Forsberg und das verschwundene Mädchen - Ben Tomasson - E-Book + Hörbuch

Forsberg und das verschwundene Mädchen Hörbuch

Ben Tomasson

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Beschreibung

Blutzoll: gering Sympathie-Faktor: hoch Miträtseln: garantiert Der erste Schweden-Krimi mit Kommissar Frederik Forsberg aus Göteborg! Während seines Freigangs verschwindet ein Sexualstraftäter aus Göteborgs Gefängnis; am nächsten Tag wird auf der Schäreninsel Kalvsund die kleine Lisbet vermisst. Für die ehrgeizige Anna Jordt von der Reichspolizei Göteborg ist der Fall glasklar, ihr Kollege Kommissar Frederik Forsberg dagegen hat Zweifel: Sein feines Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen rät ihm, den Vater des Mädchens im Auge zu behalten, der mit Lisbets Mutter einen erbitterten Scheidungskrieg austrägt. Als jedoch ein Leichenspürhund vor der frisch vergipsten Wand der Kalvsunder Dorfkirche anschlägt, nimmt der Fall eine unerwartete Wendung, die Kommissar Forsberg empfindlich an sein eigenes privates Dilemma erinnert. Nachschub für alle Fans atmosphärischer Skandinavien-Krimis: Ben Tomassons Schweden-Krimi-Reihe um Kommissar Frederik Forsberg aus Göteborg überzeugt mit einem sympathischen Ermittler, hohem Rätsel-Faktor und natürlich der einzigartigen Schärenlandschaft Göteborgs.

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Zeit:12 Std. 44 min

Sprecher:Markus Hoffmann
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Ben Tomasson

Forsberg und das verschwundene Mädchen

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Über dieses Buch

Der erste Schweden-Krimi mit Kommissar Frederik Forsberg aus Göteborg!

Während seines Freigangs verschwindet ein Sexualstraftäter aus Göteborgs Gefängnis; am nächsten Tag wird auf der Schäreninsel Kalvsund die kleine Lisbet vermisst. Für die ehrgeizige Anna Jordt von der Reichspolizei Göteborg ist der Fall glasklar, ihr Kollege Kommissar Frederik Forsberg dagegen hat Zweifel: Sein feines Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen rät ihm, den Vater des Mädchens im Auge zu behalten, der mit Lisbets Mutter einen erbitterten Scheidungskrieg austrägt. Als jedoch ein Leichenspürhund vor der frisch vergipsten Wand der Kalvsunder Dorfkirche anschlägt, nimmt der Fall eine unerwartete Wendung, die Kommissar Forsberg empfindlich an sein eigenes privates Dilemma erinnert.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Forsberg und der Tote von Asperö«

Sie hätte nie geglaubt, dass ein Menschenkind derart winzig sein könnte. So filigran und zerbrechlich, dass man kaum wagte, es zu berühren. Arme und Beine dünn wie Zweige, unglaublich kleine Finger und Zehen und ein vollkommen zerknittertes Gesicht. Der Kopf war von einem weichen dunklen Flaum bedeckt.

Durch die Vorhänge vor dem Fenster der Kammer, in der sie sich die letzten Wochen versteckt hatte, fiel kaum Licht. Trotzdem sah sie, dass dieses Kind perfekt war. Ihr Baby. Selig presste sie es an sich und lächelte.

Dann fiel ihr auf, dass etwas nicht stimmte.

Das Kind bewegte sich nicht, und es hatte auch nicht geschrien.

Sie schaute zu dem Mann, der immer noch am Fußende des Bettes kniete. Er hatte ihr durch die letzten Stunden geholfen, an die sie sich schon jetzt nur noch schemenhaft erinnerte. Immer neue Wellen von Schmerz, und die Angst, sie würde dieses Wesen niemals aus ihrem Bauch hinauspressen können. Sie war viel zu eng.

Er hatte ihre Hand gehalten, ihr gesagt, dass er sie liebe, und mit ihr gemeinsam geatmet, bis es schließlich doch vollbracht war.

Nun stand er auf, das Gesicht so unbewegt, dass sie nicht darin lesen konnte. Kurz drückte er ihre Schulter und löste dann das Kind mit sanfter Gewalt aus ihren Händen. Er legte es auf das dicke Tuch, das er auf dem Tisch neben dem Bett bereitgelegt hatte, und wickelte es darin ein. Nicht nur den Körper, sondern auch den Kopf.

Panik überschwemmte sie wie eine Flutwelle. So bekam ihr Mädchen doch keine Luft!

Er nahm das Bündel auf den Arm und sah auf sie hinab. Sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf.

»Sie ist tot«, sagte er.

Dann drehte er sich um und verließ die Kammer, trug ihr Kind davon. Sie fühlte sich plötzlich kalt und leer. Der Herzschlag neben ihrem war verschwunden, nichts bewegte sich mehr in ihr. Der körperliche Schmerz verebbte, doch der Schmerz in ihrer Seele wuchs ins Unermessliche.

Sie hatte ihr Kind der Liebe verloren. Und nicht nur das. Mitgefühl und Betroffenheit waren in seiner Stimme gewesen, aber auch noch etwas anderes.

Erleichterung.

Er war noch einmal davongekommen.

1

Mats Lundgren ahnte sofort, was passiert war, als er das Büro betrat.

Auf dem Tisch lag der dicke blaue Ordner, den er selbst beschriftet hatte. Der Direktor blätterte so heftig darin, dass er die Seiten beinahe herausriss. Dann hob er den Kopf, und Mats sah sein Gesicht. Starr wie eine Maske, die Lippen kaum mehr als ein Strich, die Augen dunkel vor Wut. Mats begann innerlich zu frösteln. Er musste sich räuspern, ehe er ein Wort herausbrachte.

»Kroon?«

Der Direktor tippte mehrfach auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Eine Passage war in grell leuchtendem Gelb markiert.

»Deine Einschätzung. Rückstufung in Kategorie B. Keine akute Gefahr. Du hast dich dafür ausgesprochen, dass wir ihm die schrittweise Integration ermöglichen.«

Mats kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an seine letzte Sitzung mit Kroon zu erinnern. Sein Blick wanderte am Kopf des Direktors vorbei aus dem Fenster, auf den struppigen Rasen, der das Gebäude umgab, vor dem Zaun ebenso wie dahinter. Die Sonne hatte es verbrannt, seit Wochen stand sie hoch am wolkenlosen Himmel, als gäbe es in Schweden niemals Regen, Schnee und klirrend kalte Winter. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer. Im Büro des Anstaltsleiters war es stickig. Vielleicht bekam Mats deshalb fast keine Luft mehr. Seine Hände wurden feucht, und er musste mit aller Kraft den Impuls unterdrücken, zum Fenster zu laufen und es aufzureißen.

Vor seinem geistigen Auge sah er Kroon, der ihm gegenübersaß, nach vorn gebeugt, die massigen Arme auf die Knie gestützt, und ihn aus seinen traurigen braunen Augen anblickte. Er war gebildeter, ehrlicher und reflektierter als die meisten anderen hier. Hatte sich engagiert, in der Einzeltherapie genau wie in der Gruppe. Mats hatte einen positiven Eindruck gewonnen. Kroon plante, in drei Jahren, nach seiner Entlassung, in den Norden zu gehen. Schlittenhunde wollte er züchten, das hatte er Mats erzählt. Irgendwo in der Einöde, wo es sieben oder acht Monate im Jahr nichts als Schnee gab. Frei wollte er sein, mit dem Hundeschlitten über die weiten verschneiten Flächen und die vereisten Seen gleiten, und alles nachholen, was er in den Jahren in der Skogome-Anstalt verpasst hatte.

»Er hat sich gut geführt. War kooperativ. Hat sich freiwillig für unser Medikationsprojekt gemeldet.« Mats atmete tief durch. »Kroon hat seine Tat bereut. Er war bereit, alles dafür zu tun, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.«

»Das steht hier.« Der Direktor hämmerte mit dem Finger auf die Seite. »Und weiter: Zur Erleichterung der Wiedereingliederung wird eine Lockerung der Haftbedingungen empfohlen.« Er hob wieder den Blick. »Freigang.«

Mats schluckte und sprach seinen bösen Verdacht aus.

»Er ist nicht zurückgekommen?«

»Nein.« Der Anstaltsleiter neigte sich vor und legte die Hände flach vor sich auf den Tisch.

»Weißt du, was das bedeutet, Mats? Deinetwegen läuft jetzt da draußen ein gewaltbereiter Sexualstraftäter frei herum. Wenn da etwas schiefgeht …«

Mats spürte eisige Finger, die nach seinem Herz griffen. Wenn etwas schiefging … dann war es seine Schuld.

2

Die Menschen waren nicht so distanzlos, die Kinder nicht so laut und die Sommer nicht so heiß. Das waren die größten Unterschiede zwischen Deutschland und Schweden – und ein Grund, weshalb er sich entschieden hatte, hier zu leben. Den dritten Punkt schien das Land seiner Kindheit in den letzten Wochen allerdings ein für alle Mal widerlegen zu wollen. Das Falunröd, das Schwedenrot, mit dem er sein Haus strich, war dermaßen zäh, dass er Mühe hatte, die Farbe gleichmäßig auf den Wänden zu verteilen. Auf der Flüssigkeit im Eimer hatte sich eine feste Schicht gebildet.

Frederik Forsberg wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Das T-Shirt, das er zum Streichen angezogen hatte, war durchgeschwitzt, und sogar die alte Jeans, die bereits etliche rote Flecken zierten, fühlte sich feucht an. Der Kleber der Kreppstreifen, mit denen er die Tür- und Fensterrahmen und die Hauskanten abgeklebt hatte, war ausgetrocknet; die Streifen lösten sich vom Holz und rollten sich auf. Er würde das alles noch einmal neu machen müssen, wenn die Rahmen, die er sorgfältig abgeschliffen hatte, nichts von dem eisenhaltigen Schwedenrot abbekommen sollten. Sonst würde er später dicke Schichten weißer Farbe auftragen müssen, um das Rot zu überdecken.

Das Haus war in einem desolaten Zustand, nachdem er in den letzten drei Jahren kaum hier gewesen war. Der Frost hatte seine Spuren ins Holz gefressen, die Bretter der Terrasse waren morsch geworden, und ein Sturm hatte das Dach beschädigt. Eine der schlanken Birken war entwurzelt worden und hatte den Verschlag für das Brennholz zum Einsturz gebracht. Der Wald reichte bis an die Grundstücksgrenze heran. Das Haus lag am Ende einer Sackgasse, so abgeschieden und still, wie man es sich nur wünschen konnte.

Es war der Ort, an dem er sein inneres Gleichgewicht wiederfand, wenn ihn die Erinnerungen plagten – an den Tod seiner Partnerin, an die aufreibenden Ermittlungen der letzten Jahre und an seine Enttäuschung, als das Urteil gesprochen worden war.

Eine Fliege umschwirrte seinen Kopf. Frederik verscheuchte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung, mit der er zugleich die Bilder zu vertreiben versuchte, die sich ihm aufdrängten. Das Blitzlichtgewitter, als er auf den Platz vor dem Göteborger Gerichtsgebäude trat, die Fragen der Reporter, die auf ihn einprasselten. Ob sie Fehler gemacht hätten? Wie sonst könnte es sein, dass der Kopf einer Organisation, die illegal russische Waffen über Schweden in den Nahen Osten verschiffte, freigesprochen wurde? Dass sie den Ring geknackt und etliche Verurteilungen erreicht hatten, verblasste daneben. Ausgerechnet Arvid Ekström, Eigentümer der Spedition Göta Trans und mutmaßlicher Drahtzieher des Waffenschmuggels, hatte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Auf dem Weg nach draußen war er kurz neben Frederik stehen geblieben.

Sie werden das bereuen.

Nur diese vier Worte, ruhig und emotionslos ausgesprochen. Frederik war ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Danach hätte er dem Land am liebsten den Rücken gekehrt. Seine Großeltern in Kiel hätten sich gefreut. Während der internationalen Ermittlungen hatte er wieder bei ihnen gewohnt, in demselben Zimmer, in dem er auch seine Jugend verbracht hatte, und sie alle hatten die gemeinsame Zeit genossen. Aber es gab einen wichtigen Grund, in Schweden zu bleiben.

Emma.

Frederik lächelte, als er an sie dachte, während er das Holz weiter mit dem breiten Pinsel bearbeitete. Gerade hatte er ihn erneut in den Farbeimer getaucht, als das Telefon in seiner Hosentasche vibrierte.

Fluchend steckte er den Pinsel zurück. Er wickelte sich einen Stofflappen um die Finger, ehe er das Smartphone hervorzog, um es nicht zu beschmutzen. Tausendfach ausgeführte Routine eines Ermittlers, der daran gewöhnt war, Beweisstücke zu sichern. Mit dem abgespreizten kleinen Finger wischte er über das Display, auf dem der Name des Anrufers stand.

»Hej, Birger.«

»Frederik.« Der Chef seiner alten Abteilung klang ernst. »Ich habe schlechte Nachrichten.«

Frederik nahm an, dass es um seine Rückkehr zur Ermittlungseinheit Kapitalverbrechen ging. Seit dem Tod seiner Partnerin fehlte ein Team. Bei ihrem letzten Gespräch hatte Birger angedeutet, dass er eine neue Truppe aufbauen wollte, wenn Frederik die Arbeit in der internationalen Kooperation gegen den Waffenschmuggel beendet hatte. Er sollte das Team leiten.

Eigentlich hatte er Urlaub. Das Haus musste bis zum Winter renoviert werden, sonst würde es ihm vermutlich über dem Kopf zusammenfallen. Aber er wusste auch, dass die Kollegen überlastet waren. Wenn sie ihn brauchten, konnte er nicht Nein sagen.

»Was gibt es denn?«

»Du erinnerst dich an Kroon? Carl Kroon?«

Frederik kletterte die Leiter hinunter, weil seine Knie plötzlich weich wurden. Er selbst hatte Kroon hinter Gitter gebracht.

»Sicher. Was ist mit ihm?«

»Die Kollegen in der Skogome-Anstalt haben ihn in ihrem System neu eingeordnet. ROS, du weißt schon, dieses Schweizer Modell: Risikoorientierter Sanktionenvollzug.«

Frederik stellte den Farbeimer ab und griff nach der Wasserflasche. Schraubte den Deckel ab und setzte sie an die Lippen. Sein Mund war ausgetrocknet, die Zunge klebte am Gaumen.

»Und?«

»Der zuständige Psychologe, Mats irgendwas, hat ihn in Kategorie B eingestuft, also als nicht akut gefährlich, und sich dafür ausgesprochen, dass man ihm einen wöchentlichen Freigang erlaubt.«

»Einem Mann, der ein elfjähriges Mädchen in seine Gewalt gebracht hat und es beinahe getötet hätte?« Frederik musste immer noch die Zähne zusammenbeißen, wenn er daran dachte.

»Tja. So sieht es aus. Und Kroon hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich davongemacht.«

Frederik schraubte die Flasche wieder zu. »Ich komme sofort.«

»Nein. Das ist nicht nötig. Im Augenblick kannst du nichts tun«, bremste ihn Birger. »Wir haben alles veranlasst, Fahndung, Straßensperren, Hubschrauber, Überwachung der Bootshäfen und Fähren. Dazu ein Aufruf in allen Medien, mit einem Foto von Kroon in den Fernsehnachrichten und in den sozialen Netzwerken. Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist.«

Das Wasser in seinem Magen fühlte sich plötzlich wie flüssiges Eis an. Birger musste es nicht aussprechen, Frederik wusste auch so, was er befürchtete. Er hatte das Gleiche gedacht. Es war nichts, worauf man sich in irgendeiner Weise vorbereiten konnte.

»Genieß das Wetter und geh irgendwohin«, sagte Birger. »Du hast es dir verdient. Wenn sich etwas tut, melde ich mich.«

Die Männer verabschiedeten sich. Frederik steckte das Smartphone zurück in die Hosentasche. Dann presste er den Deckel auf den Farbeimer und trug ihn zusammen mit dem Werkzeug in den Schuppen. Er legte die Leiter ins Gras und ging ins Haus, um zu duschen und sich umzuziehen. Wenn er hierblieb, würde er sich nur ständig schreckliche Dinge ausmalen. Er musste irgendetwas tun, auch wenn es nicht helfen würde. Die Bilder würden trotzdem kommen.

 

Die Espressomaschine in seinem Büro in der Göteborger Polizeibehörde ratterte und zischte. Frederik wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war, und leerte die winzige Tasse dann in einem Zug. Eigentlich sollte er weniger Kaffee trinken. Seine Nerven waren ohnehin zum Zerreißen gespannt, und er merkte, dass sein Herz schneller schlug als gewöhnlich. Aber wenn ihm das Koffein fehlte, bekam er Kopfschmerzen.

Er trat ans Fenster und sah hinaus, über den Parkplatz und die Straße zum Ullevi-Stadion. Der Parkplatz war so gut wie leer, auf der breiten Straße dagegen war viel Verkehr. Alle waren unterwegs, um irgendwo den Mittsommerabend zu feiern oder die Vorbereitungen für den nächsten Tag, den Mittsommertag, in Angriff zu nehmen. Es war das wichtigste Ereignis des Jahres, und niemand in Schweden versäumte es, sich zu diesem Anlass mit Familie und Freunden zu treffen. In dieser Nacht verschwand die orangefarbene Sonne erst weit im Norden hinter dem Horizont, und es wurde kaum richtig dunkel.

Unten trat Birger gerade aus dem Polizeigebäude. Frederik erkannte seinen Charakterkopf mit den kurzen Haaren, die in den letzten Jahren grau und drahtig geworden waren.

Er war nicht sonderlich überrascht gewesen, als Frederik schon eine knappe Stunde nach seinem Anruf auf der Dienststelle erschien.

»Warum bist du nicht zu Hause geblieben?«, fragte er trotzdem. »Ich hätte hier die Stellung gehalten.« Er wies auf seinen Schreibtisch. »Ich habe mir Kroons Akte kommen lassen, aber ich finde keine nützlichen Hinweise.«

Frederik hob die Schultern. »Ich kann das nicht, die Hände in den Schoß legen und warten. Das weißt du. Außerdem war es mein Fall.« Er deutete auf das gerahmte Foto neben Birgers Monitor, das eine hübsche blonde Frau mit ihren beiden erwachsenen Kindern zeigte. »Hattest du heute Abend nichts Besseres vor?«

Birger strich sich über den grauen Vollbart. »Wir haben eine Einladung. Aber meine Frau versteht es, wenn ich nicht mitkomme.«

»Und die Kinder?«

»Na ja.« Birger schnitt eine Grimasse. »Sie werden enttäuscht sein. Mein Sohn kommt extra mit seinem Partner aus Stockholm, und meine Tochter und ihr Mann haben jemanden gefunden, der sich für ein paar Tage um ihr kleines Hotel in Kiruna kümmert. Sie bringen die Kinder mit.«

Frederik hörte die Sehnsucht in seiner Stimme. Birger liebte seine Enkelkinder über alles.

»Brauchst du die Akte noch?«, fragte er.

Birger schüttelte den Kopf. »Nimm sie mit. Mir hilft sie nicht weiter.«

»Okay.« Frederik klemmte sich die dicke Mappe unter den Arm und ging zur Tür. Bevor er Birgers Büro verließ, drehte er sich noch einmal um.

»Ich bleibe heute Abend hier«, erklärte er. »Ich gehe den ganzen Fall noch mal durch und lege mich später im Ruheraum auf die Liege. Auf mich wartet niemand.«

Mehr hatte er nicht gesagt, aber Birger hatte die Botschaft offensichtlich verstanden. Frederik sah, dass er lächelte, als er unten auf dem Parkplatz die Tür seines Wagens öffnete und einstieg.

Er wandte sich vom Fenster ab, setzte sich an den Schreibtisch und schlug Kroons Akte auf. Ein Stapel Fotos fiel ihm entgegen. Die elfjährige Maja, ein hübsches blondes Mädchen im weißen Kleid mit einem Blumenkranz auf dem Haar. Die Hütte im Wald, in der Kroon sie gefangen gehalten, das Bett, auf dem sie gefesselt gelegen hatte, das blutverschmierte Laken. Sofort war das Grauen wieder da.

Kroon hatte Maja am Mittsommertag vor sieben Jahren entführt. Zwei Wochen lang hatte er sie in seiner Gewalt gehabt, und am Ende hatte er sie so lange gewürgt, bis sie schlaff in seinen Armen gelegen hatte. Im tiefsten Wald hatte er sie abgelegt und verscharrt. Spaziergänger hatten sie gefunden. Wie durch ein Wunder war sie noch am Leben gewesen, aber völlig dehydriert und ausgezehrt. Körperlich waren keine Schäden geblieben, aber das seelische Trauma würde sie ein Leben lang begleiten. Mittlerweile musste sie achtzehn sein. Frederik hatte keine Ahnung, wo sie heute lebte und wie es ihr ging.

Er schob die Bilder zurück in die Akte, schaltete den Rechner ein und startete eine Suchanfrage. Maja war bei ihren Eltern gemeldet, die mittlerweile in Stockholm wohnten. Frederik rief die Kollegen an und bat sie, die Familie über Kroons Flucht zu informieren und eine Streife abzustellen, die das Haus der Familie im Auge behielt. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Kroon sein damaliges Opfer aufsuchen würde, aber ausschließen konnte man es nicht.

Anschließend nahm er sich Kroons Lebenslauf vor. Das meiste wusste er noch, doch einige Details waren ihm entfallen.

Das Verbrechen an Maja war Kroons erstes Sexualdelikt gewesen, aber schon in der Schule war er auffällig geworden. Er hatte geschwänzt, seine Mitschüler bestohlen und mehrfach Schlägereien angezettelt.

Eine vernünftige Erklärung dafür hatte Frederik schon damals nicht gefunden. Kroon stammte aus geordneten Verhältnissen, die Eltern waren Bibliothekare, Carl das einzige Kind. Er war nicht dumm. Im Anschluss an die schwierige Schulzeit hatte er seine Hochschulreife erworben und studiert, danach einige Jahre als Ingenieur in der Automobilindustrie gearbeitet. Aus dieser Zeit waren keine Auffälligkeiten bekannt, so als hätte sich Kroons unangepasstes Verhalten mit seiner Volljährigkeit von einem Tag auf den anderen gelegt. Bis zu dem Tag, an dem er die kleine Maja auf dem Mittsommerfest in Uddevalla entdeckt hatte.

Das war nicht ungewöhnlich, viele Pädophile begnügten sich damit, Kinder zu beobachten und sich den Kontakt zu ihnen nur in der Fantasie auszumalen. Sie lebten unauffällig inmitten der Gesellschaft, und niemand in ihrem Umfeld ahnte etwas. Manche wurden niemals straffällig. Bei anderen ereignete sich eines Tages etwas, das bewirkte, dass alle Hemmungen fielen. Was der Auslöser bei Kroon gewesen war, hatte er nie herausgefunden.

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedanken. Er nahm den Hörer ab.

»Frederik Forsberg. Mit wem spreche ich?«

»Hallo, Frederik. Hier ist die Einsatzzentrale. Wir hatten einen Anruf. Eine Frau will Carl Kroon gesehen haben, auf der Fähre von Björkö nach Kalvsund. Sie meint, er habe das Schiff dort verlassen. Wir haben den Kollegen vor Ort schon Bescheid gegeben.«

Frederik schaute auf die Karte von Westschweden, die neben dem Schreibtisch hing. Natürlich wusste er, wo Kalvsund lag. Es war eine der kleineren Schären vor den Toren Göteborgs. Man konnte mit dem Boot dorthin fahren oder mit der Autofähre von Lilla Varholmen nach Björkö und von dort mit einer zweiten Fähre weiter nach Kalvsund und Öckerö.

»Danke für die Information. Ihr haltet mich auf dem Laufenden?«

»Selbstverständlich.« Die Beamtin von der Einsatzzentrale legte auf.

Frederik fuhr sich nachdenklich über das stoppelige Kinn. Was wollte Kroon auf Kalvsund? Sofern die Insel das Ziel seiner Reise war und es sich tatsächlich um Kroon gehandelt hatte. Die Anruferin könnte sich geirrt haben, das war häufig der Fall. Aber manchmal erwies sich ein Hinweis aus der Bevölkerung auch als wichtig.

In seinem Hinterkopf rumorte etwas. Er zog die Tastatur des Rechners zu sich heran und weckte ihn aus dem Ruhemodus. Mit ein paar Mausklicks steuerte er das Archiv an. Er gab Kalvsund als Suchbegriff in die Maske ein, und nur Sekunden später bot ihm das System einige Akten an. Als er den Namen las, wusste er es wieder.

3

Im Winter war es auf Kalvsund still. Nur der immerwährende Wind pfiff über die Landschaft aus glatt geschliffenen Steinen und zähen, geduckten Gewächsen. Die Wellen rollten auf die flache Felsküste, bei starkem Frost schoben sich Eisplatten heran. Die wenigen Bewohner verließen ihre Häuser nur, um einzukaufen oder zu ihren Arbeitsplätzen zu fahren. Früher hatte man hier vom Fischfang gelebt, doch seit der Hering ausgeblieben war, hatten sich die meisten auf dem Festland verdingt.

Im Sommer dagegen vervielfachte sich die Zahl der Menschen auf der Insel. Sie kamen mit ihren Booten, die dicht an dicht in den Häfen lagen, und die Holzstege vor Kalvsunds Kiosk waren ein beliebter Treffpunkt.

Hjördis ging mit Lisbet und Petter dorthin. Ihre Tochter sah wunderhübsch aus mit dem weißen Kleid und dem Blumenkranz auf dem blonden Haar. Auf ihre Pippi-Langstrumpf-Zöpfe hatte sie ausnahmsweise verzichtet. Dafür hatte sie darauf bestanden, die Tracht für das Mittsommerfest schon heute Abend anzuziehen. Hjördis war das nicht recht. Eigentlich hätte Lisbet das weiße Kleid erst morgen tragen sollen, und sie befürchtete, dass ihre Tochter es bis dahin zerknittern und bekleckern würde. Dann würde sie heute Nacht noch die Flecken herausrubbeln müssen, damit es bis zum nächsten Tag wieder trocken wurde.

Petter hatte über ihre Bedenken natürlich nur gelacht und Lisbet ermutigt, ihren Willen durchzusetzen. Hjördis’ Gefühle interessierten ihn schon lange nicht mehr.

Seit wann hatten sie sich nur derart auseinandergelebt? Oder waren sie sich vielleicht nie wirklich nah gewesen?

Sie schaute sich zu ihm um. Petter hatte seine Kamera mitgenommen und blieb alle paar Meter stehen, um Fotos zu machen.

Seine Bilder waren gut. Das ganze Haus war voll davon, und fast alle Aufnahmen zeigten Lisbet. Seinen Engel. Sobald Petter zu Hause war, war sie das tatsächlich. Sie sprang in seine ausgebreiteten Arme, wenn er von der Arbeit kam, kuschelte sich an ihn und rannte durchs Haus, um ihm seine Pantoffeln, ein Leichtbier aus dem Kühlschrank oder Knabberzeug aus der Kammer zu holen. An den Wochenenden nahm Petter sie manchmal mit, wenn er mit dem Boot hinausfuhr.

Hjördis war froh darüber, weil sie dann für ein paar Minuten zur Ruhe kam, sofern Gunhild oben in ihrem Pflegebett schlief und nicht mit weinerlicher Stimme nach ihr rief oder unablässig an der Klingelschnur zerrte, weil sie irgendetwas brauchte. Sie hatte selten Zeit für sich selbst. Wenn Petter nicht da war, war Lisbet ein anderes Kind. Sie war überhaupt nicht zu bändigen, schrie und schimpfte und knallte mit den Türen. Doch wenn Hjördis sich bei Petter darüber beklagte, lächelte er nur mit jener Zärtlichkeit, die ausschließlich für Lisbet reserviert war.

»Das ist die Pubertät«, sagte er. »Sie muss rebellieren und sich mit dir auseinandersetzen, um ihren eigenen Weg zu finden.«

Oh ja! Bestimmt tat sie das. Lisbet wollte nicht so werden wie ihre Mutter, daran ließ sie keinen Zweifel. Eine Frau, die sich zeit ihres Lebens für andere aufgerieben und darüber ihre Träume vergessen hatte. Aber niemand hatte Hjördis je gefragt, ob sie das so wollte. Es war ihre Pflicht gewesen, ihre kranken Eltern zu pflegen, erst den Vater, jetzt die Mutter.

Hjördis betrachtete verstohlen ihre abgearbeiteten Hände, während sie hinter Lisbet und Petter herlief, die lachten und sich gegenseitig neckten. Sie grüßte ein paar Nachbarn, die wie sie selbst auf dem Weg zum Kiosk waren, wo Kalvsunds Mittsommerstange aufgebaut werden sollte, und fragte sich, wie Petter so unbefangen sein konnte. Hatte er die Zeichen noch immer nicht erkannt? Spürte er nicht den Sturm, der ihnen bevorstand?

In den Nachrichten hatte sie das Foto gesehen. Carl Kroon, ein großer, muskulöser, bedrohlich wirkender Mann mit kahl rasiertem Schädel und düsterem Blick. Angeblich hatte man ihn auf der Fähre nach Kalvsund beobachtet. Petters Augen hatten sich kurz verdunkelt, doch dann hatte er abgewinkt. Einem Mädchen, das so gut behütet war wie seine Lisbet, würde kein Fremder zu nahe kommen. Hjördis hatte sich die Bemerkung verkniffen, dass ein schmächtiger Buchhalter wie er einem Typen wie Kroon wohl kaum Angst einjagen würde. Er hätte es ohnehin nicht verstanden.

Doch Kroon war nicht der Einzige, vor dem sich ein junges Mädchen in Acht nehmen musste. Petter wusste das, genau wie er auch wusste, dass die Gefahr ganz in ihrer Nähe lauerte. Aber wie so oft verschloss er die Augen

 

Rune fuhr der Schreck in die Knochen, als es an der Tür klingelte. Durch die Vorhänge sah er den Mann und die Frau in der Uniform der Reichspolizei. Rasch schob er die Fotos auf dem Tisch zusammen und stopfte den Stapel unter ein Sofakissen. Auf dem Weg durch den Flur knöpfte er das offene Hemd zu und kämmte sich mit den Fingern notdürftig durch die Haare. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, die Stoppeln wucherten schwarz und grau auf seinem Kinn. Wahrscheinlich stank er auch nach Schweiß und Alkohol. Aber die Polizisten würden sowieso nichts anderes erwarten.

Er kannte die verächtlichen Blicke. Sie trafen ihn, sobald er das Haus verließ. Jeder hier auf der Insel wusste Bescheid. Die Nachbarn grüßten knapp im Vorbeieilen. Alle anderen wechselten die Straßenseite, sobald sie ihn sahen.

Wenn er gekonnt hätte, wäre er weggezogen. Aber er hatte keine Arbeit, nur das Geld, das ihm der Staat zahlte. Wenn er wegging, würden sie ihn zwingen, das Haus zu verkaufen. Dann hätte er gar nichts mehr. Das Haus hatten die Eltern ihm überschrieben, als einmaligen Abschlag auf sein Erbe. Sie hatten einen Schlussstrich gezogen. Er war für sie gestorben, tot wie sein Bruder, der sich mit fünfzehn erhängt hatte.

Runes Hand schwebte einen Moment über der Klinke. Dann schluckte er den Widerwillen hinunter und riss die Tür auf.

»Ja?«

»Guten Abend, Herr Dahlberg«, sagte der große und breitschultrige Polizist mit tiefer, dröhnender Stimme. Seine jüngere Kollegin hielt sich einen Meter hinter ihm, halb verborgen hinter seinem Rücken.

Runes Hände begannen zu zittern. Er verschränkte die Arme vor der Brust, damit die Beamten es nicht sahen.

»Was wollen Sie?«

»Wir sind auf der Suche nach Carl Kroon.«

Rune lachte vor Erleichterung auf.

»Der sitzt in der Skogome-Anstalt. Hat noch ein paar Jahre vor sich.«

Die Polizistin machte einen Schritt nach vorn. Er sah weizenblonde Haare unter ihrer Mütze, helle Augenbrauen und ein zartes, fast noch kindliches Gesicht. In seinen Lenden zuckte es.

»Hören Sie keine Nachrichten?«

Er leckte sich die Lippen, während sein Blick über ihren mädchenhaften Körper glitt. Ob sie sich wohl da unten rasierte?

»Ich lese lieber.« Er versuchte sich an einem lässigen Grinsen. »Comics.«

Die Polizistin kräuselte angewidert die Nase. So wie diese jungen Dinger ihn immer behandelten. Die brauchten sich wirklich nicht zu wundern, wenn er sich mit Gewalt nahm, was er wollte.

»Carl Kroon ist flüchtig«, teilte ihm der Polizist mit der tiefen Stimme mit. »Er ist von seinem Freigang nicht zurückgekehrt. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er sich auf Kalvsund aufhält.«

Rune starrte den Beamten an. Die hatten Carl freiwillig nach draußen gelassen? Er selbst hatte während seiner fünf Jahre Haft nicht einen Tag vor die Tür gedurft, weil dieser verdammte Seelenklempner seine Resozialisierung für noch nicht stabil genug hielt. Und Carl, der die Mädchen nicht nur anfasste, sondern eine Elfjährige entführt und sich tagelang in einer Hütte im Wald mit ihr vergnügt hatte, durfte mir nichts, dir nichts hinausspazieren?

»Was geht mich das an?« Er wollte die Tür zuknallen, doch der Polizist stellte seinen Fuß in den Türspalt.

»Sie haben fünf Jahre zusammen mit Kroon eingesessen. Die Gefängnisleitung sagt, Sie haben sich gut verstanden und gemeinsam in der Holzwerkstatt gearbeitet.«

»Und?«

»Sie hatten sich bei einigen Ihrer Mitinsassen unbeliebt gemacht, nicht wahr, Rune? Die wollten Sie gern in die Finger kriegen, aber Kroon hat seine schützende Hand über Sie gehalten.«

Widerstrebend nickte Rune. Es stimmte, aber er wollte nicht darüber reden. Die Sache war ihm peinlich.

»Kroon hat Ihnen geholfen. Und jetzt braucht er Hilfe, um sich einer erneuten Verhaftung zu entziehen.«

Rune begann zu schwitzen. Die Polizisten durften auf keinen Fall sein Haus durchsuchen. Er war immer noch auf Bewährung. Mühsam rang er sich ein verächtliches Lachen ab.

»Carl wäre nicht so blöd, ausgerechnet zu mir zu kommen.«

Der Polizist lächelte unverbindlich. »Davon würden wir uns gern selbst überzeugen.«

Rune versuchte, ihm den Weg zu versperren, doch der Polizist schob ihn einfach beiseite. Seine Kollegin folgte ihm.

»Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss«, teilte sie ihm mit sichtlicher Genugtuung mit.

Rune blieb auf der Schwelle stehen und schlug den Hinterkopf gegen den Türrahmen. Er wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab und schaute auf die Straße. Sollte er davonlaufen? Aber er würde nicht weit kommen. Ein Boot besaß er nicht, nur ein Lastenmofa, mit dem er zum Einkaufen fuhr. Die Beamten mussten nur den Kapitän der Fähre anrufen, damit er nicht anlegte, dann würde er gar nicht erst von der Insel runterkommen. Und wenn er sich irgendwo in die Büsche schlug, die es im Süden von Kalvsund reichlich gab, oder einen Schuppen aufbrach, um sich darin zu verstecken, würden sie so lange suchen, bis sie ihn fanden.

Er schloss die Augen und wartete ab. Lauschte den Schritten der beiden Beamten, die sich durch das Haus bewegten, hörte das Quietschen der Türangeln, die längst hätten geölt werden müssen, und das Scharren der Küchentür, die über den Boden schliff. Nach einer Weile kamen sie zurück.

Er hielt die Luft an und wartete auf den Standardtext, der bei der Verhaftung gesprochen wurde, und das Klicken der Handschellen. Doch nichts davon geschah. Vorsichtig blinzelte er.

Die Polizistin presste die Lippen zusammen. Das Gesicht ihres Kollegen gab keine Regung preis.

»Danke«, sagte er und hielt Rune eine Karte hin. »Sollte Kroon sich bei Ihnen melden, rufen Sie diese Nummer an.«

»Klar.« Rune staunte, dass er überhaupt noch eine Stimme hatte.

Die beiden Beamten verließen das Grundstück. Rune zog sich schnell in den Flur zurück und knallte die Tür zu. Plötzlich fühlte er sich frei, wild und unbesiegbar.

Die Arschlöcher konnten ihm gar nichts.

 

Petter streichelte Lisbet die Wange und hielt ihr die Eiswaffel hin, die er am Kiosk gekauft hatte. Drei große Kugeln Schokoladeneis. Er hatte Hjördis’ missbilligenden Blick wahrgenommen, aber es war ihm gleich. Dieses Kind war ein Geschenk, in jeder Hinsicht. Lisbet erhellte seine Seele, wenn sich die Dunkelheit wie ein Bleigewicht auf seine Schultern legte. Ohne sie würde er in diesem Haus ersticken, in dem Hjördis’ Mutter Gunhild in ihrem Pflegebett im Obergeschoss wie ein schwarzer Schatten über ihnen dräute, mit ihrer fordernden, krächzenden Stimme, immer eine Hand an der Klingel, mit der sie die Familie tyrannisierte.

Hjördis ging zu den Männern, die die Mittsommerstange aufrichteten, und schäkerte mit ihnen. Sie hatte sich hübsch gemacht und sah jünger aus als sonst in ihren grauen Alltagskleidern. Er wusste, dass sie nur eine Rolle spielte, aber außer ihm bemerkte es niemand.

Als Junge hatte er sie oft beobachtet. Sie war fünf Jahre älter als er, und sie war das schönste Mädchen auf der ganzen Insel gewesen. Petter war ihr heimlich gefolgt, wenn sie auf den glatten Steinen an der Westküste entlangkletterte. An einem einsamen Platz blieb sie dann stehen und deklamierte Gedichte oder Szenen aus Theaterstücken. Manchmal hatte der Wind Satzfetzen zu ihm hergetragen. Sie war eine großartige Schauspielerin. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt.

Natürlich hatte sie ihn gar nicht gesehen, er war ein schmächtiger, pickliger Junge mitten in der Pubertät gewesen, sie eine fast erwachsene junge Frau. Er hatte die Männer beneidet, mit denen sie gelegentlich Hand in Hand spazieren ging. Petter hatte versucht, mit anderen Mädchen auszugehen, aber es hatte nicht funktioniert. Für ihn gab es nur Hjördis. Und dann, auf dem Mittsommerfest vor dreizehn Jahren, als er schon sechsundzwanzig und immer noch Single war, hatte sie plötzlich vor ihm gestanden. Sie hatten zusammen getrunken, getanzt und gelacht. Später war er mit zu ihr gegangen, in das dunkle Haus mit der kranken Frau im Obergeschoss. Sie hatten sich in Hjördis’ Zimmer geschlichen, und er hatte ganz leise sein müssen.

Ein halbes Jahr später, kurz vor Weihnachten, hatten sie geheiratet, gerade noch rechtzeitig. Im Februar war dann Lisbet zur Welt gekommen.

Wie glücklich er damals gewesen war.

Jemand schlug ihm auf die Schulter und drückte ihm ein Glas Bier in die Hand – ein Nachbar, der im Haus neben ihrem wohnte und ihm gelegentlich mit dem Boot half. Petter selbst hatte zwei linke Hände.

Sie standen eine Weile zusammen und betrachteten das bunte Treiben auf dem Platz und den Stegen. Die Männer, die die Mittsommerstange sicherten, die Frauen, die sie mit Blumen und Bändern schmückten, und die Touristen, die mit ihren Handys herumstanden, Fotos machten und filmten. Auch wenn heute außer Lisbet und ein paar anderen kleinen Mädchen noch niemand seine Tracht trug, sah man sofort, wer aus Schweden kam und wer nicht. Den Einheimischen lag Mittsommer im Blut. Die Urlaubsgäste bestaunten das Spektakel, als wohnten sie einer Theateraufführung bei.

Petter leerte sein Glas und ging zum Kiosk, um für seinen Nachbarn und sich ein neues Leichtbier zu holen. Härtere Sachen verkauften sie dort nicht, aber den jungen Männern auf der Insel würde es trotzdem gelingen, sich im Laufe des Abends bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Es war nur eine Frage der Menge.

Als er zu seinem Nachbarn zurückkehrte, war dieser von seiner Frau und den drei Kindern umringt. Er nahm Petter das Glas ab und leerte es in einem Zug.

»Danke.« Er lächelte seine Frau an. »Wir müssen weiter, wir haben noch eine Einladung.«

Petter winkte der Familie zum Abschied und schaute sich nach Hjördis um. Sie stand mit einem der Männer zusammen, die die Mittsommerstange aufgerichtet hatten, einem Göteborger Hafenarbeiter mit breiten Schultern, weizenblondem Haar und einem einnehmenden Lächeln. Er flirtete mit ihr, doch Petter merkte, dass ihn das nicht berührte. Früher hätte sich die Eifersucht wie ein Geschwür in seinem Magen ausgebreitet, aber die Zeiten waren vorbei. Irgendwann in den letzten Jahren hatte sich die Liebe zu Hjördis einfach in Luft aufgelöst. Nicht ohne Grund, aber daran wollte er lieber nicht denken. Manche Dinge schob man besser in den hintersten Winkel der Erinnerung und hoffte, dass man sie im Laufe der Zeit einfach vergaß.

Eine klebrige Hand schob sich in seine, und Lisbet schmiegte sich an ihn. Er hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Lange würde er das nicht mehr tun können, mit ihren zwölf Jahren war sie schon fast zu schwer für ihn. Aber noch ging es, und sie hatten beide ihren Spaß daran.

Als er sie wieder auf die Füße stellte, musste er lachen. Lisbets Mund war mit Schokolade verschmiert, und auf dem weißen Kleid prangte ein großer brauner Fleck. Hjördis hatte recht behalten, was die Kleidung anging, doch das war nun nicht mehr zu ändern, genau wie so vieles andere auch.

Er wusste, dass die nächsten Monate hart werden würden. Aber er würde kämpfen. Und dann hätte sein Leben endlich wieder einen Sinn.

 

Im Laufe des Abends war es auf dem Platz hinter dem Kiosk und auf den Stegen immer voller geworden. Immer neue Boote waren gekommen, alle mit bunten Wimpeln geschmückt und natürlich mit der stolzen Schwedenflagge am Heck. Lisbet konnte sich gar nicht sattsehen. Sie war mit ein paar anderen Kindern am Hafen herumgerannt, doch dann hatten ihre Gefährten nach Hause gemusst. Mittlerweile konnte Lisbet überhaupt kein anderes Kind mehr in der Menge entdecken.

Sie suchte nach ihren Eltern und fand sie etwas abseits am Fähranleger. Ihr Vater hatte einen roten Kopf. Er hielt eine Bierflasche in der Hand und brüllte ihre Mutter an. Hjördis hatte die Hände in die Seiten gestemmt und feuerte zurück.

Lisbet hielt sich lieber entfernt, sie wollte gar nicht wissen, worum es ging. In letzter Zeit stritten ihre Eltern ständig.

Sie wandte sich ab und merkte plötzlich, dass sie aufs Klo musste. Sie war froh, dem Anblick ihrer keifenden Eltern zu entkommen, und lief um den Kiosk herum auf den Steg, der zu den Toiletten an der Gebäuderückseite führte. Erst als sie den Eingang fast erreicht hatte, entdeckte sie den Mann, der da stand. Ganz still, die Schulter an die Wand gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Er schaute ihr ins Gesicht, und dann wanderten seine Augen weiter hinunter, über ihr Kinn zum Bauch und dann zu ihren Beinen. Seine Lippen öffneten sich, und sein Blick war so intensiv, dass sich alles in ihrem Inneren zusammenzog.

Schnell drehte sie sich um und rannte zurück zu der Stelle, an der sie ihre Eltern zuletzt gesehen hatte. Sie standen immer noch dort und keiften.

Lisbet griff nach dem Arm ihres Vaters. Petter wandte ihr den Blick zu.

»Was ist denn los?«, lallte er. Seine Augen waren wässrig, und er schwankte leicht.

Lisbet schaute zu ihrer Mutter. »Da war ein Mann. Bei den Toiletten. Der hat mich so komisch angeguckt.«

Hjördis griff sofort nach ihrer Hand.

»Wir gehen nach Hause.«

»Aber ich muss zur Toilette. Dringend!«, jammerte Lisbet.

Hjördis’ Gesicht verfinsterte sich. Für einen Moment dachte Lisbet, sie würde sie anschreien, doch Hjördis nickte nur entschlossen.

»Dann gehen wir jetzt zusammen dorthin. Und wenn dieser Mann noch da ist, bekommt er ein paar hinter die Löffel.«

Lisbet war erleichtert. Meistens gab es mit ihrer Mutter nur Streit. Aber wenn es darauf ankam, war sie stark, viel stärker als ihr Vater, der hinter ihnen hertorkelte und seine Kamera schwenkte.

»Wartet doch mal. Wenn das dieser Typ aus dem Fernsehen ist, mache ich ein Foto. Vielleicht gibt es eine Belohnung.«

Hjördis wandte den Kopf.

»Meinst du, dieser Kroon hat nichts Besseres zu tun, als auf Kalvsund den Mittsommerabend zu feiern, während halb Schweden nach ihm sucht?«

Sie würden es nicht erfahren, denn als sie die Toiletten erreichten, war der Mann weg.

Als Lisbet fertig war, nahm Hjördis sie und Petter an den Händen.

»So. Jetzt gehen wir nach Hause. Für heute reicht es mir.« Ihr Blick fiel auf den braunen Fleck auf Lisbets Kleid. »Und das da kannst du allein rauswaschen. Du wolltest das Kleid schließlich unbedingt anziehen.«

Normalerweise hätte Lisbet sofort losgebrüllt und sich beschwert. Aber jetzt nickte sie nur. Die Begegnung mit diesem seltsamen Mann saß ihr noch in den Knochen.

4

Das Büro, in das ihn der Anstaltsleiter geführt hatte, war hell und freundlich, mit großen Fenstern und ein paar abstrakten Bildern an den Wänden. Es zeigte nach Osten, Frederik spürte die Wärme der Morgensonne, die durch die Scheiben hereinfiel.

Vor einem der Fenster befand sich ein Schreibtisch mit Birkenfurnier, auf der anderen Seite des Raums standen sich zwei bequeme Sessel im Abstand von vielleicht zwei Metern gegenüber, neben jedem ein kleiner Tisch mit Glas und Wasserflasche. Auf dem einen lagen außerdem ein Notizbuch und ein hochwertiger Kugelschreiber, auf dem anderen vorgefertigte Terminzettel, mehrere Stempel und ein Stempelkissen.

Der Direktor der Skogome-Anstalt hatte ihm angeboten, hier auf den Psychologen zu warten, nachdem er ihn kurz über die Umstände von Kroons Abgang in Kenntnis gesetzt hatte. Sachlich und korrekt, doch Frederik spürte die unterdrückte Wut. Auch wenn er es nicht aussprach, war kaum zu übersehen, dass der Anstaltsleiter die Schuld für Kroons Flucht beim zuständigen Therapeuten suchte.

Frederik fragte ihn, ob es denn keine Kommission gebe, die die Empfehlungen der Psychologen prüfe.

»Doch«, brummte der Direktor. »Aber für gewöhnlich verlassen wir uns auf die Einschätzung des behandelnden Therapeuten. Mats ist ein erfahrener Mann.« Er räusperte sich umständlich. »Und in diesem Fall … nun ja. Sie müssen wissen, dass wir zurzeit massiv unterbesetzt sind. Mats meinte, es würde Kroon guttun, wenn er irgendwohin gehen und Mittsommer feiern könnte. Ein positives Erlebnis für ihn und ein Vertrauensbeweis unsererseits. Er hielt es für einen guten Start.«

Frederik fiel es nicht schwer, zwischen den Zeilen zu lesen.

»Sie haben zugestimmt, ohne die Kommission einzuberufen.«

»Ja. Leider.«

Frederik schaute beiläufig auf einen der Drucke an der Wand, ein paar bunte kubistische Figuren, die ziellos durch den Raum zu fliegen schienen.

»Ich nehme an, Sie wissen, dass Kroon die kleine Maja vor sieben Jahren beim Mittsommerfest entführt hat«, sagte er. Vollkommen neutral und ohne jeden Vorwurf, doch der Anstaltsleiter verstand ihn auch so.

»Nein.«

Frederik sah, dass er blass geworden war.

»Ich hatte keine Ahnung.« Der Direktor knirschte mit den Zähnen. »Aber Mats …« Er schüttelte den Kopf und wandte sich zur Tür. »Entschuldigen Sie mich. Mats wird sicher gleich hier sein. Ich habe noch eine Menge zu tun.«

Frederik schaute ihm nach, als er mit großen, eckigen Schritten davonging. Zweifellos eine Flucht, doch nützen würde sie ihm nicht. Am Ende musste er für das, was passiert war, die Verantwortung tragen.

Genau wie für das, was noch geschehen würde.

 

Frederik hatte es sich in einem der beiden Sessel bequem gemacht. Dem, von dem er annahm, dass er für die Patienten bestimmt war, mit den vorgefertigten Terminzetteln auf dem Tischchen daneben. Nach einer Weile war er aufgestanden und hatte sein Jackett über die Lehne des Schreibtischstuhls gehängt. Der Sommer war einfach zu heiß dieses Jahr.

Er öffnete die Flasche und trank das erste Glas Wasser in einem Zug leer. Das zweite behielt er in der Hand. Er schlug die Beine übereinander und betrachtete das vertrocknete Gras vor dem Fenster der Anstalt. Man konnte verstehen, wenn ein Insasse es irgendwann nicht mehr aushielt und nur noch hinauswollte. Die Frage war, was er dort tat.

Wollte Kroon einfach nur dem eintönigen Alltag der Haftanstalt entfliehen? Oder hatte er seine Triebe nicht mehr unter Kontrolle und war auf der Suche nach einem neuen Opfer?

Die Bürotür öffnete sich, und ein schlaksiger Mittdreißiger mit halblangem blondem Haar und einer eckigen schwarzen Brille trat ein. Als er Frederik entdeckte, stieß er einen erschrockenen Laut aus. Instinktiv wich er zurück und schien aus dem Raum fliehen zu wollen, doch dann ging ihm auf, dass Frederik nicht sonderlich bedrohlich wirkte.

»Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

»Verzeihung.« Frederik stellte das Glas ab und erhob sich. »Der Anstaltsleiter sagte, ich könne hier auf Sie warten. Frederik Forsberg, Reichspolizei Göteborg.«

»Puh.« Sein Gegenüber strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und lachte bemüht. »Das hat er mit Absicht gemacht. Er weiß genau, wie schreckhaft ich bin.« Er streckte Frederik die Hand hin. »Mats Lundgren. Ich bin der Psychologe. Setzen Sie sich doch.«

Er warf sich in den zweiten Sessel und griff nach dem Notizbuch.

»Eigentlich müssten wir die Plätze tauschen«, meinte er.

»Ach so?« Frederik war irritiert. Hatte er das Arrangement falsch interpretiert? »Ich dachte, das da sei der Platz des Therapeuten.«

»Ja.« Mats lächelte freundlich. »Das stimmt. Aber im Augenblick, scheint mir, sind die Rollen vertauscht. Ich habe ein Problem – Sie können es vielleicht lösen. Sie sind der Beamte, der ihn verhaftet hat, nicht wahr? Ich erinnere mich an Ihren Namen.«

Frederik deutete auf seinen Sessel. »Wenn es Ihnen hilft …«, bot er an.

»Nein.« Mats seufzte. »War nur ein Scherz. Ein Versuch, die Stimmung aufzulockern.«

»Okay.« Frederik ließ sich wieder zurücksinken. »Ich bin ehrlich gesagt kein großer Freund von Witzen.«

»Nein, ich auch nicht.« Mats beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und presste die Finger gegen die Augenlider. »Ich war nur noch nie in einer solch beschissenen Situation.« Er ließ die Hände wieder sinken. »Ich dachte, Kroon wäre so weit. Meine Fürsprache hat zu dem Ergebnis geführt, dass man ihm Freigang gewährte. Und statt mein Vertrauen zu rechtfertigen, hat er sich einfach davongemacht.«

Frederik studierte das Gesicht des Therapeuten. Die Erkenntnis, dass er sich so in seinem Patienten getäuscht hatte, machte ihm sichtlich zu schaffen.

»Mich interessiert vor allem eines«, sagte er. »Ist Kroon akut gefährlich?«

»Nein. Nicht solange er seine Tabletten nimmt.« Mats entspannte sich ein wenig. »Er hat einer antiandrogenen Therapie zugestimmt. Das war die Voraussetzung für den Freigang.«

»Was bedeutet das?«

»Kroon erhält ein Medikament, das seine Libido unterdrückt. Es kommt beim Patienten zu keiner sexuellen Erregung. Er agiert nicht triebgesteuert, sondern kann rational handeln. Kroon ist intelligent. Er wollte nicht, dass sich das, was damals geschehen ist, wiederholt.«

»Sie meinen, er hat keine Fantasien, die nur darauf warten, in die Tat umgesetzt zu werden?«

Mats dachte eine Weile nach, ehe er antwortete.

»Doch. Die hat er sicher.« Der Psychologe legte die Fingerspitzen aneinander. »Sehen Sie: Wir wissen nicht wirklich, wo Pädophilie herkommt. Manche Sexualstraftäter sind selbst Missbrauchsopfer, andere nicht. Carl Kroon stammt aus geordneten familiären Verhältnissen. Einen Hinweis auf eigene Missbrauchserfahrungen habe ich nicht gefunden. Trotzdem gärt irgendetwas in ihm. Er träumt von jungen unschuldigen Mädchen. Er will sie besitzen und beherrschen. Aber er weiß auch, dass es falsch ist.«

»Er hatte Schwierigkeiten in der Schule.«

Mats nickte.

»Sein Feuermal. Die anderen Kinder haben ihn deshalb gehänselt und ausgelacht. Kroon hat sich gewehrt. Weil es mit Worten nicht geklappt hat, hat er zugeschlagen. Er hat aktiv nach Situationen gesucht, in denen er die Macht hatte.«

Frederik blinzelte verwirrt. Er hatte erst am Nachmittag zuvor ein Foto von Kroon gesehen, und er hatte ihn seinerzeit festgenommen und verhört. An ein Feuermal konnte er sich nicht erinnern.

»Er hat es mit Laser entfernen lassen, als er neunzehn war«, erklärte Mats. »Vorher ist es nicht sinnvoll, weil sich die dysfunktionalen Blutgefäße noch weiter ausbreiten können. Es war ziemlich groß, hat sich über die gesamte rechte Wange vom Auge bis zum Kinn gezogen.«

Frederik dachte darüber nach.

»Damit kann man vielleicht die Schlägereien in der Schule erklären. Aber die Entführung von Maja?«

»Das war ein unglückliches Zusammentreffen von Stressfaktoren. Kroon stand unter Druck. Er hatte Ärger mit seinem Vorgesetzten bei der Arbeit, und seine langjährige Freundin hatte ihn verlassen. Zum Abschied hatte sie sich noch über ihn lustig gemacht. Sie müssen wissen, dass Kroon manchmal unter Potenzstörungen leidet. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Der Auslöser, der sein altes Trauma reaktiviert hat. Eigentlich wollte er sich auf dem Mittsommerfest nur betrinken und alles vergessen. Aber dann hat er Maja gesehen, in ihrem weißen Kleid, mit dem Blumenkranz und dem wunderschönen blonden Haar …«

»Und das wollte er zerstören. Ihr Glück. Ihre Schönheit. Ihre Unbeschwertheit.«

»Ja, das vielleicht auch.« Mats legte den Kopf schief. »Aber vor allem hat er sich verliebt.«

Frederik lachte skeptisch.

»Er hat sie entführt und benutzt. Eine seltsame Art, seine Liebe zu zeigen.«

»Sicher. Aber freiwillig wäre sie nicht mitgegangen. Kroon war besessen von dem Gedanken, dass sie seine Wunden heilen könnte.«

»Und zum Dank hat er sie am Ende fast erwürgt.«

Mats schüttelte den Kopf.

»Er wollte das nicht. Aber er hatte Angst. Hätte er sie laufen lassen, hätte sie ihn beschreiben können. Er wollte nicht ins Gefängnis.«

Frederik griff nach dem Block mit den vorgefertigten Terminzetteln. Mats’ Erklärung erschien ihm plausibel, doch sein Mitgefühl für Kroon hielt sich in Grenzen.

»Wie heißt das Medikament?«

Mats nannte ihm den Namen und reichte Frederik seinen Kugelschreiber, damit er ihn notieren konnte.

»Für die Patienten gibt es keine Stifte, nur die Stempel für Datum und Uhrzeit ihres nächsten Termins«, erklärte er. »So ein Stift ist schnell einmal verschwunden, und die Jungs hier können aus allem Möglichen eine Waffe basteln.«

Frederik betrachtete ihn ruhig. Er registrierte das Ausweichmanöver, ging aber nicht darauf ein.

»Was passiert, wenn Kroon die Pillen nicht nimmt?«

Der Therapeut wurde sofort wieder sachlich.

»Dann nimmt die Wirkung ab, und die Hormonproduktion im Körper kommt langsam wieder in Gang. Es dauert eine Woche, vielleicht zwei, bis der normale Pegel erreicht ist.«

Frederik riss das oberste Blatt vom Block, faltete es in der Mitte und steckte es in die Hemdtasche.

»Das heißt, wir haben ein paar Tage Zeit? Wenn wir Kroon rechtzeitig festsetzen, bleiben seine Triebe unterschwellig, und er kann sie kontrollieren?«

»Das wäre meine Prognose.« Der Therapeut schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schluckte es aber hinunter.

Frederik stand auf und trat ans Fenster. Er betrachtete den hohen Zaun, der das Gelände umgab.

»Was denken Sie: Wo geht er hin?«

»Ich habe keine Ahnung. Nach seiner Entlassung wollte er nach Kiruna, aber ob es ihn jetzt dorthin zieht?«

Frederik drehte sich wieder um.

»Dann sollte man seine Zelle durchsuchen. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis.«

Mats nickte.

»Das habe ich bereits veranlasst. Einer der Vollzugsbeamten müsste gerade dabei sein. Wenn Sie wollen, können wir zusehen.«

 

Kroons Zelle war nicht größer als die anderen, doch im Laufe der Jahre hatte er dem Raum eine persönliche Note verliehen. Von der Decke baumelte ein Sandsack, in der Ecke lagen Boxhandschuhe am Boden. Die Wände waren mit großformatigen Postern tapeziert, die allesamt die winterliche Schnee- und Eislandschaft Nordschwedens zeigten. Im hellen Sonnenlicht, das durch das Zellenfenster hereinfiel, wirkte die Szenerie auf den Bildern so märchenhaft wie unwirklich.

Neben dem Bett stand ein Regal, auf dem sich handgeschnitzte Figuren reihten. Elche, Rentiere und Schlittenhunde im vollen Lauf, die gut getroffen waren, daneben menschliche Gestalten wie aus einem schwedischen Heimatkundemuseum. Gebeugte Männer mit schweren Säcken auf den Schultern, mit Schubkarren voller Steine oder prall gefüllten Fischernetzen, oder mit Pferd und Wagen auf dem Weg zum Feld. Am faszinierendsten war das Bildnis eines Paares. Der Mann kniete mit gesenktem Kopf vor der Frau, die ihre Hände auf seine Schultern gelegt hatte. Erst beim zweiten Hinsehen fiel Frederik auf, dass sie knabenhaft flache Brüste hatte und der Mann sie nicht an den Hüften hielt, wie er zunächst geglaubt hatte, sondern ihr vielmehr den Rock hochschieben wollte.

Frederik verspürte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund und wandte den Blick ab. Er stand mit Mats in der offenen Zellentür, während der Vollzugsbeamte Kroons Sachen durchsuchte.

Viel Persönliches gab es nicht, nur ein paar zerfledderte Zeitschriften mit Tipps für den perfekten Muskelaufbau, und einige Exemplare des Dagens Nyheter, von denen nur der Sportteil Knicke vom Lesen aufwies. Eigene Bücher besaß Kroon nicht, sein wichtigster Zeitvertreib war wohl der Fernseher gewesen, der gegenüber vom Bett auf einem Bord stand.

Der erfahrene Wärter fand mühelos die geheimen Verstecke: im Spülkasten, unter der Schreibtischschublade und in der ausgehöhlten Matratze. Seine Zigaretten und das Feuerzeug hatte Kroon auf seinen Freigang mitgenommen, alles andere hatte er dagelassen.

Mats starrte auf die silbernen Blister, die der Beamte auf den Tisch warf, und Frederik folgte seinem Blick.

Sie waren noch unberührt, keine einzige Tablette fehlte.

 

Als sie wieder in seinem Büro saßen, wirkte Mats wie eine Aufblaspuppe, bei der man das Ventil geöffnet hatte. Er hing kraftlos in seinem Sessel und starrte Frederik verzweifelt an.

»Er hat mich reingelegt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich mache diesen Job hier seit zehn Jahren. Und ich war immer der Meinung, dass ich in der Lage bin, sie voneinander zu unterscheiden: die Täter, denen man mit einer Therapie helfen kann, in ein normales Leben zurückzukehren, von denen, die man für den Rest ihrer Tage wegsperren muss. Bei Kroon war ich der Überzeugung, er könnte es schaffen.«

Frederik dachte an die kleine Maja, die von Kroon entführt und beinahe zu Tode gewürgt worden war.

»Wie ist Ihre Prognose, nachdem wir wissen, dass Kroon seine Tabletten nicht genommen hat?«

In den Augen des Therapeuten las er blanke Angst.

»Ohne die Medikamente …« Mats’ Stimme versagte, er musste schlucken. »Ohne die antiandrogene Therapie ist er eine tickende Zeitbombe. Dann ist es möglicherweise schon nicht mehr der Kopf, der sein Handeln bestimmt.«

»Es ist Mittsommer.« Frederik ließ die Bemerkung in der Luft schweben.

Mats nickte düster.

»Glauben Sie mir, ich mache mir selbst die größten Vorwürfe. Ich hätte merken müssen, dass er nicht ehrlich ist. Dass er mir seine Besserung nur vorspielt, damit ich die Lockerung seiner Haftbedingungen empfehle.«

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um ihn rasch wieder einzufangen«, sagte Frederik.

Mehr konnte er im Augenbick nicht tun, weder das Gespräch mit dem Therapeuten noch die Durchsuchung von Kroons Zelle hatten Hinweise auf einen möglichen Aufenthaltsort des Flüchtigen erbracht. Und die mögliche Spur nach Kalvsund hatte bisher auch nichts ergeben. Frederik schaute auf die Armbanduhr und erhob sich.

»Verzeihen Sie, aber ich muss los.«

Mats blickte auf und lächelte matt.

»Eine Frau?«

»Ja.« Frederik nickte. »Die wichtigste in meinem Leben.«

5

Wo ist Lisbet?«

Petter stand plötzlich in der Küche hinter ihr, als sie das traditionelle Essen für den Abend des Mittsommertags vorbereitete. Die ersten jungen Kartoffeln und Sill, den typischen schwedischen Hering. Dazu gab es Aquavit und anschließend Erdbeeren mit Sahne. Sie schwitzte, es war fast Mittag, und die Sonne stand schon wieder hoch an einem wolkenlos blauen Himmel. Wegen des Dampfs aus den Töpfen war es in der Küche schwül wie in einer Sauna.

Hjördis drehte sich zu ihm um. Er sah anders aus als sonst, und das lag nicht nur an der Tracht, die er angelegt hatte. Das Hemd mit den weiten Ärmeln und die rustikale Weste, die er über der roten Kniebundhose trug, ließen seine Schultern breiter wirken und sein Gesicht männlicher. Aber da war noch etwas anderes. Dieses Strahlen in seinen Augen und dieses feine Lächeln in den Mundwinkeln. Früher hatte er sie so angesehen, wenn sie sich geküsst hatten. Das taten sie schon lange nicht mehr. Nicht, seitdem alles zerbrochen war.

Hjördis wurde zornig. Petter stahl sich davon und nahm ihr alles, was sie besessen hatte. Doch das würde er noch bereuen.

»Ich dachte, sie sei mit dir rausgefahren. Du warst doch mit dem Boot draußen, oder nicht?«

Petters blasse Wangen verfärbten sich ein wenig.

»Ja. Mit dem Boot«, murmelte er. »Aber ohne Lisbet. Sie hat noch geschlafen, als ich aus dem Haus bin. Ich wollte sie nicht wecken. Es ist ja spät geworden gestern, und heute wird sie kaum früher ins Bett kommen.«

Hjördis nickte grimmig. Es war in der Tat spät geworden. Über eine Stunde hatte sie gebraucht, um die hartnäckigen Eisflecken aus dem Kleid zu entfernen. Lisbet war damit allein nicht zurechtgekommen, Hjördis hatte ihr helfen müssen, dabei war sie entschlossen gewesen, sich von ihrer Tochter nicht länger tyrannisieren zu lassen. Sie hielt es einfach nicht mehr aus, dass nie jemand Rücksicht auf sie nahm.

»Sie ist aber nicht da«, sagte sie. »Sie hatte wieder einen ihrer Anfälle. Hat rumgebrüllt und mit den Türen geknallt. Dabei habe ich sie bloß gebeten, ihrer Großmutter das Frühstück zu bringen.«

»Sie fürchtet sich vor ihr. Es ist ja wirklich kein schöner Anblick, weißt du, die alte Frau mit ihren roten, geschwollenen Gelenken. Immerzu keift und jammert sie.«

»Trotzdem ist sie ihre Großmutter. Ich kann hier nicht alles alleine machen. Du warst ja nicht da. Den ganzen Vormittag warst du weg. Kommst erst wieder, wenn das Essen auf dem Tisch steht.«

»Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?«

»Natürlich. Ich gehe zu Papa, hat sie geschrien. Du lässt ihr ja alles durchgehen.«

»Ich verstehe eben, wie sie sich fühlt. Das ist alles nicht leicht für sie, dieses ganze Leben hier.«

»Das ist es für mich auch nicht«, entgegnete Hjördis schroff. »Aber ich tue dennoch, was nötig ist.«

»Jaja.« Petter rückte seine Brille zurecht. »Es tut mir leid, okay?«

Hjördis wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Also, war sie nun bei dir oder nicht?«

»Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gesehen. Wie gesagt, ich war mit dem Boot draußen. Bestimmt ist sie wieder nach Hause gegangen, als sie mich nicht gefunden hat.«

»Sie ist nicht hier, das sage ich doch. Sie ist weggelaufen. Ihr Kleid hängt auch nicht mehr auf der Leine.«

Die Kartoffeln kochten über, und Hjördis hob eilig den Deckel vom Topf. Sprudelndes Wasser ergoss sich auf den Herd und verdampfte zischend an den Rändern der heißen Platte.

»Hast du nicht nach ihr gesucht?«

Hjördis wischte erbost mit dem Lappen über den Herd.

»Ich habe meiner Mutter das Frühstück gebracht und sie sauber gemacht. Den ganzen Dreck wieder weggeräumt und mich um den Abwasch und das Essen gekümmert. Wann hätte ich nach ihr suchen sollen?«

»Vielleicht ist sie schon zum Kiosk gegangen, um mit den anderen Kindern herumzutoben«, überlegte Petter.

Hjördis schüttelte den Kopf.

»Sie darf nicht allein dorthin. Das weiß sie.«

Petter nahm seine runde Brille ab und putzte sie.

»Ich dachte, sie gehorcht dir nicht? Sie macht, was sie will?«

Hjördis knallte den Deckel zurück auf den Topf.

»Meinst du, ich denke mir das aus? Aber bitte. Geh zum Kiosk und such sie. Ich kann hier nicht weg.« Sie griff nach einer Zwiebel und hackte sie mit dem Messer energisch in kleine Würfel.

Petter setzte die Brille wieder auf und wandte sich zur Tür.

»Nimm das Handy mit«, rief sie ihm hinterher. »Und sag mir Bescheid, wenn du sie gefunden hast.«

Er verschwand im Flur und ließ nicht erkennen, ob er sie gehört hatte. Die Haustür fiel ins Schloss, und Hjördis sah durchs Fenster, wie er die Straße entlangmarschierte. Er schaute nicht zu ihr her, sondern starrte auf den Asphalt.

Hjördis wandte sich ab und nahm die nächste Zwiebel in Angriff, auf die sie so wütend einhackte, dass die Stücke durch die halbe Küche flogen.

Dieses Kind machte einfach immer nur Scherereien.

6

Das Gebäude lag idyllisch auf einer Rodung kurz hinter Lilleby, umschlossen von einem lichten Laubwald. Es war eine Art Villa, ein weißer, zweistöckiger Bau mit hohen Fenstern und einer breiten Freitreppe vor dem Eingang, deren rechte Hälfte zur Rollstuhlrampe umgestaltet worden war. Die schmale Zufahrtsstraße endete auf einem großzügigen Platz, auf dem nur wenige Fahrzeuge parkten. Hinter den Bäumen glitzerte ein See.

Frederik zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn in die Hosentasche. Dann nahm er den Helm ab und strich sich über die kurzen Haare. Er atmete tief durch, um die Gedanken an Kroon aus seinem Kopf zu verbannen und innerlich zur Ruhe zu kommen. Die friedliche Stille über dem Anwesen trug entscheidend dazu bei.

Schließlich ging er die Stufen zum Eingang hinauf und öffnete die Tür. Er betrat die Halle, die in warmen Pastelltönen – gelb, rosa, orange – gestrichen war, und verspürte wie jedes Mal Behaglichkeit und Beklemmung zugleich. Dies hier war ein guter Ort. Aber er hätte Emma ein anderes Leben gewünscht.

Zielstrebig lief er auf einen der Flure zu, ohne sich an der Rezeption anzumelden. Da er selten Aufmerksamkeit erregte, hielt ihn niemand auf. Frederik betätigte den elektrischen Öffner, und die schwere Glastür schwang auf.

Emmas Zimmer war das letzte auf der linken Seite. Frederik klopfte leise an, drückte behutsam die Klinke hinunter und trat ein. Emma reagierte äußerst empfindlich auf laute Geräusche. Frederik zog die Tür genauso sacht wieder hinter sich zu und wandte sich um.

Emma saß auf dem hellen Fußboden und spielte mit Legosteinen. Wie meist war sie so versunken, dass sie nichts von ihrer Umgebung mitbekam.

Frederik ließ seinen Blick durch das kleine Zimmer schweifen, über das Bett mit der hellgelben Bettwäsche, den Schrank mit Emmas Kleidern, den niedrigen Tisch, den Kinderstuhl und das Regal, in dem die Plastikboxen mit ihrem Spielzeug standen. Auf dem Bett lag ihr liebstes: keine Puppe, kein Teddybär, sondern ein Plastikauto mit großen, beweglichen Rädern.

Frederik hockte sich Emma gegenüber im Schneidersitz hin und sah zu, wie sie mit gerunzelter Stirn einen Legostein nach dem anderen an seinen Platz legte. Sie hatte Reihen gebildet, in denen sie die Steine nach Größe und Farbe ordnete.

Frederik wartete, bis alles erledigt war. »Hallo, Emma«, sagte er dann gedämpft.

Emma hob den Blick. Sie war vier, ein zartes, schmales Mädchen mit halblangen blonden Haaren und tiefblauen Augen. Frederik lächelte. Emma musterte ihn aufmerksam.

»Hej.«

Sie stand auf und nahm eine der Plastikkisten aus dem Regal. Sorgsam legte sie alle blauen Steine hinein, verschloss die Box und stellte sie zurück. Anschließend wiederholte sie die Prozedur mit den andersfarbigen Steinen. Als sie alles verstaut hatte, schaute sie auf die aufgereihten Kisten und nickte, offenbar befriedigt. Sie drehte sich wieder zu ihm um.

Frederik erhob sich bedächtig und zeigte auf seine Armbanduhr. »Es ist halb zwei. Wollen wir einen Ausflug machen, so wie immer?«, fragte er. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

Emma versteifte sich augenblicklich. Ihre Augen weiteten sich, und sie schaute ihn furchtsam an.

»Ich weiß. Du magst keine Überraschungen. Aber diese wird dir gefallen. Willst du sie dir ansehen?«

Emma presste ihre Arme fest an den Körper. Frederik streckte die Hand nach ihr aus, berührte sie aber nicht.

»Wir ziehen dir eine Jacke an und gehen vors Haus, ja?«

Emma wandte sich ab und öffnete ihren Kleiderschrank. Sie nahm eine Jacke vom Bügel und mühte sich damit ab, ihre Hände durch die Ärmel zu schieben. Frederik hätte ihr gern geholfen, doch er wusste, dass sie das nicht mochte. Also geduldete er sich.

Als sie fertig war, ging er zur Tür und öffnete sie. »Komm.«

Emma zögerte. Dann lief sie hinter ihm her nach draußen auf den Parkplatz.

Vor dem Roller blieb Frederik stehen. Der blaue Lack glänzte im Sonnenlicht. Frederik hatte ihn eigentlich in Silbermetallic kaufen wollen, sich dann aber dagegen entschieden. Helle Lichtreflexe konnten bei Emma epileptische Anfälle auslösen, und das wollte er nicht riskieren.

Der Roller war ein großes, schweres Fahrzeug mit einem bequemen Fahrersitz und – für einen Motorroller mehr als ungewöhnlich – einem Beiwagen. Ein Bekannter hatte ihn gebaut, und ein Kollege bei der Verkehrsbehörde hatte dafür gesorgt, dass Frederik eine Betriebserlaubnis dafür bekam.