoher Dehnung kehrt der Stoff wieder in seinen Ausgangszustand zurück und bricht nicht. Einzigartig sind neben der Elastizität auch die Resistenzen gegenüber anderen Stoffen. So ist Kautschuk öl- und säureabweisend, bietet eine Beständigkeit gegenüber Hitze- und Kälteeinwirkungen und leitet zusätzlich keinen Strom.87 Mit der Zeit entstanden neue Techniken, um den Rohstoff synthetisch herzustellen. Die Stoffe unterschieden sich hinsichtlich ihrer Charakteristika und Fähigkeiten. Bis heute existiert nicht der eine Kautschuk, sondern eine Vielzahl an Sorten und Varianten.88

Global verflochten ist Kautschuk durch die verschiedenen Produktions- und Verarbeitungsorte. Im Untersuchungszeitraum wurde das Naturprodukt vor allem in drei Regionen geerntet. Dazu zählen Lateinamerika, hier vor allem das Amazonas-Tiefland in Brasilien, sowie die tropischen Gebiete Afrikas und Südostasien mit den Ländern Malaysia, Indonesien und Sri Lanka. Nordamerika und Europa bildeten die Zentren der Verarbeitung. Viele Gummiprodukte wurden im Anschluss in die ganze Welt exportiert, sodass Kautschuk alle Kontinente miteinander verband. Durch diese Strukturen lassen sich Konflikte in den Warenketten im globalen Raum nachvollziehen.

Abbildung 1:Angeritzter Heva-brasiliensis Baum auf Sumatra

Quelle: Foto von Icaro Cooke Vieira (Center for International Forestry Research / CIFOR). Online unter: https://www.cifor.org/knowledge/photo/36672023001.

Kautschuk entwickelte sich ferner zu einem Schlüsselprodukt der Moderne. Im Gegensatz zu anderen landwirtschaftlichen Gütern wird er nicht direkt konsumiert und befriedigt keines der menschlichen Grundbedürfnisse. Dennoch beeinflusst er das Leben der Konsumenten maßgeblich. Seine Bedeutung liegt in seiner Verwendung als Zwischenprodukt, vorrangig im industriellen Bereich. So revolutionierten Gummireifen die Mobilität, Dichtungsringe und Treibriemen die Leistung von Motoren, Förderbänder die Produktion von Rohstoffen, Gummischläuche den Umgang mit Flüssigkeiten und Gummi-Ummantelungen die Handhabung von Elektrizität. Auch außerhalb der Industrie veränderte der Stoff viele Gesellschaftsbereiche. Kondome veränderten die Sexualität mit weitreichenden sozialen Folgen.89 Strategisch wertvoll ist er außerdem in modernen Waffensystemen wie U-Booten, Flugzeugen und Panzern. So benötigte der meistverwendete US-Panzer im Zweiten Weltkrieg des Typs M4 Sherman etwa 450 kg Kautschuk.90

Der globale Markt für Kautschuk bietet somit ein ideales Fallbeispiel, um Aushandlungsprozesse und Steuerungsversuche der verschiedenen Akteure zu rekonstruieren. Die Analyse profitiert dabei von zahlreichen historischen Studien, die sich bereits mit einzelnen Bereichen der Kautschukwirtschaft auseinandergesetzt haben. Der lange Untersuchungszeitraum ermöglicht es, die Erkenntnisse aus dieser Forschung zu bündeln und zu ergänzen. In globalhistorischer Perspektive sind dabei die wirtschaftlichen Aspekte des Rohstoffs noch wenig berücksichtigt.91 Viele ökonomische Studien, so vor allem von Colin Barlow, konzentrieren sich vornehmlich auf zeitgenössische Faktoren der Natur- und Synthesekautschukwirtschaft. Eine historische Einordnung erfolgt in seinen Monographien The World Rubber Industry und The Natural Rubber Industrie nur oberflächlich.92 Eine länderübergreifende Studie zum Kautschukmarkt veröffentlichte erstmals 1987 der Schriftsteller Austin Coates mit The Commerce in Rubber.93 Dominierend blieb aber eine ereignisgeschichtliche Aufzählung der Entwicklungen auf dem Weltmarkt, ohne konkrete Einordnung in ein größeres Narrativ.

Anknüpfen kann die Untersuchung an einige globalhistorische Studien zum Kautschuk, die bisher vor allem kultur- und sozialhistorische Fragestellungen beantwortet haben. Der Historiker Stephen Harp stellt die Kategorien Gender, Rasse und Arbeit in den Mittelpunkt seiner World History of Rubber.94 John Tully konzentriert sich in seiner 2011 veröffentlichten Studie The Devil’s Milk auf die sozialen Verhältnisse der Arbeiter in den unterschiedlichen Kautschukwirtschaften.95 Tully folgt dem Rohstoff von der »sklavenähnlichen« Arbeit im Urwald des Amazonas und Afrikas über das Plantagensystem Südostasiens bis hin zu den Fabriken in Akron im Bundesstaat Ohio sowie dem IG Farben-Werk in Auschwitz. Zentrale These in der kapitalismuskritischen Analyse ist der systematische Charakter der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Beide Studien liefern wichtige Erkenntnisse über die gesellschaftliche Bedeutung des Kautschuks und dessen Auswirkungen auf das Leben von Produzenten, Arbeitern und Konsumenten, auf denen das vorliegende Buch aufbaut. Die Methodik der Warenkettenanalyse erweitert den bisherigen Kenntnisstand um die Perspektive von Unternehmen, Marktlogiken und staatlichem Handeln. Einige wesentliche Merkmale für die globale Analyse des Kautschuks hat William Clarence-Smith in einzelnen Aufsätzen vorgestellt, allerdings bislang keine Gesamtdarstellung verfasst.96 In den genannten Studien fehlt somit eine Langzeitanalyse der Entstehung und Transformation des globalen Kautschukmarkts.

Die Globalität des Kautschukmarkts stellt gleichzeitig eine Herausforderung dar. Besonders die zahlreichen Produktionsregionen und die immense Vielfalt an Zwischen- und Endprodukten erschweren eine fokussierte Analyse.97 Daher ist eine Eingrenzung notwendig. Die Untersuchung konzentriert sich stärker auf die Abschnitte zwischen Produktion und Verarbeitung und rückt so die globalen Interaktionen zwischen den beteiligten Akteursgruppen in den Vordergrund. Sie orientiert sich an den wichtigsten Märkten und deren Akteuren für die drei vorgestellten Warenketten. Dies sind auf Seite der Produzenten für den Wildkautschuk Brasilien und als Variation die deutschen Kolonien in Afrika. Im Plantagenkautschuk steht Großbritannien im Zentrum, das mit seinen Kolonien in Südostasien, vor allem Britisch-Malaya, lange Zeit der wichtigste Akteur am Markt war. Mit der Dekolonisation in der Nachkriegszeit rücken dann Singapur und Malaysia ins Zentrum. Für den synthetischen Kautschuk blickt die Arbeit auf die USA und Deutschland. Diese verfügten in der Zwischenkriegszeit über keine kolonialen Verbindungen und konzentrierten sich deshalb stärker auf Substitute. Die USA, Deutschland und Großbritannien sind gleichzeitig die wichtigsten Verbraucher von Kautschuk.98

Diese Wahl hat auch methodische Gründe. Das Buch kann so an eine große Anzahl von präzisen, historischen Einzelstudien über einzelne Abschnitte der Warenkette anknüpfen. Zur Wildkautschukindustrie liegen im brasilianischen Amazonasgebiet zahlreiche Publikationen vor, die sich sowohl mit dem Aufstieg als auch mit ihrem Niedergang beschäftigen.99 Barbara Weinstein verweist auf die Bedeutung der lokalen Zwischenhändler.100 Bradford Barham und Oliver Comes beschäftigen sich mit den Vertragskonstellationen und Transaktionskosten im Regenwald.101 Felipe Tamega Fernandes thematisierte die Preiselastizität des Rohstoffs in Brasilien.102

Für den afrikanischen Wildkautschukhandel ist der Forschungsstand dagegen lückenhafter. Historische Untersuchungen existieren aufgrund der fragmentarischen Quellenlage nur für einige Regionen.103 Diese nehmen oft eine sozialhistorische Perspektive ein und stellen Arbeits- und Ausbeutungssysteme in den kolonialen Gebieten vor. Bekannte Studien, beispielsweise von Adam Hochschild zum Kongo, haben dabei das Bild von der afrikanischen Kautschukwirtschaft geprägt.104 Bei vielen wirtschaftshistorischen Arbeiten fehlt eine globale Perspektive. Erst langsam beschäftigen sich Historiker auch im Bezug auf die Kautschukwirtschaft wieder mehr mit ökonomischen Fragestellungen.105 Dennoch bieten die älteren Arbeiten zu den deutschen Kolonien in Kamerun, Ostafrika oder Togo detaillierte Einblicke in die Organisation der Handelsstrukturen.106

Die Kautschukwirtschaft in Südostasien ist deutlich umfassender erforscht. Der Wirtschaftshistoriker John Drabble beschäftigte sich ausführlich mit der Ökonomie von Plantagen (»estates«) und Kleinbauern (»smallholder«) in Malaysia in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei nimmt er auch Bezug auf die Restriktionsmaßnahmen und deren Diskussion innerhalb der Branche.107 Ähnlich sieht es für die Kautschukwirtschaft in Niederländisch-Ostindien und dem späteren Indonesien aus, auch wenn diese nicht die gleiche Tiefe besitzen.108 Wichtige Unternehmen in beiden Regionen behandelt Geoffrey Jones in seiner Studie zu den britischen Multinationals.109 Weitere Aufsätze und Monographien von Shakila Yacob und Valeria Giacomin ergänzen die unternehmenshistorische Perspektive.110 Studien zu chinesischen, arabischen und indischen Akteuren helfen zudem bei der Rekonstruktion von lokalen Interessen.111

Für den synthetischen Kautschuk ergibt sich ein geteilter Forschungsstand. Zwar liegen zu den Produzenten wie den IG Farben, Hüls oder Du Pont umfangreiche unternehmenshistorische Studien vor, die auch das Substitut behandeln, jedoch meistens nur im nationalen Kontext.112 Vergleichende Perspektiven beziehen sich, wie bei Peter Morris, auf die Technologie oder bestimmte Vertragskonstellationen, thematisieren aber weniger die Konkurrenz zum Naturkautschuk und damit den globalen Markt.113 Die Entstehung der Syntheseindustrie ist stark von Autarkieüberlegungen geprägt, sodass überwiegend nationale Blickwinkel die Erforschung bestimmen.114

Zu den großen Kautschukverarbeitern existieren detaillierte Einzelstudien.115 Hervorzuheben ist insbesondere die Darstellung von Paul Erker zur Reifenindustrie, die transnational vergleichende vorgeht. Mit einem Schwerpunkt auf den Unternehmen Continental und Goodrich rekonstruiert Erker hierbei ausführlich in einer Langzeitperspektive die Herausbildung des Reifenoligopols und dessen Organisationen. Dabei verweist er häufiger auf die globalen Kautschukmärkte, ohne diese tiefergehend zu analysieren.116 Die Studie bietet aber einen sehr guten Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Supply Chains der Verarbeiter.

Die vorliegende Ausarbeitung verbindet diese Breite an fundierten Studien, um das komplexe Konstrukt des globalen Kautschukmarkts abzubilden. Mit umfangreichen Quellenarbeiten werden die bislang weniger diskutierten Abschnitte der Warenkette zusätzlich verstärkt. Dazu nutzt die Arbeit die Überlieferung in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften der Branche für die drei vorgestellten Verarbeiterländer.117 Zudem wird auf unternehmenseigene Quellen zurückgegriffen, um deren Strategie und Position in der Kette zu erklären. Die staatlichen Diskussionen und Maßnahmen werden über die vielfältigen Bestände zum Thema Kautschuk in den nationalen Archiven von Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika und von Großbritannien rekonstruiert.118 In den einzelnen Kapiteln werden die vielfältigen Quellen nochmals detaillierter vorgestellt und in den jeweiligen Forschungsstand eingeordnet.

Gang der Argumentation

Anhand der globalen Kautschukmärkte wird in der folgenden Untersuchung ein Einblick in die Entstehung, Stabilisierung und Transformation eines Rohstoffmarkts im Zeitraum zwischen 1900 und 1960 gegeben. Gefragt wird dabei vor allem nach den Praktiken und Effekten von Interventionen in globale Warenketten. Damit will die Untersuchung nicht nur einen Beitrag zur Geschichte des Kautschuks leisten, sondern auch für eine notwendige Analyse von Globalisierungsprozessen in der Zwischenkriegszeit sorgen, um deren unpräzise und pauschale Charakterisierung als Phase der »De-Globalisierung« kritisch zu prüfen.

Konkret gliedert sich das Buch in eine dreiteilige Analyse, die sowohl thematisch als auch chronologisch aufgebaut ist. In einem Prologkapitel wird kurz auf die Entwicklung der kautschukverarbeitenden Industrie eingegangen, um die Innovation, die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten und die Nachfragestrukturen zu erläutern. Im Fokus stehen dabei auch die Strategien der Rohstoffversorgung, die im gesamten Untersuchungszeitraum variierten.

Mit diesem Wissen folgt im ersten Teil die Analyse der jeweiligen Warenketten. In drei Kapiteln werden die zentralen Produktionssysteme, die zum einen Wildkautschuk aus Brasilien und Afrika sowie kultivierten Kautschuk aus Südostasien und zum anderen synthetischen Kautschuk aus Deutschland sowie den USA umfassen, näher beschrieben. Über die Warenketten lassen sich dabei die Verbindungen zwischen den Akteuren rekonstruieren. Ein Blick auf die Finanzierung der jeweiligen Kette hilft zudem, die Position und Funktion von einzelnen Unternehmen zu erklären. Dies ermöglicht Einblicke in die Verbreitung kapitalistischer Strukturen der Weltwirtschaft.

Der zweite Teil setzt sich mit den verschiedenen Eingriffen und Veränderungen der vorher analysierten Warenketten auseinander. Die Arbeit geht davon aus, dass sich ein Formwandel der Globalisierung vor allem auf der Ebene der Akteure vollzieht. Zunehmend drangen staatliche Akteure in die globalen Warenketten ein und versuchten, Vorteile für den eigenen Nationalstaat zu erzielen. Um diesen Wandel zu kontrastieren, wird im Kapitel 2.1 auf das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft vor 1914 eingegangen. Die Studie blickt dafür auf die Entstehung der Plantagenindustrie in den britischen und deutschen Kolonien, um unterschiedliche Systeme zu vergleichen. Abschließend wird auf den neuen Wettbewerb zwischen den expandierenden Plantagengesellschaften und der etablierten Wildkautschukökonomie eingegangen.

Das Kapitel 2.2 widmet sich den staatlichen Eingriffen in den globalen Markt der Zwischenkriegszeit. Der Erste Weltkrieg festigte die Verbindungen zwischen Unternehmern und Beamten bei der Organisation der Kriegswirtschaft, wie sich am deutschen Beispiel im Teilkapitel 2.2.1 zeigen lässt. Trotz britischer Blockade in der Nordsee konnte der deutsche Staat auf die Netzwerke von Händlern und Unternehmern zurückgreifen, um die Kautschukwirtschaft zu reorganisieren. Die Zusammenarbeit setzte sich dabei in der unmittelbaren Nachkriegszeit fort. Im Unterkapitel 2.2.2 wird eine ähnliche Entwicklung auf britischer Seite vorgestellt. Britische Vertreter der Plantagenindustrie und des Staats suchten nach dem Krieg Maßnahmen, um auf sinkende Rohstoffpreise und Überproduktion zu reagieren. Mit einer staatlich festgelegten Produktionskontrolle, dem »Stevenson Restriction Scheme«, versuchten sie, den Preis ab 1922 wieder zu erhöhen. Auf den nationalen Alleingang reagierten vor allem Kleinbauern in Südostasien, die mit zusätzlichen Exporten den Preis drückten und zur Rücknahme der Regulierung beitrugen. Die Wettbewerbssituation zwischen Plantagenindustrie und Kleinbauern hatte sich trotz der Maßnahmen kaum verbessert, sodass die Überlegungen nach neuen Markteingriffen privatwirtschaftlicher oder staatlicher Art blieben. Der nächste Regulierungsversuch, der im Mittelpunkt von Teilkapitel 2.2.3 steht, war bestrebt, aus den vorangegangenen Fehlern zu lernen. Das »International Rubber Regulation Agreement« von 1934 etablierte ein multinationales, staatlich verordnetes Kartell und verweist auf den neuen Umgang mit globalen Märkten.

Die Regulierungsmaßnahmen stellten jedoch nur eine Möglichkeit dar, mehr Kontrolle in den Warenketten auszuüben, die Förderung alternativer Versorgungssysteme eine andere. Das Kapitel 2.3 widmet sich der Entstehung einer Warenkette für synthetischen Kautschuk. Anhand der deutschen und US-amerikanischen Syntheseindustrie wird dabei deutlich werden, dass sich die künstliche Herstellung unter den gegebenen Marktkonstellationen lange Zeit schwertat. Erst politischer Druck und umfangreiche Subventionen führten zu einer Etablierung des neuen Industriezweigs. Die Förderung und Etablierung neuer teilweise globaler Warenketten stellten die stärkste Form staatlicher Eingriffe in die globalen Märkte dar.

Die Untersuchung endet nicht mit dem Zweiten Weltkrieg, der oft auch in der Globalisierungsforschung als Zäsur gesehen wird. Stattdessen wird im dritten Teil die Kooperation zwischen internationalen Staats- und Wirtschaftakteuren in der Nachkriegszeit betrachtet, die eine neue globale Marktkonstellation erschufen. Im Kapitel 3.1 steht dafür die International Rubber Study Group als neue zentrale Institution für diese Aushandlungsprozesse im Mittelpunkt. Die zentrale Herausforderung blieb die Regelung des Wettbewerbs zwischen der neuen Syntheseindustrie und den etablierten Naturkautschukproduzenten. In Kapitel 3.2 wird zunächst auf den vermeintlichen Siegeszug des Substituts eingegangen. Der neue Industriezweig musste auch global in den bisherigen Markt eingefügt werden, ohne im Umfeld des Kalten Kriegs neue Konflikte mit den südostasiatischen Produzenten auszulösen. Nur mit viel Fingerspitzengefühl gelang dies den US-Akteuren. Erneut kam es daher zu Diskussionen über den Sinn und die Reichweite von staatlicher Kontrolle in globalen Märkten. Gleichzeitig kämpften auch die zunehmend dekolonisierten Produzentenländern um einen Verbleib ihrer Warenketten. Anstatt auf der Plantagenindustrie lag nun der Fokus von staatlichen Fördermaßnahmen erstmals auf der Smallholder-Wirtschaft, wie die Untersuchung des Fallbeispiels Malaysia im Kapitel 3.3 zeigen soll. Der Wechsel läutete damit den Übergang zur modernen Marktkonstellation für den Rohstoff Kautschuk ein. Nationalstaaten nahmen in der Handhabung von globalen Verbindungen weiterhin eine feste Position ein. Die Arbeit will dabei verdeutlichen, dass sich anstatt der De-Globalisierung ein Formwandel der Globalisierung beobachten lässt, bei dem sich staatliche Akteure zu einer treibenden Kraft im globalen Raum entwickelten.

Die Kautschukindustrie – Innovationen, Produkte und Nachfragestrukturen

Bereits 1923 argumentierte der Vize-Präsident der B. F. Goodrich Company, William C. Geer, »that our modern world may truly be said to be under the reign of rubber«.119 Zu sehr dominierten seiner Meinung nach Gummiprodukte in allen Lebensbereichen und hatten die Welt entsprechend verändert. Diese gesellschaftliche Bedeutung war hundert Jahre zuvor kaum abzusehen. Trotz frühzeitiger Entdeckung von latexabgebenden Pflanzen und dessen Gebrauch von indigenen Kulturen Lateinamerikas blieb das Potenzial lange ungenutzt. Erst im 18. Jahrhundert begann der Stoff allmählich das Interesse von europäischen Forschern zu wecken. Der Brite Joseph Priestly vergab dabei den englischen Namen »Indian Rubber« für den Rohstoff, weil sich damit Bleistiftstriche wegreiben (»to rub«) ließen.120

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts experimentierten dann zahlreiche europäische Forscher und Erfinder mit der Ressource und fanden langsam Möglichkeiten für ihre kommerzielle Nutzung. Eine Schwierigkeit ergab sich in der Verarbeitbarkeit des Rohstoffs. Dem Briten Thomas Hancock gelang es mit einer Zerreißmaschine (Mastikator), diese zu erleichtern, indem er dünne Fäden aus dem Kautschuk walzte, die leichter in Textilien einzuarbeiten waren. Der aus Schottland stammende Chemiker Charles Macintosh arbeitete zur gleichen Zeit an einer Kautschuklösung mit Naphta, die es ebenfalls ermöglichte, Textilien damit zu überziehen. Gummierte, wasserabweisende Kleidung war der erste Anwendungsbereich für Kautschuk. Zusammen produzierten und verkauften die beiden Erfinder Mäntel und andere Produkte für den Regenschutz, die in Großbritannien einen großen Absatz fanden. Trotz dieser Erfolge blieben in der neuen Branche aber zahlreiche Probleme ungelöst. Die Behandlung mit chemischen Lösungen hinterließ einen unangenehmen Geruch auf den Textilprodukten. Zudem waren die Produkte anfällig für wechselnde Außentemperaturen. In warmen Monaten verformte sich der Überzug und erweichte, im Winter dagegen wurde er hart und brüchig.121 Noch deutete kaum etwas auf einen Siegeszug des Rohstoffs und die spätere gesellschaftliche Bedeutung hin.

Der folgende Abschnitt setzt sich daher mit den Innovationen und Produkten auseinander, die eine »Herrschaft des Kautschuks« (William C. Geer) einleiteten. Dafür blickt die Analyse zunächst auf die sich entwickelnde Kautschukindustrie in Europa und den USA am Übergang zum 20. Jahrhundert und verweist auf die einzelnen Produktfelder und ihre Bedeutung in der Branche. Dabei werden gleichzeitig das Ende der Warenkette des Kautschuks genauer vorgestellt und die Gründe für die wachsende Nachfrage im Untersuchungszeitraum herausgearbeitet. Im letzten Schritt folgt ein Blick auf die Rohstoffnutzung der kautschukverarbeitenden Großunternehmen, um deren Versorgungsketten nachzuvollziehen. Dabei zeigt sich, dass die Branche fast durchgängig auf unterschiedliche Warenketten zurückgriff, um sich mit Kautschuk zu versorgen.

Die Entstehung der kautschukverarbeitenden Industrie und die wesentlichen Produktbereiche

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschwerte nicht die Versorgung mit Rohstoffen die Expansion des neuen Industriezweigs, sondern die Suche nach einer Lösung der beschriebenen Verarbeitungsprobleme. Trotz zahlreicher Versuche gelang es erst dem US-Amerikaner Charles Goodyear, ein neues Verfahren zu entwickeln, das er 1844 zum Patent anmeldete.122 Der Erfinder fügte dem Kautschuk unter Hitzeeinwirkung Schwefel hinzu, sodass eine neue elastische Verbindung mit den spezifischen Eigenschaften des Gummis entstand. Goodyear bezeichnete sein Verfahren dabei als Vulkanisation. Das so erzeugte Gummi besaß nicht mehr die Probleme bei Temperaturunterschieden oder den strengen Geruch, sondern ließ sich leicht formen und blieb dabei elastisch.123 Goodyear konnte nur wenig Gewinn aus seiner Erfindung und seinem Patent ziehen. Fast zeitgleich meldete Thomas Hancock in Großbritannien ebenfalls ein Verfahren zur Verbindung von Schwefel mit Kautschuk an. Trotz eines jahrelangen Rechtsstreits gelang es dem US-Amerikaner nicht, sein Patent in Großbritannien durchzusetzen, sodass sich das Verfahren schnell verbreitete.124

Mit der Vulkanisation strömte ab den 1850er eine Vielzahl von neuen Produkten auf die Märkte. Gehörten Regenmäntel zu den ersten Verkaufsschlagern, fanden Gummischuhe schnell einen ebenso guten Absatz. Mit der Herstellung von Hartgummi (Ebonit) entwickelten Unternehmen weitere Artikel für den täglichen Konsum, wie beispielsweise Kämme oder Spielwaren. Einen weiteren Anwendungsbereich bildeten medizinisch-chirurgische Erzeugnisse. In der Medizin verbesserten fortan Gummihandschuhe, Gummischläuche oder gummiertes Gewebe die Behandlung von Kranken. Neben diesen Konsumgütern entwickelten sich Gummiwaren für industrielle Anwendungen zu einem wichtigen Wachstumsmarkt. Mit Förderbändern, Treibriemen und Schläuchen verbesserten Gummiprodukte die Produktivität im Bergbau, von Eisenbahnen oder anderen Maschinen.125 Mit den neuen Produktbereichen stieg die Kautschuknachfrage in Europa und den USA erstmals deutlich. In Großbritannien wuchs der Verbrauch zwischen 1861 und 1891 von etwa 2.000 auf über 6.000 t an. In den USA fiel das Wachstum noch höher aus und stieg von etwa 1.500 t vor dem amerikanischen Bürgerkrieg 1859 auf knapp 15.200 t im Jahr 1889.126

Der Wachstumsprozess förderte dabei die Herausbildung von ersten Zentren der Kautschukverarbeitung. Für den Standort einer Gummifabrik spielte die Nähe zu den Märkten eine entscheidende Rolle. Dafür eigneten sich gerade Zentren der Industrialisierung, weil neben der Industrie als Kunden auch Käufer für Konsumartikel vorhanden waren.127 Die Versorgung mit überregional gehandelten Rohstoffen, wie Kautschuk oder Schwefel, war durch die Anbindung an den globalen Handel infolge der Transportrevolution über Kanäle und Eisenbahn nur von geringerer Bedeutung. Wichtiger war die für die Vulkanisation notwendige Hitze und Energie, die aus Kohle erzeugt wurde. Viele der frühen Zentren lagen daher in unmittelbarer Nähe zu Kohlelagerstätten.128

Diese Standortfaktoren galten auch für deutsche Pioniere. In Berlin, Harburg (heute zu Hamburg gehörend), Hannover, Thüringen und dem Rheinland siedelten sich bis 1870 erste Gummifabriken an.129 Alle Gründungen wiesen eine Nähe zu den Absatzmärkten der Großstädte auf und hatten einen direkten Zugang zur Kohle. Eine zweite Gründungswelle folgte im Kaiserreich mit einer weiteren Verfahrensverbesserung zur Herstellung von Weichgummiartikel, sodass von Beginn an hoher Wettbewerb die Branche bestimmte. In diesem Zuge gründete sich in Hannover 1871 auch die Continental AG, die zunächst einen Ausgleich mit der bereits seit 1862 produzierenden Hannoverschen Gummi-Kamm Compagnie suchte. Nach erfolgreichen Verhandlungen verzichtete Continental auf die Anwendungsfelder in der Elektroindustrie und auf die Herstellung von chirurgischen Waren, sicherte sich aber dafür die technischen Weichgummiartikel.130 In diesen Bereich fiel auch die Herstellung des Luftreifens, der einen weiteren Wachstumsimpuls in der Industriebranche auslöste.

Die Erfindung ging auf die Überlegungen von John Boyd Dunlop zurück. Der Veterinär arbeitete seit Längerem an einer Verbesserung von Fahrradreifen. Bisher nutzten die Unternehmen für Fährräder noch Holz- oder Eisenräder, die teilweise mit Hartkautschuk überzogen wurden und nur wenig Komfort bei der Fahrt boten.131 Seine Erfindung umwickelte den Reifen mit Gummiplatten, sodass sich das Innenleben mit Luft aufpumpen ließ. Dunlop erwarb 1888 ein Patent für seine Erfindung, dass eine deutliche Verbesserung für die expandierende Fahrradindustrie darstellte. Allerdings währte das Patent nur kurz, da Robert Thompson bereits 1845 eine ähnliche Entdeckung angemeldet hatte. Trotzdem gelang es Dunlop mit Harvey Du Cros ein Unternehmen zur Nutzung seiner Technologie zu gründen, aus dem nach einigen Besitzerwechseln 1896 die Dunlop Pneumatic Tyre Company hervorging.132 In Großbritannien entwickelte sich Dunlop schnell zum wichtigsten Kautschukverarbeiter und ging auch international schnell in die Offensive beim Verkauf seiner Reifen.133

Der fehlende Patentschutz ermöglichte eine schnelle Nachahmung des Luftreifens in anderen Ländern. So gründete sich in Clermont-Ferrand das Unternehmen Michelin & Cie. mit einem Schwerpunkt auf der Reifenfertigung. Michelin wuchs zu einem der wichtigsten Reifenproduzenten in Europa heran und hält diese Position bis heute.134 In Hannover setzte die Continental AG ebenfalls auf die neue Technologie und brachte bereits 1893 sein erstes eigenes Reifenmodell heraus.135 Noch dynamischer entwickelte sich die Fahrradindustrie in den Vereinigten Staaten, wo der Verkauf von Fahrrädern mit 1,2 Mio. Stück im Jahr 1896 ungeahnte Höhen erreichte. Viele Gummiproduzenten integrierten Luftreifen ähnlich wie Continental als neues Produkt in ihr Portfolio.136 Zu diesen gehörte auch die B. F. Goodrich Company. Der Gründer Benjamin Franklin Goodrich hatte sich im Dezember 1870 dazu entschlossen, seine Fabrik nicht an der Ostküste zu errichten, sondern im zwischen Pittsburgh und Detroit gelegenen Akron (Ohio). Fernab von den umkämpften Märkten an der Ostküste bot sich für die Firma eine gute Anbindung durch Kanäle und Eisenbahnlinien sowie günstige Arbeitskräfte. Goodrich konnte zudem die wirtschaftliche Elite der Stadt überzeugen, in seine Unternehmung zu investieren.137 Früh entschied sich das Unternehmen für eine möglichst breite Produktionspalette und nahm daher in den 1890er Jahren auch Luftreifen darin auf. Nur auf den Verkauf von Gummischuhen verzichtete die Firma vorerst.138

Ein Grund hierfür lag im harten Wettbewerb im Gummischuhgeschäft in den USA. In Naugatuck hatten sich fast 20 Firmen in den 1850ern ein Goodyear Patent gesichert und mit der Herstellung von gummiüberzogenem Schuhwerk begonnen. Nach Auslaufen des Patentschutzes 1865 kooperierten viele der Gummifabrikanten miteinander, um den Wettbewerb gering zu halten, doch keine der Abmachungen hielt längerfristig. Erst in den 1890er Jahren schlossen sich neun größere Gummischuhhersteller zur United States Rubber Company zusammen.139 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es dem Unternehmen, mit einer aggressiven Übernahmestrategie den Markt für Gummischuhe zu zwei Dritteln zu kontrollieren. Mit den Akquisitionen expandierte der Konzern in andere Produktbereiche, beispielsweise in die Erzeugung technischer Gummiartikel mit dem Kauf der Rubber Goods Manufacturing Company. Trotz der Expansion erreichte das Unternehmen jedoch keine Vormachtstellung und hatte vor allem im Reifensektor mit Goodrich einen starken Konkurrenten.140

Der Fahrradboom hielt nur kurz an, und bereits ab 1898 gingen die Verkäufe wieder zurück. Die Kautschukverarbeiter hatten nur wenig Anlass zur Sorge, weil die Automobilindustrie bereits in den Startlöchern stand. Der Verkauf von Personenfahrzeugen erreichte 1905 bereits Werte von 25.000 Autos pro Jahr.141 Damit einhergehend stieg auch der Verbrauch von Kautschuk weiter an, denn die größeren Autoreifen benötigten deutlich mehr Rohmaterialien. Weitere Unternehmer reagierten auf die sich bietenden Möglichkeiten und investierten in die Fertigung von Autoreifen. Dazu zählte auch die bereits 1894 in Akron (Ohio) neu gegründete Goodyear Tire & Rubber Company. Durch ein geschicktes Umgehen von Patent- und Lizensierungsverfahren wuchs die Firma schnell und verzeichnete bereits 1902/03 einen Umsatz von 1,5 Mio. US-Dollar.142 Ebenfalls mit Schwerpunkt auf der Reifenerzeugung gründete Harvey S. Firestone 1900 seine Firestone Tire & Rubber Company. Der relativ späte Einstieg gelang Firestone durch seine persönlichen Kontakte zu Henry Ford und dessen boomendem Automobilkonzern in Detroit. Der Firmengründer schaffte es, Ford von seinen Reifen zu überzeugen, und sicherte seinem Unternehmen den lukrativen Erstausrüstervertrag für die Model-T-Reihe.143 Mit dem schnell wachsenden Reifenmarkt entwickelte sich in den USA zunehmend ein Oligopol zwischen den vier vorgestellten Unternehmen United States Rubber, B. F. Goodrich, Firestone und Goodyear, die als Big Four die Branche im gesamten Untersuchungszeitraum dominierten. Lag der Anteil der vier Großunternehmen im Reifensektor 1907 schon bei 57 Prozent, wickelten sie zehn Jahre später 71 Prozent der Verkäufe ab.144

Damit hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wesentlichen Geschäftsfelder der Kautschukindustrie herausgebildet. Zugpferd blieb im gesamten Untersuchungszeitraum die Reifenproduktion, gefolgt von den technischen Produkten. Mit deutlichem Abstand dazu lagen die allgemeinen Konsumartikel und Freizeitwaren. Zeitgenossen und Firmen unterschieden lange Zeit weitere Untergruppen in ihren Produkten. Adolf Prinzhorn, der Chefchemiker der Continental AG