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Der Kommissar und die Frau des Kriminellen: »Forsberg und die Schatten von Trollhättan« ist der 4. Band von Ben Tomassons unblutiger Schwedenkrimi-Reihe mit raffinierten Plots, die zum Miträtseln anregen. In Göteborg wird ein ehemaliger Jura-Dozent ermordet, der vor 22 Jahren wegen einer Vergewaltigung verurteilt worden war. Der Mann hatte jedoch stets seine Unschuld beteuert. Kommissar Frederik Forsberg übernimmt den Fall, doch alle Spuren laufen zunächst ins Leere. Da ist es nicht hilfreich, dass Forsberg auch private Sorgen plagen: Seine heimliche Geliebte Lea wurde verhaftet, weil sie auf ihren Mann Arvid Ekström geschossen hat. Dann flieht Lea angeblich aus der Haft, zeitgleich verschwindet Ekström, der tief in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, aus seiner Villa. Allerdings gibt es Kampfspuren im Haus, und die weisen eindeutig auf einen Verdächtigen hin: Frederik Forsberg. Der Kommissar wird vom Dienst suspendiert und muss befürchten, dass Ekström Lea entführt und ihm anschließend eine Falle gestellt hat. Nur wie soll er das jemals beweisen? Die Fälle von Kommissar Frederik Forsberg, der in Göteborgs malerischer Schären-Landschaft ermittelt, sind psychologisch raffinierte Urlaubskrimis für alle Schweden-Fans. Die atmosphärischen Schwedenkrimis von Ben Tomasson sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Forsberg und das verschwundene Mädchen - Forsberg und der Tote von Asper - Forsberg und der Teufel von Björlanda - Forsberg und die Schatten von Trollhättan
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Ben Tomasson
Ein Schweden-Krimi
Knaur eBooks
Vielschichtig, abgründig und mit psychologischer Raffinesse – ein neuer Fall für Kommissar Frederik Forsberg
In Göteborg wird ein ehemaliger Jura-Dozent ermordet, der einst wegen Vergewaltigung verurteilt worden war. Die späte Rache seines vermeintlichen Opfers? Oder war er in andere Machenschaften verstrickt und wurde mundtot gemacht? Während sämtliche Spuren ins Leere laufen, spitzt sich die Lage für Kommissar Forsberg auch im Privaten dramatisch zu: Erst wird seine heimliche Geliebte Lea verhaftet, weil sie auf ihren Mann, den Kriminellen Arvid Ekström, geschossen hat. Dann verschwindet Ekström, und die Kampfspuren in seiner Villa weisen eindeutig auf einen Verdächtigen hin: Frederik Forsberg …
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
Dank
Exitus.
Die Stimme ihres Kollegen war leise und mitfühlend, doch das Wort traf sie trotzdem wie ein Schlag.
Zoey hatte die junge Frau behandelt. Sie war im Westpark überfallen worden. Der Täter hatte sie brutal vergewaltigt und bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt. Zoey hatte die Verletzungen versorgt und dokumentiert und lange mit der Frau gesprochen. Länger, als ihre knapp bemessene Zeit es eigentlich zuließ, aber sie hatte die Zerbrechlichkeit der Studentin gespürt. Die Polizistin, die die Anzeige aufgenommen hatte, war rücksichtsvoll gewesen, doch all das Schreckliche in der Erinnerung noch einmal zu durchleben, hatte die junge Frau mehr Kraft gekostet, als sie übrig hatte.
Zoey hatte ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt und dafür gesorgt, dass sie zu einer freundlichen Mitpatientin aufs Zimmer kam. Genützt hatte es nichts. Die Bettnachbarin hatte geschlafen, als die junge Frau sich hinausgeschlichen hatte. Sie hatte zuvor heimlich etliche Hände voll Pillen eingesammelt, die von der Nachtschwester in den anderen Zimmern verteilt worden waren. Ein tödlicher Cocktail aus Schmerzmitteln, Herzmedikamenten, Blutdrucksenkern und diversen anderen Tabletten.
Zoey hatte ihr den Magen ausgepumpt, aber es war zu spät gewesen. Gegen eine mehrfache Überdosis, die zugleich eine Vielzahl unkalkulierbarer Wechselwirkungen hervorrief, war sie machtlos. Egal, welches Medikament sie verabreichte, es richtete nur noch mehr Schaden an.
Der Kollege legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, ehe er den Raum verließ. »Nicht deine Schuld«, murmelte er leise. Doch Zoey war sich da nicht so sicher.
Hätte sie sich mehr Zeit nehmen müssen? Dafür sorgen, dass jemand am Bett der Frau wachte? Aber Personal war knapp. Die Nachtschwester hatte regelmäßig nach ihr gesehen. Mehr war einfach nicht möglich.
Zoey stellte den Totenschein aus. Die Schwestern würden sich um alles Weitere kümmern. Dann hängte sie den Kittel an den Haken im Arztzimmer, nahm ihre Jacke aus dem Spind und ging nach Hause.
Es war kurz vor sieben, als sie in ihre Straße bog. Die Sonne kletterte gerade über die Hausdächer, über denen sich ein sattblauer bayerischer Himmel wölbte. Perfekt geformte Schäfchenwolken zogen vorbei wie auf einer Kitschpostkarte. Zoey entdeckte eine schmale Parklücke und manövrierte den viel zu großen Neuwagen hinein, den sie Ferdinand zuliebe angeschafft hatte. Die Einparkhilfe piepte. Das Display zeigte an, dass sie zu nah an das hinter ihr parkende Auto herangeraten war. Aber Zoey war schlichtweg zu müde. Sie reagierte zu langsam. Ihr Fuß rutschte vom Bremspedal ab. Durch das halb geöffnete Wagenfenster hörte sie den Knall und das Geräusch von knitterndem Blech.
Nicht auch das noch!
Tränen schossen ihr in die Augen. Zoey stellte den Motor ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Schluchzer schüttelten ihren Körper.
War heute der Tag, an dem alles zusammenbrach? War der Tod der jungen Frau einfach einer zu viel? Vergewaltigungsopfer waren keine Seltenheit in der Notaufnahme des Klinikums Großhadern, ebenso wenig wie nachfolgende Suizidversuche, aber Zoey hatte das Gefühl, dass sie keinen einzigen weiteren Fall mehr ertragen könnte.
Ferdinand hatte ihr oft genug vorgeworfen, dass sie alles viel zu nah an sich heranließ. Nur ihn nicht. Das stimmte, auch wenn Zoey nicht wusste, warum es so war. Aber sie konnte es nicht ändern.
Sie musste es auch nicht mehr. Vor Beginn ihrer Schicht hatte Ferdinand ihr mitgeteilt, dass er sich von ihr trennen würde. Achtzehn Monate hatte er es mit ihr ausgehalten. Länger als alle anderen Männer zuvor. Sie brauchte sich nichts vorzumachen. Es lag an ihr. Sie war nicht beziehungsfähig. Ihr Privatleben war eine endlose Geschichte des Scheiterns.
Der Einparkunfall war nur eine Kleinigkeit, aber er war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Zoey stieg aus dem Wagen und kritzelte eine Nachricht für ihren Nachbarn auf eine Visitenkarte, die sie hinter den Scheibenwischer klemmte. Der Wagen, den sie angefahren hatte, gehörte dem alten Obermayer. Ausgerechnet. Der Rentner zettelte wegen jeder Kleinigkeit Streit an.
Sie öffnete die Haustür und sah, dass ein großer Briefumschlag halb in ihrem Kasten steckte. Zoey zog ihn heraus und betrachtete ihn im dämmrigen Licht des Hausflurs. Sie erkannte die schwedische Briefmarke und verspürte einen Stich. Wie lange war sie nicht mehr in ihrer Heimat gewesen? Aber was hätte sie auch in Schweden verloren? Es gab dort ja niemanden mehr.
Sie stieg die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, kickte im Flur die Schuhe von den Füßen und ließ sich im Wohnzimmer aufs Sofa sinken. Unschlüssig betrachtete sie den Umschlag. Der Absender war eine Anwaltskanzlei in Göteborg.
Zoey verspürte ein ungutes Gefühl. Sollte sie den Brief öffnen, oder wäre es besser, sich zuerst zu wappnen? Aber wogegen? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was der Anwalt von ihr wollte. Zoey atmete tief durch. Es nutzte nichts, das Unvermeidliche aufzuschieben.
Sie riss das Kuvert auf und las den Brief, der auf teurem marmoriertem Papier gedruckt war. Mehrmals, ohne dass sie begriff, was dort stand.
Örjan Svensson, ein Cousin ihres Vaters, den sie höchstens dreimal in ihrem Leben gesehen hatte, war verstorben und hatte ihr sein Haus in Kungsbacka vermacht.
Wieder schluchzte sie auf. War das ein Wink des Schicksals? Das fremde Land, die fremde Stadt hinter sich zu lassen und nach Schweden zurückzukehren? Sie mochte München, aber seit ihre Eltern tot waren, war es hier nicht mehr dasselbe. Und jetzt, nachdem auch noch die Beziehung zu Ferdinand in die Brüche gegangen war und sie kaum mehr die Kraft für ihren Job aufbrachte – warum sollte sie nicht noch einmal ganz neu anfangen?
Emma war wieder verstummt. Sie sagte nichts, wenn Frederik sie bei seinem Vater und dessen Frau abholte. Sie starrte wortlos auf die vorbeiziehende Landschaft, wenn sie im Beiwagen von Frederiks Roller mitfuhr. Wenn sie an ihrem Lieblingsplatz auf den Felsen am Badestrand von Sillvik saßen, knabberte sie nur mechanisch an ihrer Eiswaffel.
Frederik Forsberg hatte den Eindruck, einfach nicht mehr zu ihr durchzudringen. Emma hatte sich komplett zurückgezogen. Sie hatte schon vorher große Distanz zu ihrer Umwelt gehalten, so wie es für eine Asperger-Autistin eben typisch war. Doch jetzt schien sie sämtliche Türen zu ihrem Innern verriegelt zu haben.
Frederik hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen, um mehr Zeit mit dem Mädchen zu verbringen. Emma war die Tochter seiner großen Liebe Lea. Ob sie auch seine Tochter war, wusste er nicht.
Immer wieder hatte er gehofft, dass Lea es eines Tages schaffen würde, sich von ihrem Mann zu trennen. Frederik wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihr und Emma in seinem kleinen Haus am Waldrand von Forsbäck zu leben. Wie eine richtige Familie. Egal, ob er Emmas biologischer Vater war oder nicht.
In den letzten Jahren hatte er Emma regelmäßig besucht, die bis vor Kurzem in einem Heim in Lilleby gelebt hatte. Immer samstags um halb zwei. Emma brauchte feste Strukturen. Frederik hatte seinen großen Elektroroller umbauen lassen und ihn um einen Beiwagen für Emma ergänzt. Wenn er mit ihr in der Natur unterwegs war, hatte er den Eindruck, dass sie sich entspannte, auch wenn sie das weder sagen noch mit einem Lächeln zeigen konnte. Aber Frederik hatte gespürt, dass sie im Gleichgewicht war, wenn sie mit ihrem zartgelben Kinderhelm auf den blonden Haaren neben ihm saß.
Im letzten Monat war dann alles eskaliert. Lea hatte endlich wissen wollen, wer Emmas leiblicher Vater war. Sie hatte sich an ein Genlabor gewandt, doch Arvid hatte Wind davon bekommen. Er war vollkommen ausgerastet, als ihm klar geworden war, dass sie ihn betrogen hatte. Die Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung hatte er ihr nicht abgekauft.
Was danach geschehen war, wusste Frederik nicht, aber es musste schlimm gewesen sein. Als Frederik nach dem Rechten hatte sehen wollen, hatte ein Krankenwagen vor dem Haus gestanden. Nicht für Lea, wie Frederik zunächst befürchtet hatte, sondern für Arvid.
Jetzt saß Lea in Untersuchungshaft, weil sie auf ihren Mann geschossen hatte. Die Anklage lautete auf versuchten Mord.
Arvid Ekström war längst wieder zu Hause. Er hatte Glück gehabt. Die Kugel hatte knapp das Herz verfehlt, und die lebensgefährliche Blutung hatte man rechtzeitig stoppen können.
Frederiks Gefühle in dieser Sache waren mehr als gemischt. Ekström war sein größter Widersacher. Nicht nur, weil Frederik Lea liebte. Ekström war auch der Kopf eines Waffenschieberrings, gegen den Frederik mehrere Jahre lang ermittelt hatte, ohne Erfolg. Ein paar Handlanger waren verurteilt worden, doch Ekström hatte den Kopf aus der Schlinge gezogen.
Ekströms Tod wäre eine Erleichterung gewesen, doch für Lea wäre es noch viel schlimmer, hätte sie ihren Mann tatsächlich getötet. Weil es dann keine Anklage wegen versuchten, sondern wegen vollendeten Mordes wäre. Und weil die Schuldgefühle sie aufgefressen hätten.
Die mögliche Verurteilung stand wie ein Schreckgespenst im Raum. Frederik konnte nur hoffen, dass es auf Notwehr hinauslief, weil Ekström Lea zuvor brutal misshandelt hatte. Dass sie nicht für Jahre hinter Gitter musste. Und dass sie irgendwann mit alldem fertigwurde.
Frederik schob den Gedanken beiseite. Er wollte sich nicht mit Ekström beschäftigen, sondern sich ganz auf Emma konzentrieren. Irgendwie musste es ihm doch gelingen, sie aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken.
»Wollen wir schwimmen gehen?«, fragte er.
Emma wandte ihm tatsächlich den Kopf zu, und in ihren tiefblauen Augen schien sich etwas zu bewegen. Ihre Lippen öffneten sich, aber sie blieb stumm.
»Du meinst, es ist zu kalt, nicht wahr?«, sagte Frederik. Es war erst Ende April. Der Strand war verlassen. Außer ihnen war niemand hier.
Frederik stand auf und begann sich auszuziehen. Emma legte den Kopf schief und sah ihm zu. Frederik glaubte, ein leichtes Kopfschütteln wahrzunehmen. Vor dem Schock wegen Leas Verhaftung hätte sie ihm wahrscheinlich in sachlichem Ton erklärt, dass seine Idee dumm war. Er würde sich nur eine Erkältung holen, vielleicht sogar eine Lungenentzündung. Es war nicht Emmas Art, sich Sorgen zu machen, aber sie analysierte Situationen und reagierte mit logischen Schlussfolgerungen.
Frederik entkleidete sich bis auf die Unterhose. Ein kalter Wind fegte über die kahlen Felsen. Das Meer rollte in Wellen auf den Strand, von weißer Gischt gekrönt.
Es war wirklich eine dumme Idee. Aber was sollte er sonst tun?
Er kletterte über die Felsen zur Wasserkante und tauchte den Fuß ein. Das Wasser war eiskalt. Zwölf, vielleicht vierzehn Grad, wenn es hochkam.
Egal.
Frederik marschierte weiter ins Wasser hinein und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass seine Mutter vor mehr als dreißig Jahren dasselbe getan hatte. Nicht, um zu baden, sondern um ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Als ihm das Wasser bis zur Hüfte reichte, warf er sich kopfüber in die Fluten. Die Kälte schlug über ihm zusammen, und eine Sekunde lang meinte er, sein Herz würde stehen bleiben. Prustend tauchte er wieder auf, kraulte ein paar Züge und schwamm dann, so rasch er konnte, zurück an Land. Sein Puls raste, und seine Haut brannte wie Feuer. Er musste seinen Pullover zum Abtrocknen benutzen, weil er kein Handtuch dabeihatte, und ohne Unterhose in die Chinos steigen, doch die Mühe hatte sich gelohnt.
Es war kaum mehr als die Andeutung eines Lächelns, aber Frederik hatte gesehen, dass sich Emmas Mundwinkel um eine Winzigkeit gehoben hatten, als er wie ein bibbernder Neptun aus dem eiskalten Wasser gestiegen war. Nur ein kleiner Schritt auf einem sehr weiten Weg. Aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Du siehst großartig aus!« Solveig kam mit langen Schritten auf ihn zu, während er zum Auto humpelte. Die halblangen blonden Haare wehten ihr um den Kopf. Sie trug ein weites, kariertes Hemd, das sie vorn zusammengeknotet hatte, darunter ein schlichtes Top. Mit einem Lächeln streifte sie die Gartenhandschuhe von den Fingern, steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans und öffnete ihm die Wagentüren. »Du wirst einen guten Eindruck machen.«
Stig Rydell warf die Krücken auf die Rückbank des Geländewagens.
»Wenn nur die verdammten Dinger nicht wären«, murrte er.
Solveig lachte. »Sie tun deiner Ausstrahlung keinen Abbruch«, versicherte sie ihm, rückte seine Krawatte zurecht und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du siehst aus wie ein Mann, der zupacken kann und anderen den rechten Weg weist.«
Das war genau die Wirkung, auf die es ihm ankam. Wenn er für die Partei ins Parlament einziehen wollte, musste er Vertrauen schaffen. Das war ihm in den letzten Jahren gelungen, aber dann war ihm vor ein paar Wochen dieser blöde Unfall dazwischengekommen. Die Verletzung würde wieder heilen, doch er fürchtete, dass ihn die Öffentlichkeit mit dem steifen Bein als Invaliden wahrnahm.
»Mach dir keine Sorgen. Die Leute wissen, was sie an dir haben.« Solveig reichte ihm die Hand, um ihm beim Einsteigen zu helfen. Stig ließ es zu. Hier sah ihn ja niemand. Er hievte sich mit der steifen Schiene auf den Beifahrersitz und lehnte sich zurück. Solveig kletterte hinters Steuer.
Sie lenkte den Wagen aus der Auffahrt des Hauses auf den holprigen Waldweg, der rechts zum Sägewerk und links zum Fluss Göta älv führte. Der Volvo war solide gebaut, die Stoßdämpfer federten jede Erschütterung gut ab. Stig schaute aus dem Fenster auf die hohen Bäume, die zu beiden Seiten aufragten. Im Seitenspiegel sah er den See Öresjö zwischen den Stämmen hindurch aufblitzen, helles Licht, das auf der Wasseroberfläche reflektiert wurde.
Der Weg führte an kleinen Seen und ausgedehnten Waldflächen vorbei. Sie passierten eine Schleuse und fuhren anschließend am Göta älv entlang in Richtung Göteborg. Stig mochte die Strecke, die zwischen Wiesen und Feldern verlief und weite Blicke erlaubte, wie sie in Schweden mit seinen zahlreichen Waldgebieten eher selten möglich waren. Erst kurz vor Göteborg wurde die Besiedelung wieder dichter.
Während sie durch die Stadt zum Sahlgrenska-Krankenhaus fuhren, redeten sie über den Vortrag, den er am Abend halten wollte. Schweden war auf einem guten Weg in der Klimapolitik, aber es gab immer noch eine Menge zu tun. Stigs Partei setzte sich für Nachhaltigkeit ein. Sein Spezialgebiet war die Forstwirtschaft, was nahelag. Seine Familie besaß Wald und ein Sägewerk.
Solveig hielt direkt vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Stig gab ihr einen Kuss, bevor er ausstieg und die Krücken vom Rücksitz nahm.
»Du musst nicht warten. Ich fahre nach der Untersuchung mit dem Taxi in die Parteizentrale und bereite mich auf den Vortrag vor. Es wird sicher spät heute Abend. Gib den Kindern einen Kuss von mir.«
»Das mache ich.«
Stig warf die Tür zu. Solveig winkte ihm und gab wieder Gas. Stig schaute ihr hinterher.
Das Glück war ihm immer gewogen gewesen. Er hatte eine großartige Frau und drei wunderbare Kinder. Der Betrieb, den er von den Eltern übernommen hatte, stand auf gesunden Füßen. Und sein Aufstieg in der Partei war unaufhaltsam erschienen.
Doch irgendwann in den letzten Monaten hatte sich das Blatt gewendet. Oder vielleicht hatte es auch schon viel früher begonnen, schleichend und unbemerkt. Ihm selbst war es erst klar geworden, als der Unfall geschehen war.
Die Waldarbeiter waren unaufmerksam gewesen, oder er selbst hatte nicht aufgepasst. Er hatte mit einem Geschäftspartner telefoniert, der einen Großauftrag storniert hatte. Ob der Arbeiter gar nicht gerufen hatte, oder ob Stig das »Baum fällt« einfach überhört hatte, weil er so erbittert mit dem Anrufer diskutiert hatte, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Jedenfalls war der Baum unmittelbar neben ihm zu Boden gegangen. Stig hatte sich nur mit einem Hechtsprung ins Dickicht retten können. Der Stamm hatte ihn knapp verfehlt, nur die Äste hatten ihn gestreift und zahlreiche Blessuren und Abschürfungen verursacht. Aber er war unglücklich aufgekommen, hatte sich das Knie verdreht und das linke Wadenbein sowie das Sprunggelenk gebrochen. Außerdem waren ein paar Bänder gerissen und Knorpel in Mitleidenschaft gezogen worden. Mehrere Operationen waren notwendig gewesen.
Jetzt trug er eine klobige feste Stützschiene, die sein linkes Bein vom Knie bis zum Fuß umschloss und ruhigstellte, und wenn das Ding endlich wegkam, würde er mühsam wieder laufen lernen müssen. Aber die Ärzte waren zuversichtlich, dass er irgendwann ohne Hilfsmittel zurechtkommen würde. Er hoffte nur, dass es vor dem Wahlkampf so weit war.
Viel schlimmer war allerdings, dass sich auch der Betrieb in Schieflage befand. Stig wusste nicht genau, wie es passiert war. Ein paar unüberlegte Investitionen, ein paar ausgebliebene Aufträge. Um ein gutes Bild in der Öffentlichkeit abzugeben, hatte er vieles umgestellt. Das Sägewerk sollte effizienter und zugleich ökologischer arbeiten. Einiges war auch schiefgegangen, weil ihm Baumfällgegner das Leben schwer gemacht hatten. Der Spagat zwischen nachhaltiger Holzwirtschaft und profitabler Unternehmensführung war weitaus schwieriger, als er gedacht hatte. Doch er war wild entschlossen, es zu schaffen. Falls ihm der Sprung ins Parlament gelang, hätte er einige Jahre lang ein gutes Zusatzeinkommen, mit dem er die Löcher in der Betriebskasse stopfen könnte. Wenn ihm nur das verdammte Bein keinen Strich durch die Rechnung machte!
Er hätte damals nicht den halben Wald verkaufen dürfen, das war ihm mittlerweile schmerzlich bewusst geworden. Aber seinerzeit war es ihm als die einfachste Lösung erschienen. Er war eben jung gewesen und dumm. Hatte Fehler gemacht. Aber es nützte nicht, deshalb zu hadern. Die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Er musste sich auf die Zukunft konzentrieren. Alles andere war vergeudete Zeit und Energie.
Stig fuhr mit dem Fahrstuhl in die Abteilung für Orthopädie und meldete sich am Empfang. Die Frau an der Rezeption lächelte ihn an.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie«, erklärte sie.
Stig, der gern mit den Leuten scherzte, erwiderte das Lächeln. »Erst die schlechte.«
»Dr. Magnusson arbeitet nicht mehr für uns.«
Das war der Arzt, der Stig bisher behandelt hatte.
»Und die gute?«
»Wir haben bereits Ersatz. Eine Ärztin, die sich auf die rasche Mobilisierung nach Knochenbrüchen spezialisiert hat. Sie werden begeistert sein.«
Stig empfand ein kurzes Hochgefühl. Dr. Magnusson war ein Arzt der alten Schule gewesen, der viel von Ruhigstellung hielt und vor zu früher Belastung warnte. Stig hatte sich seinen Anweisungen gefügt, im Stillen allerdings darüber nachgedacht, sich jemanden zu suchen, der ihn schneller wieder auf die Beine brachte. Vielleicht hatte ihm das Schicksal ja gerade das Glück zurückgebracht, und diese Frau würde dafür sorgen, dass er bis zum Wahlkampf wieder fit war?
»Nehmen Sie kurz auf dem Flur Platz. Sie werden dann hereingerufen.«
Stig humpelte zu den Stühlen im Wartebereich und ließ sich umständlich auf einem davon nieder. Die Krücken lehnte er neben sich an die Wand. Vor seinem Unfall war ihm nicht klar gewesen, wie lästig es war, wenn man das Knie nicht beugen konnte. Jetzt wusste er, dass man sich kaum noch normal zu bewegen vermochte.
Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine Tür. Eine Frau im weißen Kittel trat heraus. »Herr Rydell?«
Stig griff nach seinen Krücken und hievte sich wieder hoch. Er humpelte auf die Frau zu und hob den Blick.
Als er ihr Gesicht sah, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Das konnte doch nicht sein!
Sie sah anders aus als bei ihrer letzten Begegnung. Die blonden Haare waren kurz geschnitten, das Gesicht ungeschminkt. Sie trug eine schwarz gerahmte Brille, die ihrem hübschen Gesicht eine gewisse Strenge verlieh. Die weit geschnittene weiße Hose unter dem offenen Kittel und die gestärkte weiße Bluse, bei der nur der oberste Knopf geöffnet war, verhüllten ihre weiblichen Rundungen.
Damals war sie ein anderer Typ gewesen, mit langen blonden Haaren und modischem Styling. Aber Stig erkannte sie trotzdem sofort. Sein Puls beschleunigte sich auf ein ungesundes Maß.
Die Frau streckte die Hand aus. »Guten Tag, ich bin Zoey Carlsson, Fachärztin für Orthopädie. Ich bin die Nachfolgerin von Dr. Magnusson, der Sie bisher behandelt hat.« Sie deutete auf die Tür zum Sprechzimmer. »Bitte. Kommen Sie herein.«
Stig folgte der Einladung und setzte sich auf die Liege. Konnte es wirklich sein, dass sie ihn nicht erkannte? Dass sie nicht wusste, wer er war? Dass sie sich nicht daran erinnerte, was passiert war?
Zoey zog sich einen Rollhocker heran und setzte sich Stig gegenüber. Sie blätterte in seiner Krankenakte und runzelte die Stirn.
»Das war ein schlimmer Unfall, den Sie hatten. Wadenbein, Sprunggelenk und Knie. Aber ich bin sicher, wir bekommen Sie wieder hin. Darf ich?« Sie legte die Akte beiseite und besah sich die steife Schiene, die Dr. Magnusson ihm angelegt hatte. Mit routinierten Griffen entfernte sie die Orthese. »Können Sie das Knie beugen?«
Stig schluckte. Er durfte sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Solange sie nicht wusste, wer er war, drohte ihm keine Gefahr. Sie war damals aus Schweden weggegangen, erinnerte er sich. Warum war sie zurückgekehrt?
Zoey stützte seinen Fuß und half ihm, vorsichtig das Knie zu beugen. Stig zuckte vor Schmerz zusammen.
»Das tut jetzt erst einmal weh«, sagte Zoey und wiederholte die Prozedur einige Male. »Aber ich denke, ich kann Ihnen eine bewegliche Knie-Fuß-Stützstrebe verordnen. Das ist ein erster Schritt, um den normalen Bewegungsablauf wieder zu erlernen. Außerdem bekommen Sie ab sofort Physiotherapie. Wenn Sie sich langsam herantasten, werden Sie in ein paar Wochen wieder normal laufen können.«
Das war genau das, was sich Stig erhofft hatte, doch Freude wollte sich nicht einstellen. Viel zu groß war die Angst, dass sie plötzlich begriff, wer er war.
Aber es passierte nichts. Zoey schrieb ihm zwei Rezepte aus, legte ihm die feste Schiene wieder an und half ihm von der Liege.
»Wir sehen uns in vier Wochen wieder.« Sie reichte ihm die Rezepte, die Stig in die Sakkotasche steckte. »Danke.« Er griff nach seinen Krücken und versuchte, beim Verlassen des Sprechzimmers sein normales Tempo beizubehalten, auch wenn er am liebsten gerannt wäre. Aber das konnte er mit dem steifen Bein ja ohnehin nicht.
Gleich morgen würde er sich einen anderen Orthopäden suchen. Auf keinen Fall würde er noch einmal herkommen und das Risiko eingehen, dass Zoey sich wieder erinnerte. Oder würde er damit erst recht ihre Aufmerksamkeit erregen? Was, wenn sie sich über sein Ausbleiben wunderte und anfing, seine Akte genauer zu studieren? Womöglich erreichte er damit genau das Gegenteil von dem, was er wollte. Also doch lieber bleiben und hoffen, dass nichts passierte? Stig, der sonst immer so entscheidungsfreudig war, wusste es einfach nicht.
Er humpelte zu den Fahrstühlen und fuhr hinunter ins Foyer. Als er vor der Klinik stand, hämmert sein Herz immer noch. Mit bebenden Fingern zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte auf einen Kontakt.
»Ingvar«, keuchte er, als sein Gesprächspartner sich meldete. »Du glaubst nicht, wem ich eben begegnet bin.«
Lea Ekström schaute in den verschrammten Spiegel in ihrer Zelle. So ganz hatte sie sich immer noch nicht an ihr neues Aussehen gewöhnt. Die Haare waren jetzt knapp zwei Zentimeter lang, gerade genug für eine sehr kurze Kurzhaarfrisur. Aber hier drin war es nur gut, dass sie keine langen Haare mehr hatte. Sie hatte schon einige Male gesehen, wie andere Frauen drangsaliert wurden, indem man sie an den Haaren zog. Das war bei ihr nicht möglich.
Vermutlich hätte es ohnehin niemand gewagt. Die anderen Frauen hielten Distanz zu ihr. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass sie auf ihren Mann geschossen hatte. Vor einer Frau, die zu so etwas fähig war, nahm man sich besser in Acht.
Die anderen hatten ja keine Ahnung. Wie unerträglich ihr Leben mit Arvid gewesen war. Wie sehr er sie gequält hatte. Eingesperrt zu sein war schrecklich, aber das war sie schon gewesen, ehe sie ins Gefängnis gekommen war, und in vielerlei Hinsicht war Arvids goldener Käfig grausamer gewesen als die vergitterte Zelle. Hier lief alles vorhersehbar ab, nach festen Regeln. Sie musste nicht befürchten, dass ihr Ehemann kam, sie erniedrigte und ihr wehtat. Natürlich waren da die anderen Frauen, die um einen Platz in der Hierarchie kämpften, aber hier hatte sie zumindest eine Chance. Keine ihrer Mitgefangenen war so skrupellos und mächtig wie Arvid.
Angst machte ihr nur das, was nach der Untersuchungshaft kommen würde. Würde man sie freisprechen, weil sie in Notwehr gehandelt hatte? Oder würde man sie wegen Mordversuchs zu einer langen Haftstrafe verurteilen? Und was wäre schlimmer? Im Gefängnis war sie vor Arvid sicher. Was würde er mit ihr anstellen, wenn man sie freiließ?
Auf der anderen Seite spürte sie hier, hinter den Mauern, ihre Sehnsucht nach Freiheit stärker als je zuvor. Mit ihrem freudlosen Dasein an Arvids Seite hatte sie sich abgefunden, doch jetzt war ihr der Verlust der Selbstbestimmtheit plötzlich mit jeder Faser ihres Körpers bewusst.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und setzte sich auf die schmale Pritsche. Wie hielt man es aus, jahrelang in einer Zelle zu leben?
Ihre Gedanken wanderten wie so oft zu Emma. Seit mehr als zwei Monaten wusste sie nicht, wo sich ihre Tochter befand und ob es ihr gut ging, und die Angst um ihr Kind zerrte beständig an ihr.
Das letzte Mal hatte sie Emma im Heim in Lilleby gesehen, beschützt und behütet, so wie sie es sich für ihre Tochter wünschte. Dann war das mit Arvid passiert.
Er hatte den Brief vom Genlabor gefunden und sofort begriffen, dass sie an seiner Vaterschaft zweifelte. Natürlich hatte er wissen wollen, wer sein Nebenbuhler war. Lea hatte Frederiks Namen nicht genannt, sondern Arvid die Geschichte von einer Vergewaltigung in einem einsamen Park aufgetischt, aber sie wusste nicht, ob er ihr geglaubt hatte.
Aus Angst, dass ihr Mann Emma als Druckmittel einsetzen könnte, hatte sie Frederik gebeten, Emma aus dem Heim zu holen und in Sicherheit zu bringen. Ob es gelungen war, hatte sie nicht erfahren, weil ihr geheimes Handy kaputtgegangen und der Kontakt abgerissen war. Dann war das Ergebnis des Vaterschaftstests eingetroffen, und Arvid war vollkommen ausgerastet. Er hatte sie mit der Waffe bedroht.
Lea wusste nicht, woher sie den Mut genommen hatte, sich auf ihn zu stürzen. Er war so überrascht gewesen, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, ihm die Pistole zu entwinden. Und dann hatte sie auf ihn geschossen.
Ein Geräusch riss Lea aus ihren Erinnerungen. Jemand machte sich an dem Schiebefenster in der Zellentür zu schaffen. Gleich darauf wurde der Schlüssel im Schloss gedreht.
»Frau Ekström«, sagte die Justizbeamtin. »Sie haben Besuch. Ihre Anwältin möchte mit Ihnen sprechen.«
Lea war verwirrt. Sie hatte keine Anwältin, sondern einen Anwalt. Einen jungen Mann, der gerade seine erste Stelle in einer Kanzlei angetreten hatte. Er war ihr als Pflichtverteidiger zugewiesen worden. Bezahlen konnte sie niemanden, dafür hatte Arvid mit seinen Eheverträgen gesorgt. Sie besaß überhaupt kein eigenes Geld.
Der Anwalt war ein schüchterner, blasser Mann mit dicken Brillengläsern. Lea hatte wenig Hoffnung, dass er ihr helfen konnte. Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste dankbar sein, dass sie überhaupt einen Rechtsbeistand hatte.
Sie folgte der Justizbeamtin durch die Gänge. Sicher hatte die Frau etwas missverstanden.
Sie passierten zahllose verschlossene Türen, liefen eine Treppe hinunter und durchquerten mehrere Schleusen, die aufgesperrt und wieder abgeschlossen werden mussten. Am Ende gelangten sie zu den Räumen, die für Anwaltsgespräche vorgesehen waren.
»Bitte.« Die Justizbeamtin öffnete für sie.
Lea trat ein, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Am Tisch saß eine Frau, die Lea noch nie zuvor gesehen hatte. Sie mochte Anfang, Mitte vierzig sein. Das lange blonde Haar hatte sie zu einem Knoten aufgesteckt. Sie trug ein hellblaues Kostüm, das teuer aussah. Dazu hatte sie ein weißes Top und ein blau-weißes Halstuch kombiniert. Die langen Fingernägel waren in einem zarten Rot lackiert, das zum Lippenstift passte. Sie trug Ohrstecker mit Perlen und eine kurze Perlenkette.
Lea blieb unschlüssig stehen. Wahrscheinlich hatte die Justizbeamtin einfach die falsche Zelle erwischt, und sie hätte eine andere Insassin hierherbringen sollen. Lea hob die Hand, um an die Tür zu klopfen und den Irrtum aufzuklären.
Doch die Frau am Tisch kam ihr zuvor. Sie stand auf und streckte Lea die Hand entgegen. »Guten Tag, Frau Ekström«, sagte sie. »Mein Name ist Stella Lindberg. Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Verteidigung zu übernehmen.«
Lea wurde die Kehle eng. Das war es also. Arvid hatte dafür gesorgt, dass ihr Pflichtverteidiger entlassen wurde und eine Anwältin den Fall übernahm, die er nach seinem Gutdünken lenken konnte. Auf diese Art konnte er dafür sorgen, dass sie die Strafe bekam, die er für angemessen hielt. Was schwebte ihm wohl vor? Wollte er dafür sorgen, dass sie rasch zurück nach Hause kam, damit sie ihm wieder als Fußabtreter zur Verfügung stand? Wollte er sie als unzurechnungsfähig einstufen und für den Rest ihrer Tage in der geschlossenen Psychiatrie unterbringen lassen? Oder wollte er dafür sorgen, dass die Anklage wegen Mordversuchs Erfolg hatte und sie lange Jahre hinter Gittern verschwand?
»Frau Ekström? Nehmen Sie doch Platz.« Die Anwältin deutete auf den freien Stuhl.
Sie war eine ausgesprochen attraktive Frau. Früher hätte man über Lea dasselbe sagen können. Die Anwältin und sie hätten sich auf einer Party treffen und auf Augenhöhe begegnen können. Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Jetzt fühlte Lea sich der selbstbewusst wirkenden Frau hoffnungslos unterlegen. Wegen der Situation, in der sie sich befand, aber auch wegen der kurzen Haare und all der anderen Merkmale erfolgreicher Frauen, die sie verloren hatte.
»Bitte«, sagte die Anwältin, nachdem Lea sich gesetzt hatte. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.« Sie hob die Hand, als Lea etwas einwenden wollte. »Ich habe die Akte natürlich gelesen. Aber ich mache mir gerne selbst ein Bild.«
Lea dachte, dass es völlig sinnlos war. Sie konnte sagen, was sie wollte. Am Ende hielt Arvid die Fäden in der Hand. Darüber konnte auch die freundliche Miene der Anwältin nicht hinwegtäuschen. Lea hatte die Kühle in ihrer Stimme von Anfang an bemerkt. Es mochte ihr nicht gefallen, dass sie nur eine Marionette war, aber sie würde sich Arvid sicherlich nicht widersetzen.
Auf der anderen Seite: Welche Alternative hatte sie? Ihre einzige Chance bestand darin, zu kämpfen. Sie hatte es in den Jahren mit Arvid verlernt, aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Wenn sie nicht tatenlos zusehen wollte, wie Arvid über ihr Schicksal entschied, musste sie versuchen, die Anwältin auf ihre Seite zu ziehen.
»Ich habe gedacht, er liebt mich«, begann sie. »Er wollte mir die Welt zu Füßen legen. Aber als wir verheiratet waren, habe ich gemerkt, dass er ein Despot ist.«
Die Anwältin schaltete ihr Tablet ein und tippte. Als Lea verstummte, blickte sie auf. »Bitte. Erzählen Sie weiter. Ich höre zu.«
Ingvar Selander starrte auf den Bildschirm. Lange Zahlenkolonnen, die sich am Ende summierten. Leider waren es rote Zahlen.
Er wusste nicht genau, warum es nicht funktionierte, aber Tatsache war, dass sich schleunigst etwas ändern musste. Sonst würde er das Traditionsunternehmen, das sein Großvater vor knapp siebzig Jahren gegründet hatte, geradewegs vor die Wand fahren.
Das Problem war, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Seit Stig ihn angerufen hatte, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Erst hatte er gedacht, Stig müsste sich geirrt haben. Ingvar war sich sicher, dass Zoey damals nach Deutschland gegangen war. Warum sollte sie jetzt, nach zweiundzwanzig Jahren, zurückkommen? Aber sie hatte sich Stig ja mit ihrem Namen vorgestellt. Und sie war Ärztin. Damals hatte sie Medizin studiert. Es war also so gut wie ausgeschlossen, dass es sich um eine Verwechslung handelte.
Ingvar hatte sich die Website der Orthopädie des Sahlgrenska-Krankenhauses angesehen, aber Zoey nicht gefunden. Was nichts bedeuten musste. Stig hatte ja gesagt, dass sie dort neu war.
Ingvar schloss die Bilanzen und öffnete stattdessen den Internetbrowser. Seine Finger fühlten sich steif an, als er ihren Namen eingab. Warum hatte er das nicht schon früher getan? Ihren Lebensweg verfolgt? Sich darüber informiert, wo sie war und was sie tat? Aber er hatte eben schon immer lieber den Kopf in den Sand gesteckt.
Die Krise damals hatte er irgendwie gemeistert. Danach war alles gut gelaufen. Die Firma hatte expandiert und ordentliche Umsätze gemacht. Bis Ingvar irgendwann entschieden hatte, den nächsten Schritt zu wagen. Er hatte modernisiert und sich neue Geschäftsfelder gesucht. Weg vom traditionellen Selander-Look, den sein Großvater geschaffen hatte, schlichte, praktische Kleidung für bodenständige, sparsame Kunden. Ingvar hatte einige gewagte Kollektionen auf den Markt gebracht. Aber ihm fehlten die Kontakte, um die richtigen Geschäftspartner für diese Art von Mode zu finden.
Nova hatte er nichts davon gesagt, wie miserabel sich ihre Modelle verkauften. Nicht, weil sie schlecht waren, sondern weil ihm die geeigneten Vertriebswege fehlten. Nova schuf unfassbar schöne Entwürfe. Nicht umsonst lehrte sie an der Hochschule in Borås Textildesign.
Nova war eine wunderbare Frau. Ingvar liebte sie über alles, und er hätte sein letztes Hemd geopfert, um sie glücklich zu machen. Deshalb hatte er ihre Modelinie auch nicht auf Eis gelegt, sondern in den Aufbau eines neuen Logistikzentrums investiert, um sich auf den Online-Handel zu spezialisieren. Wenn sich die innovative Selander-Mode in Westschweden nicht verkaufen ließ, dann eben im World Wide Web. Aber auch hier hatte er sich ganz offensichtlich verkalkuliert. Ihm mangelte es an Know-how, und nach den vielen Investitionen fehlte ihm auch das Geld für die Werbung, die nötig wäre, um sein Unternehmen im Onlinebusiness zu verankern. Der Handel mit den niedergelassenen Ausstattern mochte schwer sein, aber das Internet war ein Haifischbecken. Statt kaufwilligen Kunden fand er schwarze Schafe, die seine Modelle kopierten, irgendwo in Südostasien billig produzierten und zu Spottpreisen verkauften. Ingvar hatte Anzeige erstattet, aber die Wege, die die Produktfälschungen nahmen, waren so verschlungen, dass kaum eine Chance bestand, irgendwen zur Verantwortung zu ziehen und Schadensersatz zu erhalten.
Ingvar blieb auf Novas schicker Modelinie sitzen. Was sich nach wie vor rentierte, waren die Alltagsmodelle. Selander stand für Qualität und gute, stabile Kleidung. Doch die Löcher im Firmenbudget, die seine Experimente gerissen hatten, ließen sich mit den Einnahmen nicht stopfen. Die Bank stand ihm bereits auf den Füßen. Er brauchte dringend Geld.
Deshalb hatte er sich im ersten Moment über Stigs Anruf gefreut. Sie kannten einander eine halbe Ewigkeit und waren locker befreundet. Stig war eine große Nummer im Holzgeschäft. Sein Sägewerk florierte. Ingvar sah Stigs Holzlaster und die Firmenwagen des Sägewerks ständig, wenn er auf den großen Straßen unterwegs war. Er hatte gehofft, dass er Stig um einen zinslosen Kredit bitten könnte, um der alten Zeiten willen. Doch stattdessen hatte Stig ihm mitgeteilt, dass die alten Zeiten sie eingeholt hatten.
Ingvar überflog die Treffer, die ihm die Suchmaschine geliefert hatte. Das Klinikum Großhadern in München listete eine Zoey Carlsson als ehemalige Mitarbeiterin auf. Man dankte ihr für den außerordentlichen Einsatz, den sie bis zu ihrem Ausscheiden vor knapp einem Jahr geleistet hatte. Außerdem gab es einige Artikel in regionalen und überregionalen Zeitungen. Zoey, die als Ärztin in der Notaufnahme gearbeitet hatte, hatte sich offenbar stark für misshandelte Frauen engagiert. Ingvar schüttelte den Kopf. Das konnte doch wohl kaum dieselbe Frau sein, die jetzt im Sahlgrenska-Krankenhaus Stigs gebrochene Knochen richtete? Andererseits war der Name Zoey nicht gerade häufig, schon gar nicht in dieser Kombination. Er hatte überhaupt nur fünf Einträge gefunden. Keine Zoey Carlsson auf Instagram, Facebook oder Twitter.
Ingvar vergrößerte die Fotos aus den Zeitungsartikeln. Sie hatte sich verändert, aber es war eindeutig Zoey. Doch was brachte ihm diese Information? Daran, dass sie damals nach Deutschland gegangen war, hatte ohnehin niemand gezweifelt.
Es nützte nichts. Wenn er es genau wissen wollte, musste er im Sahlgrenska nachfragen. Er suchte die Nummer heraus und rief die Zentrale an.
Die Frau, die seinen Anruf entgegennahm, war ausgesprochen freundlich. Sie kaufte ihm die Geschichte ab, die er ihr auftischte: von der alten Freundin, die ein Bekannter in der Klinik gesehen zu haben glaubte.
»Warten Sie kurz. Ich frage auf der Station nach.« Warteschleifenmusik erklang, plätschernd und ein wenig einschläfernd. Ingvar fuhr mit einem Ruck hoch, als sich die Frau wieder meldete. »Hören Sie?«
»Ja.«
»Eine Frau Dr. Carlsson arbeitet tatsächlich in unserem Haus. Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, lasse ich ihr eine Nachricht zukommen. Sie ruft Sie dann zurück.«
»Danke. Das ist nicht nötig.« Ingvar unterbrach die Verbindung. Seine Rufnummer hatte er vorsorglich unterdrückt.
Er legte den Hörer zurück auf die Basis und wischte sich die schweißnasse Hand an der Hose ab. Sie war es also wirklich!
Was, wenn jetzt alles rauskam? Den Imageschaden, der sich unweigerlich daraus ergeben würde, könnte die Firma nicht verkraften. Es wäre der Todesstoß für Selander-Moden. Und vermutlich auch für seinen Großvater, der mit seinen einundneunzig immer noch rüstig und geistig fit war und den Lebensabend in seinem Haus auf Marstrand genoss.
Vielleicht könnte man Zoey Carlsson Geld anbieten? Es müsste allerdings eine größere Summe sein. Als Ärztin verdiente sie sicherlich nicht schlecht. Doch woher nehmen? Die Firma schrieb rote Zahlen. Die Villa am Stadtrand von Borås war baufällig und musste dringen saniert werden. Das einzig sichere Einkommen war zurzeit Novas Gehalt an der Hochschule. Und was würde seine Frau tun, wenn sie erfuhr, was damals geschehen war? Er durfte gar nicht daran denken.
Nein, es musste eine andere Lösung geben. Die Sache durfte niemals ans Licht kommen.
Stig war genauso daran gelegen wie ihm. Schließlich stand er kurz vor dem Sprung ins Parlament. Der Skandal würde zweifellos dafür sorgen, dass seine Träume platzten. Aber Stig hatte keine Idee.
Nun, dann musste eben Bror eine Lösung finden. Schließlich war er immer derjenige gewesen, der ihnen gesagt hatte, was sie tun sollten. Und war die ganze Sache nicht auch seine Idee gewesen? Er würde sicherlich nicht zögern. Auch wenn für Stig und Ingvar einiges auf dem Spiel stand – Bror war derjenige von ihnen, der sich schlechte Publicity am wenigsten leisten konnte.
Lea Ekström ging hinter der Justizbeamtin den langen Weg zu ihrer Zelle zurück. In ihrer Brust flatterten Schmetterlinge, und das Lächeln ließ sich kaum unterdrücken. Aber hier im Gefängnis war es besser, keine Gefühlsregungen zu zeigen, weder positive noch negative.
Die Anwältin hatte ihr tatsächlich Hoffnung gemacht. Drei schlichte Wörter, nachdem Lea das ganze Drama vor ihr ausgebreitet hatte. Arvid, der sie so umworben und dann, nachdem sie ihm das Jawort gegeben hatte, in tiefe Düsternis gestürzt hatte. Seine Brutalität und Gnadenlosigkeit.
»Ich glaube Ihnen«, hatte die Anwältin gesagt, und in Leas Brust hatte sich ein Knoten gelöst.
Sie hatte sich Stella Lindberg anvertraut und ihr alles erzählt. Wie sie Frederik Forsberg in der Göteborger Oper kennengelernt hatte, einen Mann, der so ganz anders war als Arvid. Höflich, zugewandt, einfühlsam. Nur seinen Namen hatte sie der Anwältin nicht genannt. Auch wenn sich Stella wirklich für sie engagierte, blieb immer noch der Umstand, dass sie auf Arvids Honorarliste stand.
»Ich unterliege der Schweigepflicht«, hatte die Anwältin gesagt, aber das hatte an ihrer Weigerung nichts geändert. Lea wusste, dass Arvid jeden zum Reden bringen konnte.
Die Anwältin hatte sich damit abgefunden, dass Lea in ihrem Bericht bei der Bezeichnung »dieser Mann« blieb. Dieser Mann, der ihr die Lebensfreude und Hoffnung zurückgegeben hatte.
Warum sie sich nicht von Arvid getrennt habe, hatte die Anwältin gefragt. Lea hatte bitter gelacht. Von Arvid trennte man sich nicht. Aber trotz aller Angst hatte sie mit Frederik – »diesem Mann« – eine Affäre begonnen. Hätte Frederik gewusst, dass sie verheiratet war und, schlimmer noch, mit wem, hätte er sich sicherlich nicht darauf eingelassen. Aber sie hatte es ihm erst gestanden, als sie schon eine ganze Weile zusammen waren und sie feststellen musste, dass sie schwanger war.
Was würde passieren, wenn Arvid die Wahrheit erfuhr? Aber die angebliche Vergewaltigung hatte er ihr vermutlich ohnehin nicht abgekauft, und dass sie mit einem anderen Mann zusammen gewesen sein musste, war sonnenklar. Wozu hätte es sonst den Vaterschaftstest gebraucht? Die Anwältin konnte ihm also nichts verraten, was er nicht schon wusste.
Doch vielleicht stand sie ja wirklich auf Leas Seite? Zumindest hatte sie sich alles in Ruhe angehört und keinerlei Zweifel geäußert. Sie hatte sich auch nach Emma erkundigt. Alles in Lea hatte danach gedrängt, sie zu bitten, Emmas derzeitigen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, aber sie hatte es nicht getan. Stattdessen hatte sie behauptet, dass ihre Tochter bei Freunden war. Auf keinen Fall wollte sie diejenige sein, die eine Spur zu dem Versteck legte, das Frederik hoffentlich gefunden hatte. Auch wenn sie den Eindruck hatte, dass Arvid das Interesse an Emma verloren hatte, weil sie ihm als Druckmittel gegen Lea nicht mehr von Nutzen war, war es besser, sie zu schützen.
Die Anwältin hatte sich alles sorgsam notiert, und am Ende war sie aufgestanden und hatte Lea die Hand gereicht. »Wir müssen natürlich abwarten, wie das Gericht entscheidet. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden, wenn wir auf Notwehr plädieren.«
Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie nicht allein kämpfen musste.
Lea wartete, bis die Justizbeamtin die Tür hinter ihr geschlossen hatte und sie allein in der Zelle war. Dann erst gestattete sie sich ein Lächeln. Sie trat vor den Spiegel und sah, wie viel jünger und hübscher sie plötzlich wirkte. Am liebsten hätte sie getanzt, aber eine Stimme in ihrem Kopf warnte sie.
So einfach würde es nicht werden. Vielleicht ließ sich die Anwältin tatsächlich nicht in dem Maße steuern, wie Arvid es geplant hatte. Aber Lea kannte ihren Mann. Wenn er wütend war, war er unerbittlich. Und er fand immer Mittel und Wege, seine Ziele zu erreichen.
Frederik Forsberg schlenderte den langen Bootssteg in Forsbäck entlang. Früher hatte hier sein Segelboot gelegen. Eine kleine Jolle mit Kajüte, mit der er gern zwischen den Schären gesegelt war. Es war eine gute Möglichkeit gewesen, den Kopf frei zu bekommen und die Gedanken schweifen zu lassen. Wenn die Sonne auf dem Wasser glitzerte und das Boot zwischen den felsigen Inseln mit dem kargen Bewuchs und den roten Schwedenhäusern dahinglitt, konnte man den Job und den Alltag vergessen.
Vor zwei Jahren war das Boot während seiner Ermittlungen auf Kalvsund explodiert. Frederik wusste bis heute nicht, ob es das Werk von Arvid Ekström gewesen war oder ob die Explosion mit dem Fall der verschwundenen Lisbet im Zusammenhang gestanden hatte. Er selbst war glimpflich davongekommen. Nur ein paar herumfliegende Holzstücke hatten ihn getroffen. Hätte er nicht auf dem Steg gestanden, sondern sich an Bord befunden, wäre die Sache anders ausgegangen.
Frederik hatte sich sofort ein neues Boot anschaffen wollen. Dass er es nicht getan hatte, hing mit der Idee zusammen, die Mats aufgebracht hatte. Der Psychologe der Skogome-Anstalt für Sexualstraftäter, den er bei diesem Fall kennengelernt hatte, hatte vorgeschlagen, dass Frederik das neue Boot von seinem Vater bauen ließ. Es war ein naheliegender Gedanke, schließlich gehörte Sivard eine Werft: Forsbergs Bootsfabrik in Frederiks Geburtsort Långedrag direkt vor den Toren Göteborgs.
Bisher war es nicht dazu gekommen. Zuerst hatte Frederik sich gescheut, den Kontakt zu seinem Vater wieder aufzunehmen, dann war es ihm einfach unangenehm gewesen. Er wusste längst, dass Sivard keine Schuld am Suizid von Frederiks Mutter trug, wie er lange Zeit angenommen hatte. Damals hatte er vollständig mit Sivard gebrochen und war zu seinen Großeltern nach Kiel gezogen. Alle Versuche seines Vaters, sich mit ihm zu versöhnen, hatte er abgeblockt.
Er war damals ein Kind gewesen, gerade mal zwölf Jahre alt, das machte die Sache vielleicht verzeihlich. Aber Frederik scheute sich trotzdem, Sivard um etwas zu bitten. Erst recht, nachdem Lykke und er in den letzten Monaten so viel für Emma und ihn getan hatten. Die Waage befand sich im Ungleichgewicht, und Frederik wollte seine Schale nicht noch weiter füllen.
Frederik wandte sich vom Anblick der im Wind schwankenden Masten ab und ging zurück zu seinem Roller. Mats hatte recht, er musste sich seinen Dämonen stellen. Aber noch war er nicht so weit, über seinen Schatten zu springen.
Es würde vielleicht leichter werden, wenn das Drama um Lea geklärt war.
Frederik ballte die Fäuste, wie jedes Mal, wenn ihn unvermittelt die brennende Wut auf Arvid Ekström überfiel. Immer wieder stand Ekström seiner großen Liebe im Weg. Darüber hinaus war er schuld am Tod von Frederiks gesamtem früherem Team. Torun, seine langjährige Partnerin, war vor Frederiks Augen gestorben, genau wie alle anderen.
Jetzt hatte er ein neues Team, das diesen Namen kaum verdiente. Sie waren allesamt schwierige Charaktere, die von anderen Dienststellen ausgemustert worden waren. In den zwei Jahren, die sie mittlerweile zusammenarbeiteten, war es besser geworden, doch es gab niemanden, dem er so blind vertraute wie früher Torun.
Du musst endlich nach vorne schauen, hörte er Mats’ Stimme in seinem Kopf.
Frederik stülpte den Helm über den Kopf und startete den metallicblauen Elektroroller. Er wünschte, Emma säße im Beiwagen, aber sie war heute mit Lykke beim Kinderarzt.
Bevor er losfuhr, sah er noch einmal zu den Segelbooten hinüber. Bald. Bald würde er seinen Vater bitten, ihm ein neues Boot zu bauen.
Bror Widlund starrte in den Spiegel, dessen Rahmen mit zahlreichen Glühbirnen bestückt war, während die Maskenbildnerin an seiner blonden Tolle zupfte und sie mit Wachs und Haarspray festbetonierte. Seine Haut juckte von der dicken Make-up-Schicht, die sie aufgetragen hatte. Offenbar hatte man die Marke gewechselt. Nach der letzten Show war sein ganzes Gesicht gerötet gewesen. Eine allergische Reaktion vermutlich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Bror knetete die Armlehnen des Sessels. Er schaffte es kaum, still zu sitzen, weil er vor Wut kochte. Bevor er in die Maske gegangen war, hatte Viggo ihn in sein Büro zitiert. Die Quoten waren schlecht. Nachdem Bror mit seiner Talkshow in den Vorjahren sämtliche Rekorde gebrochen hatte, waren die Zahlen in den letzten Monaten eingebrochen. Was er zu sagen hatte, riss die Leute nicht mehr vom Hocker. Er brauchte dringend ein neues, außergewöhnliches Thema. Die Klimakrise, der Krieg und die Flüchtlinge waren ausgelutscht, und das Virus und die Bandenkriminalität erst recht.
Für heute stand irgendeine Autorin auf dem Programm, die einen Ratgeber über erfüllende Lebensführung auf den Markt gebracht hatte. Bror wusste schon jetzt, dass die Zuschauer nach der Hälfte der Zeit abschalten würden. Er hatte die Autorin beim Vorgespräch kennengelernt. Eine graue Maus, die so leise und bedächtig sprach, dass einem unweigerlich die Augen zufielen. Gut, vielleicht würden die Leute nicht abschalten, weil sie vorher eingeschlafen waren. Er musste nur aufpassen, dass er selbst nicht wegdämmerte.
Ein Klopfen an der Tür zur Maske riss ihn aus seinen Gedanken. Der Produktionsassistent, ein pickliger junger Mann mit löchrigen Jeans und Out-of-Bed-Frisur, lugte schüchtern herein.
»Herr Widlund? Hier ist ein Anruf für Sie.«
Er hielt ein Handy hoch, eines der klobigen Geräte, die dem Sender gehörten. Bror argwöhnte, dass die Leute den gesamten Restbestand von Ericsson aufgekauft hatten.
Bror schielte zu dem Assistenten hinüber. Den Kopf drehen konnte er nicht, dann würde die Maskenbildnerin ausrasten. »Wer ist es denn?«
»Ein Herr Selander.« Der Assistent trat zu ihm und reichte ihm das Handy.
»Danke.« Bror nahm das Telefon entgegen und verscheuchte den Assistenten mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ingvar?«, sagte er, nachdem sich die Tür hinter dem jungen Mann geschlossen hatte.
»Bror. Wie gut, dass ich dich erreiche«, schnaufte Ingvar Selander. »Ich habe es schon auf deinem Handy versucht, aber da lande ich immer bei der Mailbox.«
Bror gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Ich bin in einer halben Stunde auf Sendung. Das Smartphone liegt in meiner Garderobe. Ich bin schon in der Maske.« Das war nicht nur eine Information, sondern ein Wink mit dem Zaunpfahl. Sein alter Studienfreund neigte zu ausschweifendem Lamentieren, und dafür hatte er jetzt weder Zeit noch Geduld. Er musste sich auf die Show vorbereiten. Auch wenn seine Gedanken tatsächlich um etwas anderes gekreist waren. Aber was immer Ingvar auch wollte, es musste warten.
»Dann bin ich ja froh, dass ich dich über den Sender erreicht habe«, sagte Selander. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Bror stöhnte leise. Ingvar hatte von seinem Vater das Familienunternehmen in Borås übernommen, doch er war alles andere als ein Leader. Unbeholfen, schüchtern und steif, so war er schon an der Uni gewesen. Ein Zauderer, dem man ständig in den Hintern treten musste.
»Was ist denn?«, fragte Bror. Ingvar hatte bei ihren letzten Treffen durchblicken lassen, dass es mit Novas Modelinie nicht gut lief. Aber wenn Ingvar ihn anpumpen wollte, war er bei ihm an der falschen Adresse. Bror verlieh aus Prinzip kein Geld an Freunde.
»Sie ist wieder da«, keuchte Ingvar. Er war ohnehin kein cooler Typ, doch jetzt klang er geradezu panisch.
Bror hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Wer?«
»Zoey Carlsson.«
Bror zuckte zusammen.
Die Maskenbildnerin stöhnte genervt. »Bror, bitte. Du musst still sitzen, sonst werden wir nicht rechtzeitig fertig.«
»Ja, ja.« Bror atmete tief durch. »Woher weißt du das?«, fragte er ins Telefon.
»Stig hat sie gesehen. Sie ist seine neue Orthopädin am Sahlgrenska.«
»Hat sie ihn erkannt?«
»Nein.«
Bror entspannte sich wieder. »Wo ist dann das Problem?«
»Vielleicht erinnert sie sich beim nächsten Mal.«
»Na und?« Nach dem ersten Schreck arbeitete Brors Gehirn bereits wieder präzise wie ein Uhrwerk. »Die Sache ist längst verjährt. Selbst wenn sie etwas herausfindet. Niemand kann uns dafür belangen.«
»Das nicht. Aber was ist mit den Folgen, wenn es bekannt wird? Selander-Moden kann sich keine schlechte Publicity leisten, und Stig mit seiner Kandidatur fürs Parlament auch nicht. Und deine Fans fänden es vermutlich ebenfalls nicht lustig.«
Bror dachte an Viggo, der angedeutet hatte, dass man sich über die Zukunft des Formats Gedanken machte. Ein solcher Stolperstein käme ihm in der Tat höchst ungelegen.
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss gleich ins Studio«, sagte er. »Wir treffen uns morgen.« Er überlegte kurz. »An unserem alten Platz im Vasapark.« Dort, in der weitläufigen Grünanlage hinter dem Hauptgebäude der Universität, gab es einen Pavillon, der früher ihr Treffpunkt gewesen war.
»Warum denn da?«
»Ich will nicht in ein Café gehen. Mein Gesicht ist bekannt. Ich habe keine Lust, ständig angegafft oder um ein Autogramm gebeten zu werden.« Normalerweise gehörte das zu den Dingen, die er genoss. Aber bei dem Thema, das sie zu besprechen hatten, war es besser, wenn es keine Zeugen gab.
»Wieso treffen wir uns nicht bei dir?« Ingvars Stimme klang nörgelig.
»Stella arbeitet zurzeit viel von zu Hause aus«, erwiderte Bror ungeduldig. »Ich nehme nicht an, dass du sie einweihen möchtest? Ich will es jedenfalls nicht.«
»Nein. Du hast natürlich recht.« Ingvar ruderte zurück, wie immer. »Wann treffen wir uns?«
»Um zehn. Sagst du Stig Bescheid?«
»Ja.«
»Gut.« Bror drückte den Anruf einfach weg und warf das klobige Handy auf den Schminktisch.
»Probleme?«, fragte die Maskenbildnerin neugierig.
»Ach was.« Bror winkte ab, während er blitzschnell überlegte, was sie vom Gespräch mitbekommen hatte. »Nur ein alter Schulfreund, der sich Sorgen macht, weil eine alte Liebe von ihm wieder aufgetaucht ist.«
»Und?«
»Er möchte nicht, dass seine Frau etwas davon erfährt.«
»Und was ist verjährt?«
Bror hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Er saß so oft hier in der Maske und führte private Telefonate, dass er manchmal vergaß, seine Worte sorgfältig abzuwägen.
»Wir haben den beiden damals Drogen besorgt«, behauptete er. Zu seinem Beruf gehörte es, schnell zu reagieren und kreative Gesprächsbeiträge zu erfinden, und darin war er gut. »Die Frau ist kollabiert und musste ins Krankenhaus. Danach konnte sie sich an nichts erinnern, aber mein Kumpel hat Angst, dass sich das jetzt geändert hat. Aber, wie gesagt: Die Sache ist verjährt.«
Das war sie tatsächlich. Auch wenn es sich bei dem, worum es ging, um etwas ganz anderes handelte.
Zoey Carlsson fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch. Seit sie zurück in Schweden war, plagten sie jede Nacht Albträume. Finstere Gestalten, die sie verfolgten, maskiert oder mit grauenhaften Fratzen. Weit aufgerissene Münder, blutverschmierte Gesichter, mörderisch gekrümmte Klauen. Zoey war jedes Mal schweißgebadet.
Es musste an diesem Haus liegen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie annehmen, dass es hier spukte. Aber sie war Ärztin. Ihr ganzes Leben gründete auf wissenschaftlich belegbaren Annahmen. Die Geister längst verstorbener Menschen gehörten nicht dazu.
Eher war es das Haus an sich. Als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihre Entscheidung beinahe bereut. Es war klein, heruntergekommen, dringend renovierungsbedürftig. Außerdem einsam am Waldrand gelegen. Direkt neben dem Grundstück ragten riesige Kiefern empor. War es richtig gewesen, dafür ihre gemütliche Wohnung in München aufzugeben? Auch die Umstellung fiel ihr schwer, von der Großstadt, in der ständig Leben war, auf den kleinen Ort, wo alles so ruhig und die Distanz zu anderen Menschen so groß war. Sie hatte vergessen, wie zurückhaltend die Schweden im Vergleich zu den Menschen in Süddeutschland waren.
Aber sie hatte eine gute Anstellung im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg gefunden, die ihr Freude machte.
Das Haus brauchte ein paar Reparaturen, doch Zoey war handwerklich geschickt. Vieles würde sie selbst machen können, und für den Rest würden ihre Ersparnisse reichen. Die Münchener Arbeitsgruppe fehlte ihr, aber auch die neuen Kolleginnen waren nett. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Freunde finden würde. So ein gravierender Wechsel gelang nicht von heute auf morgen.
Allerdings erklärte das nicht die Albträume. Es schien, als würde etwas lange Vergessenes zurück an die Oberfläche drängen, jetzt, wo sie wieder in Schweden war. Aber was konnte das sein?
Beschriebe eine ihrer Patientinnen solche Symptome, würde sie ihr raten, einen Therapeuten aufzusuchen. Vermutlich war es genau das, was sie selbst ebenfalls tun sollte. Aber irgendetwas in ihr sperrte sich dagegen.
Zoey ging ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Anschließend kuschelte sie sich wieder unter die Bettdecke und versuchte einzuschlafen. Es gelang ihr nicht.
Stig Rydell humpelte den Weg im Vasapark entlang. Es war ein herrlicher Tag, der Himmel wolkenlos blau, die Luft warm, das Laub der Bäume von einem satten Grün. Stig taxierte automatisch die Dicke der Stämme, die Beschaffenheit der Rinde und den Zustand der Baumkronen. Schätzte ihr Alter ab, die Menge an Holz, die man daraus gewinnen könnte, und den Preis, den man damit erzielen würde. So ein alter Baumbestand war überaus kostbar.
Natürlich würde man hier keinen einzigen Baum fällen. Das würde er auch gar nicht wollen. Der Vasapark war eine Oase. Verknüpft mit einer Vielzahl schöner Erinnerungen. Stig hatte die Studienzeit genossen. Frei von der Verantwortung, die heute auf ihm lastete, mit einer Menge netter Kommilitonen und wunderbaren Partys in der Studentenverbindung.
Am Anfang war er sich nicht sicher gewesen, ob er in das Haus einer Verbindung einziehen sollte. Seine Eltern hatten schließlich mehr als genug Geld und hätten ihm eine Wohnung irgendwo im Zentrum organisieren können. In Vasastan, wo sich die meisten Gebäude der Universität befanden. Göteborg hatte keine Campusuniversität, die Institute waren über die Stadt verteilt, aber ein Großteil sammelte sich hier. Doch sein Vater hatte dringend dazu geraten, sich einer Verbindung anzuschließen. Weil dort Leute zusammenfanden, die aus derselben Region stammten, und weil es die beste Möglichkeit war, Kontakte zu knüpfen. Freundschaften, die während des Studiums entstanden, waren oft tief und hielten ein Leben lang. Ähnliche Bindungen später aufzubauen war weitaus schwieriger.
Also war er mit den Leuten zusammengezogen, die wie er aus Trollhättan oder den umliegenden Städten in Westschweden stammten. Im Hinblick auf den beruflichen Erfolg war es eine gute Entscheidung gewesen. Einen Großteil seiner Lieferanten, Transporteure und Abnehmer kannte Stig aus der Verbindungszeit. Man wusste, dass man sich aufeinander verlassen konnte und bei den Preisen nicht über den Tisch gezogen wurde.
Aber da war auch diese Sache, derentwegen er sich jetzt außer der Reihe mit Ingvar und Bror traf. Dieser eine dunkle Punkt in seiner Vergangenheit. Er hatte den Vorfall verdrängt und schon lange nicht mehr daran gedacht. Wer Erfolg haben wollte, musste nach vorne blicken, nicht zurück. Mit den Jahren hatte er sich zunehmend sicher gefühlt. Wer sollte ihm heute aus den Ereignissen von damals noch einen Strick drehen?
Rein juristisch stimmte es auch. Aber das war eben nicht alles. Er kandidierte für ein wichtiges politisches Amt, und da konnte schon der kleinste Fleck auf seiner weißen Weste das Aus bedeuten. Wenn Zweifel an seiner Integrität aufkämen, würde das die Wähler massiv abschrecken. Und als Jugendsünde abtun würde man die Sache wohl kaum. Sie waren alle über zwanzig gewesen und hatten genau gewusst, was sie taten. Dass sie damals Drogen genommen und zu viel Alkohol getrunken hatten, mochte eine Erklärung sein. Aber später, als es darauf ankam, waren sie nüchtern gewesen. Und dennoch hatten sie zugelassen, dass die Dinge ihren Lauf nahmen.
Stig folgte dem gewundenen Weg. Vor ihm kam der Pavillon in Sicht. Wie oft hatten sie damals dort gesessen und sich die Köpfe heißdiskutiert? Mit Musik aus dem Gettoblaster und ein paar Joints, manchmal auch mit bunten Pillen oder weißem Pulver, was absurderweise oft billiger gewesen war, als sich mit Bier und Schnaps zuzudröhnen. Schwedens Alkoholpolitik hatte eben auch ihre Schattenseiten. Wobei es ihnen nie ums Geld gegangen war, davon hatten sie alle genug besessen. Aber der Drogenrausch war einfach besser. Erst nach dem Studium hatte er von den verbotenen Substanzen die Finger gelassen und war zu den traditionellen Getränken umgeschwenkt. Ingvar hatte es genauso gehalten. Als Student konnte man experimentieren. Als Geschäftsmann und aufstrebender Politiker ließ man die Finger von dem Zeug. Bei Bror war Stig sich da nicht so sicher, immerhin war er im Showbusiness, und dort hatte man eine andere Einstellung zu diesen Fragen. Aber Bror war Talkmaster, kein Popstar oder Promi-Schauspieler, also war auch er vermutlich sauber. Gefragt hatte Stig ihn nie. Über manche Dinge sprach man besser nicht.
Ingvar stand bereits vor dem Pavillon und sah ihm entgegen. Er war immer der Streber gewesen, akkurat, pünktlich, zuverlässig. Warum er mit seinem Unternehmen trotzdem rote Zahlen schrieb, war Stig ein Rätsel. Ingvar war ein Einserstudent gewesen und von Natur aus ein Buchhaltertyp. Es hatte wohl etwas mit seiner Frau Nova und ihrer Modelinie zu tun. Aber wenn sich die Sache nicht rentierte, musste Ingvar sie eben einstellen. Bei wirtschaftlichen Fragen durfte man sich nicht von Gefühlen leiten lassen.
Stig musterte seinen alten Freund, während er das letzte Stück Weg zwischen ihnen zurücklegte. Die braunen Haare hatten sich während der letzten Jahre gelichtet, deshalb trug Ingvar sie kurz. Vernünftig, fand Stig. Nichts sah alberner aus als Männer, die nur noch einen Haarkranz übrig hatten, aber einen Pferdeschwanz trugen. Er selbst hielt sein Haar ebenfalls kurz, obwohl es zum Glück noch voll und dicht war. Aber er musste oft einen Helm tragen, da war das einfach praktischer.
Dass Ingvar in der Modebranche tätig war, sah man ihm nicht an. Sein heller Sommeranzug saß tadellos, aber ihm fehlte jede Extravaganz. Allerdings war das Stammhaus seiner Firma ja auch nicht für kreative Mode bekannt, sondern für praktische, gediegene Kleidung. Nur Novas Kollektion war anders.
Stig selbst hatte auf einen Anzug verzichtet und sich für Jeans und ein schlichtes blaues T-Shirt entschieden. Hier im Park liefen vor allem Studenten herum. Er wollte nicht auffallen, und erst recht wollte er nicht erkannt werden.
Bror, der von der anderen Seite auf den Pavillon zuschlenderte, hatte es genauso gehalten. Die blonden Haare hingen ihm in die Stirn. Auf die Tolle, die sein Markenzeichen war, hatte er verzichtet. Auch er trug Jeans, verwaschen und mit modischen Löchern verziert, dazu ein rosafarbenes Hemd, das er fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft hatte, und Turnschuhe mit weißer Sohle. Ähnlich lässig war er auch im Studium gerne herumgelaufen, wenn sie nicht zu einem offiziellen Anlass einen Anzug und die Farben und Mützen der Verbindung tragen mussten, und er konnte es sich immer noch leisten. Mit seinen breiten Schultern, dem flachen Bauch und dem gewölbten Brustkorb wirkte er deutlich jünger als Ingvar, obwohl sie alle derselbe Jahrgang waren.
Stig wusste, dass er selbst ebenfalls jugendlich und dynamisch wirkte. Sein Körper war von der Arbeit im Wald gestählt. Allerdings war er eher der bullige Typ und nicht so schnittig wie Bror. Gestört hatte ihn das nie. Die Mädchen, die auf Bror geflogen waren, waren nicht die gewesen, für die Stig sich interessiert hatte, und andersherum galt dasselbe. Nur Ingvar, auf den damals keine Studentin ein Auge geworfen hatte, hatte sie beide immer mit Neid betrachtet. Aber auch er hatte mit Nova dann schließlich eine äußerst attraktive Frau gefunden.